Charles BARTHEL - Centre d'études et de recherches européennes ...
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<strong>Charles</strong> <strong>BARTHEL</strong><br />
STURM IM WASSERGLAS<br />
Das Streben <strong>de</strong>r Stahlkocher<br />
nach einer Gangbarmachung <strong>de</strong>s Schuman-Plans.<br />
Einige B<strong>et</strong>rachtungen aus <strong>de</strong>r Sicht Luxemburger Industriearchive<br />
(1950-1952)<br />
veröffentlicht IN:<br />
<strong>Centre</strong> <strong>d'étu<strong>de</strong>s</strong> <strong>et</strong> <strong>de</strong> <strong>recherches</strong> <strong>européennes</strong> Robert Schuman (Collectif), Le<br />
Luxembourg face à la construction européenne – Luxemburg und die europäische<br />
Einigung, Luxembourg, 1996, S.203-252<br />
Als <strong>de</strong>r «Sprung ins Unbekannte» nach <strong>de</strong>r Unterzeichnung <strong>de</strong>r Pariser Verträge am 18.<br />
April 1951 allmählich konkr<strong>et</strong>e Formen annahm, wuchs das Unbehagen im Kreise <strong>de</strong>r von<br />
<strong>de</strong>n Montanunionsplänen unmittelbar b<strong>et</strong>roffenen Hüttenherren. Die ohnehin seit <strong>de</strong>m<br />
Sommer <strong>de</strong>s Vorjahres bestehen<strong>de</strong> rege Besorgnis schlug nun in allgemeine Bestürzung<br />
um.<br />
Beson<strong>de</strong>rs an Rhein und Ruhr erhitzte das Schumansche Abenteuer die Gemüter, war man<br />
sich doch <strong>de</strong>utscherseits unlängst darüber im klaren, welche wahren Absichten die<br />
französische Regierung mit <strong>de</strong>m Zusammenschluß <strong>de</strong>r europäischen Kohle- und<br />
Stahlproduktion verfolgte. Bereits im Juni 1950 hatte die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und<br />
Stahlindustrie (WVESI) ein achtzehnseitiges, «sorgfältig redigiertes Exposé» 1 verfaßt,<br />
<strong>de</strong>ssen Inhalt – eine «kritische Untersuchung» <strong>de</strong>r Schuman-Deklaration vom 9. Mai – die<br />
Überzeugung vertrat, die geplante Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)<br />
sei l<strong>et</strong>ztlich nichts an<strong>de</strong>res als eine «große kartellähnliche Organisation» mit <strong>de</strong>m Ziel, <strong>de</strong>n<br />
Wie<strong>de</strong>raufbau <strong>de</strong>r französischen Nachkriegsindustrie abzusichern:<br />
«Zweifellos sind die Monn<strong>et</strong>pläne zum Aufbau <strong>de</strong>r französischen Wirtschaft in ein<br />
kritisches Stadium gelangt. Es hat keinen Sinn, <strong>de</strong>n Ausbau <strong>de</strong>r Eisen- und<br />
Stahlkapazität <strong>de</strong>r französischen Werke auf 15 Mio to (Tonnen) vorzunehmen, wenn<br />
<strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong> Absatzmarkt fehlt. Der Franzose ist immer auf Sicherheit bedacht.<br />
Er hat nicht mit <strong>de</strong>m schnellen Wie<strong>de</strong>raufbau unserer Stahlproduktion gerechn<strong>et</strong>. Eine<br />
Gegenüberstellung <strong>de</strong>r Kapazitäten auf bei<strong>de</strong>n Seiten zeigt, daß wir noch Reserven<br />
auf Erhöhung unserer Produktion haben, die in Frankreich z.Zt. noch fehlen dürften.<br />
Bei dieser Sachlage stehen die Franzosen vor <strong>de</strong>r Entscheidung, <strong>de</strong>n Ausbau ihrer<br />
Anlagen aufzustecken, o<strong>de</strong>r aber zu erreichen, daß wir uns - nun nicht mehr durch<br />
politisches Diktat, son<strong>de</strong>rn freiwillig in unserer Produktion einschränken». 2<br />
1<br />
2<br />
ARBED, P.60 [Prési<strong>de</strong>nce du conseil d'aministration], Vertrauliches Rundschreiben <strong>de</strong>r WVESI (gez. Karl<br />
Blankenagel und Wilhelm Ahrens), 05.06.1950.<br />
Ibid., Abschrift eines Berichts <strong>de</strong>r WVESI b<strong>et</strong>r. die Schuman<strong>de</strong>klaration, 05.06.1950.<br />
Vgl. W. Bührer, Ruhrstahl und Europa. Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie und die Anfänge<br />
<strong>de</strong>r europäischen Integration. 1945-1952, Ol<strong>de</strong>nbourg Verlag, München, 1986. Bezugnehmend auf die erste<br />
ausführliche Stellungnahme <strong>de</strong>r WVESI gibt Bührer (S.176) <strong>de</strong>n 5. Juli 1950 an. Daß es sich beim Datum <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>n Arbed-Archiven aufbewahrten Kopie um einen Abschreibfehler han<strong>de</strong>ln könnte, muß aber
Sturm im Wasserglas 2<br />
Trotz prinzipieller Zusagen in Sachen gleicher Startbedingungen für alle b<strong>et</strong>eiligten<br />
Industrien glaubten die <strong>de</strong>utschen Stahlkocher, in Zukunft «nicht mehr selbst über [ihre]<br />
Produktion insgesamt und auf <strong>de</strong>n einzelnen Werken bestimmen [zu] können». In diesem<br />
Zusammenhang erschien die Eins<strong>et</strong>zung einer supranationalen Komp<strong>et</strong>enz wie ein<br />
Schreckgespenst. Die sich abzeichnen<strong>de</strong> «außeror<strong>de</strong>ntlich weitgehen<strong>de</strong><br />
Entscheidungsbefugnis» <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> so wie die nüchterne<br />
Feststellung, daß dieser wohl «kaum ein Deutscher» sein wer<strong>de</strong>, bestärkten die Angst vor<br />
<strong>de</strong>n «verhängnisvollen Folgen» einer von Frankreich beabsichtigten Politik, <strong>de</strong>ren einziger<br />
Zweck es sei, die dynamische Werksmo<strong>de</strong>rnisierung zu unterbin<strong>de</strong>n und die <strong>de</strong>utschen<br />
Hüttenbesitzer an die Leine zu legen. «Es ist daher von größter Be<strong>de</strong>utung, bei <strong>de</strong>m<br />
Abschluß <strong>de</strong>s Staatsvertrages Bedingungen herauszuholen, die uns erlauben, unsere Eisenund<br />
Stahlindustrie angemessen zu entwickeln». 3<br />
Im Bonner Kanzleramt war man allerdings mehr auf die politischen Vorteile <strong>de</strong>s Schuman-<br />
Plans bedacht. Die erstrebenswerte Neugestaltung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-französischen Beziehungen<br />
und die Chance, durch Gleichberechtigung und Gleichbehandlung das internationale<br />
Renommee <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik aufzuwerten, überwog alle an<strong>de</strong>ren Überlegungen.<br />
A<strong>de</strong>nauers Anweisungen an <strong>de</strong>n Chef <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Unterhändler Walter Hallstein waren<br />
unmißverständlich: <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>r Verhandlungen sollte auf keinen Fall durch<br />
Son<strong>de</strong>rwünsche <strong>de</strong>r Ruhrkapitäne gefährd<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n. Das war <strong>de</strong>n Leuten aus <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong><br />
Martignac 4 gera<strong>de</strong> recht. Durch <strong>de</strong>n Koreakrieg und die damit verknüpfte Frage <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Aufrüstung war Frankreich einem immer stärker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n amerikanischen<br />
Druck ausges<strong>et</strong>zt. Monn<strong>et</strong> stand unter Zugzwang. Ihm lag sehr daran, möglichst rasch ein<br />
unterschriftsreifes Vertragswerk abzuschließen ohne unnötigerweise Zeit und Energien<br />
durch endlose Diskussionen mit Experten aus <strong>de</strong>n Bereichen Kohle und Eisen zu verlieren.<br />
Die Lösung technischer Fragen sollte später erörtert wer<strong>de</strong>n. 5 Folglich spielten<br />
wirtschaftliche Belange in <strong>de</strong>r französischen Hauptstadt nur eine untergeordn<strong>et</strong>e Rolle. Die<br />
mit Nachdruck von <strong>de</strong>r Industrie verlangten Sicherheiten blieben aus. 6<br />
Eine Revision <strong>de</strong>r Pariser Verträge?<br />
Mit <strong>de</strong>m Bangen um die Zukunft ihrer Hütten stand <strong>de</strong>r Düsseldorfer Eisenverband nicht<br />
allein. Ganz im Gegenteil. In allen übrigen EGKS-Län<strong>de</strong>rn warf die Unternehmerschaft ihre<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n, da besagtes Dokument bereits am 20. Juni durch <strong>de</strong>n beigeordn<strong>et</strong>en Arbed-Direktor<br />
Guill Konsbruck an Albert Wehrer, <strong>de</strong>n Leiter <strong>de</strong>r Luxemburger Verhandlungs<strong>de</strong>legation in Paris, weitergeleit<strong>et</strong><br />
wor<strong>de</strong>n war (vgl. AEL AE 11345).<br />
Ibid., Abschrift.<br />
In einem hôtel particulier <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong> Martignac war das französische Commissariat au plan <strong>de</strong> mo<strong>de</strong>rnisation<br />
<strong>et</strong> d'équipement untergebracht. Die seit 1946 von Jean Monn<strong>et</strong> geleit<strong>et</strong>e Dienststelle war nicht nur Tagungsort<br />
<strong>de</strong>r Schuman-Plan-Verhandlungen gewesen; ihre führen<strong>de</strong>n Mitarbeiter, wie Pierre Uri zum Beispiel, hatten<br />
eine nicht unwesentliche Rolle bei <strong>de</strong>r Redaktion <strong>de</strong>s EGKS-Vertrages gespielt.<br />
AEL AE 11384, <strong>Charles</strong> Reichling für Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 22.06.1950.<br />
Vgl. K. Schwabe, "Ein Akt konstruktiver Staatskunst" - die USA und die Anfänge <strong>de</strong>s Schuman-Plans, IN:<br />
Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Anfänge <strong>de</strong>s Schuman-Plans. 1950/51, Beiträge <strong>de</strong>s Kolloquiums in Aachen, 28.-<br />
30. Mai 1986, Nomos-Giuffrè-LGDJ-Bruylant, Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>n-Milano-Paris-Bruxelles, 1988, S.211-239; H. J.<br />
Küsters, Die Verhandlungen über das institutionelle System zur Gründung <strong>de</strong>r Europäischen Gemeinschaft für<br />
Kohle und Stahl, IN: Ibid., S.73-102; und R. Poi<strong>de</strong>vin, Robert Schuman, Homme d'Etat. 1886-1963, Imp.<br />
nationale, Paris, 1986, S.273-296.
Sturm im Wasserglas 3<br />
anfänglich eher abwarten<strong>de</strong> Haltung über Bord und blies zum Generalangriff auf <strong>de</strong>n Plan. 7<br />
Auch wenn die politische Dimension <strong>de</strong>r Montanunion generell nicht in Frage gestellt wur<strong>de</strong><br />
– die Notwendigkeit einer europäischen Einigung wur<strong>de</strong> nicht angezweifelt –, so richt<strong>et</strong>e sich<br />
<strong>de</strong>r Ta<strong>de</strong>l hauptsächlich gegen die ökonomischen und institutionellen Bestimmungen, bei<br />
<strong>de</strong>ren Ausarbeitung man sich völlig übergangen fühlte. Dreh- und Angelpunkt <strong>de</strong>r Kritik<br />
wur<strong>de</strong> die Hohe Behör<strong>de</strong>. In schillern<strong>de</strong>n Farben wur<strong>de</strong>n allmögliche Exzesse eines<br />
«maßlosen Dirigismus» *8 ausgemalt, die oberste Unionsbehör<strong>de</strong> mit einer «Diktatur» *<br />
gleichgestellt o<strong>de</strong>r gar als Instrument einer verkappten, europaweiten Nationalisierung <strong>de</strong>r<br />
Schwerindustrie angeprangert. 9 Nicht daß man prinzipiell gegen je<strong>de</strong> Form staatlicher<br />
Kontrolle gewesen wäre, aber wozu gleich ein schwerfälliges «Verwaltungsmonster» *10 aus<br />
<strong>de</strong>r Taufe heben, <strong>de</strong>ssen vielseitige Eingriffe in das Wirtschaftsleben bei weitem alles<br />
übertrafen, was die nationalen Regierungen an Aufsichtsmöglichkeiten über die Industrie je<br />
zu for<strong>de</strong>rn gewagt hatten? Zuviel war zuviel, legte man doch auf Seiten <strong>de</strong>r Hersteller keinen<br />
Wert darauf, die Rolle <strong>de</strong>s Versuchskaninchens «soziologischer Experimente» *11 zu spielen.<br />
Die Haltung <strong>de</strong>s Industriepatronats stand somit ein<strong>de</strong>utig fest: die von <strong>de</strong>r Ministerkonferenz<br />
paraphierten Vertragsbestimmungen waren schlichtweg unannehmbar. Sie durften unter<br />
keinen Umstän<strong>de</strong>n in ihrer ursprünglichen Fassung in Kraft tr<strong>et</strong>en. Himmel und Hölle sollten<br />
in Bewegung ges<strong>et</strong>zt wer<strong>de</strong>n, sei es um eine Wie<strong>de</strong>raufnahme <strong>de</strong>r Verhandlungen zu<br />
erzwingen und zwar mit <strong>de</strong>m erklärten Ziel, wenigstens einige Artikel von größter<br />
ökonomischer Tragweite abzuän<strong>de</strong>rn, sei es um eine Ratifizierung nur unter bestimmten<br />
Vorbehalten o<strong>de</strong>r durch Einflechtung zusätzlicher Garantien vorzunehmen. Notfalls sollten<br />
die nationalen Parlamente aufgefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n gesamten Schuman-Plan durch eine<br />
negative Abstimmung zu Fall zu bringen. 12<br />
Wenngleich sich hierin alle b<strong>et</strong>roffenen Wirtschaftsverbän<strong>de</strong> restlos einig waren, so blieb<br />
doch bis auf weiteres eine gemeinsame, konzertierte Aktion aus. Während einer ersten<br />
Phase – von April bis zirka En<strong>de</strong> 1951 – bemühten sich die verschie<strong>de</strong>nen Gruppen im<br />
Alleingang, auf rein nationaler Ebene, ihre For<strong>de</strong>rungen über diverse Kanäle bei <strong>de</strong>n<br />
jeweiligen Regierungen durchzus<strong>et</strong>zen. Dies will nicht heißen, daß man keine Kontakte<br />
untereinan<strong>de</strong>r pflegte; eine echte, gemeinschaftlich abgesprochene Strategie <strong>de</strong>r<br />
Industriekapitäne ist aber, soweit die aktuelle Quellenlage es erlaubt, für diesen frühen<br />
Zeitabschnitt nicht erkennbar.<br />
Als beispielhaft für die mangelhafte Kooperation und die daraus resultieren<strong>de</strong><br />
Fehleinschätzung <strong>de</strong>r realen Lage darf das Verhalten <strong>de</strong>s französischen Patronats angeführt<br />
wer<strong>de</strong>n. Bis in <strong>de</strong>n Spätherbst 1951 hinein waren die Herren von <strong>de</strong>r Chambre Syndicale <strong>de</strong><br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
Vgl. Ph. Mioche, Le patronat <strong>de</strong> la sidérurgie française <strong>et</strong> le Plan Schuman en 1950-1952: les apparences<br />
d'un combat <strong>et</strong> la réalité d'une mutation, S.305-318; E. Krier, L'industrie lour<strong>de</strong> luxembourgeoise <strong>et</strong> le Plan<br />
Schuman, S.357-366; F. Roth, Les milieux sidérurgiques lorrains <strong>et</strong> l'annonce du Plan Schuman, S.367-380<br />
und A.S. Milward, The Belgian Coal and Steel Industries and the Schuman Plan, S.437-453, IN: K. Schwabe<br />
(Hrsg.), op.cit.<br />
Zitate die mit einem * versehen sind, wur<strong>de</strong>n vom Verfasser aus <strong>de</strong>m Französischen ins Deutsche<br />
übers<strong>et</strong>zt.<br />
GISL, Plan Schuman; Etu<strong>de</strong> du Traité <strong>et</strong> <strong>de</strong> la Convention relative à la pério<strong>de</strong> <strong>de</strong> transition, 29.10.1951.<br />
Ibid., Zitat von Nicolas Hommel während eines Vortrags in Luxemburg, 07.05.1951. Hommel war ständiger<br />
Vertr<strong>et</strong>er Luxemburgs bei <strong>de</strong>r Organization of European Economic Cooperation und Mitglied <strong>de</strong>r Luxemburger<br />
Verhandlungs<strong>de</strong>legation in Paris.<br />
GISL, Schreiben <strong>de</strong>s GISL (gez. Eric Conrot und Jean-Baptiste Henckes) an Clarence B. Randall, 03.10.1951.<br />
ARBED, P.61 - Plan Schuman, Schlußfolgerungen einer vom GISL verfaßten Studie über <strong>de</strong>n EGKS-Vertrag,<br />
29.10.1951.
Sturm im Wasserglas 4<br />
la Sidérurgie Française (CSSF) noch voller Zuversicht über ein Scheitern <strong>de</strong>s Kohle- und<br />
Stahlpools. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise verließen sie sich in dieser Angelegenheit zunächst<br />
hauptsächlich auf ihre ausländischen Kollegen, vornehmlich die Deutschen, von <strong>de</strong>nen man<br />
annahm, sie seien in Bonn einflußreich genug, um die Kastanien aus <strong>de</strong>m Feuer zu holen.<br />
Als dann aber am 25. Oktober Jean-Baptiste Henckes und Eric Conrot vom Groupement <strong>de</strong>s<br />
Industries Sidérurgiques Luxembourgeoises (GISL) 13 ihnen mitteilten, ihren Informationen<br />
zufolge wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>stag <strong>de</strong>n Schuman-Plan ohne jegliche Vorbehalte annehmen, fielen<br />
die Franzosen aus allen Wolken:<br />
«Die bruchstückhaften Informationen über die sie verfügten, ließen sie das Gegenteil<br />
annehmen, und sie hatten daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß es, seitens <strong>de</strong>r<br />
französischen Industriellen, nicht mehr nötig sei, entsprechend große Anstrengungen<br />
zu unternehmen»*! 14<br />
Als Konsequenz <strong>de</strong>s unerwart<strong>et</strong>en Rückschlags krempelte die CSSF ihre Taktik um: «…<br />
man wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Plan annehmen, aber sofort eine Revision <strong>de</strong>r wirklich wichtigen Punkte<br />
verlangen» * . In nahtloser Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Verband <strong>de</strong>r luxemburgischen<br />
Hüttenherren wur<strong>de</strong> also abgemacht, die Konvention zwar anzunehmen, aber eben nur unter<br />
<strong>de</strong>r Bedingung, sie alsbald einer gründlichen Nachbesserung zu unterziehen. Eile war<br />
geboten, da mit <strong>de</strong>m Zustan<strong>de</strong>kommen <strong>de</strong>r obersten Unionsbehör<strong>de</strong> die alte Internationale<br />
Ruhrbehör<strong>de</strong> höchstwahrscheinlich verschwin<strong>de</strong>n, und die lebenswichtige Frage <strong>de</strong>r<br />
Kohleverteilung sich <strong>de</strong>mnach von Anbeginn stellen wür<strong>de</strong>. Folglich mußte die Revision <strong>de</strong>r<br />
Texte stattfin<strong>de</strong>n, und zwar noch bevor die Hohe Behör<strong>de</strong> überhaupt zum Einsatz gelangte.<br />
«Ohne dies wäre man von Anfang an einem Dirigismus übelster Art ausgeliefert» * . Aus<br />
ähnlichen Motiven durfte die gründlich überarbeit<strong>et</strong>e Neuauflage nicht gleich zum Tragen<br />
kommen. Während einer bestimmten, zeitlich nicht weiter festgelegten Anlaufperio<strong>de</strong> sollte<br />
die Hohe Behör<strong>de</strong> sich konstituieren und ihre Arbeit vorläufig exklusiv in <strong>de</strong>n Bereichen<br />
Information, Zollverhandlungen, Studium <strong>de</strong>r Harmonisierungsmöglichkeiten in Sachen<br />
Produktion und Transport aufnehmen. Die ursprünglich binnen einer sechs- bis<br />
achtmonatigen Frist angekündigte Schaffung <strong>de</strong>s Gemeinsamen Marktes dagegen mußte<br />
unbedingt verschoben wer<strong>de</strong>n, bis die Regierungen aller sechs Mitgliedstaaten einhellig <strong>de</strong>r<br />
Auffassung waren, «… daß man dies auch wirklich ohne je<strong>de</strong> Gefahr tun kann» * . Die auf<br />
jene Art gewonnene Zeit, monierte die CSSF, könnte gegebenenfalls genutzt wer<strong>de</strong>n, um<br />
weitere Vertragsän<strong>de</strong>rungen einzubringen.<br />
«Zur Durchs<strong>et</strong>zung einer Revision <strong>de</strong>s Vertrages wür<strong>de</strong>n die Franzosen behaupten, die<br />
ganzen Umän<strong>de</strong>rungen verlange man eigentlich bloß, weil man eben wünsche, daß <strong>de</strong>r<br />
Schuman-Plan eine Realität wer<strong>de</strong>n soll» * . Die ins Feld geführte Argumentation <strong>de</strong>r<br />
13<br />
14<br />
Jean-Baptiste Henckes, beigeordn<strong>et</strong>er Geschäftsführer <strong>de</strong>r Arbed-Verkaufsorganisation Columéta; Eric<br />
Conrot, Generalsekr<strong>et</strong>är <strong>de</strong>s GISL.<br />
ARBED, P.61 - Plan Schuman, Bericht von Henckes über eine französisch-luxemburgische Unterredung im<br />
Lokal <strong>de</strong>s Conseil National du Patronat Français in Paris, 26.10.1951.<br />
(Auf <strong>de</strong>r französischen Seite nahmen Pierre Ricard, Pierre Giraudon, Bernière, Alexis Aron und Louis Charv<strong>et</strong><br />
an <strong>de</strong>r Gesprächsrun<strong>de</strong> teil).<br />
Nicht nachzuweisen ist, aber mit an Sicherheit grenzen<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeit darf angenommen wer<strong>de</strong>n, daß<br />
Henckes und Conrot über <strong>de</strong>n En<strong>de</strong> September 1951 eins<strong>et</strong>zen<strong>de</strong>n Schriftverkehr zwischen <strong>de</strong>m Arbed-<br />
Generaldirektor Félix Chomé und Walter Schwe<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r WVESI unterricht<strong>et</strong> waren. Aus dieser<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz über <strong>de</strong>utsche Pläne zur praktischen Gestaltung <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> geht unmittelbar hervor,<br />
daß die bun<strong>de</strong>srepublikanischen Industriellen damals bereits alle Hoffnungen auf eine Nicht-Ratifizierung o<strong>de</strong>r<br />
Nachbesserung <strong>de</strong>s Vertrages begraben hatten. Von <strong>de</strong>n Absichten <strong>de</strong>r WVESI b<strong>et</strong>r. die Hohe Behör<strong>de</strong>,<br />
ließen die bei<strong>de</strong>n Unterhändler <strong>de</strong>s GISL in Paris allerdings kein Wort verlauten! (Siehe hierzu<br />
Ausführlicheres, weiter unten).
Sturm im Wasserglas 5<br />
Hersteller ist in vielerlei Hinsicht eindrucksvoll. Sie bedarf keines weiteren Kommentars. Mit<br />
<strong>de</strong>rselben Selbstsicherheit, wie die Chambre Syndicale die gestern noch angestrengte<br />
vollständige Verdammung <strong>de</strong>r EGKS nun kurzerhand in ein Plädoyer für die R<strong>et</strong>tung<br />
<strong>de</strong>rselben umdicht<strong>et</strong>e, hegte sie nun genausowenig Zweifel daran, daß das<br />
Revisionsvorhaben scheitern könnte. Zu diesem Zweck hatten Spitzenleute aus <strong>de</strong>m Conseil<br />
National du Patronat Français die Hebel bereits bei <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkommission <strong>de</strong>s Conseil<br />
Economique, einer <strong>de</strong>r vier verfassungsmäßigen Versammlungen <strong>de</strong>r IV. Republik,<br />
anges<strong>et</strong>zt, und zwar mit Erfolg, wie es schien, <strong>de</strong>nn in besagter Untersuchungskommission<br />
ließ sich angeblich niemand fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mit einer Ratifizierung ohne Wenn und Aber<br />
einverstan<strong>de</strong>n war. Sollte das kein gutes Vorzeichen sein? 15<br />
Überhaupt hielt das Patronat zum damaligen Zeitpunkt unbeirrbar an <strong>de</strong>m Glauben in sein<br />
Durchs<strong>et</strong>zungsvermögen gegenüber <strong>de</strong>r Politik fest. Angst hatte man <strong>de</strong>shalb weniger vor<br />
Querschüssen aus <strong>de</strong>n Reihen lan<strong>de</strong>seigener Volksvertr<strong>et</strong>er als vor <strong>de</strong>m Druck durch die<br />
USA. Die Vorstellung, Jean Monn<strong>et</strong> könne sich seiner freundschaftlichen Beziehungen zu<br />
Averell Harriman bedienen, um in Washington eine «mise en <strong>de</strong>meure» 16 an die Adresse <strong>de</strong>r<br />
französischen Regierung herbeizuführen, löste in <strong>de</strong>r Tat großes Unbehagen aus. Immerhin<br />
rechn<strong>et</strong>e die CSSF damit, daß <strong>de</strong>r Hauptinitiator <strong>de</strong>s Schuman-Plans mittels amerikanischer<br />
Schützenhilfe eine «vorgezogene Ratifizierung im Hauruckverfahren» 17 erzwingen wollte, um<br />
die Bemühungen <strong>de</strong>r Hüttenherren zu übergehen. Dem sollte entgegengewirkt wer<strong>de</strong>n,<br />
einerseits durch gezielte Aktionen während <strong>de</strong>r für En<strong>de</strong> November, Anfang Dezember<br />
anberaumten Wirtschaftsmission führen<strong>de</strong>r europäischer Industriebosse in <strong>de</strong>n Vereinigten<br />
Staaten, an<strong>de</strong>rerseits durch die Wie<strong>de</strong>rbelebung <strong>de</strong>r engen Beziehungen zu <strong>de</strong>m<br />
Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Inland Steel und <strong>de</strong>m ehemaligen leiten<strong>de</strong>n Mitarbeiter <strong>de</strong>r Economic<br />
Cooperation Administration, Clarence B. Randall. In einem längeren, in <strong>de</strong>r Sommerausgabe<br />
1951 <strong>de</strong>r Zeitschrift Atlantic Monthly abgedruckten Artikel, hatte Randall die Montanunion<br />
<strong>de</strong>s «Super-Sozialismus» * bezichtigt. Die anstehen<strong>de</strong> parlamentarische Absegnung <strong>de</strong>r<br />
EGKS-Verträge hatte er mit einem Gang <strong>de</strong>r freien Markwirtschaft zum Schafott<br />
gleichgestellt. Kurz gesagt, <strong>de</strong>r Autor sprach seinen Kollegen <strong>de</strong>s Alten Kontinents förmlich<br />
aus <strong>de</strong>r Seele. 18 Demnach erwart<strong>et</strong>en l<strong>et</strong>ztere von Randall nicht nur ein engagiertes Werben<br />
um amerikanisches Verständnis für privatwirtschaftliche Grundrechte <strong>de</strong>r europäischen<br />
Eisenindustrie, son<strong>de</strong>rn vor allem die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rücken<strong>de</strong>ckung bei <strong>de</strong>r US-<br />
Verwaltung.<br />
Die am 25. Oktober gemeinsam mit <strong>de</strong>n Vertr<strong>et</strong>ern <strong>de</strong>r CSSF ausgeheckte Strategie zum<br />
Erlangen einer an Bedingungen geknüpften Ratifizierung stand, wie oben ange<strong>de</strong>ut<strong>et</strong>, in<br />
«perfektem» * Einklang mit <strong>de</strong>n diesbezüglichen Vorstellungen <strong>de</strong>s luxemburgischen<br />
Eisenhüttenverban<strong>de</strong>s. Knappe vier Tage nach <strong>de</strong>r Pariser Unterredung stellte das GISL die<br />
Endversion seiner ausführlichen Stellungnahme an die Han<strong>de</strong>lskammer <strong>de</strong>s<br />
Großherzogtums fertig. Der einundzwanzig Seiten umfassen<strong>de</strong> Bericht <strong>de</strong>r Schwerindustrie<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
Die französische Berichterstattung über Louis Charv<strong>et</strong>s Ausführungen vor <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkommission schließt mit<br />
<strong>de</strong>r pikanten Bemerkung: «Hirsch <strong>et</strong> Uri ont été assez piteux» [Hirsch und Uri haben einen ziemlich<br />
erbärmlichen Eindruck hinterlassen].<br />
«Ultimative Auffor<strong>de</strong>rung».<br />
«Ratification hâtive ou par accroc».<br />
GISL, Glückwunschschreiben von Conrot und Henckes an Clarence B. Randall, 03.10.1951; beiliegend, eine<br />
Übers<strong>et</strong>zung <strong>de</strong>s besagten Artikels.<br />
Randalls I<strong>de</strong>en wur<strong>de</strong>n in europäischen Industriellenkreisen heftig applaudiert. Nur seine Äußerungen über<br />
Kartelle wiesen die Stahlkocher mit <strong>de</strong>m Hinweis auf die «völlig verschie<strong>de</strong>nen Marktbedingungen» in Europa<br />
und in <strong>de</strong>n USA entschie<strong>de</strong>n zurück.
Sturm im Wasserglas 6<br />
wur<strong>de</strong> übrigens inhaltlich nahezu integral von <strong>de</strong>r besagten Berufskammer als motiviertes<br />
Gutachten an die Chambre <strong>de</strong>s députés weitergeleit<strong>et</strong>. 19 Neben <strong>de</strong>m «Verrat an Herrn<br />
Schumans I<strong>de</strong>al» * durch eine Clique übereifriger, «zentralistisch» * und «instinktiv<br />
bürokratisch <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Funktionäre» * , w<strong>et</strong>terten die bei<strong>de</strong>n mutmaßlichen Verfasser<br />
Henckes und Conrot in bekannter Manier gegen allmögliche Gefahren und Exzesse einer<br />
hydraartig um sich greifen<strong>de</strong>n Planwirtschaft. Bei <strong>de</strong>r geschickt eingefä<strong>de</strong>lten D<strong>et</strong>ailanalyse<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Vertragsartikel wiesen sie immer wie<strong>de</strong>r auf die einmalige Son<strong>de</strong>rstellung<br />
Luxemburgs hin. In fortwähren<strong>de</strong>r Anlehnung an die vitale Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Montangewerbes<br />
wur<strong>de</strong> die EGKS zur nationalen Existenzfrage hochstilisiert. Unterschwellig wur<strong>de</strong>n<br />
gleichzeitig Angstgefühle geschürt. Konnte ein Land, <strong>de</strong>ssen Eisenherstellung 80 bis 85%<br />
seiner gesamten Industrieproduktion ausmachten, be<strong>de</strong>nkenlos auf die Verfügungsgewalt<br />
über die Quelle seines einzigen Reichtums verzichten? Durften die Festlegung <strong>de</strong>r Preise,<br />
die Ausarbeitung <strong>de</strong>r Produktionsprogramme, die Orientierung <strong>de</strong>r Investitionspolitik, das<br />
Management in Krisenzeiten …, gemeinschaftlichen Institutionen anvertraut wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren<br />
internationale Bes<strong>et</strong>zung und komplizierte Entscheidungsmechanismen die kleinen<br />
Partnerstaaten unweigerlich in die Position <strong>de</strong>s Unterlegenen abdrängten? Sollte ein Volk –<br />
<strong>de</strong>ssen Arbeiterschaft zu 25% ihr Brot in <strong>de</strong>n Erzgruben o<strong>de</strong>r Schmelzen verdiente und<br />
darüber hinaus auch noch europaweit die höchsten Gehälter bezog – sich darauf verlassen,<br />
daß die gepriesene Angleichung <strong>de</strong>r Löhne und <strong>de</strong>r Sozialleistungen nicht in einer<br />
Herabs<strong>et</strong>zung seines Lebensstandards en<strong>de</strong>n könnte? Fazit: «Eine Ratifizierung ohne<br />
Vorbehalte wäre also […] äußerst gefährlich»*. 20<br />
Um <strong>de</strong>n drohen<strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r «praktisch gesamten Ökonomie» * abzuwen<strong>de</strong>n, gab das<br />
Groupement abschließend zwei Möglichkeiten an: eine Optimallösung und, ersatzweise, eine<br />
Minimallösung.<br />
Die Optimallösung bestand aus einem For<strong>de</strong>rungskatalog mit neun Punkten:<br />
1. Beseitigung <strong>de</strong>s Dirigismus, sowohl durch die Einschränkung <strong>de</strong>r Komp<strong>et</strong>enzen <strong>de</strong>s<br />
obersten Unionsorgans als auch durch die Einführung einer echten B<strong>et</strong>eiligung <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer;<br />
2. Abän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Kapitels über Kartelle;<br />
3. Abschwächung <strong>de</strong>r Bestimmungen über die Unternehmenskonzentration;<br />
4. Gewährleistung <strong>de</strong>r Investitionsfreiheit;<br />
5. Überarbeitung <strong>de</strong>s Rekursverfahrens sowie <strong>de</strong>s Systems <strong>de</strong>r Strafen und Bußgel<strong>de</strong>r;<br />
6. Einführung formaler, ges<strong>et</strong>zlich bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Zusagen über die progressive Anpassung<br />
<strong>de</strong>r Löhne;<br />
7. Harmonisierung <strong>de</strong>r Frachtsätze bei Eisenbahntransporten innerhalb <strong>de</strong>s<br />
Gemeinsamen Marktes; 21<br />
19<br />
20<br />
21<br />
GISL, Etu<strong>de</strong> du Traité <strong>et</strong> <strong>de</strong> la Convention relative à la pério<strong>de</strong> <strong>de</strong> transition, 29.10.1951; vgl. auch, Avis <strong>de</strong> la<br />
Chambre <strong>de</strong> Commerce, 20.11.1951, IN: Ministère d'Etat - Service Information <strong>et</strong> Presse, Le Grand-Duché <strong>de</strong><br />
Luxembourg <strong>et</strong> la Communauté Européenne du Charbon <strong>et</strong> <strong>de</strong> l'Acier. Plan Schuman, Imp. P. Lin<strong>de</strong>n,<br />
Luxembourg, 1953, S.18-22.<br />
Laut Verfassung <strong>de</strong>s Großherzogtums müssen die verschie<strong>de</strong>nen Berufskammern ein Gutachten über alle sie<br />
b<strong>et</strong>reffen<strong>de</strong>n Ges<strong>et</strong>zesvorlagen einreichen. Besagte Gutachten haben aber keinen bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Charakter.<br />
Vgl. hierzu auch diverse Artikel in <strong>de</strong>r Zeitschrift L'Echo <strong>de</strong> l'Industrie (Hrsg.: Fédération <strong>de</strong>s Industriels<br />
Luxembourgeois), u.a. Son<strong>de</strong>rbeilage zur N°10 vom 19.05.1951.<br />
Während die meisten For<strong>de</strong>rungen eher genereller Natur waren und <strong>de</strong>shalb von <strong>de</strong>n ausländischen<br />
Industrieverbän<strong>de</strong>n mitg<strong>et</strong>ragen wur<strong>de</strong>n, b<strong>et</strong>rafen die Punkte 6 und 7 spezifisch luxemburgische Anliegen.<br />
Zu Punkt 6: Weil die Harmonisierung <strong>de</strong>r Löhne und <strong>de</strong>r Sozialleistungen nur in Form einer Absichtserklärung<br />
im Vertrag erwähnt waren, befürcht<strong>et</strong>en die luxemburgischen Hüttenbesitzer, <strong>de</strong>r fromme Vorsatz sei nur<br />
leeres Gere<strong>de</strong>. Da kein verbindlicher Artikel die ausländische Konkurrenz zu einer Anpassung auf das
Sturm im Wasserglas 7<br />
8. Schaffung <strong>de</strong>r Möglichkeit eines Austritts vor Ablauf <strong>de</strong>r fünfzigjährigen Vertragsdauer,<br />
falls die Auswirkungen <strong>de</strong>s Schuman-Plans sich als nicht mehr tragbar für eines <strong>de</strong>r<br />
Mitgliedslän<strong>de</strong>r erweisen sollten;<br />
9. Neugestaltung <strong>de</strong>r Übergangsperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>ren Beendigung nur durch einen einstimmigen<br />
Ministerratsbeschluß <strong>de</strong>kr<strong>et</strong>iert wer<strong>de</strong>n kann, und das erst nach Beseitigung aller<br />
fundamentaler wirtschaftlichen Gleichgewichtsstörungen.<br />
Zur Durchs<strong>et</strong>zung seiner Wunschliste drängte <strong>de</strong>r Unternehmerverband die Luxemburger<br />
Regierung, sie solle auf diplomatischem Wege bei <strong>de</strong>n zukünftigen Partnern vorstellig<br />
wer<strong>de</strong>n und l<strong>et</strong>ztere davon überzeugen, gleiche o<strong>de</strong>r ähnliche Revisionsansprüche<br />
anzumel<strong>de</strong>n. Auffallend ist hier – genau wie bei <strong>de</strong>r französischen CSSF –, daß das GISL<br />
we<strong>de</strong>r ernsthaft daran dachte, die Regierung wolle ihrem Anliegen überhaupt nicht<br />
nachkommen, noch ins Auge faßte, ein <strong>de</strong>rartiger Vorstoß könnte von <strong>de</strong>n fünf übrigen<br />
Unterzeichnerstaaten abgewiesen wer<strong>de</strong>n. Im Spätsommer 1951 malten die Hüttenherren<br />
sich sogar recht gute Chancen für die Durchs<strong>et</strong>zung ihres Vorhabens aus. Damals hatte das<br />
GISL nämlich unerwart<strong>et</strong> Schützenhilfe vom sozialistischen Wirtschaftsminister Michel<br />
Rasquin bekommen. Wenngleich aus völlig an<strong>de</strong>rsgelagerten Motiven – ihm ging es nicht<br />
um die Belange <strong>de</strong>r Industrie, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n Erhalt <strong>de</strong>s sozialen Besitzstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft – so hatte <strong>de</strong>r Minister in einem Interview gegenüber <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Neue[n]<br />
Zeitung verschie<strong>de</strong>ne An<strong>de</strong>utungen über Revisionsansprüche durch die großherzogliche<br />
Regierung gemacht. Eine Woche später wur<strong>de</strong>n Rasquins Anspielungen vom <strong>de</strong>utschen<br />
Sozial<strong>de</strong>mokraten Kurt Schumacher in einer Radiosendung aufgegriffen und so hingestellt,<br />
als habe Luxemburg «die schwersten Be<strong>de</strong>nken gegen die Ratifizierung <strong>de</strong>s<br />
Schumanplans». Alles in allem wirbelte die Angelegenheit ziemlich viel Staub bei <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>sregierung und beim französischen Hochkommissar für Deutschland auf.<br />
Dementsprechend verschnupft reagierte dann auch <strong>de</strong>r Chef <strong>de</strong>r Luxemburger<br />
Gesandtschaft in Bonn, Albert Wehrer. Er befürcht<strong>et</strong>e, daß durch Rasquins Abweichung von<br />
<strong>de</strong>r offiziellen Linie, Luxemburg seine guten Aussichten auf <strong>de</strong>n Sitz <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong><br />
verscherzen könnte. 22<br />
Wie <strong>de</strong>m auch sei, aller be<strong>de</strong>nklichen Vorzeichen zum Trotz schien das Patronat nach wie<br />
vor voller Zuversicht, das Blatt tatsächlich zu seinen Gunsten wen<strong>de</strong>n zu können.<br />
O<strong>de</strong>r regten sich doch allmählich Be<strong>de</strong>nken? Für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>s Falles – er wur<strong>de</strong> allerdings<br />
als «höchst unwahrscheinlich» * [!] eingestuft – war eine Minimallösung vorgesehen. Von <strong>de</strong>n<br />
neun oben erläuterten Punkten beinhalt<strong>et</strong>e sie lediglich die bei<strong>de</strong>n l<strong>et</strong>ztgenannten. Wenn<br />
also die fünf an<strong>de</strong>ren Partner ratifizierten, sollte das Großherzogtum seine Abstimmung<br />
<strong>de</strong>nnoch von <strong>de</strong>r Annahme <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Bedingungen abhängig machen. Das zu erwarten<strong>de</strong><br />
Gegenargument, Luxemburg dürfe sich unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>n nicht durch einen<br />
22<br />
Höchstniveau <strong>de</strong>s Großherzogtums zwang, bestand die Gefahr, daß alles beim alten bleiben könnte. Mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten, die erdrücken<strong>de</strong>n Soziallasten wür<strong>de</strong>n sich wie ehe<strong>de</strong>m negativ auf die<br />
W<strong>et</strong>tbewerbsfähigkeit <strong>de</strong>r einheimischen Produktion auswirken.<br />
Zu Punkt 7: Wegen <strong>de</strong>r ausgesprochen schlechten Finanzlage <strong>de</strong>r Société Nationale <strong>de</strong>s Chemins <strong>de</strong> Fer<br />
Luxembourgeois hatten die luxemburgischen Unterhändler in Paris eine Ausnahmeregelung für die<br />
Übergangsperio<strong>de</strong> erreicht. Diese erlaubte <strong>de</strong>r Regierung, die alten diskriminieren<strong>de</strong>n Bahntarife<br />
beizubehalten, bzw. die direkten <strong>de</strong>gressiven Frachtsätze nicht sofort einführen zu müssen. Auch hier war die<br />
Schwerindustrie einmal mehr hart g<strong>et</strong>roffen, weil die Koks- und Erzzufuhr hauptsächlich auf <strong>de</strong>m Schienenweg<br />
erfolgte. (Vgl. hierzu ARBED, P.47A - Chemins <strong>de</strong> fer, 1947-1953).<br />
Vgl. AEL AE 11392; Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 30.08.1951 und ARBED, P.61, Alex <strong>de</strong><br />
Dees, Luxemburg: Schuman-Plan von vitaler Be<strong>de</strong>utung. Ein Interview mit Luxemburgs Wirtschaftsminister M.<br />
Michel Rasquin. IN: Neue Zeitung, 21.08.1951 (siehe auch Frankfurter Rundschau, 29.08.1951).
Sturm im Wasserglas 8<br />
Alleingang isolieren, wur<strong>de</strong> vorsorglich mit <strong>de</strong>m Hinweis auf die «kapitale Be<strong>de</strong>utung»* <strong>de</strong>r<br />
einheimischen Schwerindustrie abg<strong>et</strong>an.<br />
Am 13. Mai 1952 stimmte die Chambre <strong>de</strong>s députés mit einer Mehrheit von 47 gegen 4<br />
Stimmen für die vorbehaltlose Annahme <strong>de</strong>s Vertrages zur Einführung <strong>de</strong>r Europäischen<br />
Gemeinschaft für Kohle und Stahl. 23 Drei Monate später, nach Abschluß <strong>de</strong>r<br />
Ratifikationsprozedur in allen sechs Unionslän<strong>de</strong>rn, nahm die Hohe Behör<strong>de</strong> ihre Tätigkeit in<br />
Luxemburg auf.<br />
Rückblickend darf die «Schlacht um die Ratifizierung» *24 also eher mit einem völlig<br />
verz<strong>et</strong>telten Nachhutgefecht verglichen wer<strong>de</strong>n. Bleibt die Frage, weshalb die<br />
schwerindustriellen Anstrengungen so kläglich scheiterten?<br />
Ein erster überaus wichtiger Grund, ist unseres Erachtens in <strong>de</strong>r verspät<strong>et</strong>en Reaktion <strong>de</strong>s<br />
Patronats zu suchen. Die Einstellung <strong>de</strong>r Herstellerverbän<strong>de</strong> war ja allenthalben während<br />
<strong>de</strong>r ersten Verhandlungsrun<strong>de</strong>n von 1950 tatsächlich abwartend bis zurückhaltend. Bedingt<br />
wur<strong>de</strong> das zögerliche Verhalten zunächst durch eine grundsätzliche Infragestellung <strong>de</strong>r<br />
Ernsthaftigkeit <strong>de</strong>s Schumanschen Vorschlags zum einen, durch eine Fehlinterpr<strong>et</strong>ation <strong>de</strong>r<br />
wahren Tragweite <strong>de</strong>s französischen Plans zum an<strong>de</strong>ren. Die hierzu gemachten<br />
Äußerungen vom Generalsekr<strong>et</strong>är <strong>de</strong>s GISL sprechen eine <strong>de</strong>utliche Sprache. Eric Conrot,<br />
<strong>de</strong>r als Mitglied <strong>de</strong>r Luxemburger Delegation die Verhandlungen in Paris selbst aus nächster<br />
Nähe miterlebt und ebenfalls an allen wichtigen Besprechungen unter europäischen<br />
Stahlkochern teilgenommen hatte, räumte später während einer in Longwy veranstalt<strong>et</strong>en<br />
Konferenz ein, die Industrie habe zu lange geglaubt, <strong>de</strong>r Schuman-Plan sei halt nur ein<br />
Vertrag gewesen «wie viele an<strong>de</strong>re auch» * . Berücksichtigt man nun die Vielzahl <strong>de</strong>r damals<br />
zur Einigung Europas kursieren<strong>de</strong>n Projekte und <strong>de</strong>ren Ums<strong>et</strong>zung in die Praxis (lies: ihr<br />
Scheitern), dann wird eines verständlich: «Viele Industrielle glaubten nicht daran» * ! 25<br />
Wie wenig die Eisenhüttenleute ursprünglich an die EGKS glaubten, lassen auch folgen<strong>de</strong>,<br />
selbstre<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Zitate aus <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz zwischen Aloyse Meyer, <strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>s<br />
Arbed-Verwaltungsrates, und <strong>de</strong>m Unternehmensdirektor Félix Chomé – er befand sich im<br />
Mai/Juni 1950 auf einer Amerikareise – erkennen:<br />
«Sogar in Frankreich, weiß niemand Bescheid, we<strong>de</strong>r die Industriellen, noch Herr<br />
Aubrun, noch Herr Denis. Die Initiative kommt von Herrn Monn<strong>et</strong> und wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />
Herren Bidault und Schuman akzeptiert. Dieser Vorschlag beruht sicherlich auf<br />
politischen Motiven, die man zur Zeit aber noch nicht klar erkennen kann. Im Grun<strong>de</strong><br />
han<strong>de</strong>lt es sich aber nur um einen Plan, eine I<strong>de</strong>e …» * [Daraufhin, Chomé (seufzend)]<br />
«Welch Zeichen unserer Zeit !» * [Sieben Tage später, Meyer (gelassen)] «Auf je<strong>de</strong>n<br />
Fall können Sie [Chomé] Ihre Reise beruhigt fortführen. Es gibt wirklich nicht <strong>de</strong>n<br />
geringsten Anlaß zur Besorgnis über diese Schuman-Plan-Angelegenheit» * . 26<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
Vote <strong>de</strong> la loi d'approbation du proj<strong>et</strong> <strong>de</strong> loi le 13 mai 1952, IN: Ministère d'Etat, op.cit., S.81-82.<br />
Nur die vier kommunistischen Volksvertr<strong>et</strong>er stimmten gegen <strong>de</strong>n Schuman-Plan.<br />
E. Devos, Le patronat belge face au Plan Schuman (9 mai 1950 - 5 février 1952), Ed. Ciaco, Bruxelles, 1989,<br />
S.77.<br />
GISL, Causerie faite à Longwy, 28.02.1953.<br />
ARBED, P.VII.A, Briefe vom 22.05.1950, 30.05.1950 und 06.06.1950.
Sturm im Wasserglas 9<br />
Nach<strong>de</strong>m im Zuge <strong>de</strong>r ersten Verhandlungsrun<strong>de</strong> dann doch <strong>et</strong>was Panik ausgebrochen<br />
war, glätt<strong>et</strong>en sich die Wogen trotz<strong>de</strong>m wie<strong>de</strong>r recht schnell. En<strong>de</strong> September schrieb Meyer<br />
erneut an Chomé:<br />
«Herr Henckes hat mir gestern abend telephoniert um mitzuteilen, daß die Entwicklung<br />
[in Paris] nun dahingeht, <strong>de</strong>n Industriellen die Festlegung <strong>de</strong>r Preise und <strong>de</strong>r<br />
Produktionsprogramme zu überlassen, ja daß man sich sogar nicht mehr scheut, <strong>de</strong>n<br />
Begriff Kartell offen auszusprechen. Man gewinnt also <strong>de</strong>n Eindruck, daß die Leute<br />
endlich anfangen, vernünftig zu wer<strong>de</strong>n» * . 27<br />
Zu <strong>de</strong>n Ungläubigen zählten nicht allein die Hüttenherren. Ihre Skepsis wur<strong>de</strong> vielfach durch<br />
die Zweifel aus <strong>de</strong>n Reihen namhafter Politiker untermauert. Mit einem unverkennbaren<br />
Schuß Ironie stellte Conrot im Verlauf seiner Longwy-Konferenz fest, daß mancher<br />
Regierung erst nach <strong>de</strong>m 18. April, ja sogar erst nach <strong>de</strong>m Inkrafttr<strong>et</strong>en <strong>de</strong>r EGKS<br />
dämmerte, worauf sie sich wirklich eingelassen hatte. In diesem Zusammenhang ist<br />
nachdrücklich auf die Hartnäckigkeit hinzuweisen, mit <strong>de</strong>r sich Überlegungen à la "die Suppe<br />
wird nicht so heiß gegessen wie sie gekocht wird", behaupt<strong>et</strong>en. Zu keinem späteren<br />
Zeitpunkt als Dezember 1951 [!] vertrat Belgiens ehemaliger Premier- und<br />
Wirtschaftsminister Gaston Eyskens immerhin die Überzeugung,<br />
«… daß <strong>de</strong>r Schuman-Plan, in seiner Originalfassung niemals in Kraft tr<strong>et</strong>en wird; daß<br />
die Reaktionen aus allen Lagern <strong>de</strong>r sechs b<strong>et</strong>eiligten Län<strong>de</strong>r zu ständigen<br />
Umän<strong>de</strong>rungen und Adaptationen führen, die <strong>de</strong>n eigentlichen Plan spätestens nach<br />
Abschluß <strong>de</strong>r Anlaufperio<strong>de</strong> von 5 Jahren […] nicht mehr wie<strong>de</strong>rerkennen lassen<br />
wer<strong>de</strong>n» * . 28<br />
War die – von je<strong>de</strong>rmann richtig eingeschätzte – vor<strong>de</strong>rgründig politische Ziels<strong>et</strong>zung <strong>de</strong>r<br />
Montanunion schuld am falschen Kalkül? Hatte eine Überbewertung <strong>de</strong>s ursprünglichen<br />
Hauptmotivs die Verantwortlichen dazu verleit<strong>et</strong>, die wirtschaftlichen Bestimmungen als nicht<br />
weiter ernstzunehmen<strong>de</strong> Ran<strong>de</strong>rscheinung abzutun? Die Langlebigkeit <strong>de</strong>rartiger Illusionen<br />
erklärt allemal die Blauäugigkeit, mit <strong>de</strong>r so gewiefte Staatsmänner wie Joseph Bech und<br />
Paul Van Zeeland ans Werk gingen. Nach einer ergiebigen Aussprache, u.a. auch mit<br />
mehreren nie<strong>de</strong>rländischen Ministerkollegen und «verschie<strong>de</strong>ne[n] französische[n]<br />
Persönlichkeiten»*, gaben sich bei<strong>de</strong> Minister höchst optimistisch, auf <strong>de</strong>r abschließen<strong>de</strong>n<br />
Außenministerkonferenz diverse Streitpunkte zwischen Jean Monn<strong>et</strong> und <strong>de</strong>r Industrie<br />
wie<strong>de</strong>r ausräumen zu können. Angeblich soll ihnen Robert Schuman höchstpersönlich<br />
zugesichert haben, einzelne Artikel wie beispielsweise die gesamte Kartellproblematik<br />
könnten neuverhan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n! 29 Das Ergebnis <strong>de</strong>r belgisch-luxemburgischen Initiative<br />
dürfte bekannt sein. Nach Abschluß <strong>de</strong>r Konferenz draht<strong>et</strong>e Henckes nach Hause: «Unsere<br />
Hauptfor<strong>de</strong>rungen abgelehnt» * . 30<br />
Die aufrichtig gemeinten Absichten von Bech und Van Zeeland sind symptomatisch. Sie<br />
zeigen, wie stark das Durchs<strong>et</strong>zungsvermögen von Jean Monn<strong>et</strong> allgemein unterschätzt<br />
wur<strong>de</strong>. Sie ver<strong>de</strong>utlichen aber auch, wie schwer sich viele Zeitgenossen taten, um die<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
ARBED, P.120, Aloyse Meyer an Félix Chomé, 21.09.1950.<br />
AEL AE 11390, Robert Als, Leiter <strong>de</strong>r Luxemburger Gesandtschaft in Brüssel, an Außenminister Joseph Bech,<br />
21.12.1951.<br />
ARBED, P.61 - Plan Schuman, Schreiben <strong>de</strong>r Columéta (gez. Jean-Baptiste Henckes) an Félix Chomé über<br />
die Vorbereitungen <strong>de</strong>r Außenministerkonferenz, 10.04.1951.<br />
ARBED, P.61, Telegramm von Jean-Baptiste Henckes an Félix Chomé, 20.04.1951. Ibid., Ausführlicher<br />
Bericht von Henckes, 27.04.1951.
Sturm im Wasserglas 10<br />
festgefahrenen Bahnen <strong>de</strong>r herkömmlichen Diplomatie zu verlassen und sich mit <strong>de</strong>r<br />
ungewöhnlich kühnen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Unionsprojekts anzufreun<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> hierin ist, nach<br />
unserem Ermessen, die ausschlaggeben<strong>de</strong> Ursache für das Fehlen einer<br />
gemeinschaftlichen Aktion seitens <strong>de</strong>r Produzenten zu suchen: die Unfähigkeit mancher<br />
Spitzenpolitiker, sich auf die neue Wellenlänge einzustellen, bestärkte die<br />
Wirtschaftsverbän<strong>de</strong> in ihrem Glauben, sie könnten ihre eigenen Interessen durch das<br />
übliche Feilschen im Zuge klassischer Verhandlungen wahren. Solange auf <strong>de</strong>r Pariser<br />
Konferenz und während <strong>de</strong>r anschließen<strong>de</strong>n Ratifizierungsprozedur Aussicht auf eine<br />
Abschwächung <strong>de</strong>r ökonomischen Vertragsartikel bestand, solange vertrauten sie auf das<br />
Verhandlungsgeschick <strong>de</strong>r politisch Verantwortlichen und das Vermögen <strong>de</strong>r nationalen<br />
Unterhändler, <strong>de</strong>n Scha<strong>de</strong>n doch noch in Grenzen zu halten. 31 Folglich ging die Kooperation<br />
unter <strong>de</strong>n Gewerbeorganisationen <strong>de</strong>r Unionslän<strong>de</strong>r kaum über einen gewissen<br />
Informationsaustausch hinaus. Als die Industrie dann im zweiten Semester 1951 schrittweise<br />
die Unwi<strong>de</strong>rrufbarkeit <strong>de</strong>r Unionsbestimmungen erkannte, waren die Dinge bereits so weit<br />
gediehen, daß es nur noch bestenfalls zum vereinten Protestchoral reichte. Bis dato war es<br />
<strong>de</strong>n Stahlkochern aber nicht in <strong>de</strong>n Sinn gekommen, als geschlossene, europäische Kraft<br />
aufzutr<strong>et</strong>en.<br />
An <strong>de</strong>r verspät<strong>et</strong> eins<strong>et</strong>zen<strong>de</strong>n Generalmobilmachung gegen die EGKS trug sicherlich<br />
auch das überb<strong>et</strong>ont nationale Denken und Tun <strong>de</strong>r Stahlkocher Schuld. Damit ist ein<br />
weiterer Grund für das Scheitern schwerindustrieller Bemühungen gegeben.<br />
Abgesehen von <strong>de</strong>r Feststellung, daß innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen Wirtschaftsgruppen nicht<br />
unbedingt eine absolut einheitliche Haltung zum Schuman-Plan existierte, 32 so galt die<br />
Wahrung <strong>de</strong>r nationalen Interessen für je<strong>de</strong>n Verband als oberstes Gebot. Da die Struktur<br />
<strong>de</strong>r im Gemeinsamen Markt zu vereinen<strong>de</strong>n Industrien von Land zu Land meist stark<br />
unterschiedlich war, gestalt<strong>et</strong>en sich die jeweils in <strong>de</strong>n Vertrag ges<strong>et</strong>zten Erwartungen (und<br />
Befürchtungen) genauso verschie<strong>de</strong>nartig. Die Grun<strong>de</strong>instellung <strong>de</strong>r Deutschen kennen wir<br />
bereits aus <strong>de</strong>r Einleitung dieses Aufsatzes. Ihr Hauptziel, d.h. die Aufhebung <strong>de</strong>r alliierten<br />
Restriktionen und das Erlangen <strong>de</strong>r vollständigen Produktionsfreiheit, sahen sie durch <strong>de</strong>n<br />
französischen Plan in Frage gestellt. Umgekehrt warf das Patronat in Frankreich seiner<br />
Regierung vor, mit <strong>de</strong>r EGKS ein «Instrument zur Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Suprematie in Europa» *33 geschaffen zu haben. Wenngleich dieses «starke Argument» * mit<br />
Rücksicht auf <strong>de</strong>n Vorwurf chauvinistischer H<strong>et</strong>ze nicht in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit ausposaunt<br />
wur<strong>de</strong>, so war die CSSF doch recht ents<strong>et</strong>zt über die vermut<strong>et</strong>e Schwemme <strong>de</strong>utscher<br />
Stahlerzeugnisse auf <strong>de</strong>m Inlandsmarkt <strong>de</strong>s Hexagons. 34 In Anb<strong>et</strong>racht <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschfranzösischen<br />
Duells hätte man eine engere Kollaboration unter <strong>de</strong>n schwächeren<br />
Partnerstaaten Italien und <strong>de</strong>n Benelux-Län<strong>de</strong>rn vermuten können. 35 Ein solcher Block<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
ARBED, P.120, Félix Chomé an Aloyse Meyer, 19.03.1951.<br />
Vgl. W. Bührer, op.cit., S.179 und Ph. Mioche, op.cit., S.317-318.<br />
ARBED, P.61, Bericht von Jean-Baptiste Henckes, 26.10.1951, op.cit.<br />
ARBED, P.61, Travaux du Groupe IV (Production-Prix), anonymer Bericht, 16.08.1950.<br />
Die Stimmung unter <strong>de</strong>n Eisenhüttenleuten <strong>de</strong>r Beneluxstaaten war stark g<strong>et</strong>rübt, da am 3. Mai 1949 die<br />
Verhandlungen über die Einrichtung eines Produktionskartells geplatzt waren. Seit Oktober <strong>de</strong>s Vorjahres<br />
hatten Belgier und Luxemburger sich gemeinsam bemüht, <strong>de</strong>n Hollän<strong>de</strong>rn eine Einschränkung ihrer<br />
Stahlkapazitäten in Höhe von 50% <strong>de</strong>s nie<strong>de</strong>rländischen Inlandmarktes aufzuzwingen; die restlichen 50% <strong>de</strong>s<br />
Stahlbedarfs <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong> sollten ausschließlich durch belgische o<strong>de</strong>r luxemburgische Werke geliefert<br />
wer<strong>de</strong>n. Das Scheitern <strong>de</strong>r Abmachung am zähen Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Hollän<strong>de</strong>r hatte zur Folge, daß es auch im<br />
Rahmen <strong>de</strong>s Europäischen Wie<strong>de</strong>raufbau-Programms öfters heftige Auseinan<strong>de</strong>rs<strong>et</strong>zungen zwischen <strong>de</strong>n<br />
Eisenindustrien <strong>de</strong>r drei Zollunionspartner gegeben hatte. (Vgl. ARBED, P.20.A und B - Benelux).
Sturm im Wasserglas 11<br />
bild<strong>et</strong>e sich aber nie, weil die praktische Ausführung <strong>de</strong>r einzelnen Vertragsartikel für je<strong>de</strong><br />
nationale Wirtschaft an<strong>de</strong>re Konsequenzen erkennen ließ. Je<strong>de</strong>r Verband schätzte <strong>de</strong>shalb<br />
die vermeintlichen Auswirkungen <strong>de</strong>r Union auf seine Produktionsmöglichkeiten ab,<br />
mutmaßte über neue Absatzperspektiven, verglich Preise und Gestehungskosten, …,<br />
kalkulierte <strong>de</strong>n Einfluß auf die W<strong>et</strong>tbewerbsfähigkeit <strong>de</strong>r eigenen und <strong>de</strong>r benachbarten<br />
Werke. Der dominieren<strong>de</strong> Gedanke, die ausländische Konkurrenz könnte sich unerwart<strong>et</strong><br />
Vorteile verschaffen, gab Anlaß zu gegenseitigem Mißtrauen.<br />
Dank <strong>de</strong>r mehr o<strong>de</strong>r weniger regelmäßigen Aussprache mit <strong>de</strong>n Industriellenorganisationen<br />
und ihrer nach Paris gereisten Experten, spiegelte sich <strong>de</strong>r egozentrische Argwohn<br />
wenigstens teilweise in <strong>de</strong>n Stellungnahmen <strong>de</strong>r offiziellen Län<strong>de</strong>r<strong>de</strong>legationen wie<strong>de</strong>r. Die<br />
Verhandlungen – und das Gerangel hinter <strong>de</strong>n Kulissen – entwickelten sich zu einem<br />
verworrenen Spiel ständig wechseln<strong>de</strong>r Fronten, wobei eine Delegation die an<strong>de</strong>re in diesem<br />
o<strong>de</strong>r jenem Punkt mal unterstützte, mal gegen sie Position bezog: die von <strong>de</strong>n Belgiern und<br />
Luxemburgern gemeinsam ausgearbeit<strong>et</strong>e Regelung <strong>de</strong>r Produktionsfrage war durch einen<br />
überraschen<strong>de</strong>n Gegenvorschlag ihrer «holländischen Freun<strong>de</strong>» *36 torpediert wor<strong>de</strong>n; statt<br />
an <strong>de</strong>r Seite ihrer bei<strong>de</strong>n Benelux-Partner zu stehen, hielten die Nie<strong>de</strong>rlän<strong>de</strong>r meistens mit<br />
<strong>de</strong>n Deutschen, um dann, in <strong>de</strong>r Schlußphase <strong>de</strong>s Verhandlungszirkus, verdächtig oft Partei<br />
für die Franzosen zu ergreifen. 37 Hatte Jean Monn<strong>et</strong> ihnen <strong>et</strong>was versprochen, fragte Albert<br />
Wehrer mit trockenem Unterton? 38 Auch wenn Belgien und das Großherzogtum allein auf<br />
weiter Flur stan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Diskussion über Lohn- und Sozialprobleme, so verbünd<strong>et</strong>en sie<br />
sich doch mit Holland und <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik, um eine paritätische Festlegung <strong>de</strong>r Preise<br />
durchzuboxen; Frankreich und Italien hingegen beharrten auf Ab-Werk-Preisen. Allerdings<br />
waren Franzosen und Italiener ganz gehörig zerstritten über die Einbeziehung <strong>de</strong>r Märkte<br />
von französisch Nordafrika. 39 Zur Schwächung <strong>de</strong>r italienischen Position sah Frankreich sich<br />
veranlaßt, <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Benelux-Staaten mehr entgegenzukommen, zum Beispiel<br />
durch größeres Wohlwollen gegenüber <strong>de</strong>m belgischen Kohlenausgleich. Dies wie<strong>de</strong>rum<br />
paßte <strong>de</strong>n Deutschen nicht, weil <strong>de</strong>r Ausgleich für Belgien auf Kosten <strong>de</strong>r Ruhr vonstatten<br />
ging und automatisch eine allgemeine Verteuerung in <strong>de</strong>r BRD nach sich zog. Grund genug,<br />
sich mit <strong>de</strong>n Luxemburgern anzufreun<strong>de</strong>n, da l<strong>et</strong>ztere ganz beson<strong>de</strong>rs wegen <strong>de</strong>rselben<br />
Angelegenheit aufgebracht waren. 40<br />
Die Frage <strong>de</strong>s Lastenausgleichs für Kohle veranschaulicht in hervorragen<strong>de</strong>r Weise, wie die<br />
kleinliche Verteidigung nationaler Interessen einen handfesten Krach zwischen zwei Staaten<br />
entzünd<strong>et</strong>e, <strong>de</strong>ren seit 1922 in <strong>de</strong>r Union Economique Belgo-Luxembourgeoise<br />
zusammengefaßte Eisenindustrien eigentlich unter annähernd <strong>de</strong>nselben Bedingungen<br />
produzierten. Während <strong>de</strong>r Anfangsphase <strong>de</strong>r Schuman-Plan Verhandlungen war die<br />
Zusammenarbeit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Zollunionslän<strong>de</strong>r dann auch recht konstruktiv 41 …, bis die<br />
Aushandlung einer konkr<strong>et</strong>en Ausnahmeregelung zum Schutz <strong>de</strong>r belgischen Zechen die<br />
36<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
GISL, persönliches Schreiben von Eric Conrot, 18.09.1950.<br />
AEL AE 11342, <strong>Charles</strong> Reichling an Außenminister Joseph Bech, 13.09.1950.<br />
AEL AE 11374, handschriftliche Notiz von Albert Wehrer, 22.02.1951.<br />
AEL AE 11384, geheimer Bericht von Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 08.09.1950: «Herr<br />
Clappier hat uns sogar mitg<strong>et</strong>eilt, die Italiener hätten diesbezüglich <strong>de</strong>r französischen Regierung zwei Noten<br />
überreicht, mit <strong>de</strong>nen sie drohten, die Konferenz von Paris zu verlassen, falls die französische Regierung nicht<br />
gewillt sei, ihrem Ansinnen Rechnung zu tragen. Daraufhin hätten die Franzosen ihnen geantwort<strong>et</strong>: Na geht<br />
doch nach Hause, wenn ihr wollt» * .<br />
AEL AE 11398, Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 23.05.1951.<br />
GISL, persönliches Schreiben von Conrot, op.cit.: «Unsere Beziehungen zu <strong>de</strong>n Belgiern sind exzellent» * .
Sturm im Wasserglas 12<br />
Beziehungen völlig erstarren ließ. 42 Dabei hatte die luxemburgische Industrie prinzipiell<br />
nichts gegen <strong>de</strong>n Kohlenausgleich einzuwen<strong>de</strong>n. Ihr ging es lediglich um seine indirekten<br />
Auswirkungen auf die Gestehungskosten <strong>de</strong>r Eisenherstellung. In <strong>de</strong>r Tat, weil Belgiens<br />
Schmelzen hauptsächlich Koks aus einheimischer Produktion verhütt<strong>et</strong>en, gereichte ihnen<br />
<strong>de</strong>r durch die Son<strong>de</strong>rhilfe künstlich gedrückte Inlandspreis zum Vorteil; Luxemburg dagegen<br />
beschickte seine Hochöfen nahezu ausschließlich mit Ruhrkohle, die nun wegen <strong>de</strong>r<br />
einzuführen<strong>de</strong>n Lastenverteilung teurer wur<strong>de</strong>. Die unterschiedlichen Rohstoffpreise drohten<br />
das seit Jahrzehnten bestehen<strong>de</strong> belgisch-luxemburgische Produktionsverhältnis und die<br />
ausgewogenen Absatzmöglichkeiten für Stahlprodukte bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Gleichgewicht<br />
zu bringen. 43<br />
Auf die Gefahr eines solchen Mißverhältnisses hingewiesen, hatte Brüssel seinem kleineren<br />
Nachbarn versichert, man wer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Bereinigung <strong>de</strong>s Kohlenproblems Rücksicht auf die<br />
Stellung <strong>de</strong>r Luxemburger Hütten nehmen. 44 Die Aufrichtigkeit <strong>de</strong>r Zusage wur<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r vom<br />
GISL noch von <strong>de</strong>r Regierung <strong>de</strong>s Großherzogtums angezweifelt. Albert Wehrers Delegation<br />
bekam strenge Anweisung, nichts in Paris zu unternehmen, was die belgische<br />
Verhandlungstaktik gefähr<strong>de</strong>n könnte. Nun stellte sich aber im Laufe <strong>de</strong>r Zeit heraus, daß<br />
Belgien in geheimen, bilateralen Abmachungen mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Unterhändlern seine<br />
Versprechen nicht eingehalten hatte. Am 24. Januar 1951 kam es zum Eklat. Gleich nach<br />
Eröffnung <strong>de</strong>r Vollversammlung drohte Wehrer, sein Land wer<strong>de</strong> die Unterzeichnung <strong>de</strong>s<br />
Schuman-Plans verweigern, falls es keine ausreichen<strong>de</strong>n Garantien für die Beibehaltung <strong>de</strong>s<br />
bestehen<strong>de</strong>n Gleichgewichts bekommen sollte! Allgemeiner Tumult war die Folge. Monn<strong>et</strong><br />
kam nicht umhin, die Sitzung zu unterbrechen, um alleine mit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Kontrahenten<br />
weiterzuverhan<strong>de</strong>ln. Bei <strong>de</strong>m improvisierten Tête-à-tête ging es nicht weniger heftig zu.<br />
Wehrer hatte eine Textformel vorbereit<strong>et</strong>, die er als Abän<strong>de</strong>rungsvorschlag <strong>de</strong>r Konvention<br />
einbringen wollte. Das versuchte Max Su<strong>et</strong>ens mit allen Mitteln zu verhin<strong>de</strong>rn:<br />
«Herr Su<strong>et</strong>ens sagt, die Tatsache daß die Textformel sich expressis verbis auf die<br />
beson<strong>de</strong>re Lage zwischen Belgien und Luxemburg bezieht, wäre <strong>de</strong>r belgischen<br />
Regierung äußerst unangenehm. Er müsse sich <strong>de</strong>mnach radikal je<strong>de</strong>r<br />
B<strong>et</strong>rachtungsweise wi<strong>de</strong>rs<strong>et</strong>zen, die ein Fehlverhalten Belgiens gegenüber unserem<br />
Land [Großherzogtum] offen zu Tage trägt; an<strong>de</strong>rerseits sei er allerdings durchaus<br />
bereit eine Lösung auszuarbeiten, die uns vollauf zufrie<strong>de</strong>nstellen könnte, ohne daß<br />
dadurch <strong>de</strong>r belgisch-luxemburgische Konflikt im Text einer internationalen Konvention<br />
zur Schau gestellt wird» * . 45<br />
Obschon Belgien einlenkte, und obwohl Monn<strong>et</strong> gut zured<strong>et</strong>e, ließ Wehrer nicht locker. Die<br />
nach Wie<strong>de</strong>raufnahme <strong>de</strong>r offiziellen Verhandlungsrun<strong>de</strong> von allen übrigen Delegationen<br />
geäußerte Kritik, ob Luxemburg nicht doch vielleicht <strong>et</strong>was überspitzte Ängste hege,<br />
beeindruckte ihn ganz und gar nicht. Er war mehr <strong>de</strong>nn je zuversichtlich, seine Schutzklausel<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
AEL AE 11385, Plan Schuman, cas <strong>de</strong> l'acier luxembourgeois, 02.04.1951: «… die guten Beziehungen<br />
zwischen bei<strong>de</strong>n Delegationen […] haben sich nahezu völlig aufgelöst, trotz <strong>de</strong>r von uns gemachten<br />
Anstrengungen um <strong>de</strong>n Kontakt zu wahren» * .<br />
Die Auswirkungen <strong>de</strong>s belgischen Kohleausgleichs auf die Luxemburger Stahlproduktion können in diesem<br />
Aufsatz nur oberflächlich und stark vereinfacht dargestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
AEL AE 11385, Plan Schuman, cas <strong>de</strong> l'acier …, op.cit.: «Im Verlaufe eines längeren Gesprächs mit Herrn<br />
Vinck [François Vinck, Generaldirektor für Brennstoffe und Energie, Mitglied <strong>de</strong>r belgischen<br />
Unterhändlergruppe], hat dieser ganz formell zugesichert, er wer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>n Verhandlungen b<strong>et</strong>reffs <strong>de</strong>s<br />
belgischen Kohleausgleichs die Interessenlage <strong>de</strong>r luxemburgischen Eisenindustrie vollauf und ständig<br />
berücksichtigen» * .<br />
AEL AE 11384, Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 25.01.1951.
Sturm im Wasserglas 13<br />
(clause <strong>de</strong> sauvegar<strong>de</strong>) in <strong>de</strong>r Zusatzkonvention b<strong>et</strong>r. die Übergangsperio<strong>de</strong> unterbringen zu<br />
können: «Herr Su<strong>et</strong>ens hat in <strong>de</strong>r Vollversammlung erklärt: wenn Luxemburg nicht<br />
unterzeichn<strong>et</strong>, kann Belgien auch nicht unterzeichnen. Herr Monn<strong>et</strong> macht nicht <strong>de</strong>n<br />
Eindruck, als wolle er aus diplomatischen und allgemeinen politischen Erwägungen einen<br />
rein <strong>de</strong>utsch-französischen Pool ins Auge fassen» * . 46 Also … 47<br />
Inwiefern die luxemburgische Schwerindustrie bei Wehrers Poker die Fä<strong>de</strong>n gezogen hat,<br />
kann nicht restlos geklärt wer<strong>de</strong>n. Diverse Indizien lassen aber einen überaus starken Druck<br />
seitens <strong>de</strong>r Hüttenherren erkennen, die damals ohnehin in einem recht angespannten<br />
Verhältnis zu ihren belgischen Kollegen stan<strong>de</strong>n. 48 Sicher ist allemal, daß Henckes, Conrot<br />
und Arbed-Generaldirektor Félix Chomé, <strong>de</strong>r zu diesem Anlaß eigens in die französische<br />
Hauptstadt gereist war, maßgeblich an <strong>de</strong>m ganzen Wirbel b<strong>et</strong>eiligt gewesen sind. 49 Sicher<br />
ist ebenfalls, daß nach <strong>de</strong>m Intermezzo vom 24. Januar dunkle Wolken am UEBL-Himmel<br />
aufzogen. Nebst ausfälligen Bemerkungen 50 und kaum verhüllten gegenseitigen<br />
Anschuldigungen 51 manövrierten die Luxemburger, um Belgiens Aussichten auf ein zweites<br />
Mandat in <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> zu zerschlagen. 52 Im Gegenzug s<strong>et</strong>zten die Belgier alles<br />
daran, um die Bemühungen ihres Nachbarn für eine Nie<strong>de</strong>rlassung <strong>de</strong>r EGKS in Luxemburg<br />
zu vereiteln: «Die Aktion <strong>de</strong>r Belgier in dieser Angelegenheit war also eine rein antiluxemburgische<br />
Aktion. Das dürfen wir nie vergessen» * ! 53<br />
Wur<strong>de</strong> solch nationales Gezänk um wirtschaftspolitische Interessen durch die von Jean<br />
Monn<strong>et</strong> bei <strong>de</strong>n Besprechungen in Paris angewandte eigenwillige Verhandlungstaktik und<br />
die ungewohnten Arbeitsm<strong>et</strong>ho<strong>de</strong>n begünstigt o<strong>de</strong>r gar willentlich angeheizt?<br />
Dem französischen Hauptinitiator <strong>de</strong>r Montangemeinschaft war von vorneherein klar<br />
gewesen, daß unter allen 60 Delegierten je<strong>de</strong> offene Diskussion um die Lösung rein<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Ibid.<br />
Die endgültige Ausarbeitung einer für Luxemburg akzeptablen clause <strong>de</strong> sauvegar<strong>de</strong> erfolgte, nach vielem Hin<br />
und Her, erst nach<strong>de</strong>m Außenminister Bech am 31. Januar 1951 bei Robert Schuman vorstellig gewor<strong>de</strong>n war<br />
(AEL, Cas <strong>de</strong> l'acier, op.cit.).<br />
Vgl. Ch. Barthel, De l'entente belgo-luxembourgeoise à la Convention <strong>de</strong> Bruxelles. 1948-1954, IN: M.<br />
Dumoulin, R. Girault, G. Trausch, L'Europe du Patronat. De la guerre froi<strong>de</strong> aux années soixante. Actes du<br />
colloque <strong>de</strong> Louvain-la-Neuve <strong>de</strong>s 10 <strong>et</strong> 11 mai 1990, Euroclio, P<strong>et</strong>er Lang, Berne, 1993, S.29-62.<br />
GISL, Avis du Groupement <strong>de</strong>s Industries Sidérurgiques Luxembourgeoises sur le proj<strong>et</strong> <strong>de</strong> Plan Schuman tel<br />
qu'il a été paraphé par les délégations, 27.03.1951.<br />
Vgl. hierzu auch: GISL, Rapports du Comité Directeur, Procès-verbal <strong>de</strong> la réunion du 19.03.1951.<br />
AEL AE 11374, handschriftliche Notiz von Albert Wehrer, 22.02.1951.<br />
Über die Sitzung vom 20. Februar, bei <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rgründig Luxemburger Probleme <strong>de</strong>battiert wur<strong>de</strong>n, notiert<br />
Wehrer: «Die Belgier sind zu viert, zwei von ihnen sind <strong>et</strong>was ang<strong>et</strong>runken. Die Belgier schweigen [statt die<br />
Luxemburger zu unterstützen]. Am Abend lesen wir in <strong>de</strong>r Zeitung, die Hohe Behör<strong>de</strong> wer<strong>de</strong> sich vermutlich in<br />
Lüttich nie<strong>de</strong>rlassen. Ist das <strong>de</strong>r Preis?» * .<br />
AEL AE 11379, Robert Als an Außenminister Joseph Bech, Bericht über ein Diner im Cercle Gaulois,<br />
19.04.1951: «... <strong>de</strong>r Ehrengast, Herr van Zeeland, hat während seiner Re<strong>de</strong> gesagt, daß Belgien […] bei <strong>de</strong>n<br />
Verhandlungen [zum Schuman-Plan] von nieman<strong>de</strong>m unterstützt wur<strong>de</strong>. Eine solche Aussage könnte <strong>de</strong>n<br />
Eindruck entstehen lassen, als habe Luxemburg je<strong>de</strong> Unterstützung verweigert. Ich erinnere mich dabei an die<br />
Beschwer<strong>de</strong>n unserer Delegation über die wenig ehrliche Haltung von Herrn Su<strong>et</strong>ens …» * .<br />
AEL AE 11385, Christian Calmes, Rapport secr<strong>et</strong> sur les questions institutionnelles réservées à la Conférence<br />
ministérielle, 24.03.1951: «Unserer Meinung nach, sollte man nicht versuchen, Belgien einen zweiten Sitz<br />
anzuvertrauen […]. Die rezente Entwicklung <strong>de</strong>r Verhandlungen hat zwischen Belgien und Luxemburg<br />
fundamentale Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten erkennen lassen, die je<strong>de</strong>rzeit wie<strong>de</strong>r aufflammen könnten, weil sie<br />
durch strukturelle Wirtschaftsfaktoren bedingt sind» * .<br />
AEL AE 11390, Luxemburger Gesandtschaft in Bonn (gez. Albert Wehrer) an Außenminister Joseph Bech,<br />
25.05.1951.
Sturm im Wasserglas 14<br />
technisch-ökonomischer Fragen wegen <strong>de</strong>r schroffen Gegensätze nie auf einen<br />
gemeinsamen Nenner zu bringen war. 54 Deshalb versuchte er einerseits, diese Probleme<br />
möglichst auszugrenzen und einer im nachhinein eins<strong>et</strong>zen<strong>de</strong>n Klärung durch die Hohe<br />
Behör<strong>de</strong> zu überlassen. An<strong>de</strong>rerseits verhängte er einen regelrechten «Ostrazismus» *55<br />
gegen die Industrie, <strong>de</strong>ren Vertr<strong>et</strong>er von <strong>de</strong>r Ausarbeitung <strong>de</strong>s EGKS-Vertrages<br />
weittestgehendst ferngehalten wer<strong>de</strong>n sollten. Gera<strong>de</strong> die französischen Stahlkocher hatten<br />
unter dieser Maßnahme am stärksten zu lei<strong>de</strong>n. In einem an <strong>de</strong>n Regierungspräsi<strong>de</strong>nten<br />
René Pleven gericht<strong>et</strong>en Schreiben vom 16. November 1950 verwahrte sich die Chambre<br />
Syndicale aufs schärfste gegen ihren völligen Ausschluß, <strong>de</strong>n sie als gänzlich ungerecht<br />
anprangerte, weil die ausländischen Verhandlungsleiter, auch bei Besprechungen im<br />
engsten Kreise, meist von Regierungsexperten, ja sogar von Fachleuten aus <strong>de</strong>r<br />
Privatindustrie begleit<strong>et</strong> wur<strong>de</strong>n. L<strong>et</strong>zteres paßte Monn<strong>et</strong> gewiß nicht, und er ließ keine<br />
Gelegenheit verstreichen, um seinem Ärger über die Anwesenheit von "Technikern" Luft zu<br />
machen. En<strong>de</strong> November 1950 ließ er es sogar auf einen «schwerwiegen<strong>de</strong>n diplomatischen<br />
Zwischenfall» * ankommen, als er <strong>de</strong>n luxemburgischen Unterhändler Jean-Baptiste Henckes<br />
nach Beginn einer Arbeitsrun<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Sitzungssaal verwies und das, obwohl <strong>de</strong>r<br />
Geschäftsführer <strong>de</strong>r Arbed-Verkaufsorganisation Columéta eigentlich als offizielles Mitglied<br />
<strong>de</strong>r großherzoglichen Delegation fungierte und daher nicht seinem Unternehmen, son<strong>de</strong>rn<br />
unmittelbar <strong>de</strong>m Außenministerium unterstand! 56 Da <strong>de</strong>r Fall Henckes sich knappe vierzehn<br />
Tage nach <strong>de</strong>m Protestschreiben <strong>de</strong>r CSSF ereign<strong>et</strong>e, darf angenommen wer<strong>de</strong>n, daß<br />
zwischen bei<strong>de</strong>n Ereignissen ein direkter Zusammenhang bestand, von <strong>de</strong>m Monn<strong>et</strong> sich<br />
vermutlich eine Signalwirkung erwart<strong>et</strong>e.<br />
Nichts<strong>de</strong>stotrotz war <strong>de</strong>m Orchesterchef <strong>de</strong>r Pariser Konferenz klar bewußt, daß er keinen<br />
uneingeschränkten Einfluß auf die Zusammenstellung <strong>de</strong>r einzelnen Län<strong>de</strong>r<strong>de</strong>legationen<br />
ausüben konnte. Wohl o<strong>de</strong>r übel mußte er sich mit <strong>de</strong>r Präsenz zahlreicher Experten<br />
abfin<strong>de</strong>n, auch wenn diese keineswegs mit <strong>de</strong>r «cote d'amour» behaft<strong>et</strong> waren, wie Eric<br />
Conrot sich lakonisch auszudrücken pflegte. 57 Genauso wenig dürfte Monn<strong>et</strong> sich Illusionen<br />
über <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r absoluten Geheimhaltung mancher Diskussionen gemacht haben.<br />
Ganz im Gegenteil. Er konnte g<strong>et</strong>rost davon ausgehen, daß wichtige Informationen an die<br />
nationalen Kohle- und Eisenverbän<strong>de</strong> weitergereicht wur<strong>de</strong>n, die sich, durch Rücksprache<br />
zwischen Industriellen und politisch Verantwortlichen, so in <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Verhandlungspositionen wi<strong>de</strong>rspiegeln wür<strong>de</strong>n. Dementsprechend vermied er tunlichst die<br />
offene Diskussion. Statt <strong>de</strong>r Einberufung von Vollversammlungen zog er Gesprächsrun<strong>de</strong>n in<br />
kleinen Arbeitsgruppen, in <strong>de</strong>n Comités restreints o<strong>de</strong>r im engen Kreise <strong>de</strong>r Delegationsleiter<br />
vor, … angeblich um <strong>de</strong>n Unterhändlern auf diese Art die neue, supranationale Denk- und<br />
Handlungsweise näherzubringen. 58 In Wirklichkeit hat er aber vermutlich eher an das<br />
klassische divi<strong>de</strong> <strong>et</strong> impera gedacht, eine Vorgehensweise, die viele Vorzüge bot.<br />
Erstens: Sollte es Indiskr<strong>et</strong>ionen geben (gewollte o<strong>de</strong>r ungewollte), dann waren diese<br />
bestenfalls bruchstückhaft. Zweitens: Da die einzelnen Arbeitsgruppen sich ausschließlich<br />
mit beschränkten, ganz spezifischen Fragekomplexen herumplagten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m einzelnen<br />
Konferenzteilnehmer <strong>de</strong>r Gesamtdurchblick ungemein erschwert. Den Überblick über die<br />
eigentlichen Zusammenhänge hatte nur <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r wegen seiner Funktion als<br />
zentrale Schaltstelle das Heft st<strong>et</strong>s fest in <strong>de</strong>r Hand behalten konnte. Das war von kapitaler<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
J. Monn<strong>et</strong>, Mémoires, Ausgabe Le livre <strong>de</strong> poche, Fayard, Paris, 1976, S.465-474.<br />
ARBED, P.VII.B, Paul Lancrenon an Aloyse Meyer, 16.11.1950.<br />
AEL AE 11384, Protestschreiben von Albert Wehrer an Jean Monn<strong>et</strong>, 28.11.1950.<br />
GISL, Persönliches Schreiben …, op.cit.<br />
J. Monn<strong>et</strong>, Mémoires, op.cit., S.466-467.
Sturm im Wasserglas 15<br />
Be<strong>de</strong>utung, vor allem bei <strong>de</strong>n wichtigen Gesprächen hinter <strong>de</strong>n Kulissen und während <strong>de</strong>r<br />
Unterredungen mit Vertr<strong>et</strong>ern einer o<strong>de</strong>r mehrerer Län<strong>de</strong>r<strong>de</strong>legationen, bei <strong>de</strong>nen es um die<br />
Erörterung rein nationaler Probleme ging. Hier konnte Monn<strong>et</strong> voll auftrumpfen. Weil er als<br />
einziger die Standpunkte aller sechs kannte, vermochte er geschickt die Partikularinteressen<br />
<strong>de</strong>r einen gegen die an<strong>de</strong>ren auszuspielen. Je nach Belieben ließ er mal diesen, mal jenen<br />
einen kurzen Blick in sein Kartenspiel werfen; «vertrauliche» Informationen wur<strong>de</strong>n bewußt<br />
weitergeleit<strong>et</strong> o<strong>de</strong>r vorenthalten, je nach<strong>de</strong>m, ob eine Delegation zur Zurückhaltung o<strong>de</strong>r<br />
zum Vorpreschen bewegt wer<strong>de</strong>n sollte. Durch die hinter vorgehaltener Hand gemachten –<br />
manchmal leeren 59 – Versprechen über gewisse Vorteile gegen Konzessionen auf an<strong>de</strong>ren<br />
Gebi<strong>et</strong>en wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Argwohn förmlich geschürt. Ständig mußten die Unterhändler auf <strong>de</strong>r<br />
Hut sein, um nicht das Nachsehen zu haben; ihr nationaler Egoismus zwang sie, Monn<strong>et</strong>s<br />
Spiel mitzuspielen. Dies traf nicht nur zu für die offiziellen Län<strong>de</strong>rvertr<strong>et</strong>ungen, son<strong>de</strong>rn auch,<br />
in wesentlich stärkerem Maße, für die hinter ihnen stehen<strong>de</strong> Industrie. Ihr herkömmliches<br />
Konkurrenz<strong>de</strong>nken, gepaart mit <strong>de</strong>r lückenhaften Kenntnis über <strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r Dinge in<br />
Paris, 60 ließ das gegenseitige Mißtrauen unter Stahlherstellern <strong>de</strong>rart anschwellen, daß je<strong>de</strong><br />
schnelle und effiziente Reaktion nahezu unmöglich wur<strong>de</strong>. Monn<strong>et</strong> dagegen hatte sein Ziel<br />
erreicht. Hinter <strong>de</strong>m Vorwand <strong>de</strong>s neuen europäischen Win<strong>de</strong>s hatte er sich <strong>de</strong>s nationalen<br />
W<strong>et</strong>tstreits bedient, um <strong>de</strong>n «gefürcht<strong>et</strong>en Zement» * <strong>de</strong>r län<strong>de</strong>rübergreifen<strong>de</strong>n Solidarität<br />
unter Hüttenherren zu sprengen. 61<br />
Eine maßgeschnei<strong>de</strong>rte Hohe Behör<strong>de</strong>?<br />
Während Frankreichs, Belgiens 62 und Luxemburgs Industrielle sich noch mit allen Mitteln<br />
anstrengten, durch recht verz<strong>et</strong>telte Aktionen <strong>de</strong>n Schuman-Plan aus <strong>de</strong>n Angeln zu heben,<br />
hatten ihre Kollegen an Rhein und Ruhr bereits alle Hoffnung diesbezüglich aufgegeben. Mit<br />
Rücksicht auf die Son<strong>de</strong>rstellung Deutschlands und <strong>de</strong>n überragen<strong>de</strong>n internationalpolitischen<br />
Gewinn <strong>de</strong>n sich Kanzler A<strong>de</strong>nauer von einer Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />
ausmalte, bestand ihrer Meinung nach wenig Aussicht auf eine Nicht-Ratifizierung o<strong>de</strong>r eine<br />
an Bedingungen geknüpfte Annahme <strong>de</strong>s Vertrages durch die Bun<strong>de</strong>stagsmehrheit. In<br />
weiser Einschätzung <strong>de</strong>r realen Lage verzicht<strong>et</strong>en die <strong>de</strong>utschen Hersteller <strong>de</strong>shalb auf<br />
utopisch anmuten<strong>de</strong> Revisionsansprüche. Statt <strong>de</strong>ssen suchten sie ihr Heil in <strong>de</strong>r Flucht<br />
nach vorn. Beflügelt von <strong>de</strong>m Hintergedanken, die Interessen <strong>de</strong>r Privatwirtschaft doch noch<br />
weitgehend, wenn auch auf indirektem Wege, r<strong>et</strong>ten zu können, erarbeit<strong>et</strong>en sie konstruktive<br />
Pläne zur Gestaltung <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> und ihrer Funktionsmechanismen.<br />
Etwa seit En<strong>de</strong> August, Anfang September 1951 legte die Düsseldorfer<br />
M<strong>et</strong>allindustriezentrale eine fieberhafte Tätigkeit an <strong>de</strong>n Tag. Eingehend wur<strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>ne Organisationsformen durchforscht und diverse Mo<strong>de</strong>lle zum Aufbau <strong>de</strong>r<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
In seiner handschriftlichen Notiz über die Sitzung vom 22. Februar 1951 (op.cit.) schlußfolgert Albert Wehrer<br />
über eine Aussage von Monn<strong>et</strong>: «Il ment tellement» [Er lügt fürchterlich]!<br />
Bezugnehmend auf die wirklich wichtigen Artikel <strong>de</strong>s Vertrages hält Eric Conrot in seinem Bericht vom<br />
18.09.1950 (op.cit.) fest: «… man red<strong>et</strong> viel davon, glaube ich, aber halt nur hinter <strong>de</strong>n Kulissen, und die<br />
armen Experten <strong>de</strong>r Industrie wissen sehr wenig von all diesen Dingen …» * .<br />
GISL, Rapport Hayot sur la <strong>de</strong>uxième réunion <strong>de</strong> l'Union <strong>de</strong>s Industries <strong>de</strong>s six pays <strong>de</strong> la Communauté<br />
Européenne à Paris, 13.11.1952.<br />
Vgl. E. Devos, op.cit., S.85-97; A.-C. Marichal, Débuts <strong>et</strong> réalités <strong>de</strong> la CECA: Les réactions <strong>de</strong> la sidérurgie<br />
belge (10 août 1952 - 1 mai 1953), Mémoire <strong>de</strong> licence, Université <strong>de</strong> Liège, [unveröffentlicht], S.70-76.
Sturm im Wasserglas 16<br />
obersten Montanbehör<strong>de</strong> und ihres Verwaltungsstabes ausgeklügelt. Das Ganze geschah,<br />
allem Anschein nach, «mit Einverständnis <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>swirtschaftsministeriums»! 63<br />
Einige kaum verhüllte Anspielungen weisen tatsächlich darauf hin, daß das WVESI-Projekt<br />
nicht allein von <strong>de</strong>r Industrie g<strong>et</strong>ragen wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn in enger Zusammenarbeit mit<br />
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Vizekanzler und ERP-Minister Franz Blücher<br />
entstan<strong>de</strong>n war. Bei<strong>de</strong> Fachminister hatten während <strong>de</strong>r ganzen Verhandlungsdauer unter<br />
A<strong>de</strong>nauers autoritären Direktiven und seiner zum absoluten Primat <strong>de</strong>kr<strong>et</strong>ierten politischen<br />
Ziels<strong>et</strong>zung arg zu lei<strong>de</strong>n gehabt. In <strong>de</strong>m unter Fe<strong>de</strong>rführung vom Sekr<strong>et</strong>ariat für Fragen <strong>de</strong>s<br />
Schuman-Plans gebild<strong>et</strong>en interministeriellen Ausschuß war es ihnen nicht gelungen, sich<br />
ausreichend Gehör zu verschaffen. Ihre an marktwirtschaftlichen Kriterien orientierten<br />
Weisungen über einzelne Vertragsbestimmungen waren entwe<strong>de</strong>r nur ungenügend, o<strong>de</strong>r<br />
überhaupt nicht berücksichtigt wor<strong>de</strong>n. Dementsprechend angespannt gestalt<strong>et</strong>e sich ihre<br />
Beziehung zum <strong>de</strong>utschen Delegationsführer. Insbeson<strong>de</strong>re zwischen Walter Hallstein und<br />
Franz Blücher bestand «keine restlose Übereinstimmung»,<br />
«weil Herr Hallstein sich scheinbar <strong>et</strong>was zu eng an die Instruktionen hält, die ihm von<br />
Herrn A<strong>de</strong>nauer gegeben wer<strong>de</strong>n, wobei offen ist, wer die Dinge in Bonn l<strong>et</strong>zten En<strong>de</strong>s<br />
entscheid<strong>et</strong>, ob <strong>de</strong>r Kanzler o<strong>de</strong>r das Kabin<strong>et</strong>t». 64<br />
Die bei<strong>de</strong>n Ressortchefs hinterließen je<strong>de</strong>nfalls nicht <strong>de</strong>n Eindruck, als wollten sie ihre<br />
Abseitsposition wi<strong>de</strong>rstandslos hinnehmen. Da mit <strong>de</strong>r Paraphierung <strong>de</strong>s Vertrages und <strong>de</strong>m<br />
bevorstehen<strong>de</strong>n Inkrafttr<strong>et</strong>en <strong>de</strong>r Union Hallstein seine Komp<strong>et</strong>enzen sowieso <strong>de</strong>mnächst<br />
verlieren wür<strong>de</strong> – ein Umstand, über <strong>de</strong>n übrigens auch die Industrie nicht gera<strong>de</strong> traurig<br />
war 65 –, galt es j<strong>et</strong>zt schon die künftige, alleinige Zuständigkeit <strong>de</strong>s Wirtschaftsministeriums<br />
optimal vorzubereiten. Durch hausgemachte Eigeninitiative, ver<strong>de</strong>ckt hinter <strong>de</strong>m Mantel einer<br />
von <strong>de</strong>r Industrie angez<strong>et</strong>telten Aktion, beabsichtigten Erhard und Blücher <strong>de</strong>n in Paris<br />
angericht<strong>et</strong>en Scha<strong>de</strong>n, d.h. <strong>de</strong>n allzu starken Souveränitätsverlust und die erdrücken<strong>de</strong><br />
französische Kontrolle über die <strong>de</strong>utsche Schwerindustrie wenigstens teilweise wie<strong>de</strong>r<br />
w<strong>et</strong>tzumachen. In diesem Sinne gedachten sie ein weiteres Vorpreschen Frankreichs auf<br />
institutionellem Gebi<strong>et</strong> zu vereiteln. Monn<strong>et</strong> und seine Mitarbeiter durften am besten erst gar<br />
nicht zum Zug kommen. Mit Hilfe eines mehr o<strong>de</strong>r weniger fertigen Strukturmo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r<br />
Hohen Behör<strong>de</strong>, zu <strong>de</strong>m sich auch die Mehrheit <strong>de</strong>r europäischen Hersteller bekennen<br />
könnte, sollte <strong>de</strong>n Planwirtschaftlern <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong> Martignac <strong>de</strong>r Wind aus <strong>de</strong>n Segeln<br />
genommen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die von Bonn in Aussicht gestellte Mitwirkung <strong>de</strong>r Industrieverbän<strong>de</strong> weckte natürlich bei <strong>de</strong>n<br />
Ruhrkapitänen unverhohlenen Optimismus:<br />
«Verhandlungen dieser Art könnten unter <strong>de</strong>n B<strong>et</strong>eiligten in freierer Weise geführt<br />
wer<strong>de</strong>n, als wenn man die Erledigung dieser wichtigen Frage <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong><br />
selbst überließe. Ein solcher Weg wür<strong>de</strong> insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Organisationen von Kohle<br />
und Eisen in <strong>de</strong>n sechs Län<strong>de</strong>rn eine stärkere Einflußnahme auf die Gestaltung dieses<br />
für uns so wichtigen Problems ermöglichen, als wenn die <strong>de</strong>mnächstige Hohe Behör<strong>de</strong><br />
63<br />
64<br />
65<br />
ARBED, P.61 - Dossier Blankenagel, Walter Schwe<strong>de</strong>, Liquidator <strong>de</strong>r Vereinigte Stahlwerke A.G., an Félix<br />
Chomé, 29.09.1951.<br />
ARBED, P.VII.B, Privates und vertrauliches Schreiben von Joseph Horatz, Generaldirektor <strong>de</strong>r Felten &<br />
Guillaume Carlswerk (Köln) an Aloyse Meyer, 03.01.1951.<br />
Vgl. hierzu ebenfalls: W. Bührer, op.cit., S.182-185.<br />
ARBED, P.61, Note sur les conversations entre sidérurgistes belges, luxembourgeois <strong>et</strong> allemands le 7 janvier<br />
1952 à Luxembourg, 11.01.1952.
Sturm im Wasserglas 17<br />
selbst zu entschei<strong>de</strong>n hätte, von <strong>de</strong>r wir noch nicht wissen, wie sie zusammenges<strong>et</strong>zt<br />
sein wird und welches ihre Stellung zu unseren Kohle- und Eisenorganisationen sein<br />
wird». 66<br />
Mit <strong>de</strong>m ausdrücklichen Wunsch, baldmöglichst eine Aussprache zu arrangieren, zu <strong>de</strong>r sich<br />
auch Wilhelm Ahrens und Karl Blankenagel 67 «gern zur Verfügung» stellten, wandte sich das<br />
Vorstandsmitglied <strong>de</strong>r Wirtschaftsvereinigung Walter Schwe<strong>de</strong> 68 am 29. September 1951 an<br />
die Generaldirektion <strong>de</strong>r Arbed, um <strong>de</strong>ren Bereitschaft zur B<strong>et</strong>eiligung am <strong>de</strong>utschen<br />
Vorhaben zu sondieren. Hier drängt sich die Frage auf, ob die WVESI gleichzeitig ähnliche<br />
Sondierungsgespräche in Holland und vielleicht auch in Belgien führte, o<strong>de</strong>r ob ihre<br />
Bemühungen anfangs exklusiv <strong>de</strong>m Luxemburger Patronat galten?<br />
Für l<strong>et</strong>ztere Annahme spricht <strong>de</strong>r Umstand – er ist <strong>de</strong>m Eisenverband bestimmt nicht<br />
entgangen –, daß die Bun<strong>de</strong>sregierung seit ihrem Bestehen eine auffällig wohlwollen<strong>de</strong><br />
Haltung gegenüber <strong>de</strong>m Großherzogtum und <strong>de</strong>n Problemen seiner Schwerindustrie<br />
eingenommen hatte. Kanzler A<strong>de</strong>nauer beispielsweise war die Verflechtung <strong>de</strong>r Arbed und<br />
ihrer Tochtergesellschaft Felten & Guillaume Carlswerk nicht nur «bestens bekannt», er<br />
wollte sie darüberhinaus «för<strong>de</strong>rn», weil «er beson<strong>de</strong>ren Wert auf ein freundschaftliches<br />
Verhältnis zu Luxemburg» legte. 69 Auch die bei<strong>de</strong>n Kabin<strong>et</strong>tsmitglie<strong>de</strong>r Ludwig Erhard und<br />
Franz Blücher suchten über die Chef<strong>et</strong>age <strong>de</strong>s Kölner Carlswerk Kontakte mit <strong>de</strong>m kleinen<br />
Nachbarn anzuknüpfen. 70 Erhard hatte gar selbst wenige Tage nach <strong>de</strong>r ersten<br />
Bun<strong>de</strong>stagswahl im August 1949 zum Ausdruck gebracht, «daß er gern […] mit mir<br />
[Generaldirektor Joseph Horatz] nach Luxemburg käme». 71 Besagtes offiziöses Treffen kam<br />
dann tatsächlich im Vorfeld <strong>de</strong>r zur Vorbereitung <strong>de</strong>s P<strong>et</strong>ersberger Abkommens für <strong>de</strong>n 9.<br />
und 10. November anberaumten Konferenz <strong>de</strong>r drei westlichen Besatzungsmächte<br />
zustan<strong>de</strong>. Auf seiner Reise in die französische Hauptstadt legte <strong>de</strong>r Wirtschaftsminister<br />
einen Zwischenstop im Großherzogtum ein. Über <strong>de</strong>n «anregen<strong>de</strong>n Abend» in <strong>de</strong>m für seine<br />
«außeror<strong>de</strong>ntliche gastronomische Reputation» *72 berühmten Arbed-Kasino, ist lei<strong>de</strong>r nichts<br />
bekannt. Die ergiebigen Gespräche im Beisein von Staatsminister Pierre Dupong und<br />
Außenminister Joseph Bech spiegeln sich aber vorzüglich in Horatz' Bemerkungen zum<br />
Pariser Alliiertentreffen nie<strong>de</strong>r:<br />
«Interessant war – ich unterstreiche dies in Auswirkung unseres Luxemburger Besuchs<br />
– die Auffassung von Erhard, in ein <strong>de</strong>utsch-französisches Wirtschaftsgespräch<br />
Luxemburg in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Form einzuschalten. Es ist auch von einer<br />
Verständigung in <strong>de</strong>r europäischen Eisenwirtschaft gesprochen wor<strong>de</strong>n, und Erhard<br />
glaubte in seinem Optimismus, daß die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>cartellization im Hinblick auf<br />
66<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
72<br />
Walter Schwe<strong>de</strong> an Félix Chomé, 29.11.1951, op.cit.<br />
Karl Blankenagel, Geschäftsführer <strong>de</strong>r WVESI und Mitglied <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Ministerausschuß <strong>de</strong>s Schuman-Plans<br />
untergeordn<strong>et</strong>en Sachverständigenkommission für wirtschaftlich-technische Fragen. Blankenagel spielte<br />
zweifelsfrei eine fe<strong>de</strong>rführen<strong>de</strong> Rolle bei <strong>de</strong>r Ausarbeitung <strong>de</strong>r WVESI-Pläne zur Gestaltung <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong>.<br />
Walter Schwe<strong>de</strong> war in Luxemburgs Industriellenmilieu nicht unbekannt. Während <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit<br />
hatte er regelmässig an Besprechungen im Rahmen <strong>de</strong>s Internationalen Stahlkartells teilgenommen.<br />
ARBED, P.68.D, An Félix Chomé adressierter Bericht von Joseph Horatz über eine «mehrstündige»<br />
Unterhaltung mit A<strong>de</strong>nauer am Montag nach <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>stagswahl vom 14. August, 22.08.1949.<br />
ARBED, P.VII.B, Joseph Horatz über Ludwig Erhard: «<strong>de</strong>n ich persönlich gut kenne». Vgl., Schreiben von<br />
Horatz an Aloyse Meyer, 04.03.1948.<br />
Bericht von Joseph Horatz, 22.08.1949, op.cit.<br />
ARBED, P.61.D, Persönliches Schreiben von Albert Coppé, Vizepräsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> an Félix<br />
Chomé, 16.11.1956.
Sturm im Wasserglas 18<br />
<strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Entwicklung zu überwin<strong>de</strong>n seien. Dabei ist mehr als einmal Luxemburg<br />
und auch ihr Name [Aloyse Meyer] gefallen, auch während <strong>de</strong>r Unterhaltung mit<br />
Harriman. […] Immerhin kam zum Ausdruck, daß Luxemburg wohl <strong>de</strong>r geeign<strong>et</strong>e<br />
Mittler wäre, um divergieren<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsch-französische Meinungen am besten<br />
auszugleichen». 73<br />
Zutreffen<strong>de</strong>r können die in Bonn gewünschten <strong>de</strong>utsch-luxemburgischen Beziehungen kaum<br />
noch umschrieben wer<strong>de</strong>n. Die Kontinuität mit <strong>de</strong>r Außenpolitik <strong>de</strong>r zwanziger und frühen<br />
dreißiger Jahre ist genauso unverkennbar wie die unmißverständliche Anspielung auf die<br />
IRG bzw. IREG 74 und die zentrale Rolle ihrer bei<strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten Emile Mayrisch und Aloyse<br />
Meyer in <strong>de</strong>n Bemühungen um <strong>de</strong>utsch-französische Aussöhnung nach <strong>de</strong>m Ersten<br />
Weltkrieg. Ähnlich wie damals eign<strong>et</strong>en sich <strong>de</strong>r neutrale Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbed und das<br />
internationale Gefüge <strong>de</strong>s Konzerns hervorragend, um <strong>de</strong>utsche Politik wie<strong>de</strong>r salonfähig zu<br />
machen und die abgerissene Verbindung zu Frankreichs Wirtschaftsführung<br />
wie<strong>de</strong>rzubeleben. Im Gegenzug war Deutschland bereit, nach <strong>de</strong>m gleichen Muster wie in<br />
<strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit, <strong>de</strong>m Großherzogtum gewisse Zugeständnisse im Bereich <strong>de</strong>r<br />
Kokszufuhr und <strong>de</strong>r Eisenexporte einzuräumen. 75 So hatte ERP-Minister Blücher bei<br />
Gelegenheit einer Zusammenkunft mit Albert Wehrer in <strong>de</strong>r Privatwohnung von Horatz<br />
mehrmals insistiert, Luxemburg solle sich wegen seiner Kohleversorgung<br />
«nicht auf generelle regierungsseitige Abmachungen […] verlassen, son<strong>de</strong>rn […]<br />
versuchen, individuelle Vereinbarungen zu treffen, wobei Luxemburg als beson<strong>de</strong>rer<br />
Kun<strong>de</strong> Deutschlands auf eine entsprechend wohlwollen<strong>de</strong> Behandlung rechnen könne.<br />
Bei an<strong>de</strong>rer Gelegenheit hatte er [Blücher] mir [Horatz] schon einmal ange<strong>de</strong>ut<strong>et</strong>, daß<br />
man Luxemburg unbedingt ein Eisen-Kontingent einräumen müsse und auch auf<br />
Luxemburger Thomasmehl Wert lege». 76<br />
Für das Großherzogtum machte sich die Annäherungspolitik allemal kurzfristig bezahlt. Nicht<br />
zu Unrecht hatte Albert Wehrer erkannt, daß es keinen Sinn machte, die Deutschen unnötig<br />
zu «kränken» * , da sie im künftigen Europa schon recht bald eine dominieren<strong>de</strong> Stellung<br />
einnehmen wür<strong>de</strong>n. Der Chef <strong>de</strong>r Luxemburger Gesandtschaft konnte sich <strong>de</strong>mnach<br />
glücklich schätzen,<br />
«in Bonn eine gute <strong>de</strong>utsch-luxemburgische Atmosphäre entwickelt zu haben […], die<br />
uns die notwendigen Kontakte auf allen Ebenen verschafft. Beim Schuman-Plan hat<br />
die <strong>de</strong>utsche Delegation uns mehr als einmal geholfen, und sie ist heute unser bester<br />
Verbünd<strong>et</strong>er, um <strong>de</strong>n Sitz <strong>de</strong>s Plans nach Luxemburg zu holen»*.77<br />
Trotz <strong>de</strong>r offenkundig sehr günstigen Rahmenbedingungen prallte <strong>de</strong>r WVESI-Vorstoß<br />
bezüglich <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> gleich auf unerwart<strong>et</strong>e Startschwierigkeiten. Während die<br />
<strong>de</strong>utsche Stahlindustrie darauf drängte, möglichst rasch konkr<strong>et</strong>e Ergebnisse zu erzielen –<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
77<br />
ARBED, P.VII.B, Joseph Horatz an Aloyse Meyer, 15.11.1949.<br />
Horatz hatte persönlich an einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Unterredungen zwischen Erhard und Harriman teilgenommen.<br />
Internationale Rohstahlgemeinschaft (1926), bzw. Internationale Rohstahlexportgemeinschaft (ab 1933).<br />
E. Krier, Manuskript einer Doktorarbeit zum Thema Luxemburger Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg.<br />
Joseph Horatz an Aloyse Meyer, 03.01.1951, op.cit.<br />
Vgl. hierzu auch: AEL AE 11379; Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 06.01.1951.<br />
AEL AE 11398, Albert Wehrer an Joseph Bech, 23.05.1951.<br />
Weitere, tiefgreifen<strong>de</strong> Nachforschungen auf <strong>de</strong>m Gebi<strong>et</strong> bilateraler Beziehungen zwischen Luxemburg und<br />
Deutschland könnten sich als höchst aufschlußreich erweisen.
Sturm im Wasserglas 19<br />
galt es doch die Strukturen <strong>de</strong>r wichtigen EGKS-Institution festzulegen noch bevor die Union<br />
überhaupt rechtskräftig wur<strong>de</strong> –, ließ die Antwort von Chomé mehr als zwei Wochen auf sich<br />
warten. Hatte <strong>de</strong>r für die verspät<strong>et</strong>e Reaktion aus <strong>de</strong>m Großherzogtum verantwortliche<br />
längere Auslandsaufenthalt <strong>de</strong>s Arbed-Direktors die Herren von <strong>de</strong>r Wirtschaftsvereinigung<br />
ungeduldig wer<strong>de</strong>n lassen? Hatten sie daraus <strong>et</strong>wa voreilige Schlüsse über ein mögliches<br />
Desinteresse <strong>de</strong>r Luxemburger gezogen und <strong>de</strong>shalb versucht, nun auch die Hollän<strong>de</strong>r (und<br />
Belgier) einzuschalten? 78 Im übrigen machte Chomé vorab grundlegen<strong>de</strong> Einwän<strong>de</strong> geltend.<br />
Sicher, mit <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s gesteckten Ziels erklärte er sich vollauf einverstan<strong>de</strong>n. Mit<br />
<strong>de</strong>r in Erwägung gezogenen Vorgehensweise dagegen konnte er sich nicht anfreun<strong>de</strong>n. Die<br />
WVESI hatte nämlich durchblicken lassen, die einzelnen Nationalverbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Eisen- und<br />
Kohleproduzenten sollten, «je<strong>de</strong>r für sich», an ihre jeweiligen «amtlichen Stellen herantr<strong>et</strong>en,<br />
um diese zu veranlassen, im Rahmen <strong>de</strong>s Interims-Ausschußes Verhandlungen über <strong>de</strong>n<br />
Aufbau <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> so schnell wie möglich zu beginnen». Daß die Deutschen sich<br />
also damit begnügten, die Industrie nur mittelbar, über <strong>de</strong>n Kanal staatlicher Dienststellen,<br />
an einem Match zu b<strong>et</strong>eiligen, das im En<strong>de</strong>ffekt dann doch von Regierungsbeamten im<br />
Interims-Ausschuß ausg<strong>et</strong>ragen wür<strong>de</strong>, eracht<strong>et</strong>e Chomé als «augenblicklich nicht für<br />
angebracht». Seiner Ansicht nach machte es bei <strong>de</strong>r Verteidigung privater Interessen wenig<br />
Sinn, auf die ohnehin im Herbst 1951 sine die vertagte Kommission zu s<strong>et</strong>zen. Vielmehr<br />
schwebten ihm «offiziöse» 79 Gespräche vor, um «vorerst in unseren Produzentenkreisen zur<br />
Einigkeit zu kommen». 80 Dann erst sollten Mittel und Wege gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, um die<br />
Regierungen zum Einlenken auf ein von allen Herstellern unterbreit<strong>et</strong>es Organisationsmo<strong>de</strong>ll<br />
zu bewegen. War man <strong>et</strong>wa dabei, aus <strong>de</strong>n Fehlern vergangener Tage zu lernen?<br />
Chomés Politik vollend<strong>et</strong>er Tatsachen ver<strong>de</strong>utlicht die extreme Vorsicht mit <strong>de</strong>r das Arbed-<br />
Management die Vorschläge <strong>de</strong>r Wirtschaftsvereinigung in Angriff nahm. Da Jean Monn<strong>et</strong>s<br />
Empfindlichkeit bei privaten Unterfangen <strong>de</strong>s Großkapitals mittlerweile je<strong>de</strong>rmann bekannt<br />
sein durfte, wollte Chomé ihn und seine Gefolgschaft aus <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong> Martignac nicht unnötig<br />
brüskieren. Statt <strong>de</strong>n Initiator <strong>de</strong>s Schuman-Plans durch die Aufnahme einer offiziellen<br />
Gesprächsrun<strong>de</strong> frühzeitig zu alarmieren und zur Durchs<strong>et</strong>zung seiner eigenen<br />
Vorstellungen regelrecht herauszufor<strong>de</strong>rn, wollte <strong>de</strong>r Generaldirektor <strong>de</strong>s Luxemburger<br />
Stahlriesen sich nicht ein weiteres Mal überrumpeln lassen. Seine mißtrauische Haltung galt<br />
aber in Wirklichkeit keineswegs nur Monn<strong>et</strong> und Konsorten. Sie läßt sich gleichwohl auf die<br />
als Drahtzieher <strong>de</strong>r WVESI-Pläne erkannten bun<strong>de</strong>srepublikanischen Ministerien anwen<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>r Tat, weshalb versuchten die Deutschen, Frankreichs Industrielle bei ihrem Vorhaben<br />
vorläufig auszugrenzen? 81 Diese kapitale Frage war mit Sicherheit auch in <strong>de</strong>r Arbed-<br />
Führung aufgeworfen wor<strong>de</strong>n. Obschon über ihre Lösung heute wegen <strong>de</strong>r äußerst<br />
spärlichen Quellenlage höchstens spekuliert wer<strong>de</strong>n darf, so liegt in <strong>de</strong>r Antwort doch<br />
wahrscheinlich <strong>de</strong>r Schlüssel zu Chomés ursprünglicher Zurückhaltung.<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
ARBED, P.61 - Dossier Blankenagel, Walter Schwe<strong>de</strong> an Félix Chomé, 11.10.1951.<br />
Noch vor Erhalt <strong>de</strong>s Antwortschreibens von Chomé hatte sich Schwe<strong>de</strong> erneut an die Arbed gewandt mit <strong>de</strong>m<br />
Hinweis, A.H. Ingen-Housz (Generaldirektor <strong>de</strong>r Koninklijke Ne<strong>de</strong>rlandsche Hoogovens en Staalfabrieken)<br />
habe sich bereit erklärt, an <strong>de</strong>n vorgeschlagenen Besprechungen teilzunehmen. Wann genau und von wem<br />
(WVESI o<strong>de</strong>r Arbed) das Groupement <strong>de</strong>s Hauts Fourneaux <strong>et</strong> Aciéries Belges (GHFAB) eingeschalt<strong>et</strong> wur<strong>de</strong>,<br />
entzieht sich unserer Kenntnis. Von Pierre Van <strong>de</strong>r Rest und Paul Boland geht zum ersten Mal die Re<strong>de</strong> in<br />
einem vom 30. November datierten Telegramm <strong>de</strong>r WVESI an Chomé.<br />
Ibid., Félix Chomé an Walter Schwe<strong>de</strong> 12.10.1951.<br />
Ibid., Félix Chomé an Walter Schwe<strong>de</strong> 17.10.1951.<br />
Tatsache ist, daß die Chambre Syndicale <strong>de</strong> la Sidérurgie Française erst Anfang März 1952 verständigt<br />
wur<strong>de</strong>, also volle zwei Monate nach <strong>de</strong>r ersten Übereinkunft zwischen Herstellern aller übrigen fünf EGKS-<br />
Län<strong>de</strong>r (cf.infra).
Sturm im Wasserglas 20<br />
Wie bereits dargestellt wur<strong>de</strong>, erkannten die Hüttenleute aus Düsseldorf in <strong>de</strong>n Aufsichtsund<br />
Entscheidungsbefugnissen <strong>de</strong>r EGKS hauptsächlich ein Instrument, das <strong>de</strong>r politischen<br />
und wirtschaftlichen Führung Frankreichs erlaubte, die Neubildung mächtiger Konzerne an<br />
<strong>de</strong>r Ruhr in Grenzen zu halten, <strong>de</strong>n Wie<strong>de</strong>raufbau und die Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>utscher<br />
Schmelzen zu überwachen und <strong>de</strong>n eins<strong>et</strong>zen<strong>de</strong>n Ausbau <strong>de</strong>r Stahlkapazitäten zu drosseln.<br />
Weil zu<strong>de</strong>m «die Kostenlage <strong>de</strong>r französischen Werke aus mehrfachen Grün<strong>de</strong>n nicht<br />
günstig erscheint», schlußfolgerte die WVESI, daß «hier ein Versuch unternommen wer<strong>de</strong>n<br />
soll, die Kosten-leistungs und preismäßig günstiger liegen<strong>de</strong>n Produktionen <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
unterlegenen französischen anzupassen». 82 Mit an<strong>de</strong>ren Worten, die Franzosen wur<strong>de</strong>n<br />
bezichtigt, die Montanunion zu mißbrauchen, um <strong>de</strong>r Konkurrenz die Flügel zu stutzen! Solch<br />
gravieren<strong>de</strong> Einschnitte in die kürzlich erst wie<strong>de</strong>rgewonnene Freiheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Ökonomie und die Perspektive eines sicheren «Rückgangs» 83 statt <strong>de</strong>s ersehnten<br />
Fortschritts – darin waren die Industriebosse und Minister Erhard sich einig – durfte man<br />
nicht tatenlos hinnehmen. Je<strong>de</strong>r unlauteren Einmischung durch die Hohe Behör<strong>de</strong> mußte<br />
unter allen Umstän<strong>de</strong>n ein Riegel vorgeschoben wer<strong>de</strong>n. Verständlicherweise bestand nun<br />
aber wenig Hoffnung, gera<strong>de</strong> in Frankreichs Unternehmerkreisen rückhaltlose Verfechter für<br />
die Durchs<strong>et</strong>zung <strong>de</strong>s anvisierten Objektivs zu fin<strong>de</strong>n. Also suchte Deutschland Verbünd<strong>et</strong>e<br />
in jenen Län<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren Regierungen ebenfalls an einer Beschneidung <strong>de</strong>r Supranationalität<br />
Interesse hegten und <strong>de</strong>ren Schwerindustrie, gleichwohl wie die <strong>de</strong>utsche, befürcht<strong>et</strong>e, unter<br />
französischem Druck Abstriche bei ihrer günstigeren W<strong>et</strong>tbewerbslage in Kauf nehmen zu<br />
müssen. Bei<strong>de</strong> Vorauss<strong>et</strong>zungen waren in <strong>de</strong>n Benelux-Staaten erfüllt. 84 Folgerichtig schien<br />
die Bildung einer gemeinsamen Front gegen Frankreich durchaus realistisch.<br />
Soweit mochten die Überlegungen <strong>de</strong>r Deutschen tatsächlich zutreffen. Sie ließen allerdings<br />
zwei fundamentale Aspekte außer acht. Erstens: Belgiens und Luxemburgs exportorientierte<br />
Unternehmen fürcht<strong>et</strong>en nicht nur die Machenschaften <strong>de</strong>r Konkurrenz aus <strong>de</strong>m Hexagon;<br />
sie hüt<strong>et</strong>en sich min<strong>de</strong>stens genauso sehr vor einer mittelfristig zu erwarten<strong>de</strong>n Übermacht<br />
<strong>de</strong>r Ruhr. Zweitens: Wegen <strong>de</strong>s Angebots, die Verhandlung zur Gestaltung <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong> in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen über die Bühne zu ziehen, war<br />
Chomé sich vollauf bewußt, daß ein Kleinstaat wie das Großherzogtum auf<br />
Regierungsebene wenig zu bestellen hätte. 85 Die durchsichtige Strategie <strong>de</strong>s<br />
Bun<strong>de</strong>sministeriums, an<strong>de</strong>re vor seinen Karren zu spannen, barg ein zu hohes Risiko für<br />
Luxemburg, das bei <strong>de</strong>r gesamten Operation leer auszugehen drohte. An<strong>de</strong>rs verhielt es<br />
sich dagegen mit Abmachungen auf rein privater Basis. Unter Hüttenherren gab die<br />
dominieren<strong>de</strong> Position <strong>de</strong>s größten europäischen Stahlproduzenten <strong>de</strong>n Vorstellungen <strong>de</strong>r<br />
Arbed zweifelsfrei eine völlig an<strong>de</strong>re Gewichtung. 86<br />
Obschon die Zeit drängte, kam die erste Tuchfühlung unter Industriekapitänen wegen<br />
anfänglicher Terminschwierigkeiten erst am 7. Januar 1952 im Arbed-Direktionsgebäu<strong>de</strong><br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
WVESI-Bericht vom 05.06.1950, op.cit.<br />
Ibid.<br />
Ibid.<br />
In <strong>de</strong>n führen<strong>de</strong>n Kreisen <strong>de</strong>s Großherzogtums dürfte eine, im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Aushandlung <strong>de</strong>s<br />
Schuman-Plans gemachte Bemerkung von François Ponc<strong>et</strong> ziemlich bekannt gewesen sein: «Es will nicht in<br />
<strong>de</strong>n Kopf eines Deutschen, daß ein kleines Land wie Luxemburg dasselbe Stimmrecht hat wie Deutschland» * !<br />
Vgl. AEL AE 11379, Albert Wehrer an Außenminister Joseph Bech, 30.04.1951.<br />
ARBED, P.61.D, Importance relative <strong>de</strong>s producteurs d'acier <strong>de</strong> la CECA - Bull<strong>et</strong>in quotidien <strong>de</strong> la Columéta-<br />
Luxembourg, N°115, 20.05.1957.
Sturm im Wasserglas 21<br />
gegenüber vom Rosengarten in Luxemburg-Stadt zustan<strong>de</strong>. 87 Während Walter Schwe<strong>de</strong> und<br />
Karl Blankenagel die Wirtschaftsvereinigung repräsentierten, und <strong>de</strong>rweil das Groupement<br />
<strong>de</strong>s Hauts-Fourneaux <strong>et</strong> Aciéries Belges (GHFAB) mit seiner gesamten Führungsspitze<br />
anreiste, waren die drei Luxemburger Gesellschaften lediglich durch Leute von <strong>de</strong>r Arbed<br />
vertr<strong>et</strong>en. 88 Die holländische und die italienische Gruppe hatten wohl eine Einladung<br />
bekommen, sahen aber aus uns unbekannten Grün<strong>de</strong>n davon ab, eine Delegation zu<br />
entsen<strong>de</strong>n. Sie begnügten sich damit, schriftlich ihr Einverständnis zu einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
vorgelegten Organisationsentwürfe kundzutun.<br />
In Erwartung <strong>de</strong>r Luxemburger Zusammenkunft hatte die WVESI vorsorglich zwei Schemata<br />
ausg<strong>et</strong>üftelt, die als Diskussionsgrundlage an die ausländischen Dachorganisationen<br />
versandt wor<strong>de</strong>n waren. 89 Die Gesamtkonzeption <strong>de</strong>s ersten Mo<strong>de</strong>lls (siehe Entwurf I)<br />
beruhte auf <strong>de</strong>r Annahme – sie sollte sich im nachhinein bewahrheiten –, «daß<br />
voraussichtlich die 9 Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> weniger nach fachlichen als nach<br />
politischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten ausgesucht sein wer<strong>de</strong>n». Von daher<br />
b<strong>et</strong>racht<strong>et</strong>, hielt Karl Blankenagel es für zweckmäßig, das höchste Unionsorgan von seinem<br />
Mitarbeiterstab weitgehendst abzuschotten. Von <strong>de</strong>n insgesamt 17 geplanten Abteilungen<br />
blieb <strong>de</strong>shalb nur eine einzige <strong>de</strong>r direkten Einflußnahme durch die Behör<strong>de</strong> ausges<strong>et</strong>zt: die<br />
unmittelbar <strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten zugeordn<strong>et</strong>e Stelle für Pressearbeit und unionsinterne<br />
Personal- bzw. allgemeine Verwaltungsangelegenheiten. Alle übrigen 16 Abteilungen<br />
wur<strong>de</strong>n zu zweit o<strong>de</strong>r zu dritt gepaart, und in 6 Direktoraten zusammengefaßt. Dabei waren<br />
die bei<strong>de</strong>n Grundbereiche Kohle und Stahl durch jeweils zwei Direktorate abge<strong>de</strong>ckt, d.h. je<br />
ein Direktorat für Fragen b<strong>et</strong>reffs die Produktion (Produktion, Investitionen,<br />
Materialbeschaffung, Rohstoff- und Energieversorgung), und eines für jene Abteilungen, die<br />
sich mit Absatzfragen beschäftigten (Verteilung, Preise, Marktbeobachtung, Absatzmärkte).<br />
Zwei weitere Direktorate kümmerten sich um sogenannte «Querschnittsaufgaben». Sie<br />
umfaßten alle Arbeitsgebi<strong>et</strong>e, <strong>de</strong>ren Problemstellung allgemeinerer Natur war und sich<br />
gleichwohl auf die zwei in <strong>de</strong>r Gemeinschaft zu vereinen<strong>de</strong>n Hauptgewerbezweige<br />
anwen<strong>de</strong>n ließ, so beispielsweise die Han<strong>de</strong>ls-, Verkehrs- und Sozialpolitik. Die<br />
Direktorenposten – das wäre je<strong>de</strong>nfalls die I<strong>de</strong>allösung gewesen – durften lediglich<br />
«Fachmännern» aus <strong>de</strong>r Privatwirtschaft anvertraut wer<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>r eigentlichen<br />
Verwaltungstätigkeit bestand ihre Hauptmission als Bin<strong>de</strong>glied zwischen <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong><br />
und <strong>de</strong>n diversen Sachbereichen darin, unkomp<strong>et</strong>ente Eingriffe durch die 9 Mandatsträger<br />
<strong>de</strong>r obersten Montaninstitution abzuwehren. Überhaupt war mit <strong>de</strong>m Einsatz <strong>de</strong>r Direktorate<br />
beabsichtigt, die Hohe Behör<strong>de</strong> aus einer «Vorstandsposition» in die Rolle einer Art<br />
«Aufsichtsrat» abzudrängen: je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r 6 Direktoren empfing seine Anweisungen auf<br />
direktem Weg von <strong>de</strong>m gemeinschaftlich agieren<strong>de</strong>n Spitzenkollegium. Aus <strong>de</strong>rselben<br />
87<br />
88<br />
89<br />
Der Zeitpunkt für das erste internationale Zusammentreffen war mehrfach verschoben wor<strong>de</strong>n, angeblich<br />
wegen Terminschwierigkeiten (vgl., ARBED, P.61 - Dossier Blankenagel, Telegramme vom 30.11., 01.12.,<br />
03.12., 10.12. und 14.12.1951). Inwiefern es sich bei <strong>de</strong>n besagten Terminschwierigkeiten aber<br />
möglicherweise nur um Ausflüchte han<strong>de</strong>lte, kann nicht beurteilt wer<strong>de</strong>n. In Anb<strong>et</strong>racht <strong>de</strong>r oben erwähnten<br />
Luxemburger Einwän<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r damals noch bestehen<strong>de</strong>n Hoffnung auf eine an Bedingungen geknüpfte<br />
Ratifizierung durch die Chambre <strong>de</strong>s députés besteht durchaus die Möglichkeit, daß Chomé <strong>de</strong>m WVESI-<br />
Vorhaben anfangs nicht unbedingt allererste Priorität einräumte.<br />
GISL, Sitzungsprotokoll <strong>de</strong>s Comité directeur, 12.01.1952.<br />
Erst fünf Tage nach <strong>de</strong>m internationalen Treffen vom 7. Januar stand die I<strong>de</strong>e zur Gestaltung <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong> zum ersten Mal auf <strong>de</strong>r Tagesordnung einer GISL-Vorstandssitzung. Hatte <strong>de</strong>r Arbed-<br />
Generaldirektor die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Luxemburger Unternehmen, die Minières <strong>et</strong> Métallurgique Rodange<br />
(MMR) und die Hauts-Fourneaux <strong>et</strong> Aciéries <strong>de</strong> Differdange-Saint-Ingbert-Rumelange (HADIR), bis dato nicht<br />
über das ganze Vorhaben informiert? Wäre dies ein weiterer Beleg dafür, daß Félix Chomé <strong>de</strong>r praktischen<br />
Ums<strong>et</strong>zung <strong>de</strong>s WVESI-Plans anfangs keine echten Erfolgschancen beimaß?<br />
ARBED, P.61 - Dossier Blankenagel, Karl Blankenagel und Wilhelm Ahrens an Félix Chomé, 30.11.1951.
Sturm im Wasserglas 22<br />
Überlegung heraus, hatten die Düsseldorfer Experten auch die Bildung je<strong>de</strong>r zusätzlichen<br />
Zwischenstufe in Form eines Generaldirektorats o<strong>de</strong>r eines Generalsekr<strong>et</strong>ariats tunlichst<br />
vermie<strong>de</strong>n. 90<br />
Die insgesamt relativ ausgewogene Konzeption <strong>de</strong>s Organigramms I fand auf Anhieb recht<br />
breite Zustimmung in <strong>de</strong>n Unternehmerkreisen <strong>de</strong>r vier kleinen EGKS-Partnerstaaten, die<br />
sich wegen <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsch-französischen Hegemonie ganz entschie<strong>de</strong>n gegen eine<br />
übermächtige Behör<strong>de</strong> verwahrten. Im Gegensatz dazu stand das zweite WVESI-Mo<strong>de</strong>ll.<br />
Seine Ausrichtung hatte freilich laut Félix Chomé «sehr vieles für sich», 91 nicht zul<strong>et</strong>zt weil es<br />
die 17 Einzelabteilungen <strong>de</strong>s Entwurfs I in 9 Hauptabteilungen bün<strong>de</strong>lte, und dadurch eine<br />
bessere Aufglie<strong>de</strong>rung in spezifische Arbeitsgebi<strong>et</strong>e gestatt<strong>et</strong>e. Attraktiv am Mo<strong>de</strong>ll II wirkte<br />
ebenfalls die von sechs auf neun erhöhte Anzahl <strong>de</strong>r wichtigen Abteilungschefs, ein Faktum,<br />
das sich bei <strong>de</strong>m zu erwarten<strong>de</strong>n nationalen Gerangel um die Vergabe <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong>n Posten<br />
nur positiv für die kleinen Län<strong>de</strong>r auszahlen konnte. Gera<strong>de</strong> hier aber steckte <strong>de</strong>r Haken. Bei<br />
neun Hauptabteilungen und gleichzeitig neun Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> war kaum zu<br />
verhin<strong>de</strong>rn, daß l<strong>et</strong>ztere auf individueller Basis direkt in die verschie<strong>de</strong>nen Sachbereiche<br />
eingriffen. Je<strong>de</strong>s einzelne Mitglied <strong>de</strong>s zum regelrechten Direktionskomitee<br />
emporgehobenen Organs hätte also vermutlich das Sagen über je einen Verwaltungszweig<br />
an sich reißen können. 92 Solche finsteren Aussichten lehnten die Verbän<strong>de</strong> Italiens und <strong>de</strong>r<br />
Benelux-Staaten energisch ab. 93<br />
So schnell und unkompliziert man sich bei <strong>de</strong>r Unterredung im Arbed-Hauptsitz auf das<br />
Organisationsschema I geeinigt hatte, so ungemein schwierig gestalt<strong>et</strong>e sich dann die<br />
folgen<strong>de</strong> Etappe, nach<strong>de</strong>m die Franzosen mit von <strong>de</strong>r Partie waren.<br />
Eigentlich hätten Paul Boland vom GHFAB und Eric Conrot vom GISL unverzüglich<br />
Kontakt mit Frankreichs Herstellern aufnehmen sollen, um ihnen <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Fünfergruppe<br />
abgesegn<strong>et</strong>en Entwurf I zu unterbreiten. Dazu kam es aber zunächst nicht. Erst Anfang März<br />
wur<strong>de</strong> die CSSF durch Pierre Van <strong>de</strong>r Rest und Paul Boland, bzw., bei Gelegenheit eines<br />
zufälligen Parisaufenthalts, durch Félix Chomé in die Pläne ihrer europäischen Kollegen<br />
eingeweiht. 94 Zwei weitere wertvolle Monate waren unverricht<strong>et</strong>er Dinge verstrichen!<br />
Damit nicht genug. An<strong>de</strong>rs als erwart<strong>et</strong>, fiel die Reaktion <strong>de</strong>r Chambre Syndicale ziemlich<br />
negativ aus. Statt einzelne D<strong>et</strong>ailaspekte aufzugreifen, stellte sie das gesamte Konzept <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Organigramms grundsätzlich in Frage. Die Hauptkritik <strong>de</strong>r Chambre richt<strong>et</strong>e sich<br />
hierbei in erster Linie gegen die sechs Direktorate. Weil diese sowohl mit <strong>de</strong>r Vorbereitung<br />
als auch mit <strong>de</strong>r Ausführung <strong>de</strong>r Montanbeschlüsse b<strong>et</strong>raut waren, weil ferner aber<br />
keineswegs ausgeklammert wer<strong>de</strong>n konnte, daß einzelne Direktorenämter von «dirigistisch<br />
angehauchten, ehemaligen Funktionäre» *95 bekleid<strong>et</strong> wür<strong>de</strong>n, ging in Frankreich die Angst<br />
vor einer aus <strong>de</strong>n Direktoraten entspringen<strong>de</strong>n neuen, omnipotenten Befehlszentrale <strong>de</strong>r<br />
90<br />
91<br />
92<br />
93<br />
94<br />
95<br />
GISL-Protokoll vom 12.01.1952, op.cit.<br />
ARBED, P.61, Félix Chomé an Karl Blankenagel, 06.12.1951.<br />
Ibid.; Anhang einer von Jean-Baptiste Henckes verfaßten Note sur les observations alleman<strong>de</strong>s aux<br />
propositions <strong>de</strong> la Chambre Syndicale, 26.04.1952.<br />
ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Notiz von Michel Goe<strong>de</strong>rt (Direktor <strong>de</strong>r Columéta)<br />
über die <strong>de</strong>utsch-belgisch-luxemburgische Besprechung vom 7. Januar, 11.01.1952.<br />
ARBED, P.68.H, Korrespon<strong>de</strong>nz zwischen Pierre Van <strong>de</strong>r Rest und Félix Chomé, 05.03. bzw. 10.03.1952.<br />
Des weiteren, ARBED, P.120, Félix Chomé an Aloyse Meyer, 06.03.1952.<br />
ARBED, P.60bis.A, Compte-rendu succinct d'une réunion d'industriels tenue à Paris le 29 mars 1952.
Sturm im Wasserglas 23<br />
europäischen Schwerindustrie um. Dem entgegenzusteuern war das erklärte Ziel eines<br />
französischen Schemas (siehe Entwurf III.a) das Louis Charv<strong>et</strong> beim Treffen <strong>de</strong>r sechs<br />
Nationalverbän<strong>de</strong> am 29. März in Paris vorstellte. In <strong>de</strong>r Folgezeit wur<strong>de</strong> das Mo<strong>de</strong>ll<br />
schließlich durch zwei weitere «Varianten» ergänzt und verfeinert (Entwürfe III.b und c).<br />
Die <strong>de</strong>utschen Schemata waren eher nach b<strong>et</strong>riebswirtschaftlichen Maßstäben ausgelegt,<br />
die Franzosen dagegen bevorzugten eine streng juristische Ausrichtung. In enger Anlehnung<br />
an <strong>de</strong>n Wortlaut <strong>de</strong>s EGKS-Vertrages und <strong>de</strong>r im Verlauf <strong>de</strong>r Schuman-Plan-Verhandlung<br />
gemachten Statements über die rechtliche Interpr<strong>et</strong>ation wichtiger Artikel fußten ihre<br />
Vorstellungen auf zwei Prämissen. Primo. Die Hohe Behör<strong>de</strong> ist nicht befähigt, ständig in die<br />
laufen<strong>de</strong>n Geschäfte <strong>de</strong>r Kohle- und Eisenindustrie einzugreifen, es sei <strong>de</strong>nn in<br />
Ausnahmefällen wie <strong>de</strong>r «offensichtlichen Krise» (Art.58). Folgerichtig besteht ihre ureigene<br />
Rolle nicht darin, «die Konkurrenz zu dirigieren, son<strong>de</strong>rn zu regulieren» * . 96 Secundo.<br />
Entscheidungen <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> können nur auf kollegialer Grundlage g<strong>et</strong>roffen wer<strong>de</strong>n, wobei<br />
die Komp<strong>et</strong>enz <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten sich laut Artikel 16 lediglich darauf beschränkt, die<br />
Oberaufsicht über das Dienstpersonal und die Ausführung <strong>de</strong>r Unionsbeschlüsse zu<br />
gewährleisten. Ferner ist eine Entscheidung <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> gleichzustellen mit einem<br />
«administrativen Akt» * , <strong>de</strong>r als solches durchaus mit <strong>de</strong>n in Frankreich üblichen Dekr<strong>et</strong>en,<br />
Verfügungen o<strong>de</strong>r ministeriellen Erlassen vergleichbar ist. Ähnlich wie im Staatsgefüge <strong>de</strong>r<br />
IV. Republik kann ein Beschluß <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> also erst nach seiner Übermittlung o<strong>de</strong>r<br />
Veröffentlichung in Kraft tr<strong>et</strong>en. Die Möglichkeit, Rekurs vor <strong>de</strong>m Streitsachenausschuß <strong>de</strong>r<br />
Rechtsabteilung einzulegen, bleibt allemal bestehen.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Grundprinzipien dienten <strong>de</strong>n französischen Industriellen als Fundament für die<br />
Gestaltung ihrer Organisationsmo<strong>de</strong>lle, <strong>de</strong>ren drei Varianten sich durch eine klare Trennung<br />
zwischen <strong>de</strong>n technischen Informations- und Studienabteilungen einerseits, <strong>de</strong>n<br />
Exekutivstellen an<strong>de</strong>rerseits, kennzeichn<strong>et</strong>en. Im einzelnen sahen die Varianten vor, daß alle<br />
zum reibungslosen Funktionieren <strong>de</strong>r Union erfor<strong>de</strong>rlichen Informationen b<strong>et</strong>reffend die<br />
Unternehmen, die Verbraucher, die Arbeiterschaft, usw. von einer Sammelstelle für Statistik<br />
und allgemeine Dokumentation zusammeng<strong>et</strong>ragen und über die Person <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten an<br />
die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> übermittelt wur<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>rselben Sammelstelle bezogen<br />
auch die zwölf Referenten – je sechs für die zwei Branchen Kohle und Stahl (Schemata b<br />
und c) 97 – alles Dokumente- und Zahlenmaterial, das ihre Mitarbeiter benötigten, um Studien,<br />
Berichte o<strong>de</strong>r Handlungsvorschläge im Auftrag <strong>de</strong>s Spitzengremiums anzufertigen. Weil die<br />
Struktur <strong>de</strong>r Abteilungen exklusiv an Sachproblemen festgemacht war (Rohstoffversorgung,<br />
Erzeugung, Forschung, Investitionsprogramme, Marktbedarf, Preise), die Entscheidungen<br />
<strong>de</strong>r Gemeinschaft aber meist mehrere Arbeitsgebi<strong>et</strong>e zugleich berührten, mußten alle<br />
Berichte und Vorschläge in einer Zentralisierungs- und Übermittlungsstelle<br />
zusammenfassend überarbeit<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n (Entwürfe a und b). Hier entstan<strong>de</strong>n dann jene<br />
Aktenstücke, die <strong>de</strong>m obersten EGKS-Organ zur Vorbereitung seiner Sitzungen und zur<br />
Beschlußnahme dienten. Was nun die Arbeitsweise <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> selbst anbelangt, so<br />
ließ <strong>de</strong>r CSSF-Plan <strong>de</strong>n neun Herren völlige Freiheit, allerdings mit einer einzigen Auflage,<br />
die allerdings von kapitaler Be<strong>de</strong>utung war: Entscheidungen durfte die Behör<strong>de</strong> nur bei voll<br />
versammelter Mannschaft einbringen! War dies <strong>de</strong>r Fall, so wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r angenommene<br />
Entschluß an die Kanzlei weitergereicht. Sie s<strong>et</strong>zte sich aus einem Gremium von sechs<br />
Experten zusammen, die vorzugsweise unter Spezialisten <strong>de</strong>s Verwaltungs- und<br />
96<br />
97<br />
ARBED, P.61, Begleitschreiben <strong>de</strong>r CSSF zu <strong>de</strong>n französischen Organisationsmo<strong>de</strong>llen, 31.03.1952.<br />
Schema III.a sah nur einen Kohle- und einen Stahlreferenten vor. Die je sechs Abteilungen wären von ihnen<br />
untergebenen Beigeordn<strong>et</strong>en Referenten geleit<strong>et</strong> wor<strong>de</strong>n. Diese strenge Hierarchie <strong>de</strong>s französischen<br />
Vorentwurfs war aber sofort auf heftigen Wi<strong>de</strong>rstand bei <strong>de</strong>n fünf an<strong>de</strong>ren Eisenindustrien gestoßen.
Sturm im Wasserglas 24<br />
Wirtschaftsrechts zu rekrutieren waren. Ihre Aufgabe bestand u.a. darin, die Entscheidungen<br />
in eine rechtliche Form zu b<strong>et</strong>ten, ihre Ausführung durch die Veröffentlichung <strong>de</strong>r Beschlüsse<br />
in die Wege zu leiten und die Anwendung <strong>de</strong>r g<strong>et</strong>roffenen Maßnahmen zu überwachen.<br />
Dazu konnte sie gegebenenfalls, über die ihr angeglie<strong>de</strong>rten Rechtsabteilungen, die<br />
nationalen Gerichte zur Schaffung <strong>de</strong>r notwendigen Zwangsmittel auffor<strong>de</strong>rn. Zusätzlich<br />
oblag <strong>de</strong>r Kanzlei die Verteidigung <strong>de</strong>r Montanbestimmungen vor <strong>de</strong>m Europäischen<br />
Gerichtshof, so wie die Prüfung von Anträgen und Beschwer<strong>de</strong>n an die Adresse <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong>. 98<br />
«Wahrhaft erfin<strong>de</strong>risch, aber lei<strong>de</strong>r zu kompliziert, um wirksam zu sein»! 99 Der bissige<br />
Kommentar belgischer Kohleproduzenten traf <strong>de</strong>n Nagel auf <strong>de</strong>n Kopf. Er stand<br />
repräsentativ für die übereinstimmen<strong>de</strong> Meinung <strong>de</strong>r Fünfergruppe. Im Anschluß an die<br />
Pariser Vollversammlung hagelte es in <strong>de</strong>r Tat harsche Kritik aus allen Reihen. Die<br />
mißbilligen<strong>de</strong> Wertung <strong>de</strong>r CSSF-Organigramme konzentrierte sich vor<strong>de</strong>rgründig auf die<br />
strikte Gewaltentrennung. Stellte sie wirklich eine sinnvolle Alternative dar? Bild<strong>et</strong>e sie<br />
tatsächlich einen realen Schutz vor einem potentiellen Dirigismus, <strong>de</strong>r laut Chambre<br />
Syndicale in <strong>de</strong>n Direktoraten <strong>de</strong>s WVESI-Mo<strong>de</strong>lls steckte? Den französischen Ta<strong>de</strong>l am<br />
Entwurf I ließen Belgier, Luxemburger und Deutsche nicht gelten. Ihrer Auffassung zufolge<br />
riskierte die Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>n vorbereiten<strong>de</strong>n Wirtschaftsdiensten und <strong>de</strong>n<br />
ausführen<strong>de</strong>n Abteilungen <strong>de</strong>r Kanzlei <strong>de</strong>n ganzen Unionsapparat über kurz o<strong>de</strong>r lang<br />
vollends zu lähmen. Die daraus resultieren<strong>de</strong> Ohnmacht <strong>de</strong>r Instanzen wür<strong>de</strong> sich dann<br />
unweigerlich zugunsten <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> auswirken. Sie könnte das entstan<strong>de</strong>ne<br />
Machtvakuum auffüllen und ungeniert nach eigenem Gutdünken schalten und walten.<br />
Riskierte das französische Mo<strong>de</strong>ll also nicht, <strong>de</strong>n Bock zum Gärtner zu machen? 100<br />
Je<strong>de</strong> Menge auszus<strong>et</strong>zen fan<strong>de</strong>n die Verbän<strong>de</strong> auch an <strong>de</strong>r überb<strong>et</strong>ont zentralistischen<br />
Ausrichtung <strong>de</strong>r drei französischen Varianten. Da war zum Beispiel die Stellung <strong>de</strong>s<br />
Präsi<strong>de</strong>nten als neuralgische Schaltstelle zwischen <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m restlichen<br />
Apparat. Die Maßnahme rechtfertigte sich in <strong>de</strong>n Überlegungen <strong>de</strong>r CSSF durch die<br />
Möglichkeit, auf diese Weise eine breitere Abkapselung <strong>de</strong>r obersten Mandatsträger zu<br />
gewinnen. Sie mut<strong>et</strong>e <strong>de</strong>n Experten <strong>de</strong>r Fünf aber höchst verdächtig an, beson<strong>de</strong>rs im<br />
Hinblick auf die Tatsache, daß die ersten Präsi<strong>de</strong>ntenehren höchstwahrscheinlich einem<br />
Franzosen zukommen wür<strong>de</strong>n! Angeprangert wur<strong>de</strong> ebenfalls die Zentralisierungs- und<br />
Übermittlungsstelle. Ursprünglich hätte sie ja bloß eine Art «Übergangsbüro» bil<strong>de</strong>n sollen.<br />
Wer aber konnte voraussehen, was die Praxis bringen sollte? Je nach<strong>de</strong>m in wessen Hän<strong>de</strong><br />
diese augenscheinlich so beschei<strong>de</strong>ne Dienststelle geri<strong>et</strong>, war nicht auszu<strong>de</strong>nken, was<br />
passieren könnte, wenn ihr Chef sich eine Führungsposition auf Kosten <strong>de</strong>r 12 Referenten<br />
angeeign<strong>et</strong> hätte. Daraufhin tauschte die CSSF das Zentralisierungsbüro zwar durch eine<br />
Konferenz <strong>de</strong>r Referenten und Experten aus (Variante III.c), was trotz allem wenig am<br />
eigentlichen Problem än<strong>de</strong>rte: nach wie vor bargen die auf nur je sechs Arbeitsfel<strong>de</strong>r<br />
begrenzten Kohle- bzw. Stahldivisionen automatisch eine unverkennbare Ten<strong>de</strong>nz zum<br />
Zentralismus; zum an<strong>de</strong>ren, erschwerte die damit verknüpfte recht geringe Anzahl von<br />
98<br />
Begleitschreiben <strong>de</strong>r CSSF, op.cit.<br />
99<br />
ARBED, P.61, Protokoll zu einer gemeinsamen Sitzung belgischer Kohleproduzenten und belgischluxemburger<br />
Hüttenherren in Brüssel, 16.04.1952.<br />
100 Ibid.
Sturm im Wasserglas 25<br />
hohen und mittleren Führungspositionen die Verwirklichung eines annehmbaren Ausgleichs<br />
unter <strong>de</strong>n Nationen. 101<br />
Sichtlich entnervt reagierten die Stahlkocher schließlich auch auf Frankreichs übertrieben<br />
vorsichtige Zurückhaltung bei <strong>de</strong>r Aufstellung einer gemeinsamen Front mit <strong>de</strong>n<br />
Kohleproduzenten. Bereits am 23. Februar 1952 hatten nämlich erste Beratungen unter<br />
<strong>de</strong>utschen, holländischen und belgischen Unternehmervertr<strong>et</strong>ern <strong>de</strong>r privaten<br />
Kohlewirtschaft in Brüssel stattgefun<strong>de</strong>n. Ähnlich wie die Dachverbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r M<strong>et</strong>allindustrie,<br />
wollten auch sie eine berufsständische Interessenvertr<strong>et</strong>ung auf die Beine stellen. Aus <strong>de</strong>n<br />
informellen Gesprächen, an <strong>de</strong>nen Pierre Van <strong>de</strong>r Rest vom GHFAB als stiller Beobachter<br />
teilgenommen hatte, war ziemlich rasch ersichtlich gewor<strong>de</strong>n, daß die Ziels<strong>et</strong>zungen <strong>de</strong>r<br />
Zechenbesitzer mehr o<strong>de</strong>r weniger mit <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>r Hüttenherren übereinstimmten. Was<br />
lag also näher, als sich zusammenzutun und mit vereinten Kräften Druck auf die<br />
Regierungen auszuüben! 102 Die erfolgversprechen<strong>de</strong> Initiative stolperte allerdings gleich im<br />
ersten Anlauf über <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r CSSF. Sie sträubte sich mit Hän<strong>de</strong>n und mit Füßen<br />
gegen eine Einbeziehung <strong>de</strong>r verstaatlichten Kohlegruben <strong>de</strong>s Hexagons, aus Angst, die<br />
Funktionäre <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong> Martignac könnten so frühzeitig über die Pläne <strong>de</strong>r Industriellen<br />
informiert wer<strong>de</strong>n und ihnen «kartellistische Manöver» *103 vorwerfen. Solche Argumente<br />
hatten die Belgier, Deutschen und Hollän<strong>de</strong>r aber keineswegs beeindruckt, und schon gar<br />
nicht davon abgehalten, die als «wesentlich» eingestufte Fühlungnahme mit <strong>de</strong>r<br />
Kohlewirtschaft auf nationaler Ebene fortzus<strong>et</strong>zen. Die Chambre Syndicale verlor zusehends<br />
an Handlungsspielraum. Vor allem nach<strong>de</strong>m die nie<strong>de</strong>rländischen Staatsminen und die<br />
italienischen Kokereien ihre B<strong>et</strong>eiligung angekündigt hatten, geri<strong>et</strong> sie unter immer stärker<br />
wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zugzwang. Louis Charv<strong>et</strong> und Jules Ferry kamen schließlich nicht mehr umhin,<br />
sich <strong>de</strong>m Begehren <strong>de</strong>r Mehrheit zu beugen. 104<br />
Die verschleppte Gründung einer Allianz mit <strong>de</strong>n Kohleproduzenten und das st<strong>et</strong>e Hin und<br />
Her zwischen <strong>de</strong>n Verfechtern <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen und <strong>de</strong>s französischen Konzepts ließ die<br />
Stimmung auf <strong>de</strong>n Tiefpunkt sinken. Die Verhandlung steckte in <strong>de</strong>r Sackgasse, … und die<br />
Zeit lief davon. In manchen Län<strong>de</strong>rn hatten die Parlamente <strong>de</strong>n EGKS-Vertrag bereits<br />
angenommen; in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, war die Ratifikationsprozedur in vollem Gange. Bis zur<br />
Konstituierung <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> blieben also höchstens ein paar Wochen. Schlimmer<br />
noch, Jean Monn<strong>et</strong> begann, sich zu regen! En<strong>de</strong> März <strong>et</strong>wa war <strong>de</strong>n Industriellen ein Entwurf<br />
in die Hän<strong>de</strong> geraten, <strong>de</strong>n Monn<strong>et</strong>s Leute in Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>utschen und<br />
nie<strong>de</strong>rländischen Staatsdienern ausgeheckt hatten (siehe Mo<strong>de</strong>ll IV). Er ließ nichts Gutes<br />
ahnen. Oberflächlich b<strong>et</strong>racht<strong>et</strong>, verri<strong>et</strong> das Organigramm wohl eine gewisse Ähnlichkeiten<br />
mit <strong>de</strong>m WVESI-Schema I – <strong>de</strong>r Teufel steckte aber, wie so oft, im D<strong>et</strong>ail. Bei genauerem<br />
101 ARBED, P.61 - Dossier Blankenagel, Karl Blankenagel an <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r CSSF, Jules Ferry (Abschrift),<br />
19.04.1952; WVESI-Bericht b<strong>et</strong>r. die französischen Organigramme (gez. Blankenagel), 15.04.1952; Anonyme<br />
Notiz <strong>de</strong>s GISL, ohne Datum.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>s Luxemburger Eisenverban<strong>de</strong>s fand Chomé als einziger <strong>de</strong>n französischen Plan «in mancherlei<br />
Hinsicht sehr verlockend» * . Er wur<strong>de</strong> jedoch von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren GISL-Vorstandsmitglie<strong>de</strong>rn überstimmt. Sie<br />
wollten alle zum Entwurf I zurückkehren, nicht zul<strong>et</strong>zt, weil ihrer Meinung nach das CSSF-Mo<strong>de</strong>ll nicht die<br />
geringste Chance hatte, von <strong>de</strong>n Belgiern und <strong>de</strong>n Deutschen akzeptiert zu wer<strong>de</strong>n. Vgl. hierzu GISL,<br />
Sitzungsprotokoll <strong>de</strong>s Comité directeur, 28.04.1952.<br />
102 ARBED, P.68.H, Félix Chomé an Dr. Linz, Direktor <strong>de</strong>r Vereinigte Stahlwerke, 10.03.1952.<br />
103 Ibid., Pierre Van <strong>de</strong>r Rest an Félix Chomé, 05.03.1952.<br />
104 ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Note succincte sur la réunion d'industriels <strong>de</strong> la<br />
sidérurgie tenue à Luxembourg le 3 mai 1952.
Sturm im Wasserglas 26<br />
Hinsehen wur<strong>de</strong> die Gefährlichkeit <strong>de</strong>r zwei Direktorate Wirtschaftspolitik und Sozialfragen<br />
<strong>de</strong>utlich. Wegen <strong>de</strong>r diffusen Definition ihrer auf vollkommen allgemeine Fragen festgelegten<br />
B<strong>et</strong>ätigungsfel<strong>de</strong>r, hätten sie sich fortwährend in die Angelegenheiten <strong>de</strong>r vier übrigen<br />
Direktorate einmischen und ihnen Vorschriften machen können. Sie drohten zu einer<br />
«wahrhaften Zentrale <strong>de</strong>s Dirigismus» 105 zu wer<strong>de</strong>n. Höchst befrem<strong>de</strong>nd mut<strong>et</strong>e auch die Art<br />
und Weise an, wie das Mo<strong>de</strong>ll überhaupt zustan<strong>de</strong> gekommen war. So war die Brüsseler<br />
Regierung angeblich ganz und gar nicht über diese verschleierten holländisch-<strong>de</strong>utschfranzösischen<br />
Verhandlungen informiert. Luxemburger Dienststellen hatten nur durch reinen<br />
Zufall <strong>et</strong>was darüber in Erfahrung gebracht, ohne sich aber genau bewußt zu wer<strong>de</strong>n, was<br />
hier eigentlich heimlich ausgehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>.<br />
Bestand unter all diesen bösen Vorzeichen überhaupt noch eine reale Chance für die<br />
Industrie? O<strong>de</strong>r hatten die Unterhändler <strong>de</strong>r Koninklijke Staalfabrieken recht, wenn sie<br />
behaupt<strong>et</strong>en, daß man, beim aktuellen Stand <strong>de</strong>r Dinge, «bloß seine Zeit verliere» * ?<br />
Verzweifelt suchte Félix Chomé die abbröckeln<strong>de</strong> Front <strong>de</strong>r Unternehmer zu kitten.<br />
Zusammen mit <strong>de</strong>n Spitzenleuten vom belgischen Groupement <strong>de</strong>s Hauts-Fourneaux<br />
bemühte er sich im Rahmen <strong>de</strong>r neuerlichen Vollversammlung in <strong>de</strong>r Arbed am 3. Mai 1952,<br />
einen Ausweg aus <strong>de</strong>r verfahrenen Lage zu fin<strong>de</strong>n. 106 Um die verhärt<strong>et</strong>en Gegensätze<br />
zwischen <strong>de</strong>r Chambre Syndicale und <strong>de</strong>r Wirtschaftsvereinigung aufzuweichen, schlugen<br />
Luxemburger und Belgier daher die Rückbesinnung auf wenige, fundamentale Prinzipien vor.<br />
Eine Son<strong>de</strong>rkommission, bestehend aus nur einem Vertr<strong>et</strong>er pro Lan<strong>de</strong>sverband, 107 wur<strong>de</strong><br />
damit b<strong>et</strong>raut, die wichtigsten Gedankenzüge <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n rivalisieren<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>lle I und III<br />
herauszuarbeiten und, nach Möglichkeit, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Anstatt<br />
ein neues, bis ins l<strong>et</strong>zte D<strong>et</strong>ail ausgereifte Gesamtorganigramm aufzutischen, bei <strong>de</strong>ssen<br />
Analyse man sich abermals in endlosen Diskussionen verstrickt hätte, wur<strong>de</strong>n die sechs<br />
Experten angewiesen, eine vereinfachte, skizzenhafte Struktur zu entfalten, auf die sich<br />
sowohl die Eisenhüttenleute als auch die Kohleproduzenten einigen konnten. 108<br />
Folgen<strong>de</strong> generelle Überlegungen behielten die Sachverständigen als wesentliche Aspekte<br />
eines in acht Direktoraten (départements) aufgeglie<strong>de</strong>rten EGKS-Apparates zurück (siehe<br />
Entwurf V): 109<br />
• die kollegiale Handlungsweise <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> ist Garant für eine maximale<br />
Autonomie <strong>de</strong>r technischen Abteilungen, weil l<strong>et</strong>ztere nicht individuell <strong>de</strong>n neun<br />
Mandatsträgern, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> als Kollektiv unterstellt sind;<br />
• die Selbständigkeit <strong>de</strong>r Abteilungen darf nicht durch die Schaffung eines<br />
Generaldirektorats o<strong>de</strong>r eines Generalsekr<strong>et</strong>ariats wie<strong>de</strong>r in Frage gestellt wer<strong>de</strong>n (aus<br />
<strong>de</strong>mselben Grund lehnte die Sechserkommission es ab, ein Direktorat für Streitsachen<br />
und Rechtsfragen zu formieren – es hätte viel zu leicht in eine regelrechte Kanzlei<br />
umfunktioniert wer<strong>de</strong>n können);<br />
• die Macht <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> ist unter an<strong>de</strong>rem durch einen<br />
regelmäßigen Personenwechsel in <strong>de</strong>r Spitzenfunktion <strong>de</strong>r Gemeinschaft einzudämmen;<br />
105 Compte-rendu succinct d'une réunion d'industriels tenue à Paris (März), op.cit.<br />
106 GISL, GISL an Pierre Van <strong>de</strong>r Rest, 22.04.1952. Einladung zu einer vorbereiten<strong>de</strong>n belgisch-luxemburgischen<br />
Gesprächsrun<strong>de</strong> am Freitag Nachmittag vor <strong>de</strong>r Vollversammlung <strong>de</strong>s 3. Mai.<br />
107 ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Proj<strong>et</strong> d'organisation <strong>de</strong>s Services <strong>de</strong> la Haute<br />
Autorité, Pierre Van <strong>de</strong>r Rest an Félix Chomé, 19. Mai 1952.<br />
Der Arbeitsgruppe gehörten an: Karl Blankenagel, Paul Boland, Louis Charv<strong>et</strong>, Justman Jakob, Eric Conrot<br />
und ein italienischer Delegierter. Die Sekr<strong>et</strong>ariatsarbeit übernahm das GHFAB.<br />
108 Note succincte sur la réunion d'industriels <strong>de</strong> la sidérurgie tenue à Luxembourg le 3 mai 1952, op.cit.<br />
109 GISL; Schéma d'organisation. Die Arbeitsgruppe <strong>de</strong>r 6 Experten tagte Mitte Mai in Paris.
Sturm im Wasserglas 27<br />
• die hauptsächlich auf Informations-, Überwachungs- und Orientierungsarbeit reduzierte<br />
Tätigkeit <strong>de</strong>r Union kann nur im Dienste <strong>de</strong>r europäischen Industrie stehen;<br />
• die acht Direktorenämter sind mit Fachkräften zu bes<strong>et</strong>zen;<br />
• die verschie<strong>de</strong>nartige Problemstellung <strong>de</strong>r Gewerbezweige Kohle und Eisen muß sich auf<br />
Verwaltungsebene in separaten Departements für die bei<strong>de</strong>n Branchen nie<strong>de</strong>rschlagen;<br />
• die B<strong>et</strong>ätigungsfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r technischen Abteilungen erfor<strong>de</strong>rn eine präzise Festlegung auf<br />
bestimmte, klar <strong>de</strong>finierbare Komp<strong>et</strong>enzen;<br />
• die Einrichtung von Divisionen, <strong>de</strong>ren Arbeitsgebi<strong>et</strong> allgemeine Themen umreißt (z.B.<br />
"Wirtschaft" o<strong>de</strong>r "Soziales") ist zu vermei<strong>de</strong>n, da sie eine ernste Gefahr für das<br />
eigenständige Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r übrigen Spezialabteilungen abgibt;<br />
• die Aufstellung von Statistiken soll nicht <strong>de</strong>n Direktoraten überlassen, son<strong>de</strong>rn einer<br />
eigens zur Sammlung von Zahlenmaterial ins Leben gerufenen Dienststelle anvertraut<br />
wer<strong>de</strong>n, die sonst we<strong>de</strong>r technische noch wirtschaftliche Befugnisse besitzt.<br />
Strenggenommen beinhalten die aufgelist<strong>et</strong>en Richtlinien keine revolutionären Neuheiten,<br />
und doch stellen sie einen klaren Bruch mit <strong>de</strong>n vorangegangenen Praktiken <strong>de</strong>r<br />
«Fertigmo<strong>de</strong>lle» <strong>de</strong>utscher o<strong>de</strong>r französischer Herkunft dar. Mit <strong>de</strong>r Einberufung einer<br />
Son<strong>de</strong>rkommission – dies erachten wir als außeror<strong>de</strong>ntlich wichtig – vollzogen die<br />
Hüttenherren einen zukunftsweisen<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weg zu einer wahren<br />
Zusammenarbeit wenigstens ansatzweise ebn<strong>et</strong>e. Zum ersten Mal in <strong>de</strong>r<br />
Nachkriegsgeschichte steckten Vertr<strong>et</strong>er <strong>de</strong>r sechs europäischen Lan<strong>de</strong>sverbän<strong>de</strong> die Köpfe<br />
zusammen, um Lösungen vorzuzeichnen, die auf einem echten Konsens beruhten! 110<br />
Durch die gemeinschaftliche Diskussion <strong>de</strong>r Tagesordnung stießen die <strong>de</strong>legierten<br />
Sachverständigen auf eine Reihe beachtlicher Schwierigkeiten, die <strong>de</strong>r Unternehmerschaft<br />
bislang mehr o<strong>de</strong>r weniger entgangen waren, weil sie mit ihrer Planung meist rücksichtslos<br />
nach Eigennutz gehan<strong>de</strong>lt hatte. J<strong>et</strong>zt aber, auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r notwendigen<br />
Kompromißformel, s<strong>et</strong>zte allmählich ein Um<strong>de</strong>nken ein. Die Industriellen begannen, die<br />
Überlegungen <strong>de</strong>r ausländischen Kollegen besser nachzuvollziehen und ihren jeweiligen<br />
Beanstandungen Rechnung zu tragen. Die rezente Bewußtseinsbildung rückte die gesamte<br />
Problematik in ein neues Licht. Die Komplexität <strong>de</strong>r vielschichtigen, oft gegensätzlichen<br />
Konsequenzen, die sich für einzelne nationale Industrien ergaben, je nach<strong>de</strong>m welches<br />
Mo<strong>de</strong>ll man zurückbehalten wür<strong>de</strong>, kam nun voll zum Tragen. Zu<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> mit aller<br />
Deutlichkeit klar, daß ein i<strong>de</strong>aler, von allen als optimal eingestufter EGKS-Apparat gar nicht<br />
zu fin<strong>de</strong>n war. Diese nüchterne Feststellung machten insbeson<strong>de</strong>re die kleinen Staaten. Ihre<br />
Hauptsorge – sie war beseelt vom Willen, nicht zum Spielball <strong>de</strong>utsch-französischer<br />
Dominierungsgelüste zu wer<strong>de</strong>n – ließ sich nur sehr bedingt mit <strong>de</strong>n allgemeinen Leitlinien<br />
einer akzeptablen Verwaltung unter einen Hut bringen. Ihr Ruf nach einer Administration mit<br />
möglichst vielen, gleichmächtigen Abteilungen (lies: einem Maximum an ebenbürtigen und<br />
redlich aufg<strong>et</strong>eilten Direktorenstellen) scheiterte zwangsläufig an <strong>de</strong>r Entschlossenheit,<br />
we<strong>de</strong>r ein Generaldirektorat noch ein Generalsekr<strong>et</strong>ariat einzus<strong>et</strong>zen. In einer horizontal<br />
angelegten Struktur, die gezielt auf je<strong>de</strong> weitere Verbindungsstelle zwischen <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong> und ihrem Mitarbeiterstab verzicht<strong>et</strong>e, erwies sich die uneingeschränkte<br />
Vermehrung <strong>de</strong>r Arbeitsgebi<strong>et</strong>e schlichtweg als undurchführbar; aus praktischen Grün<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>r Koordination hätte die Fülle <strong>de</strong>r Abteilungen notgedrungen eben jene hierarchische<br />
Glie<strong>de</strong>rung heraufbeschworen, die man ja eigentlich vermei<strong>de</strong>n wollte. Der gol<strong>de</strong>ne<br />
110 Trotz <strong>de</strong>r Abmachungen über <strong>de</strong>n Einsatz <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkommission hatte die CSSF gleich im Anschluß an die<br />
Luxemburger Mai-Konferenz im Alleingang versucht, ein neues Mo<strong>de</strong>ll zu entwerfen. Es war jedoch nicht<br />
berücksichtigt wor<strong>de</strong>n. Vgl. ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Notiz von Eric Conrot<br />
über <strong>de</strong>n französischen Plan vom 9. Mai 1952.
Sturm im Wasserglas 28<br />
Mittelweg aus <strong>de</strong>m Teufelskreis führte schließlich zu acht Direktoraten. Die Zahl schien<br />
angemessen, einerseits, weil sie nicht mit <strong>de</strong>n neun Mandaten <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong><br />
übereinstimmte, an<strong>de</strong>rerseits, weil sie nicht zu hoch war und doch eine vernünftige<br />
Gewichtung bei <strong>de</strong>r Vergabe <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong>n Dienstgra<strong>de</strong> in Aussicht stellte (je zwei Posten für<br />
Frankreich und Deutschland, bzw. ein Posten für die vier kleineren Län<strong>de</strong>r).<br />
In gegenseitiger Übereinkunft entwirrte die Arbeitsgruppe auch die doppelte Kontroverse um<br />
die annährend gleichwertigen Befugnisse <strong>de</strong>r Departements und <strong>de</strong>n Schutz vor einem<br />
Machtmißbrauch durch die Direktoren. Ersteres Problem war eng verquickt mit <strong>de</strong>r peinlich<br />
genauen Festlegung <strong>de</strong>r Komp<strong>et</strong>enzen für bestimmte Arbeitsbereiche. An ihr führte kein<br />
Weg vorbei, wenn man die Bildung von überdimensionierten Wirtschafts- o<strong>de</strong>r<br />
Sozialdivisionen ausklammern wollte. Die rigorose Spezialisierung war aber nur durch eine<br />
ungleichmäßige Verteilung <strong>de</strong>r Zuständigkeiten zu lösen, ein Nachteil also, <strong>de</strong>r abermals die<br />
kleinen am härtesten traf, und <strong>de</strong>n sie, wohl o<strong>de</strong>r übel, in Kauf nehmen mußten. Was die<br />
Machtstellung <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong>n Abteilungschefs angeht, so berührte sie die <strong>de</strong>likate Frage <strong>de</strong>r<br />
Selbständigkeit <strong>de</strong>r Direktorate. Sollte man diese lebenswichtige Autonomie opfern, nur weil<br />
theor<strong>et</strong>isch die Möglichkeit bestand, ein Direktor könnte über die Stränge schlagen? Die<br />
Antwort <strong>de</strong>r Experten laut<strong>et</strong>e nein. Das einkalkulierte Risiko gedachten sie ohnedies mit<br />
einem Kunstgriff aus <strong>de</strong>n privatwirtschaftlichen Verwaltungsgepflogenheiten einzudämmen:<br />
ähnlich wie bei <strong>de</strong>r Geschäftsführung von Aktiengesellschaften sollten verordn<strong>et</strong>e<br />
Maßnahmen jeweils von zwei Direktoren unterzeichn<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n.<br />
Der Einsatz <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkommission hatte sich gelohnt. Dank echter Kooperation in<br />
kleinstem Kreise war es <strong>de</strong>m Expertenteam gelungen, die schroffen Gegensätze innerhalb<br />
kürzester Zeit zu überwin<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n ersehnten Durchbruch endlich herbeizuführen. Das<br />
monatelange Tauziehen war beend<strong>et</strong>. Ja, die Arbeiten waren so gut vorangeschritten, das<br />
vorgelegte Projekt so weit ausgereift, daß die Empfehlungen <strong>de</strong>r Sachverständigen ohne<br />
zusätzliche Beratung <strong>de</strong>r Verbandspräsi<strong>de</strong>nten direkt zur Begutachtung an die einzelnen<br />
Werke verschickt wur<strong>de</strong>n! 111 Damit trat das schwerindustrielle Unterfangen in seine<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schlußphase. Wür<strong>de</strong> es <strong>de</strong>n Stahlkochern gelingen, die Regierungen auf ihr<br />
Mo<strong>de</strong>ll einzuschwören?<br />
Lei<strong>de</strong>r versiegen die Archivquellen zu <strong>de</strong>n politischen Schritten fast vollständig. Wegen<br />
<strong>de</strong>s brisanten Charakters <strong>de</strong>rartiger Unternehmungen war eigentlich bereits im Anschluß an<br />
die Luxemburger Mai-Versammlung vereinbart wor<strong>de</strong>n, keine offiziellen Protokolle mehr über<br />
die internationalen Industriellentreffen zu führen. 112 Über <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>r weiteren<br />
Unterredungen sind <strong>de</strong>mnach bestenfalls nur sporadisch, stark resümieren<strong>de</strong> Notizen<br />
aufzustöbern. Das gleiche gilt ebenso für <strong>de</strong>n Vorstoß <strong>de</strong>s Groupement <strong>de</strong>s Industries<br />
Sidérurgiques Luxembourgeoises bei Außenminister Joseph Bech.<br />
Unter <strong>de</strong>m Datum vom 24. Mai reichte Chomé in seiner Qualität als GISL-Präsi<strong>de</strong>nt ein<br />
Schreiben an <strong>de</strong>n Minister, mit <strong>de</strong>r Bitte, die lebenswichtigen Interessen <strong>de</strong>s heimischen<br />
Min<strong>et</strong>tebeckens bei <strong>de</strong>r bevorstehen<strong>de</strong>n Haager Konferenz (12.-14. Juni 1952) <strong>de</strong>s<br />
111 ARBED, P.68.H, Félix Chomé an Pierre Van <strong>de</strong>r Rest, 24.05.1952.<br />
Von allen europäischen Firmen erhob die Arbed als einziges Unternehmen eine recht unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
D<strong>et</strong>ailkritik an <strong>de</strong>r statistischen Abteilung.<br />
112 Note succincte sur la réunion d'industriels <strong>de</strong> la sidérurgie tenue à Luxembourg, op.cit.
Sturm im Wasserglas 29<br />
wie<strong>de</strong>rbelebten Interims-Ausschußes gebührend zu berücksichtigen. 113 Auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />
lief zunächst alles ziemlich glatt. Bech erklärte sich bereit, Eric Conrot als offizielles Mitglied<br />
<strong>de</strong>r großherzoglich-luxemburgischen Unterhändler nach Holland zu schicken. 114 Er bot <strong>de</strong>r<br />
Industrie sogar vorbereiten<strong>de</strong> Konsultationsgespräche mit <strong>Charles</strong> Reichling vom<br />
Wirtschaftsdienst <strong>de</strong>s Außenministeriums an. Das wohlwollen<strong>de</strong> Entgegenkommen täuschte<br />
trotz<strong>de</strong>m kaum darüber hinweg, wie weit die Ansichten <strong>de</strong>r Regierung mit <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>s<br />
Patronats auseinan<strong>de</strong>r klafften.<br />
Reichling besaß offenbar Kenntnis von Bonner Plänen, die darauf abzielten, in Den Haag die<br />
Bildung einer Arbeitsgruppe für organisatorische Fragen b<strong>et</strong>reffs die Hohe Behör<strong>de</strong> zu<br />
erzwingen. Das wäre im Grun<strong>de</strong> genommen eine gute Sache gewesen, <strong>de</strong>nn immerhin war<br />
die bun<strong>de</strong>srepublikanische Strategie «inspiriert vom Vorsatz, sich nichts von Monn<strong>et</strong> und <strong>de</strong>r<br />
Rue <strong>de</strong> Martignac gefallen zu lassen»*. 115 Zu<strong>de</strong>m befand sich eine Kopie <strong>de</strong>s neuesten<br />
Organigramms <strong>de</strong>r Arbeitgeber in <strong>de</strong>n Akten <strong>de</strong>s Auswärtiges Amtes. Reichling wußte<br />
jedoch gleichzeitig zu berichten, daß Hallstein das Programm <strong>de</strong>r Eisenverbän<strong>de</strong> nur<br />
teilweise übernehmen wollte und sich in Wirklichkeit mit <strong>de</strong>m Gedanken trug, aus <strong>de</strong>r Hohen<br />
Behör<strong>de</strong> eine «Art Ministerkabin<strong>et</strong>t» zu machen, <strong>de</strong>ssen zehn Direktorate (zwei davon, mit<br />
generellen Befugnissen für Sozialfragen bzw. Han<strong>de</strong>lspolitik) unmittelbar unter die<br />
Zuständigkeit <strong>de</strong>r neun Mandatsträger <strong>de</strong>r oberen Montaninstitution gestellt wor<strong>de</strong>n wären!<br />
An diesem Punkt zerschellten die l<strong>et</strong>zten Hoffnungen <strong>de</strong>r Eisenindustriellen endgültig. Eric<br />
Conrot gab gewiß sein Bestes, als er Reichling beschwor, die Finger von solch gefährlichen<br />
Abenteuern zu lassen. Vergebens, <strong>de</strong>nn die Regierung hatte ihre Taktik schon festgelegt.<br />
Gequält vom ewigen Alptraum, Frankreich und Deutschland könnten sich unter <strong>de</strong>r Hand<br />
verständigen und alle wichtigen Verwaltungsstellen <strong>de</strong>r Union monopolisieren, erklärte sie<br />
sich bereit, die Verhandlungsposition <strong>de</strong>s Auswärtigen Amtes zu unterstützen. Die<br />
Begründung mut<strong>et</strong>e verhältnismäßig einfach an. Weil Jean Monn<strong>et</strong> je<strong>de</strong>s Feilschen um die<br />
Strukturen <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> kategorisch abgelehnte, kam ein Anbän<strong>de</strong>ln mit Paris von<br />
vorneherein nicht in Frage; Walter Hallstein dagegen verfolgte eine Politik, die, erstens, eine<br />
Vielzahl an hohen und mittleren Dienstgra<strong>de</strong>n vorsah, zweitens, eine auf Regierungsebene<br />
noch vor <strong>de</strong>m Inkrafttr<strong>et</strong>en <strong>de</strong>r EGKS abgemachte Verteilung <strong>de</strong>r Direktionsposten anstrebte.<br />
Beim sich abzeichnen<strong>de</strong>n Zusammenprall <strong>de</strong>r Monn<strong>et</strong>schen und Hallsteinschen<br />
Vorstellungen – so glaubten die politisch Verantwortlichen im Großherzogtum – wür<strong>de</strong> eine<br />
dritte Lösung ohnehin nicht die geringsten Chancen haben. Also mußte man sich, in<br />
Ermangelung von <strong>et</strong>was Besserem, so o<strong>de</strong>r so entschei<strong>de</strong>n: nicht für Deutschland, aber<br />
gegen Monn<strong>et</strong>! 116<br />
Allem Anschein nach schlugen die Regierungen in Belgien, Holland und Italien anläßlich <strong>de</strong>r<br />
Haager Konferenz eine ähnliche Richtung ein. 117 In Anb<strong>et</strong>racht <strong>de</strong>s weiteren Verlaufs <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung, war es <strong>de</strong>n Stahlherstellern in <strong>de</strong>n drei Län<strong>de</strong>rn offenbar nicht an<strong>de</strong>rs ergangen<br />
als <strong>de</strong>n Luxemburger Hüttenleuten: parallel zu <strong>de</strong>n politischen Entwicklungen schrumpfte ihr<br />
113 ARBED, P.68.H, Félix Chomé an Joseph Bech, 24.05.1952.<br />
114 Eric Conrot nahm in Den Haag als einziger Vertr<strong>et</strong>er <strong>de</strong>r europäischen Industrie direkt an <strong>de</strong>n Verhandlungen<br />
teil.<br />
115 ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Conversations avec M.Reichling, questions du<br />
Plan Schuman, (Vertraulich), 09.06.1952.<br />
116 Höchstwahrscheinlich wur<strong>de</strong> die Entscheidung <strong>de</strong>r Luxemburger Regierung ungemein beeinflußt durch<br />
Joseph Bechs Spekulationen, im Gegenzug einer Luxemburger Unterstützung für Hallstein, <strong>de</strong>utschen<br />
Beistand in <strong>de</strong>r Sitzfrage zu bekommen.<br />
117 ARBED, P.61 - Commission Intérimaire du Plan Schuman, Note sur les réunions tenues à La Haye les 12, 13<br />
<strong>et</strong> 14 juin 1952 (gez. Eric Conrot), 17.06.1952 und Réunions <strong>de</strong> Paris du 23 au 25 juin 1952, Groupe <strong>de</strong> travail<br />
(vertraulich), 28.06.1952.
Sturm im Wasserglas 30<br />
For<strong>de</strong>rungskatalog auf ein Min<strong>de</strong>stmaß. Bei Gelegenheit <strong>de</strong>r internationalen<br />
Unternehmerkonferenz in Brüssel (12. Juni) und Ijmui<strong>de</strong>n (7. Juli) gaben die<br />
Verbands<strong>de</strong>legierten sich bereits mit <strong>de</strong>r Wahrung <strong>de</strong>s Kollegialitätsprinzips, <strong>de</strong>r Ernennung<br />
qualifizierter Unionsbeamten und <strong>de</strong>m Nichtzustan<strong>de</strong>kommen eines Generalsekr<strong>et</strong>ariats<br />
zufrie<strong>de</strong>n. Manch einer begann sogar laut zu überlegen, ob die Gewerkschaften einer<br />
Gemeinschaft ohne Direktorat für die Belange <strong>de</strong>r Arbeiterklasse kampflos zugestimmt<br />
hätten, o<strong>de</strong>r ob die persönlichen Eingriffe <strong>de</strong>r neun Hohe Behör<strong>de</strong>-Mitglie<strong>de</strong>r in die Interna<br />
<strong>de</strong>r technischen Dienste nicht doch vielleicht in <strong>de</strong>r Logik <strong>de</strong>r Dinge lag! 118<br />
Bemerken wir abschließend, <strong>de</strong>r Vollständigkeit halber, daß Hallstein und die<br />
Unterhändler <strong>de</strong>r kleinen Län<strong>de</strong>r während <strong>de</strong>r Haager Sitzungen <strong>de</strong>s Interims-Ausschußes<br />
mit ihrem Versuch, die Anerkennung elementarer Verwaltungsregeln zu erreichen,<br />
gescheitert waren. Jean Monn<strong>et</strong> hatte sich einmal mehr behaupten können. Als die Hohe<br />
Behör<strong>de</strong> am 10. August 1952 im Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ehemaligen Eisenbahndirektion am Place <strong>de</strong><br />
M<strong>et</strong>z in Luxemburg einzog, behielt ihr Chef freie Hand, <strong>de</strong>r ersten europäischen<br />
Administration jenen Stempel aufzudrücken, <strong>de</strong>r seinen persönlichen I<strong>de</strong>en am besten<br />
entsprach. Unter Berufung auf eine recht eigenwillige Interpr<strong>et</strong>ation <strong>de</strong>s Artikels 16, Absatz 3<br />
(«le prési<strong>de</strong>nt est chargé <strong>de</strong> l'administration <strong>de</strong>s services»), 119 verpaßte <strong>de</strong>r französische<br />
Unionspräsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>n Instanzen eine Form, <strong>de</strong>r so gut wie gar nichts mit <strong>de</strong>n Entwürfen <strong>de</strong>r<br />
Stahlbarone gemein gewesen ist. Vom sakrosankten Kollegialitätsprinzip zum Beispiel, auf<br />
das die Unternehmer immer wie<strong>de</strong>r mit Nachdruck gepocht hatten, blieb in <strong>de</strong>r tagtäglichen<br />
Praxis kaum <strong>et</strong>was übrig. Überall hatte Monn<strong>et</strong> die Finger im Spiel. Seine Präsenz war,<br />
genau gesagt, erdrückend. In Absprache mit Pierre Uri, <strong>de</strong>r grauen Eminenz, machte <strong>de</strong>r<br />
Präsi<strong>de</strong>nt sich zur Gewohnheit, die wichtigen Entscheidungen selber zu fällen und die<br />
an<strong>de</strong>ren acht Mandatsträger wie Schulbuben vor vollend<strong>et</strong>e Tatsachen zu stellen, …<br />
worüber, ganz nebenbei, nicht bloß die Hüttenleute verärgert reagierten! Viel Geschrei gab<br />
es auch um die 12 eingeführten Divisionen und Abteilungen, darunter ein Generalsekr<strong>et</strong>ariat!<br />
Die meisten Departements waren nämlich nicht nur mit ganz allgemein gefaßten<br />
Komp<strong>et</strong>enzen behaft<strong>et</strong>, son<strong>de</strong>rn trugen darüberhinaus <strong>de</strong>r angestrengten Trennung<br />
zwischen Kohle- und Stahlwirtschaft nicht im geringsten Rechnung. Zu allem Übel wur<strong>de</strong> das<br />
Dutzend Dienststellen dann auch noch wegen wachsen<strong>de</strong>r Koordinierungsschwierigkeiten in<br />
6 «Arbeitsgruppen» aufg<strong>et</strong>eilt (ab 1954); <strong>de</strong>n direkten Vorsitz übernahm jeweils ein Mitglied<br />
<strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong>, das eigens zu diesem Zweck, durch Delegation, vom<br />
Unionspräsi<strong>de</strong>nten die nötige Exekutivmacht bekam. 120 Ebenso wenig Glück war <strong>de</strong>r<br />
Privatwirtschaft mit Bezug auf die Ämtervergabe beschert. Nur in <strong>de</strong>n wenigsten Fällen<br />
wählte Monn<strong>et</strong> Kandidaten aus, die auf eine Karriere in <strong>de</strong>n B<strong>et</strong>rieben zurückschauten.<br />
Summa summarum also gestalt<strong>et</strong>e sich dieses neue Europa aus Kohle und Eisen in einer<br />
Art, welche die schlimmsten Befürchtungen <strong>de</strong>r Industriekapitäne bei weitem übertraf.<br />
118 ARBED, P.61 - Plan Schuman, Organisation administrative, Note sur une réunion d'industriels tenue à<br />
Bruxelles le 11 juin 1952 und Réunion d'industriels <strong>de</strong> la Sidérurgie tenue à Ijmui<strong>de</strong>n le 7 juill<strong>et</strong> 1952.<br />
119 Vgl. R. Morgan, Jean Monn<strong>et</strong> and the ECSC Administration: Challenges, Functions and the Inheritance of<br />
I<strong>de</strong>as, IN: Erk Volkmar Heyen (Hrsg.), Die Anfänge <strong>de</strong>r Verwaltung <strong>de</strong>r Europäischen Gemeinschaft, Jahrbuch<br />
für Europäische Verwaltungsgeschichte, Nomos, Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>n, 1992, Bd.4, 1992, S.1-9.<br />
120 Zu <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r EGKS-Verwaltung, vgl. R. Poi<strong>de</strong>vin und D. Spierenburg, Histoire <strong>de</strong> la Haute Autorité <strong>de</strong><br />
la Communauté Européenne du Charbon <strong>et</strong> <strong>de</strong> l'Acier, Bruylant, Bruxelles, 1993, S.55-101. Vgl. auch: E.V.<br />
Heyen (Hrsg.), op.cit., u.a. Artikel von P. Gerb<strong>et</strong>, La Haute Autorité <strong>de</strong> la Communauté Européenne du<br />
Charbon <strong>et</strong> <strong>de</strong> l'Acier, S.11-29; S. Macey, Conception and Evolution of the High Authority's Administrative<br />
Services (1952-1956): from Supranational Principles to Multinational Practices, S.32-47.
Sturm im Wasserglas 31<br />
Der «neunte Mann», ein Wunschkandidat?<br />
Neben <strong>de</strong>n Verwaltungsplänen hatten die Stahlkocher noch ein zweites Eisen im Feuer:<br />
die Bes<strong>et</strong>zung <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> mit Kandidaten aus ihren Reihen. Welch bessere Gewähr<br />
für die Einhaltung einer liberalen Wirtschaftspolitik hätten sie sich wahrlich vorstellen können,<br />
als eine <strong>de</strong>m Unternehmertum entstammen<strong>de</strong> Mannschaft an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r Union?<br />
Schon wie<strong>de</strong>r waren es die Hüttenleute aus Düsseldorf, die als erste konkr<strong>et</strong>e Schritte in<br />
diese Richtung unternommen hatten. 121 Ihr hochgestecktes Anliegen bekam aber spätestens<br />
bei <strong>de</strong>r Januar-Zusammenkunft in <strong>de</strong>r Arbed einen ersten Dämpfer, weil die belgischluxemburgischen<br />
Verbands<strong>de</strong>legierten <strong>de</strong>r Möglichkeit einer mehrheitlich mit Industriellen<br />
bes<strong>et</strong>zten Behör<strong>de</strong> eher skeptisch entgegen sahen. Alleine die seinerzeit kursieren<strong>de</strong>n<br />
Namen <strong>et</strong>waiger Kandidaten verleit<strong>et</strong>en die bei<strong>de</strong>n Dachorganisationen zur nüchternen<br />
Erkenntnis, daß die praktische Ums<strong>et</strong>zung einer solchen I<strong>de</strong>e in Frankreich «unmöglich» *<br />
sei, und in Belgien, bzw. im Großherzogtum «nicht die geringste Chance» *122 hätte. Den<br />
Geschäftsführern <strong>de</strong>r WVESI blieb folglich kein an<strong>de</strong>rer Ausweg, als ihre Erwartungen<br />
zurückzuschrauben:<br />
«sollten die übrigen Län<strong>de</strong>r namhafte Politiker als Hohe Behör<strong>de</strong>-Mitglie<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>signieren, dann könnte Deutschland nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln, obschon dieses Land<br />
[Deutschland] eigentlich vorhatte, eine berufsständische Persönlichkeit zu<br />
nominieren» * . 123<br />
Da nun acht <strong>de</strong>r neun Mandatsträger <strong>de</strong>s EGKS-Spitzengremiums direkt von <strong>de</strong>n jeweiligen<br />
nationalen Regierungen auserkoren wur<strong>de</strong>n – wobei mit an Sicherheit grenzen<strong>de</strong>r<br />
Wahrscheinlichkeit Persönlichkeiten aus <strong>de</strong>m Politikermilieu o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gewerkschaftsszene<br />
das Rennen machen wür<strong>de</strong>n –, dachten die Hüttenherren, es sei vernünftiger, wenn sie ihre<br />
Bemühungen in Zukunft einzig und allein auf das neunte, zu kooptieren<strong>de</strong> Mitglied <strong>de</strong>r<br />
Behör<strong>de</strong> konzentrierten. Die festgelegte Strategie gründ<strong>et</strong>e auf einer doppelten Spekulation.<br />
Zum einen wür<strong>de</strong> sich die Kooptation eines «Politikers» wegen <strong>de</strong>s Kräfteverhältnisses unter<br />
<strong>de</strong>n Montanlän<strong>de</strong>rn nur schwer durchs<strong>et</strong>zen lassen; zum an<strong>de</strong>ren sei bereits unter <strong>de</strong>n acht<br />
Direkt-Nominierungen min<strong>de</strong>stens ein Gewerkschafter. Sollte nun auch noch <strong>de</strong>r neunte Sitz<br />
– wie dies offenkundig mehr o<strong>de</strong>r weniger verbindlich im Abschluß <strong>de</strong>r Schuman-Plan-<br />
Verhandlungen versprochen wor<strong>de</strong>n war 124 – an die Arbeiterschaft gehen, dann wären die<br />
Syndikate überrepräsentiert. Das Patronat hingegen wäre leer ausgegangen.<br />
121 ARBED, P.VII-C und 68.G.<br />
Die Suche nach einem Kandidaten aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Industriellenmilieu ging bereits auf die Sommermonate<br />
1951 zurück. Damals dachte die WVESI offenbar an eine Bewerbung von Max Paul Meier, <strong>de</strong>m eine «reale<br />
Chance» * zugedacht wur<strong>de</strong> (Henri Roger, Generaldirektor <strong>de</strong>r Hadir an Aloyse Meyer, 29.06.1951). Wegen<br />
seiner umstrittenen Rolle als Liquidator <strong>de</strong>r Hadir während <strong>de</strong>r Nazi-Besatzung von Luxemburg, hatte Roger<br />
aber schwerste Be<strong>de</strong>nken gegen Meiers geäußert; er lehnte <strong>de</strong>shalb auch <strong>de</strong>n vorgeschlagenen<br />
Antrittsbesuch <strong>de</strong>s ehemaligen Liquidators im Differdinger Werk kategorisch ab (Max Paul Meiers an Félix<br />
Chomé, 18.07.1951 und an Henri Roger, 25.07.1951).<br />
122 Luxemburger Besprechung vom 7. Januar, op.cit.<br />
In Belgiens Herstellerkreisen wur<strong>de</strong>n Persönlichkeiten wie Jean Duvieusart o<strong>de</strong>r Gaston Eyskens gehan<strong>de</strong>lt;<br />
im Großherzogtum war zwar noch kein Name bekannt, aber die Hersteller schienen nicht ernsthaft an die<br />
Kandidatur eines Hüttenherren zu glauben.<br />
123 Ibid.<br />
124 Longwykonferenz von Eric Conrot, op.cit.
Sturm im Wasserglas 32<br />
Konsequenterweise versteiften die Stahlkocher sich darauf, das l<strong>et</strong>zte Mandat für die<br />
Privatwirtschaft zu beanspruchen.<br />
Die zu Jahresbeginn bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-belgisch-luxemburgischen Zusammenkunft im<br />
Großherzogtum g<strong>et</strong>roffene Vereinbarung nahm während <strong>de</strong>r Wintermonate 1952 allmählich<br />
Gestalt an. Belgiens Zechenbesitzer hatten die Vorstellungen <strong>de</strong>r Eisenwirtschaft<br />
aufgegriffen und wart<strong>et</strong>en auch gleich mit einem Namen für <strong>de</strong>n neunten Mann auf: Guill<br />
Konsbruck, beigeordn<strong>et</strong>er Generaldirektor <strong>de</strong>r Arbed. Der Vorstoß kam völlig überraschend.<br />
We<strong>de</strong>r die Konzernsleitung in Luxemburg, noch Konsbruck selbst wußten Bescheid. Chomé<br />
erfuhr die Nachricht erst auf Umwegen von Walter Schwe<strong>de</strong> und <strong>de</strong>ssen Kollegen Wolfgang<br />
Linz von <strong>de</strong>n Vereinigten Stahlwerken. 125 Über die Hintergrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r belgischen Initiative ist<br />
bedauerlicherweise nicht ein einziges Dokument aufzutreiben. Es darf aber vermut<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n,<br />
daß die Kohleminenbesitzer bei ihrem Brüsseler Treffen vom 23. Februar nach einem<br />
geeign<strong>et</strong>en Vertr<strong>et</strong>er <strong>de</strong>r Schwerindustrie Ausschau hielten und dabei an eine Persönlichkeit<br />
von internationalem Rang dachten, <strong>de</strong>ren Kandidatur sowohl von <strong>de</strong>n Kohle- als auch <strong>de</strong>n<br />
Eisenproduzenten g<strong>et</strong>ragen wer<strong>de</strong>n konnte. Guill Konsbrucks Profil entsprach <strong>de</strong>n gestellten<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen vollauf. Als Adjutant S.M. <strong>de</strong>s Prinzen Félix war er bei Ausbruch <strong>de</strong>s Zweiten<br />
Weltkrieges <strong>de</strong>r großherzoglichen Familie und <strong>de</strong>r Luxemburger Regierung ins Exil nach<br />
London gefolgt. Dort kümmerte er sich vornehmlich um Versorgungsfragen, eine Aufgabe,<br />
die ihm enge Kontakte zu <strong>de</strong>n Alliierten bescherte. Nach <strong>de</strong>m Krieg wur<strong>de</strong> Konsbruck<br />
Minister für Nachschub im Kabin<strong>et</strong>t Pierre Dupong, bis er dann im Oktober 1946 zur Arbed<br />
stieß. 126 Dort leit<strong>et</strong>e er die Abteilung für Auslandsb<strong>et</strong>eiligungen und vertrat die Interessen <strong>de</strong>r<br />
Luxemburger Muttergesellschaft u.a. in <strong>de</strong>n Verwaltungsräten <strong>de</strong>s Eschweiler<br />
Bergwerksverein im Aachener Revier und <strong>de</strong>r Charbonnages <strong>de</strong> Helchteren <strong>et</strong> Zol<strong>de</strong>r im<br />
belgischen Limburg, zwei Grubenunternehmen <strong>de</strong>ren Aktienkapital sich mehrheitlich im<br />
Besitz <strong>de</strong>r Arbed befand. 127<br />
Der Vorschlag <strong>de</strong>r belgischen Kohleunternehmer stand dann auch im Mittelpunkt <strong>de</strong>r<br />
internationalen Konferenz aller sechs Eisenverbän<strong>de</strong> in Paris (29. März). Hier trat <strong>de</strong>r<br />
Mangel an Konzertierung unter Industriellen einmal mehr offen zu Tage. Bis dato war die<br />
Führung <strong>de</strong>r CSSF zum einen davon ausgegangen, die großherzogliche Regierung habe<br />
Guill Kunsbruck offiziell für das Luxemburger Direkt-Mandat nominiert; zum an<strong>de</strong>ren hatte<br />
sie genauso irrtümlich gedacht, <strong>de</strong>r neunte, noch zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Posten könnte<br />
beispielsweise an Pierre Van <strong>de</strong>r Rest vergeben wer<strong>de</strong>n! Da daraus nun aber nichts wur<strong>de</strong>,<br />
drängten Deutsche, Belgier, Luxemburger, Italiener und Hollän<strong>de</strong>r auf die Verwirklichung <strong>de</strong>r<br />
Konsbruck-Lösung. In Folge <strong>de</strong>s spürbar stärker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Drucks <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
beabsichtigten sie möglichst rasch zu han<strong>de</strong>ln, damit die Arbeitnehmervertr<strong>et</strong>ungen ihnen<br />
das neunte Mandat nicht vor <strong>de</strong>r Nase wegschnappten. Die Chambre Syndicale hingegen<br />
wollte «die Dinge nicht überstürzen» * . Die ihrer Auffassung nach berechtigte Hoffnung, daß<br />
eines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n französischen Hohe-Behör<strong>de</strong>-Mitglie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>s Patronats<br />
hervorgehen könnte, wollten sie nicht durch einen verfrühten Ansturm auf <strong>de</strong>n neunten Sitz<br />
gefähr<strong>de</strong>n. 128<br />
Der Pariser Kompromiß – Guill Konsbruck war einhellig zum Kandidaten <strong>de</strong>r Privatwirtschaft<br />
gekürt wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Arbed-Direktors durfte aber bis auf weiteres nicht<br />
125 ARBED, P.68.H., Walter Schwe<strong>de</strong> an Félix Chomé, 07.03.1952; Antwortschreiben von Chomé, 10.03.1952<br />
und Wolfgang Linz an Félix Chomé, 14.03.1952.<br />
126 Vgl. F. Chomé, ARBED. Un <strong>de</strong>mi-siècle d'histoire industrielle, 1911-1964, sans éditeur, Luxembourg, 1964.<br />
127 ARBED, P.VIII, ARBED Luxembourg. Nomenclature d'entreprises filiales <strong>et</strong> apparentées, Novembre 1949.<br />
128 Compte-rendu succinct d'une réunion d'industriels tenue à Paris (März), op.cit.
Sturm im Wasserglas 33<br />
preisgegeben wer<strong>de</strong>n – gab Anlaß zu großem Unmut in <strong>de</strong>r Fünfergruppe. Der ganze<br />
Aktionsplan war dahin, o<strong>de</strong>r besser gesagt, er konnte vorläufig nur noch auf Sparflamme<br />
weiterg<strong>et</strong>rieben wer<strong>de</strong>n bis in <strong>de</strong>r IV. Republik endlich Klarheit über die tatsächlichen<br />
Nominationen herrschte. Beson<strong>de</strong>rs im belgisch-luxemburgischen Lager sorgte <strong>de</strong>r<br />
neuerliche Aufschub für viel Aufregung. Die Vorstellung <strong>de</strong>r CSSF, einen <strong>de</strong>r ihrigen ins<br />
Spitzenorgan <strong>de</strong>r Gemeinschaft zu beför<strong>de</strong>rn, löste bei Pierre Van <strong>de</strong>r Rest nur ungläubiges<br />
Kopfschütteln aus. Auch Belgiens Zechenbesitzer wollten nicht so recht an <strong>de</strong>n<br />
französischen Alleingang glauben. Statt <strong>de</strong>r Taube auf <strong>de</strong>m Dach nachzujagen, hätten sie<br />
sich lieber mit <strong>de</strong>m Spatzen in <strong>de</strong>r Tasche zufrie<strong>de</strong>ngegeben. 129 Dennoch hielt Chomé sich<br />
peinlich an die vereinbarte Abmachung. Im offiziellen Bittschreiben <strong>de</strong>s GISL an<br />
Außenminister Bech begnügte er sich je<strong>de</strong>nfalls mit allgemeinen Phrasen. Unter <strong>de</strong>m<br />
Hinweis, daß «es bedauerlich, ja sogar ungerecht sei, wenn die Industriellen völlig von <strong>de</strong>r<br />
Geschäftsführung eines Organismus ausgeschlossen wären, <strong>de</strong>ssen Hauptmission ja<br />
eigentlich darin besteht, die Grundinteressen <strong>de</strong>r Hersteller, <strong>de</strong>r Arbeiter und <strong>de</strong>r<br />
Konsumenten in Einklang zu bringen», beharrte er auf <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung,<br />
«nicht unserer selbst willen, aber <strong>de</strong>s Prinzips wegen, das Recht <strong>de</strong>r Industriellen auf<br />
eine B<strong>et</strong>eiligung an <strong>de</strong>r obersten Direktion <strong>de</strong>s Pools einklagen zu dürfen, sei es in<br />
Form eines <strong>de</strong>r 8 Mitglie<strong>de</strong>r, die von <strong>de</strong>n Regierungen ernannt wer<strong>de</strong>n, sei es in Form<br />
<strong>de</strong>s 9. Mitglieds, das kooptiert wer<strong>de</strong>n soll» * . 130<br />
Einen Namen ließ <strong>de</strong>r GISL-Präsi<strong>de</strong>nt in seinem Brief nicht verlauten, … o<strong>de</strong>r hatte er<br />
Joseph Bech an an<strong>de</strong>rer Stelle doch <strong>et</strong>was über Konsbruck verlauten lassen? Wie <strong>de</strong>m auch<br />
sein mag, <strong>de</strong>n Hür<strong>de</strong>nlauf um das l<strong>et</strong>zte Mandat verlor die Privatwirtschaft ohnehin in <strong>de</strong>r<br />
l<strong>et</strong>zten Zielgera<strong>de</strong>.<br />
Ironie <strong>de</strong>r Geschichte: ausgerechn<strong>et</strong> Frankreich leist<strong>et</strong>e sich <strong>de</strong>n Luxus, neben Jean<br />
Monn<strong>et</strong> auch <strong>de</strong>n lothringischen Hüttenherren Léon Daum zur Hohen Behör<strong>de</strong> zu<br />
entsen<strong>de</strong>n. Gleich nach Bekanntgabe <strong>de</strong>r Nachricht streckten die Unterhändler <strong>de</strong>r<br />
Eisenverbän<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Kohleorganisationen die Köpfe abermals zusammen, um, in<br />
Kenntnis <strong>de</strong>r neuen Sachlage, über weitere Schritte zu <strong>de</strong>battieren. Auch wenn <strong>de</strong>r<br />
glimpfliche Ausgang <strong>de</strong>r Ernennungen im Hexagon eigentlich eher ermutigend wirkte, so war<br />
die Stimmung im holländischen Noordwyck trotz<strong>de</strong>m nicht die allerbeste. Ganz im Gegenteil.<br />
Die kürzlich erst entstan<strong>de</strong>ne gemeinsame Front <strong>de</strong>r Unternehmerbranchen Kohle und<br />
Stahl 131 drohte auseinan<strong>de</strong>rzubrechen, weil die Zechenbesitzer ihre spezifischen Interessen<br />
nicht ausreichend durch Léon Daum vertr<strong>et</strong>en sahen. Da j<strong>et</strong>zt mehr o<strong>de</strong>r weniger sicher war,<br />
daß die Eisenhersteller und die Gewerkschaften (Heinz Potthoff) je ein Mitglied <strong>de</strong>r obersten<br />
Unionsbehör<strong>de</strong> stellten, beanspruchte die Kohlewirtschaft das kooptierte Mandat kurzerhand<br />
für sich. Statt Konsbruck hieß ihr Kandidat fortan Jean Janssens, <strong>de</strong>r ehemalige Brüsseler<br />
Abgesandte beim Coal Control Group und bei <strong>de</strong>r Internationalen Ruhrbehör<strong>de</strong>. 132<br />
Mittlerweile hatte Konsbruck seine Bewerbung sowieso zurückgezogen. Der Rückzieher<br />
stand wahrscheinlich in direkter Verbindung zu <strong>de</strong>r Veröffentlichung eines Presseartikels <strong>de</strong>r<br />
Tribune <strong>de</strong>s Nations. In seiner Freitagsausgabe vom 27. Juni 1952 wußte das Blatt eine<br />
129 Protokoll einer belgisch-luxemburgischen Sitzung vom 16.April, op.cit.<br />
130 Schreiben vom 24 Mai, op.cit.<br />
131 ARBED, P.61, Résolution [<strong>de</strong>s charbonniers] prise lors <strong>de</strong> la réunion tenue à Bruxelles, le 6 juin 1952,<br />
Abschrift.<br />
132 ARBED, P.61, Plan Schuman. Réunion <strong>de</strong> Noordwyck (Hollan<strong>de</strong>) entre représentants <strong>de</strong>s industries<br />
sidérurgiques <strong>et</strong> charbonnières <strong>de</strong>s pays du Plan Schuman le 7 juill<strong>et</strong> 1952.
Sturm im Wasserglas 34<br />
vermeintliche Sensationsmeldung zu berichten: wäre <strong>de</strong>r Arbed-Präsi<strong>de</strong>nt Aloyse Meyer<br />
nicht kürzlich verschie<strong>de</strong>n, dann sei er son<strong>de</strong>r Zweifel die geeign<strong>et</strong>ste Figur gewesen, um die<br />
Präsi<strong>de</strong>ntschaft <strong>de</strong>r Montangemeinschaft zu übernehmen! 133 Abgesehen von <strong>de</strong>r<br />
Geschmacklosigkeit <strong>de</strong>s Artikels, hätte man im Großherzogtum wohl höchstens über die<br />
Zeitungsente gelacht …, wenn das europäische Umfeld im Sommer 1952 nicht extrem<br />
angespannt gewesen wäre und die Affäre schwersten Scha<strong>de</strong>n für die Luxemburger<br />
Schmelzen anzurichten drohte. In <strong>de</strong>r Tat war Jean Monn<strong>et</strong> damals im Rahmen einer<br />
großangelegten Pressekampagne bestrebt, Werbung zugunsten seiner eigenen Kandidatur<br />
für <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>ntenstuhl zu b<strong>et</strong>reiben. Die anbie<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Reklame hatte ihm aber mehr<br />
geschad<strong>et</strong> als genutzt. Beson<strong>de</strong>rs in politischen Kreisen <strong>de</strong>r Unionslän<strong>de</strong>r hatte sich eine<br />
«gewisse Animosität […] gegen Herrn Monn<strong>et</strong> und seine Mitstreiter <strong>de</strong>r Rue <strong>de</strong> Martignac» *<br />
ausgebreit<strong>et</strong>. Die aufkommen<strong>de</strong> Feindseligkeit gegenüber <strong>de</strong>m Schuman-Plan-Initiator hatte<br />
Albert Wehrer hellhörig gemacht. Wie die meisten seiner Kollegen auf <strong>de</strong>m internationalen<br />
Park<strong>et</strong>t war ihm klar, inwieweit Monn<strong>et</strong> sein <strong>de</strong>rzeit recht schlechtes Image in <strong>de</strong>n Medien<br />
größtenteils selber verschuld<strong>et</strong> hatte. Den Luxemburger Diplomaten aber verärgerte die<br />
öffentliche Meinung. Was wür<strong>de</strong> passieren, wenn irgend jemand auf <strong>de</strong>n böswilligen<br />
Gedanken käme, die «Sensationsnachricht» <strong>de</strong>r Tribune so hinzustellen, als sei sie im<br />
Auftrag <strong>de</strong>r Arbed abgedruckt wor<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n französischen Präsi<strong>de</strong>ntenanwärter zu<br />
provozieren? Die völlig aus <strong>de</strong>r Luft gegriffene Unterstellung, daß das Luxemburger<br />
Unternehmen <strong>de</strong>r eigentliche Drahtzieher <strong>de</strong>s «Pressefeldzuges» * gegen Monn<strong>et</strong> gewesen<br />
wäre, hätte für das Großherzogtum katastrophale Konsequenzen nach sich gezogen. 134 Der<br />
bloße Gedanke an einen solchen Skandal vers<strong>et</strong>zte auch die Konzernleitung in Angst und<br />
Schrecken. Um potentiellen Fehlinterpr<strong>et</strong>ationen nicht unnötigerweise Vorschub zu leisten,<br />
hielt sie es daher für sinnvoller, nicht noch einmal unfreiwillig in die negativen Schlagzeilen<br />
zu geraten, wenn die europäischen Unternehmerverbän<strong>de</strong> Guill Konsbrucks Namen <strong>de</strong>r<br />
Öffentlichkeit preisgegeben hätten.<br />
Zur Einigung über die Nachfolge <strong>de</strong>s Arbed-Direktors sollte die Zeit nicht mehr reichen. Jean<br />
Janssens' Bewerbung hatten die Stahlkocher als «wenig aussichtsreich» * abgelehnt. Statt<br />
<strong>de</strong>ssen schwebte ihnen nun mehr eine «neutrale Persönlichkeit mit europäischem<br />
Renommee» *135 vor, wie <strong>et</strong>wa <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rländische Außenminister Dirk Stikker. Der späte<br />
Sinneswan<strong>de</strong>l erklärt sich vor<strong>de</strong>rgründig durch die neuen Prioritäten, die sich zwangsläufig<br />
nach Léon Daums Wahl ergeben hatten. Während <strong>de</strong>r Schlußphase <strong>de</strong>s Ringens um <strong>de</strong>n<br />
kooptierten Sitz ging es <strong>de</strong>n Eisenhüttenleuten nämlich nicht mehr so sehr um ein zweites<br />
Mandat zugunsten <strong>de</strong>r Unternehmer, son<strong>de</strong>rn vielmehr darum, zu verhin<strong>de</strong>rn, daß die<br />
Gewerkschaften <strong>de</strong>n «neunten Mann» stellen könnten. Die For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
Kohleproduzenten mußten bei diesem l<strong>et</strong>zten Poker <strong>de</strong>n allgemeinen Interessen <strong>de</strong>r<br />
Arbeitgeber weichen. Vergebens, <strong>de</strong>nn noch bevor <strong>de</strong>r Streit im Lager <strong>de</strong>s Patronats<br />
beigelegt war, hatte sich <strong>de</strong>r Wunschkandidat <strong>de</strong>s zukünftigen EGKS-Präsi<strong>de</strong>nten – Paul<br />
Fin<strong>et</strong>, <strong>de</strong>r Generalsekr<strong>et</strong>är <strong>de</strong>r Fédération Générale <strong>de</strong>s Travailleurs Belges – durchs<strong>et</strong>zen<br />
können. 136<br />
133 ARBED, P.68.H, Dommage qu'Aloyse Meyer soit mort, dit-on à Luxembourg IN: Tribune <strong>de</strong>s Nations,<br />
27.06.1952.<br />
134 ARBED, P.68.H, Albert Wehrer an Félix Chomé, 26.06.1952 und Félix Chomé an Albert Wehrer, 30.06.1952.<br />
135 Réunion <strong>de</strong> Noordwyck, op.cit.<br />
136 Vgl. R. Poi<strong>de</strong>vin und D. Spierenburg, op.cit., S.68.
Sturm im Wasserglas 35<br />
Schlußb<strong>et</strong>rachtung<br />
Die lauthals von <strong>de</strong>n Stahlkochern verlangten Sicherheiten zur Wahrung ihrer<br />
berufsständischen Interessen waren unter <strong>de</strong>m Druck politischer Zwänge wie eine peau <strong>de</strong><br />
chagrin zusammengeschrumpft. Auch die l<strong>et</strong>zte Trumpfkarte <strong>de</strong>r Wirtschaftsbosse, Léon<br />
Daums Zugehörigkeit zur Hohen Behör<strong>de</strong>, sollte sich schon bald als wenig hilfreich<br />
erweisen. 137 Nichts<strong>de</strong>stomin<strong>de</strong>r glätt<strong>et</strong>en sich die Wogen mit <strong>de</strong>m Inkrafttr<strong>et</strong>en <strong>de</strong>r Union.<br />
Der schwerindustrielle Ansturm auf das vereinte Europa aus Kohle und Stahl flaute<br />
augenscheinlich im Laufe <strong>de</strong>s zweiten Semesters 1952 nach und nach ab.<br />
Darf <strong>de</strong>r Rummel um die Konstituierung <strong>de</strong>r EGKS also abg<strong>et</strong>an wer<strong>de</strong>n als schlichter Reflex<br />
<strong>de</strong>r Selbstverteidigung vor einer Gemeinschaft, <strong>de</strong>ren unkonventionelle Objektive und<br />
komplizierte Ausführungsbestimmungen offenkundig nichts mit <strong>de</strong>n gewohnten Kartellen <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit gemein hatten? Freilich, die instinktive Abneigung gegen ein Abkommen,<br />
das die Hütten zum Spielball internationaler Politik machte, gleichwohl wie die Verbannung<br />
<strong>de</strong>r Industrievertr<strong>et</strong>er vom Verhandlungstisch und <strong>de</strong>r somit verursachte Groll, mögen ihren<br />
Teil dazu beig<strong>et</strong>ragen haben. Eine <strong>de</strong>rart simple Interpr<strong>et</strong>ation <strong>de</strong>s Geschehens ist allerdings<br />
wenig zufrie<strong>de</strong>nstellend, <strong>de</strong>nn in Wahrheit ging die Opposition auch nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlassung<br />
<strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> am Place <strong>de</strong> M<strong>et</strong>z unterschwellig weiter. Die Aktivitäten <strong>de</strong>s Patronats<br />
waren zwar unbestreitbar nicht mehr so spektakulär wie die Revisionsansprüche o<strong>de</strong>r die<br />
Durchs<strong>et</strong>zung einer EGKS-Verwaltung nach ihrem Geschmack; auch hatte <strong>de</strong>r fortan eher<br />
praxisbezogene Wi<strong>de</strong>rstand gegen ein ordnungsgemäßes Funktionieren <strong>de</strong>r<br />
Montangemeinschaft wegen seines technisch hochkomplexen Charakters je<strong>de</strong><br />
Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Medien verloren. Trotz<strong>de</strong>m waren Absprachen über die veröffentlichten<br />
Preislisten, okkulte Rabatte, private Abkommen zur Belieferung mit Schrott o<strong>de</strong>r die<br />
Brüsseler Konvention b<strong>et</strong>reffs Eisenexporte außerhalb <strong>de</strong>s Gemeinsamen Marktes 138 – um<br />
nur einige Beispiele zu nennen – dazu ang<strong>et</strong>an, die Ges<strong>et</strong>zgebung <strong>de</strong>r Union mehr o<strong>de</strong>r<br />
weniger erfolgreich zu unterwan<strong>de</strong>rn. Und die Hohe Behör<strong>de</strong> sah tatenlos zu!<br />
«Aus dieser Sitzung [<strong>de</strong>s Ministerrats] ergibt sich <strong>de</strong>r Eindruck, daß die Hohe Behör<strong>de</strong><br />
augenblicklich nicht imstan<strong>de</strong> und auch nicht willens ist, sich voll zu engagieren und<br />
ihre generelle Politik zu <strong>de</strong>finieren, wogegen die 6 Regierungen, die mit dringen<strong>de</strong>n<br />
und schwierigen Problemen konfrontiert sind, endlich Klarheit schaffen wollen. Bei <strong>de</strong>r<br />
Erörterung technischer Fragen ist die Hohe Behör<strong>de</strong> bewußt je<strong>de</strong>r Debatte<br />
ausgewichen, und sie hat sich schließlich hinter Erklärungen von ganz allgemeiner<br />
Tragweite […] verschanzt» * . 139<br />
Die verblüffen<strong>de</strong> Zurückhaltung <strong>de</strong>s Spitzengremiums gibt in <strong>de</strong>r Tat manches Rätsel auf,<br />
das beim <strong>de</strong>rzeitigen Stand <strong>de</strong>r historischen Forschung noch keine verläßlichen<br />
Schlußfolgerungen zuläßt. Hierüber können erst weitere Recherchen zum strittigen Thema<br />
<strong>de</strong>r tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen <strong>de</strong>r Gemeinschaft während ihrer<br />
Anfangsphase Klarheit verschaffen. Die folgen<strong>de</strong>n Hinweise dürfen also lediglich als<br />
zaghafte Ansätze einer Problemstellung gewert<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n; sie beanspruchen we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Charakter einer vollständigen, noch einer <strong>de</strong>finitiven Klärung <strong>de</strong>s Sachverhalts.<br />
137 Ph. Mioche, Jacques Ferry <strong>et</strong> la sidérurgie française <strong>de</strong>puis la Secon<strong>de</strong> Guerre Mondiale, Publications <strong>de</strong><br />
l'Université <strong>de</strong> Provence, Aix-en-Provence, 1993, S.129-130.<br />
138 Diverse Akten aus <strong>de</strong>r Arbed-Zentralverwaltung und <strong>de</strong>n Archiven <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>ntschaft <strong>de</strong>s Verwaltungsrates.<br />
139 ARBED, P.61.C, Réunion du Conseil <strong>de</strong>s Ministres à Luxembourg (12-13 octobre 1953), Bericht von Eric<br />
Conrot an die GISL-Vorstandsmitglie<strong>de</strong>r, 14.10.1953.
Sturm im Wasserglas 36<br />
Im Hinblick auf die Kartellproblematik und die Unternehmenskonzentrationen beispielsweise<br />
fällt auf, daß die Behör<strong>de</strong> bestens über Verstöße <strong>de</strong>r Industrie informiert war und <strong>de</strong>nnoch oft<br />
ein Auge, o<strong>de</strong>r gar bei<strong>de</strong>, verschloß. 140 Bild<strong>et</strong>en die strengen Vorschriften <strong>de</strong>s Vertrages also<br />
bloß eine Art Vorhängeschild, um die Amerikaner zu beschwichtigen und ein günstiges Klima<br />
für die millionenschwere Dollaranleihe in <strong>de</strong>n USA herbeizuführen? Läßt sich aus diesem,<br />
sowie aus an<strong>de</strong>ren, ähnlich gelagerten Hinweisen <strong>et</strong>wa ableiten, daß die ökonomischen<br />
Vertragsartikel, alles in allem, doch eigentlich nur ein zweitrangiges Ziel <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />
abgaben? Einen min<strong>de</strong>stens ebenso verwirren<strong>de</strong>n Eindruck hinterläßt das merkwürdig<br />
beschei<strong>de</strong>ne Einschreiten <strong>de</strong>r EGKS-Instanzen bei <strong>de</strong>r Bereinigung <strong>de</strong>r chaotischen<br />
Verhältnisse auf <strong>de</strong>n Stahlmärkten. Der dramatische Rückgang <strong>de</strong>r Nachfrage im Bereich<br />
bestimmter Produkte und <strong>de</strong>r galoppieren<strong>de</strong> Preisverfall nach <strong>de</strong>m Koreaboom stürzte viele<br />
Hütten in arge Bedrängnis. Die wegen <strong>de</strong>r Eröffnung <strong>de</strong>s Gemeinsamen Markes<br />
entstan<strong>de</strong>ne allgemeine Verunsicherung und die eher abwarten<strong>de</strong> Zurückhaltung <strong>de</strong>r Käufer<br />
taten ein übriges. Die leeren Auftragsbücher <strong>de</strong>r Schmelzen an <strong>de</strong>r Saar, in Frankreich,<br />
Belgien und in Luxemburg zwangen mehrere Werke, einen Teil ihrer Hochöfen stillzulegen.<br />
Vielerorts nahm die Lage dramatische Ausmaße an. Kurzarbeit war angesagt. In einigen<br />
B<strong>et</strong>rieben dachte man sogar an Schließung! 141 Die Union aber machte keine Anstalten, <strong>de</strong>n<br />
«völlig ungeordn<strong>et</strong>e[n] W<strong>et</strong>tbewerb» 142 dank einer resoluten Anwendung <strong>de</strong>s verfügbaren<br />
Machtinstrumentariums zu regeln und dadurch die drohen<strong>de</strong> Arbeitslosigkeit abzuwen<strong>de</strong>n.<br />
War das passive Verhalten <strong>de</strong>r Hohen Behör<strong>de</strong> Ausdruck ihrer Hilflosigkeit? Hatte die Angst<br />
vor <strong>de</strong>r anstehen<strong>de</strong>n Krise und ihrer negativen Konsequenzen für das Image <strong>de</strong>s<br />
frischgebackenen Europas sie dazu verleit<strong>et</strong>, lieber auf das traditionelle Management <strong>de</strong>r<br />
Fachleute zu s<strong>et</strong>zen? Ob die EGKS nun wirklich <strong>de</strong>n in sie gesteckten Erwartungen auf <strong>de</strong>m<br />
Gebi<strong>et</strong> <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Fortschritts gerecht wur<strong>de</strong>, o<strong>de</strong>r ob sie im Leerlauf drehte und<br />
<strong>de</strong>r Privatinitiative das Feld weitgehend überlassen hatte – das bleibt die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Frage. Sie kann augenblicklich nicht beantwort<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n.<br />
Wesentlich einfacher dahingegen gestalt<strong>et</strong> sich eine Beurteilung <strong>de</strong>r althergebrachten<br />
I<strong>de</strong>e vom omnipotenten Einfluß <strong>de</strong>r Industrie auf die Politik. Der vorliegen<strong>de</strong> Aufsatz hat<br />
ein<strong>de</strong>utig aufgezeigt, daß Behauptungen nach <strong>de</strong>nen die Regierungen sich <strong>de</strong>m Diktat <strong>de</strong>r<br />
Eisenlobby unterworfen hätten, keiner tiefgreifen<strong>de</strong>n Analyse standhalten. Gewiß, sofern ihr<br />
Nutzen an <strong>de</strong>r Sache mit <strong>de</strong>mjenigen <strong>de</strong>s Unternehmertums übereinstimmte, waren<br />
öffentliche Dienststellen gern bereit, wohlwollen<strong>de</strong>s Entgegenkommen an <strong>de</strong>n Tag zu legen<br />
und die gestellten For<strong>de</strong>rungen nachhaltig zu unterstützen. Ja, in verschie<strong>de</strong>nen Fällen<br />
bedienten sie sich sogar dieser zeitweiligen «Allianz», um im Windschatten<br />
schwerindustriellen Vorpreschens lan<strong>de</strong>seigene Vorteile herauszuschlagen. Ansonsten<br />
hielten die politisch Verantwortlichen beharrlich an ihrem durch die Staatsräson<br />
vorgezeichn<strong>et</strong>en Kurs fest. Nicht einmal im kleinen Großherzogtum – wo die zahlenmäßig<br />
stark reduzierte Elite aus Wirtschaft und Politik engste Kontakte zueinan<strong>de</strong>r pflegte, wo<br />
140 In <strong>de</strong>m für die Hohe Behör<strong>de</strong> bestimmten Dokument 4986 vom 23.06.1953 hatte Richard Hamburger (Leiter<br />
<strong>de</strong>r EGKS-Abteilung für Unternehmenskonzentrationen) in einem ziemlich scharfen Ton je<strong>de</strong> Menge<br />
unlauterer Preisabsprachen unter <strong>de</strong>n Hütten angeprangert. Hamburgers Notiz kommentierte A. Robert<br />
(juristischer Berater <strong>de</strong>s GISL) wie folgt: «Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Hohe Behör<strong>de</strong> [die] Notiz<br />
nicht zur Kenntnis genommen hat» * .<br />
GISL, A. Robert an Félix Chomé, 02.07.1953.<br />
141 ARBED, AC [Administration Centrale] 39/30.I, Note pour la Haute Autorité. Situation du marché <strong>de</strong> l'acier,<br />
08.10.1953. Wegen seiner «Offenheit» * hatte <strong>de</strong>r von Tony Rollman (Leiter <strong>de</strong>r EGKS-Abteilung für Märkte)<br />
verfaßte Lagebericht einen «streng vertraulich[en]» * Charakter.<br />
142 ARBED, AC.6311.I, Kritik <strong>de</strong>r Preisvorschriften im Gemeinsamen Markt; W. Burckhardt (Generaldirektor <strong>de</strong>s<br />
Eschweiler Bergwerks Verein, Mitglied im Beraten<strong>de</strong>n Ausschuß) an Félix Chomé, 04.11.1953.
Sturm im Wasserglas 37<br />
Werksdirektoren, Abgeordn<strong>et</strong>e und Minister sich regelmäßig im Jagdrevier o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Golfplatz trafen – war es <strong>de</strong>n Hüttenherren gegönnt, ausreichen<strong>de</strong> Garantien zu ergattern.<br />
Höhere Erwägungen wie u.a. Luxemburgs Stellung auf <strong>de</strong>r diplomatischen Weltbühne o<strong>de</strong>r<br />
die Sorge um <strong>de</strong>n Sitz <strong>de</strong>r EGKS hatten Joseph Bech und Albert Wehrer bewegt, ihren<br />
Freun<strong>de</strong>n so manche Bitte abzuschlagen.<br />
Der Mythologie gehören auch die seinerzeit weitverbreit<strong>et</strong>en Gerüchte über die Solidarität<br />
<strong>de</strong>s Großkapitals an. Die nach <strong>de</strong>m Krieg durch das amerikanische Anti-Trust-Fieber<br />
aufgebauschte, und auf <strong>de</strong>m Alten Kontinent vornehmlich von linksgericht<strong>et</strong>en Kreisen<br />
propagierte Vorstellung einer internationalen Verfilzung <strong>de</strong>s Industriellenmilieus, darf heute<br />
ohne Zögern als phantasievoll ausgeschmückte Legen<strong>de</strong> verworfen wer<strong>de</strong>n. Von einer<br />
grenzüberschreiten<strong>de</strong>n Interessengemeinschaft kann je<strong>de</strong>nfalls nur sehr bedingt und unter<br />
größtem Vorbehalt die Re<strong>de</strong> sein. Nicht ultrageheime Gentlemen Agreements, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />
Kampf mit harten Bandagen beherrschte die Beziehungen unter <strong>de</strong>n Konzernen. Obwohl<br />
gera<strong>de</strong> während <strong>de</strong>r für die Zukunft aller B<strong>et</strong>riebe richtunggeben<strong>de</strong>n Jahre 1950 bis 1952 ein<br />
konzertiertes Han<strong>de</strong>ln mehr <strong>de</strong>nn je vonnöten gewesen wäre, hatte nationaler Egoismus,<br />
gepaart mit klassischem Konkurrenz<strong>de</strong>nken, die Hüttenherren daran gehin<strong>de</strong>rt, rechtzeitig<br />
eine geschlossene Front aufzubauen. Jean Monn<strong>et</strong> sollte es ihnen danken, <strong>de</strong>nn das ewige<br />
Gezänk unter <strong>de</strong>n sechs Dachverbän<strong>de</strong>n hatte ihm geholfen, seine schärfsten Kontrahenten<br />
zu überrumpeln und sie vor das fait accompli zu stellen.<br />
Selbst im Lager <strong>de</strong>r Eisenorganisation war man ziemlich bestürzt über das eigene, wenig<br />
rühmliche Gehabe. Auch wenn am Schuman-Plan an und für sich nichts mehr zu än<strong>de</strong>rn<br />
war, so machte sich doch allenthalben <strong>de</strong>r Wille breit, die notwendigen Lehren aus <strong>de</strong>m<br />
angericht<strong>et</strong>en Scha<strong>de</strong>n zu ziehen:<br />
«Eine enge Fühlungnahme unter unseren Verbän<strong>de</strong>n bleibt auch weiterhin<br />
unumgänglich, und wir müssen uns aufrichtig bemühen, trotz <strong>de</strong>r partikularen<br />
Ausgangsbedingungen in je<strong>de</strong>m Land, um uns in Zukunft nicht mehr gegenseitig zu<br />
behin<strong>de</strong>rn durch die Annahme unilateraler und überhast<strong>et</strong>er Lösungsvorschläge, die<br />
sich zu<strong>de</strong>m für die an<strong>de</strong>ren Gruppen als gefährlich herausstellen können» * . 143<br />
Pierre Van <strong>de</strong>r Rests weise Worte stan<strong>de</strong>n am Anfang einer Entwicklung, die am 17. Februar<br />
1953 in <strong>de</strong>r statutarischen Gründung <strong>de</strong>s Klubs <strong>de</strong>r Eisenhüttenleute gipfelte. 144 Die guten<br />
Vorsätze aber hielten nicht allzu lange an; sie sollten die schwere Absatzkrise nach <strong>de</strong>m<br />
Einbruch auf <strong>de</strong>n internationalen Stahlmärkten nicht überdauern. Die damals zur<br />
Bekämpfung <strong>de</strong>r Rezession auf rein privater Basis im Rahmen <strong>de</strong>r Brüsseler<br />
Exportkonvention ausgehan<strong>de</strong>lten Minimalpreise und freiwillig auferlegten<br />
Produktionseinschränkungen wur<strong>de</strong>n im rücksichtslosen W<strong>et</strong>tstreit um Aufträge massiv<br />
hintergangen. Mit <strong>de</strong>n zahllosen Defraudationen – se kurbelten <strong>de</strong>n Preisverfall zusätzlich an<br />
– höhlten die Konzerne allerdings ihr eigenhändig aufgestelltes Krisenprogramm aus, was<br />
lediglich zu weiteren Einbußen für die einzelnen Werke führte. 145 In Zeiten <strong>de</strong>r Not saß das<br />
Hemd doch ganz entschie<strong>de</strong>n näher als <strong>de</strong>r Rock. Auch im Unternehmertum ließ sich eine<br />
seit Jahrzehnten festgefahrene Mentalität halt nicht von heute auf morgen durch großartige<br />
europäische Gedanken ers<strong>et</strong>zen.<br />
143 ARBED, P.61, Réunion d'une commission d'industriels tenue à Paris le 11 juill<strong>et</strong> 1952 pour l'examen <strong>de</strong>s<br />
questions ayant trait au statut <strong>de</strong>s associations <strong>de</strong> producteurs.<br />
144 Ch. Funck, Une Europe ... Un quart <strong>de</strong> siècle ... Une sidérurgie ... Un Club (1952-1977), manuscript, archives<br />
GISL, S.6.<br />
145 Vgl. Ch. Barthel, op.cit.