Download Heimatdesign Nr.5 als PDF - Bande - Für Gestaltung!
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HEIMATDESIGN<br />
Hochzeitsmekka<br />
Marxloh<br />
Anke Bernotat<br />
über Industriedesign<br />
Mario Lombardo<br />
über die Emscher<br />
Winter 2008/2009 Nr. 5<br />
Modestrecken: yvonne wadewitz Schwarzwaldkirsch FYM Mazine
BRIDGES<br />
Fotoprojekt Emscher Zukunft<br />
www.bridges-projects.com<br />
REDESIGN<br />
aus grau wird blau<br />
Es passiert etwas im Ruhrgebiet.<br />
Das Mega-Projekt Emscher-Umbau,<br />
getragen von der Emschergenos-<br />
senschaft, verwandelt den alten,<br />
vom Industriezeitalter schwer ge-<br />
zeichneten Emscherlauf in einen<br />
blauen Fluss. Es stoßen Zukunft<br />
und Vergangenheit, Erinnerung und<br />
Vision, Altes und Neues aufein-<br />
ander und das sorgt für jede Menge<br />
Diskussionsstoff und kreative Ener-<br />
gie. Mit BRIDGES Fotoprojekt<br />
Emscher Zukunft hat die Emscher-<br />
genossenschaft ein Projekt ins<br />
Leben gerufen, das diese Energie<br />
nutzen will. Seit 2005 laden wir<br />
jährlich Fotografen ein, sich künst-<br />
lerisch mit dem Wandel aus-<br />
einanderzusetzen.<br />
Mit Mario Lombardo hat das Foto-<br />
projekt einen Künstlerischen Leiter<br />
gefunden, der mit der Neuausrichtung<br />
des Projekts auf Qualität und<br />
künstlerischen Anspruch setzt.<br />
Neugierig geworden?<br />
Noch bis zum 12. Januar 2009<br />
können Arbeiten und Konzepte<br />
zum Thema »destroy/create« ein-<br />
gereicht werden.<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.bridges-projects.com
Editorial<br />
<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 5<br />
Prokrastination ist ein doofes neues Trendwort.<br />
Im Aufschieben wichtiger Dinge schwelgen wir<br />
aber nicht, auch wenn es so aussieht: Das Gegenteil<br />
von fauler Zögerlichkeit ist der Grund,<br />
warum seit der letzten Ausgabe von <strong>Heimatdesign</strong><br />
gute zwei Jahre vergangen sind. Das liegt<br />
zum einen daran, dass der Herausgeber wechselte.<br />
Vor allem aber waren wir mit den anderen Bereichen<br />
dieser Plattform für Ruhrgebietsdesigner<br />
derart beschäftigt, dass das Magazin plötzlich<br />
weit hinten auf der Dringlichkeitsliste landete.<br />
Zunächst einmal war da die Geschichte mit<br />
dem Laden: Im ehemaligen Hotel Rombergpark<br />
eröffnete <strong>Heimatdesign</strong> im Frühjahr 2007 ein<br />
Büro mit Ausstellungsräumen, Café und Laden.<br />
Bis zur letzten Minute werkelte unser Team mit<br />
Farbeimern und Pinseln in dem leerstehenden<br />
Gebäude, das die Stadt Dortmund für eine begrenzte<br />
Zeit zur Verfügung stellte. Ein Pop-Up-<br />
Store, in den es die Leute auch zu Lesungen und<br />
Partys zog – und in dem sich immer mehr Designer<br />
aus dem Ruhrgebiet mit Mode, Möbeln und<br />
Accessoires präsentieren wollten.<br />
Deswegen machten wir aus dem temporären<br />
Projekt eine Dauereinrichtung und zogen<br />
Anfang 2008 – wieder mit städtischer Unterstützung<br />
– in die Dortmunder Innenstadt. Auch<br />
dort finden Ausstellungen statt; inzwischen haben<br />
wir mit „Bildheimat“ auch eine Fotografenrepräsentanz<br />
eröffnet. Ganz nebenbei organisieren<br />
4<br />
wir außerdem Messen und Veranstaltungen an<br />
anderen Orten im Ruhrgebiet. Auf Pecha Kucha-<br />
Nächten beispielsweise führen allerlei kreative<br />
Menschen das Klischee langatmiger Powerpoint-<br />
Präsentationen ad absurdum:<br />
20 Folien á 20 Sekunden lautet das Motto, unter<br />
dem in jeweils knapp sieben Minuten Projekte<br />
vorgestellt werden.<br />
Etwas mehr Zeit haben wir uns mit dem vorliegenden<br />
Magazin genommen. Der Idee, damit<br />
kreative Menschen aus dem Ruhrgebiet nach<br />
vorne zu bringen, bleibt es treu – auch, was die<br />
direkt Beteiligten betrifft: Die Art Direction<br />
wechselt grundsätzlich alle zwei Ausgaben,<br />
damit immer wieder neue Grafik-Experten dem<br />
Magazin ihre gestalterische Duftmarke aufdrücken<br />
können. Nach Lisa Schweizer und Thomas<br />
Armborst haben wir diesmal gleich ein Trio ins<br />
Boot geholt: Jannis Reichard, Amir Rezaloo und<br />
Stefan Tuschy sind die „<strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!“.<br />
Ganz heimatverbunden haben sie „I Love U“<br />
gestaltet, einen T-Shirt-Kommentar zum Dortmunder<br />
U(niongebäude). Und gleich neben<br />
ihrem Büro haben sie kürzlich die Galerie<br />
Werkbank eröffnet – eine Fundgrube für unsere<br />
Reihe „Designer illustrieren Heimat“. Außerdem<br />
brachte die <strong>Bande</strong> uns auf die Idee, uns in dieser<br />
Ausgabe mit dem Thema Typografie zu befassen.<br />
Zum Beispiel ist es gar nicht so einfach, sich<br />
für ein Magazin auf eine geeignete Schriftart zu<br />
einigen. Elena Schneider gestaltete die Schrift<br />
„Klebo“, die wir für die Überschriften dieser Ausgabe<br />
verwenden durften. Und für die kommende<br />
Ausgabe werden wir einen Schrift-Wettbewerb<br />
ausschreiben.<br />
Auch mit dem wiederauferstandenen Magazin<br />
im Nacken bleibt <strong>Heimatdesign</strong> ein Hansdampf<br />
auf allen Laufstegen: Mitten in der Produktion<br />
gab es eine <strong>Heimatdesign</strong>-Messe, und im Januar<br />
werden wir die „designers fair“ ausrichten, eine<br />
Möbelmesse im Kölner Rheintriadem, die wir<br />
gerade in Zusammenarbeit mit den „Passagen“<br />
planen – inklusive Rahmenprogramm aus Vorträgen,<br />
Diskussionen und Unterhaltung. Diesmal<br />
soll uns das nicht vom Magazinmachen abhalten:<br />
Im Sommer 2009 wird die nächste Ausgabe<br />
aus der Druckerei kommen. <strong>Für</strong> einen Moment<br />
halten wir inne – und wünschen viel Spaß beim<br />
Lesen!<br />
Marc Röbbecke (<strong>Heimatdesign</strong>-Erfinder) und<br />
Petra Engelke (Chefredakteurin)
heimatdesign – laden und büro<br />
Kleppingstraße 43<br />
44135 Dortmund<br />
mo-fr 10-19, sa 10-18 Uhr<br />
www.heimatdesign.de<br />
fotorepräsentanz<br />
www.bildheimat.de<br />
ausstellungen im laden<br />
bis 30.12.<br />
Kay Thoss (Möbeldesign) und<br />
Mason (<strong>Gestaltung</strong>)<br />
Januar:<br />
Anna Kopylkow (Fotografie) und<br />
Kirschkern (Mode)<br />
Februar:<br />
Julian Faulhaber (Fotografie)<br />
typografie-wettbewerb<br />
Beginn der Bewerbungsfrist: März 2009<br />
www.heimatdesign.de<br />
www.JAN-KATH.com<br />
designers fair<br />
Messe für junges Möbel- und Interiordesign<br />
18. -25.01.2009, Rheintriadem, Köln<br />
www.designersfair.de<br />
pecha kucha night dortmund<br />
27.03.2009, 20.10 Uhr im Kundenzentrum DEW,<br />
Ostwall 51 , Dortmund<br />
www.pechakucha-dortmund.de<br />
u-shirt<br />
www.u-und-du.de<br />
5
heimatkunde | nr. 5<br />
<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 5<br />
Winter 2008/2009<br />
Sascha Abel, Mark Ansorg, Thomas<br />
Armborst, <strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!,<br />
Stefan Becker, Volker K. Belghaus,<br />
Kay Berthold, Petra Engelke,<br />
Alexander Gegia, Marc Hinz, Frauke<br />
Hoffschulte, Annika Janssen, Anna<br />
Kopylkow, Reinhild Kuhn, Wolfgang<br />
Kienast, Nina Maaßen, Frank<br />
Machoczek, Grobilyn Marlowe, Reza<br />
Nadji, Jens Oellermann, Albert<br />
Palowski, Julia Reschucha, Marc<br />
Röbbecke, Dirk Rose, Peter Roth,<br />
Mathias Schmitt, Elena Schneider,<br />
Mario Schulte, Thomas Skroch, Kim<br />
Sperling, Christine Steiner, Tom<br />
Thelen, Stephanie Julia Wagner,<br />
Tanja Wißing, Jan-Peter Wulf,<br />
Dennis Yenmez<br />
6
Inhalt<br />
04 Editorial<br />
07 Inhalt<br />
82 Impressum<br />
0 8 heimatkunde<br />
08 Neues aus der Heimat<br />
12 Da schau her<br />
14 heimatobjekt<br />
14 Wer den Pfennig nicht ehrt<br />
Wie wertsteigernd Schmuck sein kann<br />
16 Wundersames Talent<br />
Was Klamotten plötzlich festkletten lässt<br />
18 »Der erste Gedanke ist nicht<br />
immer der richtige.«<br />
Wie gutes Design entsteht: Interview<br />
mit Anke Bernotat, Professorin für<br />
Industriedesign<br />
20 heimatbild<br />
20 Designer illustrieren Heimat<br />
26 Time after Times<br />
Wie Schrift die Designwelt bewegt<br />
28 Über den Fluss<br />
Was der „Bridges“ Fotopreis will,<br />
kommentiert von Mario Lombardo<br />
30 heimatkultur<br />
30 Der stille Maschinist<br />
Wie Gereon Lepper Kunst baut<br />
32 Mit Puschen ins Theater<br />
Wo Regisseur Kristo Šagor eine<br />
neue Heimat fand<br />
34 heimatkleid<br />
34 Die rettende Robeninsel?<br />
Wie die Hochzeitsmodenmeile in<br />
Duisburg-Marxloh aussieht<br />
40 Die Mischung machts<br />
Was die Essener Wohngemeinschaft<br />
so alles hat<br />
42 jungehelden<br />
die Modestrecken<br />
42 Yvonne Wadewitz<br />
48 Schwarzwaldkirsch<br />
54 fym<br />
60 Mazine<br />
6 6 heimatlied<br />
66 Indie-Arien von nebenan<br />
Was eine Eichbaumoper ist<br />
68 Kitsch-Kanonen auf<br />
Spaß-Spatzen<br />
Wie Philipp Bückle zum Eurodance<br />
gekommen ist<br />
70 heimatlust<br />
70 Über den Durst<br />
Wie Bergmannbier wiederauferstanden ist<br />
72 Ortsbegehung<br />
Neue Reihe, diesmal: Brauerei<br />
der Schelme<br />
74 heimatgedanke<br />
74 Die Revolution des<br />
Selbermachens<br />
Was das Buch „Marke Eigenbau“ zu<br />
erzählen hat<br />
76 Die Ästhetik des Untergangs<br />
Wie es im Essener Hauptbahnhof zugeht<br />
78 Monstergeschichten<br />
Fabelhaftes von Martini<br />
80 Kolumne: Birgit Graf<br />
7
heimatkunde | nr. 5<br />
Neues aus der heimat<br />
Blick nach innen<br />
Studenten kommen und gehen, und so sind<br />
ihre gemeinsamen Projekte oft nur von kurzer<br />
Dauer. Doch dies ist bereits die vierte Ausgabe<br />
des Magazins „Steppenhexe“: Vorwiegend<br />
illustrative Arbeiten in Schwarz-Weiß zeigt darin<br />
ein ambitioniertes studentisches Kollektiv aus<br />
dem Dunstkreis der Essener Uni. <strong>Für</strong> jedes Heft<br />
denkt es sich ein neues Schwerpunktthema aus.<br />
Über eine Myspace-Seite verbreiten die Magazinmacher,<br />
was genau für die nächste Ausgabe<br />
gefragt ist, und sammeln Beiträge ein. Die Bandbreite<br />
reicht von Fotografien über digitale Zeichnungen<br />
bis hin zu Scribbles, schnell dahingekritzelten<br />
Skizzen. All das verbirgt sich diesmal<br />
unter einem ganz besonderen Cover: Das farbige<br />
Siebdruck-Motiv lässt sich zum Poster ausklappen.<br />
Inhaltlich wählte das Steppenhexen-Team<br />
Werke aus, die sich mit dem Thema „Introspektion“<br />
beschäftigen. Mit selbstverliebtem Kreisen<br />
ums Ego hat die nun erschienene Ausgabe aber<br />
nichts zu tun. <strong>Für</strong> Ernsthaftigkeit hatten die Studenten<br />
schließlich schon im Vorfeld gesorgt: Um<br />
die Aufgabe zu beschreiben, zitierten sie in der<br />
Ausschreibung den griechischen Philosophie-<br />
Paten Plato. ◆<br />
www.myspace.com/steppenhexe<br />
8<br />
Freistecken<br />
Knapp daneben ist in diesem Falle trotzdem ge-<br />
wonnen: Den ersten Platz beim Bochumer Designpreis<br />
hat Stefan Piotrowski nicht eingesackt.<br />
Aber den zweiten. Und er ist der einzige Designer<br />
aus dem Ruhrgebiet, der es überhaupt geschafft<br />
hat, in diesem Jahr bei der Bochumer Jury<br />
zu punkten – immer wieder haben Menschen<br />
aus anderen Regionen die Nase vorn. Aber mit<br />
seinem modularen Raumteiler stößt Piotrowski<br />
auf gute Resonanz. Ganz gezielt sucht er in seiner<br />
Firma Holz Total die Materialien aus, fühlt<br />
sich in die Ansprüche seiner Kunden ein und<br />
achtet schließlich auf vielfältige Verwendbarkeit.<br />
So kam er auf die Idee mit dem Raumteiler, den<br />
man ganz leicht auch zum Regal oder Tresen<br />
umfunktionieren kann. Dazu erfand der gelernte<br />
Schreiner in rund 1000 Skizzen ein Stecksystem:<br />
Die beiden Grundelemente lassen sich beliebig<br />
verändern und mit einem dritten Modul zum<br />
geschlossenen Möbel erweitern – ganz ohne An-<br />
leitung und Werkzeug. Viele Menschen schätzen<br />
schließlich die Freiheit, ihre Wohnung oder<br />
ihren Laden immer wieder umzugestalten. Die<br />
hohe Variabilität war denn auch der Grund,<br />
warum die Designpreis-Jury ihm einen Preis<br />
verlieh. ◆<br />
www.holz-total.de<br />
Kreativität<br />
findet Stadt<br />
Die einen wollen kreative Arbeit partout nicht<br />
mit Kommerz in Verbindung bringen, die anderen<br />
sehen gerade dies <strong>als</strong> Hoffnung des Ruhrgebiets.<br />
Kreativwirtschaft soll die Region vor der<br />
Ödnis retten, die fliehende Geldbringer hinterlassen.<br />
Kohle, Stahl, Braukunst und Autobau<br />
garantieren eben schon lange keine Arbeitsplätze<br />
mehr. Deshalb pflegt die Wirtschaftsförderung<br />
Dortmund seit vielen Jahren den Kontakt zu<br />
kreativen Unternehmen der Stadt – in Branchen<br />
wie Musikproduktion, Computerspielprogrammierung<br />
und allen möglichen Designrichtungen.<br />
Seit Anfang 2008 ist dieses Wissen im Netz<br />
gebündelt: Vom Firmenregister über Erfolgsstorys<br />
bis zum Veranstaltungkalender bekommt<br />
man dort einen Überblick, wo und wie Kreativität<br />
sich in Dortmund ausdrückt. An zwei<br />
Veranstaltungsreihen ist <strong>Heimatdesign</strong> beteiligt:<br />
„DORTMUND.KREATIV.stars“ präsentiert<br />
eben diese in monatlich wechselnden Ausstellungen,<br />
während „DORTMUND.KREATIV.<br />
trends“ die Grundidee <strong>als</strong> Vortragsveranstaltung<br />
mit Referenten umsetzt, die sich beispielsweise<br />
mit Werbestrategien für Kulturhäuser auskennen<br />
oder von Ergebnissen der Hirnforschung<br />
zum Thema Kreativität berichten. Am 14. Januar<br />
2009 wird es im Jazzclub domicil um das Thema<br />
„Design“ gehen. ◆<br />
www.kreativwirtschaft-dortmund.de
Was macht<br />
eigentlich … Jana?<br />
Sie ist eine alte Bekannte: Jana Januschewski war<br />
mit einer Modestrecke in der ersten Ausgabe<br />
von <strong>Heimatdesign</strong> vertreten – <strong>als</strong> neues Talent.<br />
Danach hat sie weitergearbeitet, sich aber auch<br />
auf ihr Studium konzentriert und im Januar 2008<br />
einen glänzenden Abschluss an der Akademie<br />
Mode und Design Düsseldorf hingelegt. So ist<br />
nun die Bahn frei, um sich Neues für ihr „Streetwear<br />
Chic“-Label Jot Jot auszudenken. Zum<br />
Beispiel eine verspielte Website, auf der sie ihre<br />
Damen- und Herrenmode so unkonventionell<br />
päsentiert, wie die Teile selbst geschnitten sind:<br />
Hosen mit tiefergelegtem Schritt, Jacken mit<br />
spitzer, weit hinausgezogener Schulterpartie –<br />
und auch bei den Shirts sind die Proportionen<br />
eigenwillig interpretiert. Gemeinsam mit Partner<br />
Carlos Howard arbeitet Januschewski derzeit<br />
am Ausbau des Vertriebs. Auch beim neuesten<br />
Shooting setzt sie auf Kooperation: Die Hüte<br />
sind von Christina Wallrodt, Fotos, Make-Up<br />
und Styling von Tanja de Maan, das Artwork<br />
machte das Designbüro 1zunull. Zu haben ist die<br />
neue Kollektion unter anderem in der Essener<br />
Boutique Uniquat. ◆<br />
www.jotjot-mode.de<br />
Uniquat, Rellinghauser Str. 110, Essen<br />
Umgarnt<br />
Verlust und Tod sind die Kernthemen von<br />
Pierre Krachts Diplomarbeit an der Dortmunder<br />
Fachhochschule im Studienschwerpunkt „Objekt-<br />
und Raumdesign“. Kronleuchter, Stehlampe,<br />
Lehnstuhl: Die Formen dieser Alltagsgegenstände<br />
sind uns so vertraut, dass wir sie auch<br />
erkennen, wenn sie verhüllt sind. Filmemacher<br />
nutzen das zuweilen, indem sie ein Zimmer mit<br />
zugedecktem Mobiliar zeigen – und so an ein<br />
vergangenes oder verlassenes Leben erinnern.<br />
Pierre Kracht nähert sich diesem Phänomen mit<br />
Fäden: Wie eine Spinne wickelt er seine Objekte<br />
ein, nimmt sie in Besitz, um ihnen dann den<br />
Körper zu klauen. Zum Schluss bleiben nur die<br />
Fäden übrig. Auf den ersten Blick ergibt das<br />
ein chaotisches Gewirr, aber siehe da: Langsam<br />
ordnet das Auge, aus der Oberfläche scheint sich<br />
allmählich eine Struktur herauszubilden – und<br />
obendrein die Silhouette des verschwundenen<br />
Gegenstands. Funktionieren können die „wrapped<br />
prototypes“ nicht mehr, aber der Geist der<br />
Gegenstände ist noch da. Um diese Vergänglichkeit<br />
festzuhalten, brauchte Pierre Kracht etwa<br />
sechs Kilometer Garn und zwei Liter Epoxitharz.<br />
Und wer weiß, wen oder was er <strong>als</strong> Nächstes<br />
einwickelt. ◆<br />
Unsere<br />
Stadt<br />
lebt.<br />
Kultur für Heimatverbundene:<br />
Lesungen<br />
Musik<br />
Theater<br />
Comedy<br />
NightWash Club<br />
Kabarett<br />
Ausstellungen<br />
Mehr Infos findest Du im Internet<br />
unter: www.dew21kultur.de
heimatkunde | nr. 5<br />
Neues aus der heimat<br />
Zufallsspiel<br />
Internationale Aufmerksamkeit hat Nils Deneken<br />
mit dem Computerspiel „Rückblende“ erregt.<br />
Dabei wollte er anfangs gar nicht spielen: Zunächst<br />
ging es ihm nur um Musik, doch für eine<br />
Abschlussarbeit in Kommunikationsdesign<br />
war das zu mager. Als die visuelle <strong>Gestaltung</strong><br />
hinzukam, entschied er sich gleich noch für<br />
Interaktion: Und ab geht die nostalgische Reise<br />
durch ein Haus. Seitdem ist auch Nils Deneken<br />
unterwegs. Nach dem Studium in Essen entschließt<br />
er sich, in Kopenhagen zu arbeiten.<br />
Und er reist zu Festiv<strong>als</strong> in die USA. Schließlich<br />
ist Deneken inzwischen <strong>als</strong> Indiegame-Kenner<br />
gefragt. Die folgen einer anderen Logik <strong>als</strong> die<br />
gängigen Autorennen, Monsterjagden und<br />
Militärschachzüge, die zig Fortsetzungen nach<br />
sich ziehen. Indiegames schwirren an der Grenze<br />
zur Kunst entlang, sie können durchaus<br />
verrückten Geschichten folgen, nachdenklich<br />
oder traurig machen. Kleine Teams mit noch<br />
kleineren Budgets arbeiten an Gesamtwerken<br />
aus Programmierung, Grafik, Story und Musik –<br />
hochgeschätzt von Insidern. Mit seinem ersten<br />
Spiel gewann Deneken im Oktober 2008 den<br />
„Developers Choice Award“ beim „Indiecade“-<br />
Festival. ◆<br />
www.gutefabrik.com<br />
www.indiecade.com<br />
10<br />
Europamodelle<br />
Das Goethe-Institut macht jetzt auch in Mode.<br />
Mit dem Wettbewerb „create europe: The Fashion<br />
Academy Award“ stellt es die Frage, wie<br />
sehr Mode die europäische Kulturgeschichte<br />
und -gegenwart beeinflusst. Im ersten Jahr geben<br />
die Teilnehmer mit ihren Entwürfen ganz unterschiedliche<br />
Hinweise: Futuristisch, romantisch<br />
oder funktional sind die rund 180 Modelle angelegt,<br />
die in der Finalisten-Gala im Oktober 2008<br />
gezeigt werden. Aus Spanien kommen Herren<br />
im Rock, aus Bosnien-Herzegowina Damen mit<br />
Helm, die Niederlande warten mit einem Kragen<br />
auf, der wie ein Strahlenkranz wirkt. Die Materialien<br />
sind mal an Landestraditionen, mal an Vorbildern<br />
aus der Kunst orientiert. Mit alldem ist<br />
die Frage nicht eindeutig beantwortet, aber das<br />
Goethe-Institut sieht den Wettbewerb vielleicht<br />
gerade deswegen <strong>als</strong> Erfolg. Und zwar so sehr,<br />
dass Ende Januar 2009 bereits die Einreichfrist<br />
für den nächsten Wettbewerb beginnt. Diesmal<br />
dürfen nicht mehr nur Designer und Studenten<br />
aus Europa teilnehmen, sondern auch aus Afrika.<br />
Sie alle aber sollen zwischen 18 und 32 Jahren alt<br />
sein. ◆<br />
www.createurope.com<br />
Schriftführer<br />
Von der Dortmunder Fachhochschule direkt in<br />
den Fokus des Art Directors Club – das hat<br />
Daniel Göttling geschafft. Damit liefert Dortmund<br />
schon zum zweiten Mal in Folge den<br />
Nachwuchs für die Auszeichnung „Talent des<br />
Jahres“. 2007 gewann der Diplomand Christoph<br />
Große Hovest mit „die.art“, einer Kombination<br />
aus Animationsfilm und Buch. Daniel Göttling<br />
schaffte den Sprung aufs Siegertreppchen mit<br />
Typografie: Er entwarf vier Schriften mit illustren<br />
Namen. „Cutout“, und „Bauhouse“ bindet er<br />
in Illustrationen ein, „Mayonnaise“ sieht aus wie<br />
aus der Tube gedrückt, und je größer „Birotimes“<br />
wird, desto mehr sieht man von den Unregelmäßigkeiten<br />
beim Ausmalen. Aber nicht nur<br />
die gute Gestalt allein überzeugt Experten. Der<br />
Art Directors Club verlieh Göttling auch deswegen<br />
den Titel „Talent des Jahres 2008“, weil er<br />
in seine Abschlussarbeit „Welcome to Fontmess“<br />
auch gleich die eigenen Werbemittel einbindet.<br />
Bücher, T-Shirts, Plakate, Animationsfilme und<br />
eine Website vervollständigen sein Konzept. Der<br />
Erfolg hat Folgen: Daniel Göttling zieht nach<br />
Hamburg – dort wartet eine Festanstellung bei<br />
einer Agentur. ◆<br />
www.fontmess.com
Pfau im Auge<br />
Nadine Wiesner hat den Wettbewerb „DesignArt<br />
Kunst und Mode“ gewonnen, den der Verband<br />
deutscher Mode- und Textildesigner im September<br />
2008 vergab. Vorgegeben war das Thema<br />
„Virtuelle Natur“: Die Teilnehmer sollten mit<br />
Stoffen arbeiten, die eigentlich für Vorhänge<br />
oder Rollos vorgesehen sind. Wiesner nähte<br />
daraus das Modell „Pfau“: Ein mehrlagiger, sommergrasgrüner<br />
Rock bauscht sich unter einem<br />
dunkleren Oberteil mit Pfauenaugen. Das Spiel<br />
mit Stoffqualitäten liegt der Kölner Designerin<br />
ohnehin: Ob sie nun mit feinster Baumwolle<br />
oder mit grobem Molton arbeitet, ihre Schnitte<br />
entstehen stets im Experiment mit dem jeweiligen<br />
Stoff an der Puppe. Hier hat ein weiches<br />
Oberteil weite, keulenförmige Ärmel mit engem,<br />
langen Bund, da ist es nur ein schmales Band,<br />
kombiniert mit einer überlangen Hose, dann<br />
kommt ein Kleid stilvoll zerrissen daher. In ihren<br />
Kollektionen ist Wiesner auf der Suche nach<br />
dem perfekten Chaos – es ist Absicht, dass sie<br />
damit ein Paradoxon jagt. Diese Vielschichtigkeit<br />
lässt sie auf ihrem eigenen Leben gründen:<br />
Aufgewachsen in der DDR, kennt sie sich mit<br />
Umbrüchen und Strukturwandel bestens aus. ◆<br />
www.nadine-wiesner.com<br />
Reh Plus Bus<br />
Der größte Rebus der Welt: So nennt die Essener<br />
Werbe- und Designagentur Marcellini ihr<br />
rätselhaftes Projekt. Zusammen mit Schülern der<br />
Goetheschule und Auszubildenden des Berufskollegs<br />
Ost arbeiteten die Designer an der Frage,<br />
wie man das Verständnis zwischen ganz unterschiedlichen<br />
Menschen fördern kann. Schnell<br />
war klar: Es braucht eine Sprache ohne Barrieren,<br />
international verständlich. So enstanden 88<br />
Würfel, die zusammen ein Bilderrätsel ergeben –<br />
das man auch auf der Marcellini-Website erknobeln<br />
kann. Der Lösungssatz des Rebus ist zwar<br />
auf Deutsch formuliert, aber die Bilder selbst<br />
lassen sich auch ohne Sprachkenntnisse erfassen:<br />
Ein maskierter Mann hat einen dicken Beutel<br />
geschultert, ein gesichtsloser Kopf hat immerhin<br />
Ohren, in einem dampfenden Haufen steckt<br />
ein Arbeitsgerät. Mal denkt man an den Kölner<br />
Dom, mal an einen ICE. Ganz frei von kulturell<br />
bedingtem Insiderwissen ist das Bilderrätsel <strong>als</strong>o<br />
nicht; diese Wörter muss man aber nicht kennen.<br />
Dafür mag der Rebus insgesamt bekannt<br />
werden: Das Projekt schaffte den Weltrekord <strong>als</strong>,<br />
na was wohl: größter Rebus der Welt. ◆<br />
www.marcellini.de<br />
herzglück<br />
check dein herz<br />
herzkraft<br />
herzlust<br />
sei aktiv<br />
herzwunsch<br />
herzsprung<br />
trainiere sicher<br />
herzklopfen<br />
herzrasen<br />
reise weit<br />
herzleid<br />
herzschmerz<br />
schütze dich<br />
herzbruch<br />
Praxis für Kardiologie + Sportmedizin I Dr. med. Lodde + Dr. med. Brunke I Praxisklinik, Leopoldstraße 10, Dortmund I Fon 0231.567843- 0 I k@rdiologen.de I www.kardiologie-dortmund.de
heimatkunde | nr. 5<br />
Da schau her<br />
fotografie Anna Kopylkow<br />
12.<br />
1. RettungsRing<br />
Von NIXE schmuckdesign, ca. 75 Euro<br />
nicolekoetter@gmx.de<br />
2. Turnbockleder-Geldbörse<br />
Von elkedag, ca. 45 Euro<br />
www.elkedag.de<br />
3. „Der Herr Seltsam“, „Hoppel“, „Zipfel“<br />
Von Jagdschloss, ab ca. 15 Euro<br />
www.jagdschloss-frankfurt.de<br />
12<br />
1.<br />
13.<br />
4. Taschenbegleiter<br />
Von Roterfaden, ab ca. 49 Euro<br />
www.roterfaden.com<br />
5. Lieblingsplätzchen „Zoom“ und „U“<br />
Von Ruhrperle, ca. 4,90 Euro<br />
www.ruhrperle.com<br />
6. Handgelenkportemonnaie Leder<br />
Von Rockidz, ca. 32,50 Euro<br />
www.rockidz.de<br />
11.<br />
10.<br />
2.<br />
7. Schuhe „Bolero“ und „Oxford“<br />
Von Romika, ca. 39,95 Euro<br />
www.romika.de<br />
3.
5.<br />
9.<br />
8. Hüte<br />
Von beautyfullthinks, ca. 30 Euro<br />
www.beautyfullthinks.com<br />
9. Lampe „Minikomat“<br />
Von Komat, ca. 47 Euro<br />
www.komat-berlin.de<br />
10. Ledertaschen „Seitenlinie“<br />
Von Haeute, ab ca. 109 Euro<br />
www.haeute.info<br />
8.<br />
4.<br />
11. Lederbuch “Once Upon A Time”<br />
Von Jeremy Fish, ca. 35 Euro<br />
www.gingkopress.com<br />
12. Handy- und iPod-Taschen<br />
Von Lipbert, ab ca. 17 Euro<br />
www.lipbert.de<br />
6.<br />
13. dalaki limited edition box 002<br />
Von dalaki, ca. 25 Euro<br />
www.dalaki.net<br />
… und das alles gibt es auch im <strong>Heimatdesign</strong>-Laden,<br />
Kleppingstr. 43, Dortmund<br />
7.<br />
nr. 5 | heimatkunde<br />
13
heimatobjekt | nr. 5<br />
Christina Boch<br />
Wer den Pfennig nicht ehrt<br />
text Tanja Wissing<br />
Christina Boch ist sparsam. Deshalb hat sie sich Pfennige<br />
zur Seite gelegt. Heute schlägt der günstigste Pfennig bei ihr<br />
mit 140 Euro zu Buche.<br />
„Wer den Pfennig nicht ehrt…“, zitiert die blonde<br />
Essenerin die alte Redensart, und ihre blauen<br />
Augen blitzen humorvoll auf. Scherze wegen ih-<br />
res Umrechnungskurses darf sich die Schmuckdesignerin<br />
auf Messen und Ausstellungen in<br />
ganz Deutschland anhören. Es gibt jedoch auch<br />
keinen Grund, ob des Preises nickelig zu reagieren.<br />
So dient der gute alte Glückspfennig<br />
nur <strong>als</strong> Vorlage für einen Abguss in Silber oder<br />
Gold. Die veredelte Ausgabe liegt auf einem<br />
schmalen Silberreif oder thront gar auf einem<br />
breiten Goldring mit gekrönter Fassung. Dann<br />
allerdings fällt der Wechselkurs für den deut-<br />
14<br />
schen Glücksbringer deutlich höher aus. Diesen<br />
sind selbst Männer bereit zu zahlen, um sich<br />
den Pfennig – klar, nicht in die Tasche – sondern<br />
ins Knopfloch zu stecken. Seit einigen Monaten<br />
fertigt die Katernbergerin nämlich silberne und<br />
goldene Manschettenknöpfe mit Hilfe ihres<br />
Sparstrumpfes. „Sie kommen <strong>als</strong> schlichtes und<br />
doch edles Accessoire gut an“, stellt sie fest. Warum<br />
Manschettenknöpfe seit zwei Jahren wieder<br />
gefragt sind, kann sich Christina Boch nicht er-<br />
klären. Auch nicht, warum Männer sich heute<br />
vermehrt schmücken. „Ich beobachte nur, dass<br />
bei ihnen der Trend vom Ohrring weg- und hin<br />
zu Fingerring, Kette und Manschettenknöpfen<br />
geht“, schildert sie ihre Eindrücke von Messen.<br />
Dort hört sie von älteren Besuchern häufig<br />
Anekdoten über das einstige Zahlungsmittel.<br />
„Jüngere erkennen den Pfennig meist erst nicht“,<br />
staunt die 31-Jährige, die stets einen solchen<br />
Glücksbringer in der Geldbörse hatte.<br />
Aus ihren kostbaren Pfennigen macht Christina<br />
Boch auch Ohrhänger oder -stecker. An zarten<br />
kurzen und langen Silberketten bilden sie die<br />
Schließen, oder sie säumen <strong>als</strong> Anhänger opulente<br />
Perlenketten aus geschliffener Lava. Auf<br />
dem Werktisch liegen Pfennige in unterschiedlichen<br />
Verarbeitungsstadien. Ein bisschen sieht<br />
der Holzsekretär aus wie der Arbeitsplatz einer<br />
Geldfälscherin. Dass ihr die alte Währung ausgehen<br />
könnte, fürchtet Christina Boch nicht: „Das<br />
Material ist strapazierfähig. 20 bis 30 Güsse steht<br />
ein Pfennig durch.“ So muss sie nicht irgendwann<br />
zum Cent greifen. „Der Sinnspruch ist eh<br />
nicht übertragbar“, glaubt sie. „Obwohl der Euro<br />
eine stabile Währung ist, wird der Cent nicht so
Kommunikationsdesign | Film/Regie | Fotodesign | Computeranimation | Illustration | Freie Kunst<br />
Hagener Straße 241<br />
58239 Schwerte<br />
0 23 04 - 99 60 00<br />
www.ruhrakademie.de<br />
bewerbung@ruhrakademie.de<br />
Ruhr akademie<br />
~<br />
geschätzt.“ Christina Boch findet es spannend,<br />
der alten Münze mit ihrer Kollektion „Wer den<br />
Pfennig nicht ehrt…“ neuen Glanz verliehen<br />
zu haben und sie mit ihrer zweiten Kollektion<br />
„Kröne dich“ sogar zu adeln. Vor allem freut es<br />
sie aber, dass die Serie harmonisch Kunsthandwerk<br />
und Schmuckdesign vereint – etwas, das<br />
sie schwierig findet. Als Goldschmiedin hat sie<br />
das Kunsthandwerk von der Pieke auf gelernt,<br />
sich dann aber gegen die Meisterprüfung und<br />
für das Schmuck- und Produktdesignstudium<br />
entschieden.<br />
„Das Handwerk gefiel mir richtig gut“, sagt die<br />
diplomierte Designerin, „doch ich fühlte mich<br />
dadurch eingeschränkt, nur Entwürfe anderer<br />
umzusetzen.“ Im Studium lag ihr Augenmerk<br />
nicht mehr auf der Verkäuflichkeit, sondern der<br />
Konzeption von Schmuck – vom Materi<strong>als</strong>piel<br />
bis zum Prototyp. Die Arroganz mancher Dozenten<br />
versteht Christina Boch allerdings nicht:<br />
„Ohne die klassische Ausbildung ist Schmuckdesign<br />
nicht möglich – da fallen einem im Stu-<br />
dium schon mal Arbeitsstücke auseinander.“<br />
Wehe <strong>als</strong>o dem, der die Goldschmiedekunst<br />
nicht ehrt. ◆<br />
www.cb-schmuckdesign.de<br />
Privates Studium<br />
Medien, Design und Kunst<br />
15
heimatobjekt | nr. 5<br />
Klette Shop-System<br />
Wundersames Talent<br />
text Nina Maassen<br />
Sie stand schon oft Modell, doch noch nie wurde aus ihr ein<br />
ganzes Shopsystem entwickelt – eine Pflanze <strong>als</strong> Idol.<br />
Es war ein leidiges Thema auf Schulausflügen:<br />
Man spazierte durch Wiesen, schon klebte etwas<br />
am Pullover und eine Horde Mitschüler lachte,<br />
wenn man vergeblich versuchte, das unliebsame<br />
Teil von der Kleidung zu entfernen. Und das<br />
war schwer genug, schließlich handelte es sich<br />
um eine Klette. Vielleicht klang Susanne Henke<br />
dieses Lachen während der Ideenfindung für<br />
ihre Diplomarbeit noch in den Ohren.<br />
Diesmal will sie jedoch die natürliche Klett-<br />
Funktion positiv nutzen, und so entwickelte die<br />
Dortmunderin ein neues Shopsystem – mit der<br />
Klette <strong>als</strong> großer Hauptdarstellerin. Die Eigen-<br />
schaft, an jeder Struktur kleben bleiben zu können,<br />
sollte zum Leitgedanken für die <strong>Gestaltung</strong><br />
von Läden werden: „Die Distanz zwischen Pro-<br />
dukt und Shopsystem wird komplett aufgelöst<br />
und verschmilzt zu einem stimmigen Gesamtbild.“<br />
Wie ihr diese Verschmelzung nun gelingen sollte,<br />
darüber machte sich Susanne Henke intensiv<br />
Gedanken und entwarf vom Klette-Logo über<br />
eine Ladentheke bis hin zu Umkleidekabinen alles<br />
nach den Vorgaben der vorbildlichen Pflanze.<br />
In ihren Läden kann man die Kleidungsstücke<br />
ohne Bügel direkt von den Wänden nehmen –<br />
16<br />
denn sie kletten einfach daran fest. Über<br />
velourbezogene Etiketten können T-Shirts,<br />
Pullis oder Hosen an spezielle Wand-Bezüge<br />
gehängt werden, und das – zur Freude der<br />
Kunden – vollkommen ohne Ordnung. Hat man<br />
sich ein Teil von der Wand geangelt, so muss<br />
man sich nicht merken, wohin das gute Stück<br />
zurückgeklebt werden soll, sondern sucht sich<br />
schlicht ein neues Wandfleckchen.<br />
Diese Läden sollen nach dem Willen der Designerin<br />
einen starken Bezug zur Natur schaffen.<br />
Daher sind Kleidungsstücke nicht nur an den<br />
Wänden ausgestellt, sondern sie lassen sich auch<br />
an Halmen auf- und abhängen, die zu kleinen<br />
Büscheln zusammengefasst im Laden aufgestellt<br />
sind. „Wie eine wilde Wiese“, so beschreibt<br />
Susanne Henke ihre Idee, die Kunden bei ihrem<br />
Einkauf durch eine fiktive Naturlandschaft<br />
zu geleiten. So wird nicht nur das Einkaufen,<br />
sondern schon allein der Besuch zum entspannten<br />
Erlebnis. Als Erinnerung daran kann man die<br />
erworbenen Lieblinge zuhause mit einem Stück<br />
Klettband direkt auf die Wände heften. ◆<br />
www.klette.cc<br />
susehenke@gmx.de
heimatobjekt | nr. 5<br />
Anke Bernotat<br />
»Der erste Gedanke<br />
ist nicht immer der<br />
richtige.«<br />
interview Petra Engelke | fotografie Julia Reschucha<br />
Anke Bernotat ist Professorin<br />
für Industriedesign an der Uni<br />
Essen-Duisburg – und gestaltet<br />
in ihrer Firma Bernotat & Co<br />
Produkte wie die Pflastersteine<br />
„Greenspot“ mit einem Loch<br />
für Pflanzen oder das „Campus<br />
Abfallsystem“, das 2008 den<br />
Red Dot Award bekam. Sie<br />
räumt mit dem Vorurteil auf,<br />
dass solche Ideen allein auf Talent<br />
beruhen – und quasi über<br />
Nacht entstehen.<br />
18<br />
Frau Bernotat, wenn jemand Design studieren<br />
will, hört man öfter: Ich möchte Mode machen<br />
oder Illustration – <strong>als</strong> Industriedesign.<br />
Ich denke nicht, dass Industriedesign einen<br />
schlechten Ruf hat. Industriedesigner haben das<br />
Ziel, technische Entwicklungen begreifbar oder<br />
nutzbar zu machen. Das sehe ich <strong>als</strong> etwas Positives.<br />
Der große Unterschied zum Modedesign ist<br />
der Zeitablauf: Projekte aus dem Industriedesign<br />
sind meistens ziemlich langwierig. Wenn ein<br />
Produkt entwickelt wird, muss es vom Nutzer<br />
geliebt werden, es muss funktionell sein, man<br />
muss die geeignete Technik finden, damit es<br />
effizient produziert werden kann, und es muss<br />
bezahlbar sein. <strong>Für</strong> mich ist es ein gutes Produkt,<br />
wenn ich es nicht übermorgen wieder in den<br />
Mülleimer werfe. Ich will damit nicht sagen, dass<br />
Mode das tut – aber der Zeitdruck ist dort ein<br />
anderer: Heutzutage hat man in vielen Läden<br />
schon mehr <strong>als</strong> vier Saisons pro Jahr. Das hat<br />
auch seinen Charme: Ich mache etwas, das ich<br />
bald auf dem Markt sehe. Bis man bei einem<br />
Industriedesignprodukt mal etwas auf der Straße<br />
sieht, das kann lange dauern.<br />
Wo Sie die Straße schon erwähnen: Wie lange<br />
haben denn die Pflastersteine gedauert, die Sie<br />
entwickelt haben?<br />
Begonnen hat es mit der quadratischen Form,<br />
die wir durchbrechen wollten. Wir suchten<br />
nach einer Lösung, die im öffentlichen Raum<br />
besonders anmutet und dazu technisch mach-<br />
bar ist. Bei selbst initiierten Projekten liegt die<br />
Entwicklungszeit oft darin, jemanden zu finden,<br />
der es produzieren kann. Wir sind soweit.<br />
Ist es Teil der Ausbildung, diese Vermarktung zu<br />
lernen?<br />
Nein, wir lehren unsere Studenten nicht, wie sie<br />
gute Unternehmer werden können, sondern<br />
wie sie gute Gestalter werden. Wir haben ganz<br />
gute Kontakte zur Industrie, viele Absolventen<br />
gehen zu VW, Audi, Bosch-Siemens, Philips und<br />
in Agenturen.<br />
Was entwickeln die Absolventen dann?<br />
Beispielsweise elektronische Produkte, Küchen,<br />
Haushaltsgeräte, Autos. Wenn man sich fragt,<br />
was Industriedesign überhaupt kann, muss man<br />
sich nur umschauen: Eigentlich ist alles gestaltet,<br />
nur die Natur nicht.<br />
Wie viel Technikverstand braucht man <strong>als</strong><br />
Industriedesigner?<br />
Es ist wichtiger, zu wissen, was man gut kann.<br />
Wenn technisches Interesse und Verständnis<br />
weniger groß sind, kann ich mir andere Schwerpunkte<br />
zum Gestalten suchen. Technisches<br />
Wissen ist durchaus nützlich, vor allem ist<br />
dreidimensionales Denken wichtig. Das kann<br />
man aber alles lernen.<br />
Was muss ein Industriedesigner noch unbedingt<br />
lernen?<br />
Man muss üben: Bei uns wird viel gezeichnet,<br />
auch digital. Und man muss verinnerlicht haben:<br />
Der erste Gedanke ist nicht immer der richtige.<br />
Man braucht Methode und Experiment, um<br />
kreativ zu sein und um ein Projekt angstfrei<br />
durchführen zu können. Planung ist ein großes<br />
Thema: Es gibt Themen, die so komplex sind,<br />
dass man sie nicht über Nacht entwickeln kann.<br />
Daran muss man sich herantasten. Selbst die<br />
Dinge, die wir gut kennen, zum Beispiel Türgriffe<br />
oder Lichtschalter, muss man noch einmal<br />
erforschen. Das transdiziplinäre Wissen wie<br />
Gebrauch, Technologie und Markt wird bei uns<br />
ebenso gefördert wie alles rund um <strong>Gestaltung</strong>.<br />
Dabei wiederum geht es um Form, Fläche,<br />
Farbe, um perspektivisches Sehen, die Arbeit am<br />
Computer.<br />
Bekommen Sie Anfragen von Firmen, die möchten,<br />
dass Ihre Studenten etwas gestalten?<br />
Ja. Dieses Jahr hatten wir ein Projekt mit VW,<br />
Abteilung Konzern Zukunftsforschung und<br />
Trendtransfer, und eines mit der Ikea Stiftung.<br />
Die Studenten sind dann gefragt, die Situation<br />
zu analysieren, sie quasi auf den Kopf zu<br />
stellen, ganz anders zu betrachten und mit<br />
neuen Lösungen zu kommen. Sie sollen sich
von dem Gewohnten entfernen und etwas neu<br />
interpretieren. Deshalb gibt es auch ungewöhnliche<br />
Lösungen: zum Beispiel Brillen, die das<br />
Gegenüber erkennen können, um Sehbehinderten<br />
Informationen mitzuteilen. Oder Produkte,<br />
die sprechen können. Wir versuchen ja, bei<br />
neuen technischen Entwicklungen zu schauen:<br />
Was hat der Mensch davon? Als Gestalter ist<br />
man ein ganzes Stück weit pragmatisch und<br />
möchte sofort in Lösungen denken. Dann wird<br />
entweder für das Jahr 2025 vorausgedacht – oder<br />
wir arbeiten an Entwicklungen, die man morgen<br />
schon produzieren könnte.<br />
Sie bilden Studenten aus, haben aber auch Ihre<br />
eigene Designfirma. Wie geht das?<br />
Die Lehre ist etwas, bei dem man viel gibt. Um<br />
das zu können, ist es wichtig, zu wissen, wie<br />
der Alltag im Design aussieht. Mich faszinieren<br />
hauptsächlich Dinge, die ich erfassen kann.<br />
Produkte im Außenraum, Büro, Home Accessoires<br />
oder Möbel, alles, was quasi Menschgröße<br />
hat, was ich ablaufen, begreifen, anfassen kann.<br />
Mich hat auch Architektur immer interessiert,<br />
aber der Maßstab ist dann doch nicht der meine.<br />
Was hat Sie überhaupt dazu bewogen, Industriedesign<br />
zu studieren?<br />
Ich habe gern an Autos herumgeschlüsselt. Dann<br />
habe ich eine Schreinerausbildung gemacht<br />
und in einer Keramikwerkstatt gelernt, wie man<br />
mit Ton und Porzellan umgeht. Das war mir alles<br />
nicht genug. Industriedesign war der einzige<br />
Beruf, in dem man querdenken kann, mit den<br />
verschiedensten Materialien und Fertigungstechniken<br />
zu tun hat und sie mischen kann.<br />
Wie ist das heute bei Ihren Studenten: Warum<br />
wollen die Industriedesign studieren?<br />
Es gibt individuelle Triebfedern. Als Gestalter ist<br />
man oft skeptisch. Ich zum Beispiel gehe nicht<br />
so gern einkaufen, weil mir vieles nicht gefällt.<br />
Ich würde das selbst oft anders gelöst haben.<br />
Manche Studenten stören sich wie ich so sehr an<br />
Dingen, sie ärgern sich, dass ein Produkt nicht<br />
so und so funktioniert. Oder sie sind Bastler.<br />
Die meisten Industriedesigner wollen bilden,<br />
formen, zeichnen.<br />
So entsteht dann irgendwann etwas, das Sie<br />
bewerten müssen. Wie definieren Sie dabei gutes<br />
Design?<br />
Gutes Design ist ästhetisch und kulturell wert-<br />
voll, es setzt neue Maßstäbe und ist wirtschaftlich<br />
überzeugend. Die Studenten müssen in<br />
ihrer Dokumentation und Präsentation auch die<br />
Sensibilität zeigen, mit der sie dieses Projekt-<br />
problem bearbeitet haben: Können sie es wahrnehmen,<br />
durchspielen und mit einer adäquaten<br />
Lösung auf den Punkt bringen? Es wird <strong>als</strong>o<br />
nicht nur das Design, sondern auch der Plan<br />
bewertet. Wenn jemand nicht innerhalb der<br />
geplanten Zeit fertig wird, hat er in Zukunft bei<br />
seinem Auftraggeber verloren.<br />
Sie arbeiten lösungsorientiert. Ist es einfacher,<br />
sich ein Problem zu suchen, statt frei zu sagen:<br />
Ich gestalte mal eine Vase?<br />
In der Hochschule arbeite ich immer problemorientiert<br />
– das ist auch in der Industrie so.<br />
Man macht nicht einfach mal ein Mobiltelefon,<br />
schließlich ist das mit Riesenkosten, Zeit- und<br />
nr. 5 | heimatobjekt<br />
Arbeitsaufwand verbunden. Und wenn jemand<br />
eine Vase einfach so entwickelte, müsste er<br />
überlegen: Gibt es die schon? Und was habe ich<br />
davon, warum ist sie so besonders? Es ist sehr<br />
sinnvoll, sich stattdessen erst einmal grundsätzlich<br />
mit der Aufbewahrung von Blumen im Haus<br />
auseinanderzusetzen. Vielleicht hat man am Ende<br />
einen Glastisch, in dem man selbstgezüchtete<br />
Tomaten wachsen lässt. Man kommt auf ganz<br />
neue Ideen, wenn man das Problem aufschlüsselt<br />
und danach auf den Punkt bringt. ◆<br />
19
heimatbild | nr. 5<br />
designer illustrieren<br />
heimat<br />
20
nr. 5 | heimatbild<br />
21
heimatbild | nr. 5<br />
22
heimatbild | nr. 5<br />
text Tanja Wissing<br />
Albert Palowski<br />
Albert Palowski hat Sehnsucht. Sehnsucht nach<br />
der Welt, die er in sich trägt. Daher hat sich<br />
der 36-Jährige aufgemacht: Mit seinem Semesterticket<br />
suchte er, dam<strong>als</strong> noch Grafikdesign-<br />
Student, im ganzen Ruhrgebiet nach Zwischenorten.<br />
„Wirklich und zugleich nicht-wirklich“,<br />
beschreibt er. Er hat sie gefunden und ihnen den<br />
fantastischen Namen „Irdenlen“ gegeben. Über<br />
200 solcher Orte hat er zwischen Dortmund und<br />
Duisburg mit seiner Kamera analog festgehalten<br />
und in einem Buch für sein Diplom zusammengestellt.<br />
Sei es nun der Schatten eines Baumes,<br />
der auf eine Mauer fällt, oder eine Häuserfassade,<br />
die sich fast unwirklich gegenüber einer dunklen<br />
Ausfahrt erhebt: Allen Arbeiten ist eine<br />
verhaltene Romantik, eine stille Poesie zu eigen.<br />
Auch die für <strong>Heimatdesign</strong> ausgewählte Arbeit<br />
strahlt etwas Surreales aus. Albert Palowski hat<br />
so seine Sehnsucht nach einem paradiesischen<br />
Zustand künstlerisch ausgelebt. „Ich bin in Polen<br />
aufgewachsen, lebe aber schon 17, 18 Jahre in<br />
Deutschland – meine Heimat ist meine innere<br />
Welt“, erklärt er. Und so wird für den Suchenden<br />
auch ein mobiler Anhänger, der vor einem Neubaugebiet<br />
für Wohnungstüren wirbt, zu einem<br />
Symbol für Heimat.<br />
Geboren 1971 in Laurahütte/Polen, 2003-2008<br />
Studium Fachhochschule Dortmund, Ausstellungen:<br />
2007 Gruppenausstellung „Sieben im Park“, Hotel<br />
am Rombergpark, Dortmund, „bleibt alles anders“,<br />
Dortmunder Kunstverein. www.palowski.de<br />
Frank Machoczek<br />
Heimat – das ist für Frank Machoczek ein Begriff,<br />
der neu definiert werden muss. Die traditio-<br />
24<br />
nelle Auffassung davon <strong>als</strong> einem Ort, „an<br />
dem man aufgewachsen ist und vielleicht noch<br />
die Arbeit seines Vaters fortgeführt hat“, greift<br />
für ihn nicht mehr. „Diese Lebensweise wird<br />
heute immer mehr aufgebrochen, allein schon<br />
dadurch, dass man öfter seinen Arbeitsplatz<br />
wechseln muss.“ Er selbst ist in Bonn geboren,<br />
in Siegen aufgewachsen und hat in Dortmund<br />
studiert. In den Augen des 27-Jährigen verzweigen<br />
sich die Lebenswege der Menschen immer<br />
stärker. Die wachsende Individualisierung der<br />
Gesellschaft bringt für Frank Machoczek, der<br />
sich mit dem Thema bereits während seines<br />
Studiums beschäftigt hat, einen Zuwachs an<br />
Selbstbestimmung, damit aber auch an Selbstverantwortung<br />
mit sich. Als „eine zunehmende<br />
Vernetzung“ beschreibt er den gesamten<br />
Prozess. Auf einem linierten Bogen seines grün<br />
eingefärbten Collegeblocks hat er diese Gedanken<br />
festgehalten: Vor einem Auge, Symbol für<br />
die Wahrnehmung, entfaltet sich ein Netzwerk<br />
aus schwarzer Tusche. Wie ein Trichter wird es<br />
breiter und breiter, wächst gar über den Rand<br />
der Zeichnung hinaus.<br />
Geboren 1981 in Bonn, 2002-2008 Studium Fachhochschule<br />
Dortmund, Ausstellungen: 2008 „Arena<br />
und Agora“, Galerie Werkbank, Dortmund,<br />
www.frank-machoczek.com<br />
Alexander Gegia<br />
Es gibt Bilder, die bleiben im Kopf. Die Schlägereien,<br />
die Alexander Gegia nach einem Fußballspiel<br />
und zu viel Alkohol erlebte, zählen dazu.<br />
Seine Arbeiten in Öl auf Leinwand zeugen von<br />
dem Erlebten. Ein Jugendlicher hat sich auf<br />
dem Straßenpflaster zum Schlafen zusammengerollt.<br />
Barfuß. Seine Schuhe? Sind irgendwann<br />
irgendwo im Rausch verloren gegangen. In einer<br />
anderen Arbeit ist ein Jugendlicher auf der Mittellinie<br />
einer Straße betäubt von der Wucht des<br />
Alkohols liegen geblieben. Die Bierflasche noch<br />
in der Hand. Beide sind typische Opfer einer<br />
Freitag- oder Samstagabend-Zechtour. Doch<br />
Alexander Gegia will nicht werten, er will aber<br />
auch nicht wegschauen. <strong>Für</strong> den jungen Maler<br />
drückt seine Arbeit, die aus einer vierteiligen<br />
Serie stammt, nicht unbedingt Heimat aus. „Es<br />
sind jedoch vertraute Szenen aus dem Alltag“,<br />
sagt er. Auf den ersten Blick wirken sie vielleicht<br />
banal. Doch der ehemalige Immendorff-Schüler<br />
sieht sie <strong>als</strong> Dokumentation: „Ich mag es, wenn<br />
Malerei politische, gesellschaftliche Konnotationen<br />
trägt.“ Als Appell möchte Alexander Gegia<br />
seine Werke dennoch nicht verstanden wissen.<br />
Geboren 1980 in Tiflis/Georgien, 1998-2004<br />
Studium Kunstakademie Tiflis, seit 2006 Studium<br />
Kunstakademie Düsseldorf, Ausstellungen: u. a.<br />
2007 „Klasse Immendorff, von Pferden und Affen“,<br />
Ludwig Museum, Koblenz; 2008 Gruppenausstellung<br />
„Project Flux“, Sino-German Contemporary<br />
Art Exchange Exhibition, Sichuan University, Art<br />
Gallery Chuan Da Lu, Shuangliu, Chengdu, China<br />
Peter Roth<br />
Wo Peter Roths Heimat liegt? Ganz sicher nicht<br />
an einem bestimmten Ort. Heimat lässt sich für<br />
ihn weder geografisch noch zeitlich fassen. „Sie<br />
ist eher ein Gefühl“, sagt der 27-Jährige. „Ein<br />
Gefühl der Vertrautheit.“ Dieses entzündet sich<br />
für ihn an einer Sache, Farbe oder Person, die<br />
eine Erinnerung auslöse. Und gerade dies mache<br />
das Heimatgefühl flüchtig. Wer sich Peter Roths<br />
Foto- und Grafikarbeit erschließen möchte, muss<br />
auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Denn<br />
der Designer hat sowohl die Fotos <strong>als</strong> auch ein<br />
Diagramm so verfremdet, dass die Collage eine<br />
Unbestimmtheit und Leere produziert, die der<br />
Betrachter selbst füllen muss. Die theoretische<br />
Basis für die abstrakte Arbeit bildet Peter Roths<br />
Diplomprojekt: Mit der Aneignung von Welt hat<br />
sich der Dortmunder für „f.0 – Nullpunkt – Die<br />
Entdeckung der Leere“ befasst. „Im Mittelpunkt<br />
steht der Zustand der Leere und Unbestimmtheit<br />
– ein Zustand des ständigen Wechsels zwi-<br />
schen konzentrierter Betrachtung und umherschweifender<br />
Suche“, schildert er. Grafisch umgesetzt<br />
hat er das Thema, indem er z.B. Karten<br />
ihrer beschreibenden Elemente „beraubte“ und<br />
sie mit Fotostrecken oder Handzeichnungen<br />
kombinierte.<br />
Geboren 1981 in Lüdenscheid, 2002-2008 Studium<br />
Fachhochschule Dortmund, Ausstellungen: 2006<br />
Gruppenausstellung „Campus NRW“ – „Entry-<br />
2006“, Zeche Zollverein, Essen; 2007 Gruppenausstellung<br />
„On The Move“ - Stuttgarter Fotosommer,<br />
Sympra, Stuttgart; 2008 Diplomausstellung<br />
„Unkontrolliert“, Künstlerhaus Dortmund,<br />
www.peterroth.net
heimatbild | nr. 5<br />
Typografie<br />
Time after Times<br />
text Volker K. Belghaus | illustration Stefan Becker<br />
Grafikprogramme haben den<br />
Umgang mit Schrift auch für<br />
den Otto-Normal-Anwender<br />
ermöglicht. Diese Amateurtypografie<br />
hat durchaus ihren<br />
Charme – an guten Schriften<br />
kommt man trotzdem nicht<br />
vorbei.<br />
26<br />
Wahrscheinlich ist Bill Gates mal wieder an<br />
allem schuld. Oder Steve Jobs, je nach Weltanschauung.<br />
Man könnte jetzt die Systemfrage<br />
stellen und Äpfel mit Fenstern vergleichen, das<br />
führt aber nicht weiter. Es bleibt festzustellen:<br />
Die Einführung von Home-Computern hat den<br />
Umgang mit Typografie leichter gemacht und<br />
infolgedessen ein kreatives Inferno ausgelöst,<br />
dem nur schwer beizukommen ist. Zu Zeiten des<br />
Bleisatzes waren die Setzer noch unter sich; sie<br />
saßen in Werkstätten, betrieben richtiges Handwerk<br />
mit Buchstaben aus Blei und wogen die<br />
Schrifttypen in Kilo. Durch die Digitalisierung<br />
änderte sich das, sie nahm der Typografie die<br />
Schwere. In den 90er Jahren wurde der Blei-<br />
satz immer mehr von Computern und deren<br />
Grafikprogrammen abgelöst. Bedienerfreundli
che Betriebssysteme und Monitore konnten<br />
die Bilder und Schriften endlich naturgetreu ab-<br />
bilden, und damit war die Zeit, in denen ein<br />
grünliches Gepixel auf schwarzem Hintergrund<br />
Buchstaben darstellen sollte, endgültig vorbei.<br />
Auch die Nadeldrucker, die, wie Schreibmaschinen,<br />
nur mit wenigen Schrifttypen bestückt<br />
waren, um diese unter größtmöglichem Radau<br />
auf das Endlospapier zu knattern, waren reif für<br />
die Tonne. Eine bunte Grafikwelt tat sich auf, ein<br />
gestalterisches Teletubbie-Land für die breite<br />
Masse.<br />
Die Digitalisierung bedeutet die Demokratisierung<br />
der Schriftkunst. Anfangs arbeiteten<br />
wirklich nur Profis mit der Technologie, aber<br />
seitdem dicke Grafikprogrammpakete auf den<br />
Discount-Rechnern vorinstalliert sind, können<br />
sich auch Laien <strong>als</strong> Gestalter versuchen. Dabei<br />
bleiben sie meistens erst einmal an den vor-<br />
eingestellten und deshalb meistgenutzten Schriften<br />
hängen: „Times New Roman“ und „Arial“.<br />
Die „Times“ ist eine klassische „Antiqua“, die<br />
aus dem Zeitungsdruck kommt und von der<br />
englischen Zeitung „The Times“ verwendet<br />
wurde. Die Schriftart basiert auf der „Capitalis<br />
Monumentalis“, einer Schrift, die die Römer 100<br />
v. Chr. in Großbuchstaben (Versalien) in Gra-<br />
nit meißelten. Von dieser Technik sind die<br />
Serifen übriggeblieben, jene kleinen An- und<br />
Abstriche am Buchstaben, die gerade bei längeren<br />
Texten die Lesbarkeit erhöhen. Dagegen ist<br />
die „Arial“ eine „Serifenlose Linear-Antiqua“,<br />
„Grotesk“ oder „Endstrichlose“ – diese Variante<br />
entstand im ersten Drittel des 19. Jahrhundert.<br />
Also eine Art „Times“ ohne Häkchen, aber<br />
anders konstruiert: sachlicher, von Schnörkeln<br />
befreit.<br />
Die „Arial“ ist ein Sonderfall: Sie ist ein Klon. In<br />
den 50er Jahren entwarf der Schweizer Typograf<br />
Max Miedinger eine Schrift namens „Helvetica“,<br />
die sich zu einer der erfolgreichsten Schriften<br />
überhaupt entwickelte. Was früher Bleipakete<br />
waren, sind heute Dateien – gleich bleibt: Wenn<br />
man eine Schrift nutzen will, muss man sie kaufen.<br />
Wenn nun ein Computerhersteller alle seine<br />
Rechner mit der „Helvetica“ ausliefern will,<br />
muss er dafür teure Lizenzen bezahlen. Deswegen<br />
veränderte Microsoft die Helvetica minimal<br />
und installierte sie <strong>als</strong> „Arial“ im Betriebssystem.<br />
Ein weiteres Helvetica-Imitat ist die „Swiss“,<br />
die dem Grafikprogramm Corel Draw beiliegt,<br />
und die von 2001 an vom ZDF <strong>als</strong> Hausschrift<br />
eingesetzt wird. Dem ist nur schwer beizukommen,<br />
da es für Schriftdateien so wie gut keinen<br />
Kopierschutz gibt. Hinter einem Schriftentwurf<br />
steckt aber oft monatelange Entwicklung, und<br />
so ist es perfide, sich die Arbeit anderer eigen zu<br />
machen, in dem man ein Häkchen weglässt oder<br />
die Strichstärke verändert.<br />
Man liest unwissend darüber hinweg, aber Ge-<br />
stalter benötigen gerade für umfangreiche<br />
Satzarbeiten gut ausgebaute Qualitätsschriften<br />
mit möglichst vielen Sonderzeichen. Dazu<br />
gehören immer noch die oben erwähnten Stan-<br />
dards. In den letzten Jahren besonders beliebt<br />
sind „Frutiger“ (Leitsystem des Flughafens<br />
Charles de Gaulle), „Thesis“ (ARD und Tagesschau)<br />
oder „DIN“ (Deutsche Autobahnbeschilderung)<br />
– diese Schriftfamilien sind mittlerweile<br />
bis hin zu den abseitigsten osteuropäischen Son-<br />
derzeichen ausgebaut. Nicht nur die Schrift<br />
selber, sondern auch die Art, mit ihr zu gestalten,<br />
ist Moden unterworfen. So war in den 90ern,<br />
den Zeiten des „anything goes“, der kalifornische<br />
Surfer und Gestalter David Carson der<br />
Lebensabschnittsheilige der Szene. Der lagerte<br />
Text- und Bildebenen bis zur Unlesbarkeit über-<br />
einander und entwarf auch experimentelle, fast<br />
unleserliche Schriften für Magazine wie „Ray<br />
Gun“. Aber irgendwann ist auch der schönste<br />
Kindergeburtstag vorbei und das große Aufräumen<br />
angesagt. Um die Jahrtausendwende kamen<br />
Magazine wie „brand eins“ auf den Markt, die<br />
gemäß der Parole „Quiet is the new loud“ den<br />
Gegenentwurf probten: Sie verwenden edle<br />
Antiquaschriften wie die „Sabon“ und bauen die<br />
Magazinseiten ruhig und mit viel Weißraum auf.<br />
Unter Hobbytypografen am heimischen PC<br />
sind weiterhin die krudesten, vorinstallierten<br />
Dekoschriften wie die infantile „Comic Sans“<br />
verbreitet, womöglich hinterlegt mit einem<br />
Regenbogenverlauf. Warum? Weil es geht. Und<br />
weil viele Menschen, die ihre Einladungskarten<br />
selbst zusammenschrauben, es eben nicht<br />
besser wissen. Das zeigt, dass für gute Typografie<br />
Experten gefragt sind. Und Schriften jenseits<br />
der großen Namen – die eben Geld kosten.<br />
Die besten Schriften sind für Satzarbeiten ge-<br />
eignet und weisen kleine Details auf, die das<br />
Schriftbild neu und einzigartig machen, ohne<br />
die Lesbarkeit einzubüßen. Man nennt so etwas<br />
Charakter. ◆<br />
<strong>Heimatdesign</strong><br />
sucht …<br />
nr. 5 | heimatbild<br />
… neue Schriften. <strong>Für</strong> die kommende Ausgabe<br />
schreibt <strong>Heimatdesign</strong> einen Typografie-Wettbewerb<br />
aus. Gefragt ist jeweils<br />
eine Schrift für Überschriften (Headline),<br />
Vorspann (Lead) und Text. Die Teilnehmer<br />
können Vorschläge für alle drei einreichen<br />
oder sich eine der Aufgaben vornehmen.<br />
Der Wettbewerb beginnt im März. Die<br />
Fristen und Teilnahmebedingungen stehen<br />
dann auf www.heimatdesign.de.<br />
27
heimatbild | nr. 5<br />
Bridges – Fotoprojekt<br />
Emscher Zukunft<br />
Über den Fluss<br />
text Tom Thelen<br />
„destroy/create“ heißt das Thema des diesjährigen Wettbewerbs<br />
zum Fotoprojekt über die Emscher. Ein Thema, das zur Geschichte<br />
des Flusses zwischen Holzwickede und Dinslaken passt.<br />
Rund 80 Kilometer lang ist dieser Fluss, dessen<br />
Geschichte für die Region typischer ist <strong>als</strong> jene<br />
der Ruhr. Die Emscher wurde zum offenen Ab-<br />
wasserkanal der Industrialisierung: Sie stank<br />
zum Himmel. Seit 1991 wird sie renaturiert, ein<br />
gewaltiges Vorhaben mit einem Gesamtvolumen<br />
von 4,4 Mrd. Euro. Im Jahr 2005 hat die verantwortliche<br />
Emschergenossenschaft „Bridges –<br />
Fotoprojekt Emscher Zukunft“ ins Leben gerufen,<br />
angeregt durch die mehr <strong>als</strong> 200.000 Archivfotos<br />
des Wasserwirtschaftsverbandes. Das Projekt<br />
28<br />
lädt zur fotografischen Auseinandersetzung mit<br />
dem Wandel des Flusses und seines Umfeldes<br />
ein und soll „dokumentieren, kommentieren, fo-<br />
kussieren und vermitteln.“<br />
Damit erinnert „Bridges“ an das Fotoprogramm<br />
der Farm Security Administration in den USA<br />
der 30er Jahre. Sie beauftragte Künstler wie<br />
Walker Evans und Gordon Parks, die Nöte der<br />
Bevölkerung zu zeigen und darüber zu berichten.<br />
„Bridges“ versucht Ähnliches. In diesem Jahr<br />
etwa steht die Frage nach dem prekären Verhält-<br />
Beispiele aus den Serien der Sammlung (von links):<br />
Marita Bullmann „ZOB/Berliner Platz“, Christian Diehl<br />
„Betreten Verboten“, Henk Wittinghofer „Schwaden“,<br />
Dominik Asbach „Die Taubenzüchter“<br />
nis zwischen Zerstörung und (Wieder-)Aufbau<br />
im Vordergrund. Bis zum Ende des Emscher-<br />
Umbaus 2020 sollen dann Fotos „eine zweite<br />
Landschaft zeigen: eine, die aus Erinnerungen,<br />
Visionen, Wünschen – aus Sichtbarem und<br />
Unsichtbarem besteht.“<br />
In diesem Jahr ist der Wettbewerb mit insgesamt<br />
20.000 Euro dotiert – verteilt auf mehrere Preise.<br />
Mitglied der Jury ist Mario Lombardo, bekannt<br />
<strong>als</strong> Art Director von Spex, Dummy oder Liebling.<br />
Weitere Jurymitglieder stammen aus den<br />
Bereichen Publizistik, Soziologie, Fotografie,<br />
Akademie und Planung. Die Zusammenarbeit<br />
mit eben diesen Planern ist ein weiterer Ansatz<br />
des Projekts: Idealerweise soll ein konkreter<br />
Dialog zwischen dokumentarischen, gleichwohl<br />
auch ästhetischen Positionen und den verantwortlichen<br />
Planern des konkreten Umbaus<br />
stattfinden. Gefragt sind Ideen, die die vielfältigen<br />
wirtschaftlichen, kulturellen, landschaftlichen<br />
und sozialen Verhältnisse kreativ abbilden.<br />
Bisher wurden jedes Jahr um die 100 Fotoserien<br />
eingereicht – mit steigender Tendenz und zumeist<br />
von heimischen Künstlern, die professionell<br />
mit dem Medium arbeiten.<br />
Einsendeschluss für den Wettbewerb 2008<br />
ist der 12.01.2009.<br />
www.bridges-projects.com
© Markus Mrugalla<br />
Fünf Fragen an Mario Lombardo<br />
Als Art Director hat Mario Lombardo für Maga-<br />
zine wie Spex, Dummy und Page gearbeitet.<br />
Er trägt unter anderem den Designpreis der<br />
Bundesrepublik Deutschland und den Red Dot<br />
Award, 2008 wurde er von der Lead Academy<br />
zum „Visual Leader of the Year“ gewählt. Als<br />
Künstlerischer Leiter des Bridges-Fotoprojekts<br />
erzählt er vom Austausch zwischen Kunst und<br />
Planung, von besonderen Bildsprachen – und der<br />
Emscher.<br />
Herr Lombardo, was sagen Sie, wenn Sie gefragt<br />
werden: Was ist denn die Emscher?<br />
Ich sage: Das ist ein spannender Fluss, der mit<br />
der Zeit geht und sich den Bedürfnissen seiner<br />
Umwelt anpasst. Er erlebt jetzt gerade seine dritte<br />
Formveränderung. Erst war er ein gewöhnlicher<br />
Fluss, der in seiner Vergangenheit sogar<br />
zum Weinbau diente. Dann hat er jahrzehntelang<br />
<strong>als</strong> Kanal das Abwasser und Grubenwasser des<br />
Ruhrgebiets transportiert und wurde zur offenen<br />
Kloake einer ganzen Region. Und nun setzt man<br />
buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung,<br />
diesen Fluss wieder in einen „natürlichen“ Fluss<br />
zu verwandeln. Großartig.<br />
Mit den Planern dieses Prozesses soll das Fotoprojekt<br />
in den Dialog treten. Klappt das?<br />
Das kommt darauf an, was man sich davon ver-<br />
spricht. In diesem Fall kann man nicht davon<br />
ausgehen, dass die Rechnung „eins plus eins“<br />
zwei ergibt. Diese Planungsergebnisse, von de-<br />
nen wir hier sprechen, sind die Folge weitreichender<br />
kalkulierbarer Zusammenhänge und<br />
Fakten. Einem künstlerischen Ergebnis wohnen<br />
solch feste Parameter nur zu einem Teil bei. Ich<br />
versuche in meiner Aufgabe <strong>als</strong> Künstlerischer<br />
Leiter, zwischen den Parteien zu vermitteln und<br />
eine Sensibilität zu erzeugen. Es gibt beispielsweise<br />
Podiumsdiskussionen, bei denen sich Vertreter<br />
der verschiedenen Bereiche austauschen.<br />
Mit welchem Effekt?<br />
Ob das dann ganz konkrete Auswirkungen auf<br />
den Prozess des Emscher-Umbaus hat, bleibt<br />
eine Hoffnung. Das hängt nämlich auch von der<br />
eben erwähnten Sensibilität der Planenden ab<br />
und kann deswegen nicht das Erfolgsbarometer<br />
nr. 5 | heimatbild<br />
des Fotoprojekts sein. Eine Zweckorientierung<br />
empfinde ich <strong>als</strong> hinderlich, wenn zugleich der<br />
freie, künstlerische Anspruch hochgehalten werden<br />
soll. Wenn die Arbeiten dennoch konkreten<br />
Einfluss auf die Planung haben – um so besser.<br />
Einige, wie beispielsweise die Nachtaufnahmen<br />
von Stefan Bayer, haben diesen ja auch schon<br />
gehabt.<br />
Gibt es eine Gemeinsamkeit in den Arbeiten,<br />
etwas, das in anderen Medien „Sprache“ oder<br />
„Sound“ genannt würde?<br />
Nostalgie vielleicht, und ein gewisser Stolz. Bis-<br />
her haben besonders Menschen teilgenommen,<br />
die im Emschergebiet leben oder aus dem Ruhrgebiet<br />
stammen. Das merkt man den Arbeiten<br />
sehr stark an. Sie sind alle sehr unterschiedlich,<br />
aber ihnen gemeinsam ist ein liebevoller Umgang<br />
mit der Region – trotz der ebenso vorhandenen<br />
Kritik.<br />
Wie idyllisch darf ein Abwasserkanal denn<br />
aussehen?<br />
Das hängt ganz von der subjektiven Perspektive,<br />
dem Geist und der Idee des Fotografen ab.<br />
Eine idyllische Inszenierung kann beispielsweise<br />
eine bewusst eingesetzte Verfremdung zum<br />
Ausdruck bringen, vielleicht spiegelt sie eine Er-<br />
innerung oder ist <strong>als</strong> Kommentar zu verstehen.<br />
Es geht bei diesem Fotoprojekt nicht um reali-<br />
tätsgetreue Dokumentationsfotografie. Ich<br />
wünsche mir sogar abstrakte oder modellhafte<br />
Arbeiten. Ich suche nicht nur gute Umsetzungen,<br />
sondern vor allem gute Ideen. Ich wünsche<br />
mir von den Teilnehmern einen möglichst<br />
inspirierten, freien und künstlerischen Umgang<br />
mit dem Thema Emscher-Umbau. ◆<br />
29
heimatkultur | nr. 5<br />
Gereon Lepper<br />
Der stille Maschinist<br />
text Volker K. Belghaus | fotografie Kim Sperling „Kapiere ich auch nicht alles, was ich so baue.“<br />
Wie jetzt? Gereon Lepper schickt ein Lächeln<br />
Und sie bewegen sich doch:<br />
Gereon Leppers Installationen<br />
suchen Technik und finden<br />
Natur.<br />
30<br />
hinterher, aber der Satz ist raus. Klingt kokett, ist<br />
aber ehrlich gemeint. Manche der Bewegungsabläufe<br />
seiner Installationen sind halt nur durch<br />
Fummeln zu finden, wie er sagt. Dabei kann man<br />
Leppers Werk durchaus eine angewandte Komplexität<br />
unterstellen, die viel Wissen in Physik<br />
und Maschinenbau zu erfordern scheint. Fotos<br />
bringen den Betrachter nicht weiter: Man muss<br />
schon erleben, wie die Konstruktionen durch<br />
Motoren, Wind, Wasser und Gravitation zum<br />
Leben erwachen – wie Sperriges poetisch wird.<br />
Wie der „Lockruf der Berge“, eine stählerne, mit<br />
bröckeligen Steinen gefüllte Trommel, die, sich<br />
langsam drehend, die Steine zu einem Berg aufhäuft;<br />
irgendwann fällt der dann in sich zusammen,<br />
wobei die Steine immer mehr zerkrümeln.<br />
Ab einem bestimmten Punkt überlässt Lepper<br />
die Kontrolle seiner Arbeiten den natürlichen<br />
Einflüssen. Nahe seines Ateliers, einer Werkhalle<br />
auf der Hattinger Henrichshütte, steht an einem<br />
Kreisverkehr sein überdimensionierter Wegweiser<br />
mit dem Titel „Die Kenntnis der einzuschlagenden<br />
Richtung“. Vertrauen kann man dem<br />
roten Pfeil aber nicht – schon ein leichter Wind<br />
dreht ihn eine andere Richtung. Das sind sanfte<br />
Veränderungen der Umwelt; eine Zähmung<br />
der Natur liegt Lepper fern, es geht ihm eher um<br />
das spielerische Sichtbarmachen von Energie.<br />
Schon wirft der Künstler „Drei Bucks auf Charlie“<br />
an, ein Kreissegment, an dessen oberen Ende<br />
sich zwei gegenüberstehende Flugzeugpropeller<br />
gegenseitig stabilisieren. Der Höllenlärm vertreibt<br />
Leppers Rehpinscher Leo in die hintere<br />
Ecke des Ateliers. Lepper steht im entfachten<br />
Sturm und bekennt: „Das Aggressive stellt für<br />
mich auch eine Poesie dar – eine Poesie der<br />
Gewalt.“ Selbstironisch gibt der Künstler seinen<br />
Höllenmaschinen Namen wie „Babette“ oder<br />
„Käthe Hermann“. Wenn alles klappt, ist der<br />
stille Maschinist bald auf französischen Wasserstraßen<br />
zu finden. Dann hätte sich sein Traum<br />
vom solarbetriebenen Atelier-Hausboot erfüllt.<br />
Die Konstruktionspläne für diesen Traum hängen<br />
schon im Atelier – ganz ohne Fummeln. ◆<br />
www.gereonlepper.de
Jedes Material hat spezielle Qualitäten.<br />
Eine unserer Spezialitäten ist, Sie darüber zu informieren.<br />
Die Begegnung erlesener, natürlicher und innovativer Materialien in Symbiose mit handwerklicher Perfektion und reduziertem Design, ist<br />
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heimatkultur | nr. 5<br />
Wohnen unter Tage<br />
Mit Puschen ins Theater<br />
text Tom Thelen | fotografie Kim Sperling<br />
„Neue Heimat“ heißt ein aktuelles Projekt zur kreativen<br />
Nutzung des Bochumer Theaters unter Tage: Kristo Šagor,<br />
32-jähriger Autor und Regisseur, wohnt jetzt dort.<br />
Das Bochumer Schauspielhaus sorgte in der<br />
Spielzeitpause für ein schönes neues Heimat-<br />
Design. Wo in den letzten Jahren der Nachwuchs,<br />
das Experiment und die Partypeople das<br />
Sagen hatten, ist jetzt eine funktionstüchtige<br />
Wohnung entstanden. Inklusive Sanitärbereich<br />
und Küche mit Herd und Waschmaschine, zentralem<br />
Bett, vielen Sofas, einem Fernseher und<br />
Bücherregalen, die aber bei näherer Betrachtung<br />
mit reichlich viel Schrott befüllt sind.<br />
In diesem fensterlosen Riesenraum lebt und arbeitet<br />
Kristo Šagor bis zum Ende der Spielzeit.<br />
Das heißt, er veranstaltet dort Konzerte, Karaoke,<br />
Lesungen und Vorlesungen, bittet Schauspieler,<br />
ihre Lieblingsplatten vorzuspielen und dazu<br />
aus dem wilden Nähkästchen zu plaudern, holt<br />
32<br />
sich Bochumer Bürger und ihre mittelinteressanten<br />
Geschichten in die Wohnung und zeigt<br />
dort auch seine Inszenierungen. Allein die Wohn-<br />
situation „unter Tage“ gibt dabei dann schon<br />
konzeptionelle Vorgaben.<br />
Geschichten von unten will der Theatermacher<br />
(„Genannt Gospodin“) immer wieder hervorholen,<br />
manchmal ganz konkret: mit den Storys<br />
eines Bestattungsunternehmers oder von Bergleuten.<br />
Dazu dann eben diejenigen Geschichten,<br />
die quasi nur subkutan überall verborgen lie-<br />
gen – wie die zu den Lieblingsliedern seiner En-<br />
semblekollegen. Daneben thematisiert und<br />
theoretisiert er das Wohnen und das Zusammenleben<br />
gelegentlich <strong>als</strong> Großprojekt, mit Wissenschaftlern<br />
und anderen Experten, der Rest<br />
des Theaterfests ist Spiel und Spaß mit Musik,<br />
Literatur und Küchenparty. Dabei kommen<br />
dem theoriefesten Betrachter avantgardistische<br />
Konzepte des 20. Jahrhunderts in den Kopf, von<br />
der Auflösung der Kunst in Lebenspraxis bis hin<br />
zur Kommune 1 – doch der Spaß im Keller an<br />
der Königsallee soll gar nicht so tief gelegt sein.<br />
Natürlich kenne er diese Dinge, sagt Šagor, man<br />
sei unterschwellig in der künstlerischen Arbeit<br />
immer dadurch beeinflusst. Doch dieses Konzept<br />
sei einfach eine Idee gewesen, die aus einer<br />
Anfrage zur Nutzung des Raumes entstand. Man<br />
habe dann dieses sehr offene Projekt entworfen,<br />
zu dem jeder Zugang hätte.<br />
Eines der Hauptanliegen des Theatermachers ist<br />
es, den Zuschauer in der „Neuen Heimat“ zum<br />
Überdenken, zum Zweifeln an Alltagskategorien<br />
zu bringen. Wer einmal hierher gekommen sei,<br />
ein Theaterstück <strong>als</strong> Zuschauer zu sehen, dann<br />
aber beim nächsten Mal lässig in der Küche sitze,<br />
bemerke womöglich das Zerfallen von Kategorien<br />
wie „Wohnung“ oder „Bühne“. Eine recht<br />
optimistische Idee, bedenkt man, dass sich das<br />
alles ja in der Institution Stadttheater abspielt.<br />
Und doch ist es interessant fürs kulturelle Leben,
wenn sich diese Institution mit ihren – auch<br />
ökonomisch – vielfältigen Möglichkeiten öffnet<br />
und versucht, ein anderes Publikum anzulocken<br />
<strong>als</strong> jenes, das sich humanistisches Bildungsgut<br />
auf der Guckkastenbühne vorführen lassen will.<br />
Im besten Fall wird das Theater so zu einem<br />
Zentrum von akademischen, theoretischen und<br />
auch Party-Diskursen, die befreit sind von den<br />
Zwängen ihrer üblichen Umgebungen wie Uni<br />
oder Club. Bisher läuft Šagors Wohnclub aber<br />
noch etwas heimelig und bieder ab. Nach der<br />
Premiere des grandiosen Stückes „Haus der<br />
tausend Zungen“ von Jonathan Garfinkel präsentierte<br />
sich der Regisseur etwa in blauen Pantoffeln<br />
– ganz der gemütliche, stolze Hausherr.<br />
Vielleicht muss es sich noch etwas herumsprechen,<br />
dass sich dort unten etwas befindet, das<br />
auch denjenigen eine Heimat verspricht, die sich<br />
in den letzten Jahren vom Bochumer Schauspielhaus<br />
– aus welchen Gründen auch immer<br />
– abgewandt haben. Oder für jene, die bisher<br />
überhaupt nicht auf die Idee verfallen sind, eine<br />
Heimat ausgerechnet im Theater zu suchen. Deren<br />
Design muss quasi geschärft werden. Wenn<br />
das schief läuft, hat der junge Mann allerdings<br />
auch kein Problem: Sein „Mietvertrag“ läuft<br />
sowieso mit Spielzeitende aus. Dann wohnt er<br />
halt wieder woanders – dort, wo niemand seine<br />
blauen Puschen sehen kann. ◆<br />
Neue Heimat – Wohnen unter Tage<br />
bis zum 28.02.2009<br />
Öffnungszeiten: mo-fr 10-18, sa 10-14 & 18 Uhr bis<br />
Öffnung der Abendkasse, so 17-18 Uhr.<br />
www.wohnenuntertage.de<br />
technische universität<br />
dortmund<br />
gefördert durch<br />
www.kultur-unternehmen-dortmund.de<br />
für Unternehmensgründungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft
heimatkleid | nr. 5<br />
Hochzeit in Marxloh<br />
Die rettende Robeninsel?<br />
text Petra Engelke | fotografie Dennis Yenmez<br />
Prinzessinnenparadies, Hochzeitsmekka:<br />
Es gibt viele<br />
Schlagworte für die Geschäfte,<br />
die sich an der Weseler Straße<br />
in Duisburg-Marxloh ballen.<br />
Im Mittelpunkt steht die Mode.<br />
Rettet sie am Ende den Stadtteil?<br />
34<br />
Meterweise schneeweißer Tüll über dem Reifrock<br />
– ja, so stellt man sich die Brautmode vor.<br />
Daneben brilliert eine plissierte Empire-Linie<br />
in Champagner. Schon der erste Schaufensterbummel<br />
in Duisburg-Marxloh hinterlässt zwei<br />
Eindrücke: Sowohl Designs <strong>als</strong> auch Preise ge-<br />
hen weit auseinander.<br />
Es gibt Brautkleider in allen erdenklichen Aus-<br />
maßen, tief dekolletierte, fließende Neckholder<br />
in leuchtenden Farben, reich bestickte, dunkelrot-golden<br />
schimmernde Zweiteiler mit knappen<br />
Korsagen und passenden Boleros, außerdem<br />
Anzüge aus edlem Stoff in gedeckten Farben, ver-<br />
wegene violette Rüschenhemden und Herrenwesten<br />
mit aufwändigem floralen Muster in<br />
Schwarz-Silber.<br />
Die Ladenbesitzer lassen zusätzliche Perlen auf<br />
die zum Kleid passenden Handschuhe sticken<br />
oder entwerfen gleich das ganze Outfit speziell<br />
für die Kundin – Extraservice und Maßanfertigungen<br />
sind hier sozusagen Standard. Von der<br />
Stange kommen nur Modelle, die in die Ausrichtung<br />
des jeweiligen Ladens passen; einer hat sich<br />
auf Extravagantes spezialisiert, der nächste auf<br />
schlichte, junge Mode. Ein Brautkleid ist schon<br />
für etwa 300 Euro zu haben, Abendkleider knapp<br />
unter 100 Euro – beides gibt es aber auch im<br />
deutlich vierstelligen Bereich. Nach oben gibt<br />
es keine Grenzen. Nur billigen Ramsch verkauft<br />
hier niemand. Das wiederum ist eines der Vorurteile,<br />
gegen die diese Einkaufsmeile täglich<br />
nadelstichhaltige Beweise liefert. Die Geschäfte
gehören Türken oder türkischstämmigen Deutschen;<br />
sie kämpfen gegen die Vorstellung, dass<br />
türkische Festkleidung aus Rüschen, Schleifchen<br />
und Billigstoffen besteht. Schließlich ist die Textilindustrie<br />
in der Türkei längst nicht mehr für<br />
hastig gefertigte Ware bekannt; mit den Preisen<br />
der asiatischen Großproduktionen konnte sie<br />
schon vor Jahren nicht mehr Schritt halten – so<br />
besann man sich auf Qualitätsarbeit.<br />
Heute bestellen auch internationale Designer<br />
hochwertige Stoffe in der Türkei – etwa aufwändige<br />
Stickereien und Seidentaft, wie man ihn<br />
in Deutschland schwerlich bekommt. Von entsprechenden<br />
Kontakten profitieren die Händler<br />
in Marxloh. Und was das Design betrifft: Klare<br />
Schnitte sind derzeit bei türkischen Designern<br />
beliebter <strong>als</strong> ein Overkill an Dekoration. Vielen<br />
deutschen Bräuten hingegen bedeutet Traumhochzeit<br />
häufig genau das - ein uferloses weißes<br />
Kleid in Zuckerbäckermanier.<br />
Gebannt blicken zwei junge Damen auf ein rosa<br />
Kleid, das in einem Geschäft namens White<br />
Lady effektvoll auf eine Puppe drapiert ist. Die<br />
Korsage ist mit Perlen bestickt, die an runde<br />
Blüten erinnern, und geht in einen ausladenden<br />
Rock über, dessen unzählige Tüllvolants an den<br />
Seiten zu großen Rosen zusammenlaufen. Darin<br />
könnte die Braut Dornröschen sein und von<br />
einem märchenhaften Erwachen träumen. In<br />
Nach oben gibt es keine Grenzen.<br />
Nur billigen Ramsch verkauft hier niemand.<br />
voller Rüstung wird der Bräutigam wohl nicht<br />
erscheinen, aber schimmern, das geht: Ein paar<br />
hundert Schritte weiter steht ein Modell im<br />
Schaufenster, das zu einem schlichten, weißen<br />
Hemd einen goldglänzenden Anzug trägt – mit<br />
glitzernden Manschettenknöpfen.<br />
Die Braut lässt sich derweil von einer Verkäuferin<br />
ein weißes, schulterfreies Modell mit Spitze<br />
und Stickerei von einer der Puppen zupfen.<br />
Während beide in der geräumigen Umkleidekabine<br />
verschwinden, schaut sich die Begleiterin<br />
die Schuhe an, die auf stilisierten Säulen am Ein-<br />
gang wie zur Parade stehen: hochhackige, aus<br />
Seide gearbeitete Modelle in zartrosa, leuchtendlila,<br />
moosgrün, apfelbäckchenrot, katzenfell-<br />
schwarz. Sie passen exakt zu den Abendkleidern,<br />
es gibt sie mit Glitzerspange oder Seidenapplikation.<br />
Über all dem schwebt die Stimme eines türkischen<br />
Sängers. Weiter hinten im Laden steht ei-<br />
ne Recamiere aus rotem Plüsch, davor ein Tischchen<br />
mit einer Schale voller Zuckerstückchen.<br />
Tee wird gerade nicht serviert. Eine Kopftuch-<br />
nr. 5 | heimatkleid<br />
trägerin hockt am Rand, über die Lehne hat sie<br />
einen goldglänzenden Rock ausgebreitet, auf<br />
dem Tisch liegen passende Perlen und daneben<br />
ein Stück hauchzarten weißen Stoffs: ein Schleier,<br />
dem vielleicht auch noch etwas Dekoration<br />
fehlt.<br />
Hochzeitskleider, so erzählen die Verkäuferinnen<br />
nebenan bei Duett, werden grundsätzlich zusammen<br />
mit Schleier und Spange oder Diadem<br />
verkauft – es soll glitzern, auch wenn bei ihnen<br />
die Kleider weniger pompös ausfallen. Röcke<br />
mit vielen Volants liegen zwar im Trend, aber<br />
diejenigen mit zig Stofflagen laufen nicht mehr.<br />
Erst recht nicht die Zweiteiler. Stattdessen holen<br />
die beiden einige lange Abendkleider in leuchtenden<br />
und gedeckten Farben: ein dunkelrotes<br />
Satinkleid mit zierlichen, aus Perlen gestickten<br />
Blütenranken am Dekolletee, ein unschuldig<br />
aussehendes Spaghettiträgerkleidchen in altrosa,<br />
ein gerafftes Chiffon-Cocktailkleid in einem<br />
Blumenmuster auf grünem Grund. Ein Blick in<br />
die Auslagen des Tresens verrät, dass sich nicht<br />
35
heimatkleid | nr. 5<br />
nur die Bräute gern den Kopf passend zum Kleid<br />
schmücken: In allen Farben des Regenbogens<br />
schillern hier Stoffblüten, die sich in Hochsteckfrisuren<br />
einarbeiten lassen.<br />
Die Unterschiede im Brauchtum zeigen sich in<br />
Details: In einem großen Regal reihen sich reich<br />
verzierte Minikörbchen, Seidenblumenarrangements<br />
oder Muscheln, in denen sich Süßes ver-<br />
steckt. Denn während es in Deutschland nach<br />
der Trauung meist einen Sektempfang gibt, verschenkt<br />
man in anderen Kulturen Bonbons an<br />
die Gäste. Kürzlich orderte eine Libanesin 500<br />
Stück – so viel zahlen andere für die Saalmiete.<br />
Und Türkische Hochzeiten werden groß gefeiert.<br />
Mehrere hundert Gäste sind Standard, es<br />
kann auch vierstellig werden. <strong>Für</strong> manche Mädchen,<br />
die nicht in Clubs gehen dürfen, ist das ein<br />
Disco-Ersatz: Sie tanzen jedes Wochenende auf<br />
einer anderen Hochzeit. Es gilt schließlich <strong>als</strong><br />
Tabu, eine Hochzeitseinladung auszuschlagen.<br />
Eine Gruppe Frauen, von denen nur die Gesich-<br />
ter und Finger zu sehen sind, fachsimpelt über<br />
Kleider, die viel Haut zeigen. Auch das hat sei-<br />
nen Grund: Das Pendant zum Polterabend<br />
oder Junggesellenabschied ist in der türkischen<br />
Tradition der Hennaabend. Hier feiern Männer<br />
und Frauen getrennt. Ganz unter sich, können<br />
die Frauen mit spektakulären Abendkleidern<br />
prunken. Auch Gewänder in der Tradition roter<br />
36<br />
Trachten finden sich bei Duett, es gibt sie sogar<br />
in Kindergrößen. Eigentlich tragen Kinder so<br />
etwas nicht, „aber manche Eltern finden das<br />
eben putzig“, sagt die Verkäuferin. Aufgerüscht<br />
werden die Kinder bei Hochzeitsfeiern durchaus:<br />
Ganze Ständer hängen voller Satinkleider<br />
in Miniformat, und bei den niedlichen Anzügen<br />
reihen sich die Größen wie für einen Fototermin.<br />
Zum klassischen Outfit beim Hennaabend ge-<br />
hören kleine Täschchen, in die die Braut ihre<br />
Hände stecken kann, nachdem ihre Freundinnen<br />
und Verwandten diese mit Henna bemalt haben.<br />
Und die Braut bekommt einen Schleier, hinter<br />
dem sie ihr Gesicht verbergen kann, wenn sie zu<br />
In voller Rüstung wird der Bräutigam wohl nicht erscheinen,<br />
aber schimmern, das geht.<br />
weinen beginnt. Schließlich soll sie den Abschied<br />
von den Eltern dramatisch in Szene setzen.<br />
Manchmal geht das schief: „Die Braut heult<br />
nicht!“, krakeelte kürzlich ein Kind, das von der<br />
Damenrunde zu den Herren lief. Ein Fauxpas,<br />
von dem die Verkäuferin berührt erzählt.<br />
Doch nicht alles muss so traditionell laufen. Vie-<br />
le türkische Paare kommen gemeinsam in den<br />
Laden, einige leben bereits vor der Hochzeit zusammen,<br />
erzählt das junge Fachpersonal. Aber<br />
es gebe natürlich nach wie vor Mädchen, die<br />
jungfräulich in die Ehe gehen möchten. Traditionell<br />
tragen diese Bräute ein rotes Band um<br />
die Taille – „das ist etwas, das man in der großen<br />
Gesellschaft dann stolz präsentieren möchte.“<br />
Auch die Herren sind an einem solchen Tag voller<br />
Stolz: Südländische Kunden kaufen durchaus<br />
Figurbetontes und haben keine Scheu vor leuch-<br />
tenden Farben, zum Beispiel, wenn sie das<br />
Hemd zum Anzug aussuchen. Sie interessieren<br />
sich oft für Finessen und sind es gewohnt, sich<br />
richtig schick macht. Die deutschen Männer<br />
hingegen bevorzugen gedeckte Farben, machen<br />
weniger Experimente. Allenfalls die Krawatte<br />
darf bei ihnen einen farblichen Akzent setzen.<br />
Leider gebe es in Deutschland nicht so viele<br />
Anlässe, bei denen man sich feinmache, bedauert<br />
eine Ladenbesitzerin ein paar Häuser weiter.<br />
Manchmal kämen dann aber doch Frauen, die<br />
zur Theaterpremiere auftrumpfen möchten.<br />
Schützenfeste hingegen sind ein Anlass zum<br />
Kleiderkauf, den man hier häufig hört: Da werden<br />
König und Königin gekürt, die mit einem<br />
ganzen Hofstaat feiern – und sich der Parallelgesellschaft<br />
ihrer Schützenwelt in Galaroben<br />
zeigen.<br />
Dass das Hochzeitsmekka von Marxloh auch<br />
Teil einer Parallelgesellschaft sei, ist allerdings<br />
ein Trugschluss. Knapp 18.000 Einwohner zählte<br />
die Duisburger Statistik Ende 2006 in Marxloh,<br />
davon etwa 6.000 Ausländer, von denen wiederum<br />
4.000 Türken waren. Sie sind eine Minderheit,<br />
die rechtsradikale Begriffe wie „Überfremdung“<br />
mit den Waffen der Logik schlägt.<br />
Ebenso f<strong>als</strong>ch ist es aber, ein gezuckertes Multikultitörtchen<br />
des Stadtteils zu backen. Viele le-<br />
ben schlicht aneinander vorbei – und es gibt Rei-<br />
bungspunkte. Ein kleines Fräulein, das mit gesenktem<br />
Blick ihr Kopftuch zurechtzurrt, erntet<br />
den missbilligenden Blick einer Blondine, die
eindeutig zu lange auf der Sonnenbank war. Der<br />
leichte Alkoholgeruch, der ihren Begleiter umhüllt,<br />
spricht Bände darüber, dass Arbeits- und<br />
Perspektivlosigkeit keine Staatsangehörigkeit<br />
kennt. Eine türkische Frau im Businesskostüm<br />
schreitet elegant an ihnen vorbei, klackert in<br />
Stilettos auf ihren Wagen zu – und schimpft.<br />
In zweiter Reihe parken manchmal klischeehafte<br />
Jung-Machos, die einem womöglich vor die<br />
Füße rotzen oder „Fotze“ <strong>als</strong> Begrüßungsformel<br />
verwenden. Schön ist das nicht. Ebenso trifft<br />
man hier eine deutsche Mittfünzigerin, die<br />
sich lautstark beklagt, seit so viele Ausländer<br />
herzogen und der Stadtteil so heruntergekommen<br />
sei, gebe es in Marxloh nicht einmal mehr<br />
einen Metzger. Schräg hinter ihrer Schulter<br />
sind Fleischauslagen zu sehen. Abgesehen von<br />
Schweineschnitzeln bekäme die Dame in dieser<br />
türkischen Metzgerei, was auch immer sie in die<br />
Pfanne hauen möchte. Wenn sie denn wollte.<br />
Dem Niedergang des Viertels haben die Deutschen,<br />
die seit Generationen hier wohnen,<br />
jedenfalls nicht entgegengewirkt. Immer wieder<br />
erzählen einem die türkischen Ladeninhaber:<br />
„Wir wollen mehr Deutsche.“ Damit meinen sie<br />
nicht nur die Kundschaft – den Anteil der<br />
Deutschen schätzen sie, je nach Laden, bereits<br />
zwischen 20 und 40 Prozent. Es hat sich herumgesprochen,<br />
dass die Mode hier internationale<br />
Geschmäcker trifft. Von dem der Schützenköniginnen<br />
ganz zu schweigen. Außerdem geht der<br />
Trend dahin, Abiturfeiern zu festlichen Bällen zu<br />
machen. Mit gezielten Anzeigen in Schülerzeitungen<br />
haben die findigen Geschäftsleute längst<br />
auf sich aufmerksam gemacht. „Aber wir wollen<br />
auch deutsche Fachgeschäfte“, sagt Hatice Kök,<br />
die gerade einen Laden namens Hatice an der<br />
Kreuzung Weseler Straße und Kaiser-Wilhelm-<br />
Straße eröffnet.<br />
Sie kam mit zwei Jahren ins Ruhrgebiet – ging<br />
später für ihre Schneiderlehre aber in die Türkei:<br />
In Deutschland sei die Ausbildung einfach<br />
nicht gut genug. Ihre Kleider schneidert sie den<br />
Damen auf den Leib. „Jede Frau träumt doch<br />
davon, einmal im Leben Prinzessin zu sein“, sagt<br />
sie. „Und meine Aufgabe ist es, herauszufinden,<br />
wie dieser Traum aussieht.“ Die Zeichnung<br />
ist dabei ein unwesentlicher Teil: Erst bei den<br />
37
heimatkleid | nr. 5<br />
zahlreichen Anproben zeige sich, wie man die<br />
Maßanfertigung weiterentwickeln muss. Es gibt<br />
Kleider, die in wenigen Tagen fertig sind – andere<br />
brauchen fast ein halbes Jahr. Und manchmal<br />
muss Hatice Kök dem Glück ein bisschen nach-<br />
helfen. Gerade ist eine Frau im Laden, die unbedingt<br />
ein schwarzes Kleid haben möchte – für<br />
ihre Hochzeit. Kök ist sicher, dass das nur zu<br />
einem Ärgernis führen würde: Manche Gäste<br />
würden der Braut die Schau stehlen. Stundenlang<br />
lässt sie sie Kleider probieren, arbeitet sich<br />
langsam zu braun vor, der Bräutigam sieht immer<br />
erleichterter aus. Nun hofft Kök, die Dame<br />
von einem feinen Bordeauxrot überzeugen zu<br />
können.<br />
Es muss ja nicht weiß sein – ein Credo, das deutsche<br />
und türkische Bräute vereint. Ein grünes,<br />
tief ausgeschnittenes Modell ist mit einem<br />
Spitzenstoff überzogen, in den Goldfäden eingewirkt<br />
sind. An einem weich fallenden lila Kleid<br />
baumeln zierliche Perlenstränge, und an einem<br />
hellblauen Modell schlängelt sich eine gestickte<br />
Blütenranke. Solche Arbeiten schafft Kök in ein<br />
bis zwei Stunden. Aber sie hat es schwer, gute<br />
Stickerinnen in Deutschland zu finden – vielen<br />
fehle die nötige Routine. Qualität setzt sich in<br />
Marxloh durch.<br />
Danach sieht es im Duisburger Norden längst<br />
nicht überall aus. Die Faszination von dampfenden<br />
Kühltürmen, rostigen Rohren, verlassenen<br />
Lagerhäusern und düsteren Tunneln zieht immer<br />
wieder Kamerateams her. In Ruhrort trotzt<br />
ein Stück des Duisburger Hafens dem Image mit<br />
riesigen Stapeln bunter Container: Hier gehen<br />
Das Engagement, das den Stadtteil aus dem Dreck ziehen könnte,<br />
kommt sehr oft von der so genannten anderen Seite.<br />
immer noch Güter die Ruhr herunter. Nicht weit<br />
entfernt künden blinde Schaufensterscheiben<br />
von längeren Leerständen. Eine Imbissstube<br />
wirbt in schreienden Farben um ein bisschen Um-<br />
satz, und gleich nebenan fällt der Blick auf<br />
leere Käfige und Glaskästen, zurückgelassen im<br />
geschlossenen Zoohandel. Hinter vorgehaltener<br />
Hand, so hört man, raten selbst Angestellte der<br />
Stadt den Bewohnern dieser Viertel, sich so viel<br />
zu bilden wie möglich – und dann wegzuziehen.<br />
Stadtteile wie Ruhrort, Bruckhausen und Marx-<br />
loh sind <strong>als</strong> Filmlocation gefragt, weil sie verschiedene<br />
Stadien des Verfalls dokumentieren.<br />
Fährt man mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof<br />
nach Marxloh, geht es im schnellen<br />
Wechsel vorbei am neu eröffneten Riesensupermarkt<br />
und am Gründerzeithaus, von dessen<br />
38<br />
Fassade die Farbe abblättert – und doch scheint<br />
hier die Zeit stehen geblieben zu sein. Jedenfalls<br />
ging das Produzententeam von „Das Wunder<br />
von Bern“ (2003) zum Drehen nicht, wie ihm<br />
geraten wurde, nach Polen. Der Film entstand zu<br />
einem großen Teil in Marxloh, weil sich hier eine<br />
Atmosphäre wie die von 1954 leicht herstellen<br />
ließ.<br />
Gerne nehmen Medien jetzt darauf Bezug: „Das<br />
Wunder von Marxloh“ titeln sie, weil doch<br />
der Bau der Ende Oktober eröffneten Merkez-<br />
Moschee so friedlich vollendet wurde. Auch<br />
Zeitungen in Großbritannien, Indonesien,<br />
Taiwan und Indien richteten ihren Blick auf den<br />
Ort, an dem es im Gegensatz zu Köln, München<br />
oder Berlin keinerlei Proteste gegeben hat.<br />
Unter dem Stichwort „Bürgerbeteiligung“ ist<br />
dann aber oft nur vom Wohlwollen toleranter<br />
Deutscher die Rede. Doch schaut man sich<br />
ein wenig in Marxloh um, stellt man bald fest:<br />
Das Engagement, das den Stadtteil aus dem<br />
Dreck ziehen könnte, kommt sehr oft von der<br />
so genannten anderen Seite. Auf Initiative eines<br />
türkischen Unternehmervereins entstanden die<br />
rund 40 Geschäfte, die an der Weseler Straße<br />
und der Kaiser-Wilhelm-Straße für Betrieb<br />
sorgen. Der Politiker Cem Özdemir besuchte<br />
Marxloh im Juni – und besichtigte nicht nur<br />
die fast fertige Moschee, sondern schaute sich<br />
auch an, was sonst noch so passiert in diesem<br />
Stadtteil, an dem das Etikett „sozialer Brennpunkt“<br />
kokelt. Sein Fazit: „Die türkischstämmigen<br />
Unternehmer schaffen es, Kaufkraft nach<br />
Duisburg zu lenken.“
Denn zum Hochzeits-Shopping kommen Menschen<br />
nicht nur aus Duisburg; auch nicht nur<br />
aus dem restlichen Ruhrgebiet. Die Kundschaft,<br />
so erzählen alle Ladenbesitzer einmütig, kommt<br />
insbesondere am Wochenende auch aus den<br />
Niederlanden, Belgien und Frankreich. Die<br />
Läden heißen Topkapi, Prestije oder La Mariée.<br />
„Wenn Sie anderswo nach einem Brautkleid<br />
schauen, müssen sie weite Wege in Kauf<br />
nehmen“, sagt eine Verkäuferin. „Dann haben<br />
Sie spätestens im dritten Laden vergessen, wie<br />
das beste Kleid im ersten Laden aussah, und am<br />
Ende kaufen Sie irgendetwas, das Sie gar nicht<br />
so gut finden – bloß weil Sie das Herumfahren<br />
leid sind.“<br />
In Marxloh lässt man sich von einem Geschäft<br />
ins nächste treiben, kann noch einmal zurück-<br />
laufen, hier probieren, dort nachfragen – das ist<br />
einzigartig. Darauf ist längst auch der Amtsschimmel<br />
aufmerksam geworden: Mit rund<br />
360.000 Euro unterstützten das Land NRW<br />
und die EU diesen Standort. Man hofft sogar,<br />
internationale Konzerne anzulocken. So sitzt<br />
Oberbürgermeister Adolf Sauerland im Beirat<br />
des 2006 eigens gegründeten IHZ (Internationales<br />
Handelszentrum Duisburg) – unter anderem<br />
mit Murat Yalcintas, dem Vorsitzenden der<br />
Istanbuler Handelskammer.<br />
<strong>Für</strong> die Menschen, die zum Einkaufen nach<br />
Marxloh kommen, ist das stahlgraue Theorie.<br />
Sie bestaunen ein giftgrünes Kleid mit reichlich<br />
Applikationen aus grün-weißen Seidenblumen<br />
mit Funkelstein in der Mitte, eine Abendrobe<br />
aus so dunklem Taft, dass sie tief lila zu glühen<br />
nr. 5 | heimatkleid<br />
scheint, oder die Nadelstreifen eines glänzenden<br />
Satin-Anzugs, den eine Schaufensterpuppe mit<br />
gegelter Sturmfrisur trägt.<br />
An einem trüben Donnerstagmittag hält eine<br />
Limousine direkt vor dem Fotoladen. Ein junger<br />
Mann kontrolliert rasch den Sitz seiner Krawatte<br />
im Seitenspiegel und öffnet die Tür: Perfekt<br />
geschminkte Damen in großer Garderobe steigen<br />
aus, immer darauf bedacht, ihre kunstvoll<br />
aufgetürmten Frisuren nicht zu ruinieren.<br />
Menschen mit Einkaufstüten laufen an dieser<br />
Szene vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken.<br />
Das ist eben Marxloh. „Ich lüg dich nicht an“,<br />
ruft ein Mann in sein Handy und geht wieder ins<br />
Türkische über. Vielleicht braucht auch er bald<br />
einen neuen Anzug für seinen großen Tag. ◆<br />
39
heimatkleid | nr. 5<br />
Wohngemeinschaft Essen<br />
Die Mischung macht's<br />
text Tanja Wissing | fotografie Anna Kopylkow<br />
Judith Haselroth hat gerne<br />
Leute um sich. Daher hat<br />
die 36-Jährige im April eine<br />
WG gegründet. Was all die<br />
Gäste dort zu suchen haben?<br />
Nichts. Ist ja alles da.<br />
40<br />
„Bei uns findet man was“, sagt Judith. „Ich glaube,<br />
wir verkaufen Dinge, die Bestand haben und<br />
Herzensangelegenheiten sind.“ Mit ihrem Ge-<br />
schäft hat die Textilwissenschaftlerin für sich<br />
und andere Kreative eine Verkaufsplattform<br />
geschaffen. Schauen die Fassade, Decken und<br />
Wände des einstigen Ruhrmöbel-Hauses in<br />
ihrem frischen Weiß auch kühl und nüchtern<br />
aus: Die „Wohngemeinschaft Essen“ lädt zum<br />
Stöbern ein. Wer durch die Eingangstür hereinspaziert,<br />
an der Papst Benedikt handgroß in<br />
Plastik baumelt, ist herzlich willkommen. In<br />
aller Seelenruhe können Besucher auf elegant<br />
geformten Küchenstühlen probeweise Platz<br />
nehmen, das neueste Outfit von Schaufensterpuppe<br />
May beäugen oder Judith zuschauen, wie<br />
sie eine „gerda“ näht, denn das Arbeitszimmer,<br />
in dem die Tornister-gleichen Umhängetaschen<br />
mit den Reflektorschließen entstehen, ist für alle<br />
offen. Hier summt ein gut gefüllter Kühlschrank<br />
und gluckert die Kaffeemaschine.<br />
Sieht man von Judith und der stets stillen May<br />
ab, zählt die WG drei weitere Mitglieder. Archi-<br />
tekt Björn Dadek richtet sein Augenmerk auf<br />
das große Ganze. „Er weiß, welche Lampen<br />
wo und wie hängen müssen“, beschreibt Judith<br />
und blickt auf die Leuchten mit den großen<br />
gelb-grünen Schirmen, die über einem Esstisch<br />
sanft Licht spenden und zum Verkauf stehen.<br />
Kellerkind Heike Kollakowski zeigt sich wenig,<br />
rückt dafür aber wirkungsvoll die WG ins Bild –<br />
z. B. im Internet. „Andreas Bischoff hat den<br />
Superoberhammerblog gestaltet“, lobt Judith den<br />
eigentlich letzten Mitbewohner.<br />
Doch auch Wil Borgmann und Else Walter sind<br />
mehr <strong>als</strong> bloße Dauergäste. Mit fantasievollen<br />
Kindersachen sind sie in der WG vertreten. Wil<br />
macht aus alten Blümchenstoffen knisternde<br />
Greiflinge, Kinderwagenketten und Spieluhren;<br />
von Else gibt es farbenfrohe Gürtel mit Eulen,<br />
Fliegenpilzen oder Wikingerhelmen zu kaufen.<br />
„Else kommt immer mit einem großen Koffer“,<br />
berichtet Judith. Wann Else wieder mit neuer<br />
Ware auftaucht, kann die WG-Chefin allerdings<br />
selten genau sagen: „Ich freue mich einfach,<br />
wenn sie da ist.“ Diese Unbeschwertheit des WG-<br />
Lebens schätzt Judith. In der Wohngemeinschaft<br />
hat auch die liebe Familie ihren Raum. So fin
den sich im Regal Babymützen von „Häkel onsight“ und auf Bügeln<br />
Kleidchen von „Oma Usch“. Die beiden Designerinnen sind Mutter<br />
und Tochter und fertigen nicht mehr nur fürs eigene (Enkel-)Kind.<br />
Neben solchen Unikaten ist die WG mit ausgesuchten Serienprodukten<br />
wie der schneeweißen Etagere „Babell“ von Koziol ausgestattet.<br />
Auf schwarz-weiß gesprenkelten Resopaltischen, die wie überdimensionale<br />
Frühstücksbrettchen aussehen, ist das Rentier „Rudi“ – ein Teelichthalter<br />
aus Walnussholz – ebenso liebevoll arrangiert wie auf den<br />
Sofalehnen die Armstulpen im Raubtierlook von „Glückskind“. Der<br />
abendliche Kassensturz zeigt: Diese Mischung macht’s. „Die Großen<br />
unterstützen indirekt die Kleinen“, erklärt Judith. Wichtig ist ihr, dass<br />
die meisten Stücke selbst gemacht sind. Individualität ist das Stichwort.<br />
Das Konzept kommt an: So erhielt die Wohngemeinschaft, die sich<br />
für „Essens kreative Klasse“ mit einigen Rüttenscheider Nachbarn zur<br />
„rü-union“ zusammengeschlossen hatte, die Auszeichnung <strong>als</strong> bester<br />
Newcomer 2008. „Der Preis ist mir superwichtig, weil er sagt, dass das,<br />
was wir machen, richtig ist“, freut sich Judith. Scheu vor Konkurrenz<br />
haben sie und ihre Mitbewohner nicht: „Es ist besser, zusammenzuarbeiten.“<br />
◆<br />
Wohngemeinschaft<br />
Annastraße 51, 45130 Essen<br />
Öffnungszeiten: mo-fr 11-19, sa 10-16 Uhr<br />
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heimatkleid | nr. 5<br />
Yvonne Wadewitz<br />
Viel Talent, wenig Zeit<br />
text Tanja Wissing<br />
Yvonne Wadewitz ist wie ihre Espressokanne: unter Druck.<br />
Vielleicht bringt das ihr hektischer Alltag <strong>als</strong> Herren-<br />
maßschneiderin am Aalto-Theater mit sich. Oder es liegt an<br />
den zig Entwürfen, die sie im Kopf hat für ihr „eijenes Zeuch“.<br />
Yvonne Wadewitz hat viel Talent – nur nie genug Zeit.<br />
Der Kaffee kocht fast über. Die 26-Jährige gießt ein, löffelt schnell Milchschaum ins Glas. In einer<br />
Stunde muss sie wieder im Theater sein. Nachdem sie den ganzen Tag Pumphosen für die Oper<br />
„<strong>Für</strong>st Igor“ genäht und Kostüme für das Ballett „Dornröschen“ angepasst hat, muss sie noch ein<br />
Sakko ändern. Ausgerechnet.<br />
„Ick krieje Krämpfe, wenn ick Änderungen machen muss“, sagt die gebürtige Brandenburgerin. Lieber<br />
würde sie fix ein neues Sakko nähen. Das ist eher der Arbeitsstil der quirligen Brünetten. Wenn<br />
sie selbst eine Idee hat, hockt sie stundenlang in ihrem überquellenden Heimatelier und rattert – bis<br />
das Teil fertig ist. Was sie so antreibt? „Ick will wissen, ob et funktioniert und aussieht.“<br />
Hat die grazile Essenerin eine ihrer Schaffensorgien, sind die Ideen „zack, einfach da“. In ihren Sinnkrisen<br />
hat sie nicht mal „Bock, Nadel und Stoff anzufassen“. Das passiert ihr gerne im Sommer,<br />
wenn die Sonne sie nach draußen treibt. Joggen geht die frühere Ballerina schon, bevor sie sieben<br />
Stunden an ihrer Nähmaschine in der Kostümschneiderei sitzt. Letzteres ist für das Energiebündel<br />
eine Nervenprobe. In der hellen Werkstatt arbeitet Yvonne Wadewitz jedoch „saujerne“. Stoffe,<br />
Schnitte und Verarbeitungen bringen sie auf Ideen für ihre Mode, die Historisches futuristisch<br />
entstaubt. Der Kostümfundus ist für sie ein Traum.<br />
Das war ihr Leben <strong>als</strong> Ballerina auch. Doch vor drei Jahren verschwand die zarte Tänzerin hinter den<br />
Kulissen. Der Fuß, die Bänder … Ein wenig Wehmut wird wach, wenn sie eine Kollegin im Tutu<br />
hinter der Bühne trifft. Dafür genießt sie es, nun weniger selbstzerstörerisch zu leben. Nur: Wo und<br />
wie sie leben möchte, hat sie noch nicht entschieden.<br />
„Ick würde jerne Gewandmeisterin werden und eijene Kostüme entwerfen. Oder in ’nem kleenen<br />
Laden mein eijenes Zeuch verkofen. Ick könnte och Hausfrau und Mutter sein. Ick würde superjeile<br />
Sachen für mein Kind nähen.“ In ihre ehemalige Wahl-Heimat Berlin würde sie wohl nicht zurückkehren.<br />
Zu viel Konkurrenz, zu viele Pleiten unter Designern. Eher würde es sie aufs Land ziehen – zu<br />
ihren Eltern, nach Neutrebbin. Doch das Ruhrgebiet hat auch seinen Reiz: „Die Leute sind noch<br />
nicht so übersättigt.“ Dabei geht es ihr nicht ums Geld. „Det ist eenfach schön, dass denen meene<br />
Sachen jefallen“, sagt sie leise – nur um dann wieder aufzuspringen. ◆<br />
Yvonne Wadewitz ist am 30. Mai 1982 in Neutrebbin nahe Frankfurt/Oder geboren. Nach der Grundschule<br />
besuchte sie die Staatliche Ballettschule Berlin. Ab 2000 tanzte sie am Aalto-Theater. Von 2005 bis 2007<br />
schulte sie dort zur Herrenmaßschneiderin um. Seit 2007 entwirft sie neben der Theaterarbeit ihre eigene<br />
Mode, die es exklusiv im <strong>Heimatdesign</strong>-Shop gibt. Kontakt: www.yvonne-wadewitz.de<br />
Fotografie Reza Nadji, Studio Zirkus | Make-Up/Haare Hanna Meier<br />
Models Karin, Sascha | Mode Yvonne Wadewitz<br />
42
heimatkleid | nr. 5<br />
Schwarzwaldkirsch<br />
Klappe, die zweite!<br />
text Nina Maassen<br />
Das junge Designer-Duo „Schwarzwaldkirsch“ entführt mit<br />
seiner neuen Kollektion in die Eleganz einer Filmära – und legt<br />
sich kurzerhand ein neues Image zu.<br />
Es war die Zeit der Nouvelle Vague – der dunklen Filme mit Schauplätzen meist in spärlich beleuchteten<br />
Gassen von Paris –, die mit neuer Bildästhetik die gesamte Filmbranche revolutionierte.<br />
Erinnert man sich an die alten Schwarz-Weiß-Bilder, so ist es vor allem der Kleidungs-Stil, der<br />
unweigerlich mit den Klassikern verbunden bleibt – und natürlich ein Vertreter des Genres, der diese<br />
Mode wie kein anderer verkörperte: Jean-Paul Belmondo. Seine geradlinige Eleganz feiert nun ein<br />
nicht minder graziöses Revival.<br />
Das Designer-Duo vom noch jungen Mode-Label Schwarzwaldkirsch (SWK) entwarf seine zweite<br />
Kollektion ganz in Gedanken an die großen Nouvelle Vague-Klassiker und betitelten die Reihe überaus<br />
passend: „Love me like Belmondo!“ Enge Röcke, große Knöpfe und schmale Krawatten dürfen<br />
so auch in der SWK-Serie nicht fehlen, dabei setzen Jörn Quellmann und Sara Bönsch auf exklusive<br />
Qualität, die bis zu kleinen Kunstwerken aus reiner Seide reichen.<br />
Mit ihrer ersten Kollektion „Trallafitti“ hatten sich die beiden Modekünstler auf knallige Streetwear<br />
konzentriert und somit ein junges Käufer-Publikum angesprochen. Den Mix aus unterschiedlichen<br />
Materialien und Farben ersetzen sie nun in der Belmondo-Serie durch eine bewusste Reduzierung<br />
der Farben auf Schwarz-Weiß-Cocktails. Die edlen Stoffe und femininen Schnitte sollen neue<br />
Käuferschichten ansprechen und bewusst das Image des anfänglich wilden Jugend-Labels hin zu<br />
eleganter Fashion verschieben.<br />
Auch wenn sich ab dem nächsten Sommer manche bisherige Kundin vielleicht von der neuen<br />
Kollektion nicht begeistert zeigen wird, erweist „Schwarzwaldkirsch“ mehr denn je seinem Namen<br />
alle Ehre: „Schwarze“ Eleganz, kombiniert mit „waldiger“ Natürlichkeit und „kirsch“-roter Leidenschaft<br />
werden mit der Belmondo-Kollektion in idealer Weise interpretiert. Das Hattinger Label setzt<br />
auch weiterhin auf ökologisch gefertigte Materialien aus regionaler Produktion und hofft, mit diesem<br />
Konzept seinen Platz auf dem europäischen Markt weiter ausbauen zu können.<br />
Letztlich enthält „Love me like Belmondo“ alles, was einer rundum gelungenen Hommage an den<br />
Kult einer Filmära bedarf. Trotzdem bewegt sich die Kollektion abseits bloßer Nostalgie, denn<br />
Schwarzwaldkirsch schafft es, die klassisch-strengen Schnitte mit gegenwärtiger Lässigkeit zu verknüpfen.<br />
Eine filmreife Gasse für den Belmondo-würdigen Auftritt findet sich so nicht nur in Paris. ◆<br />
Sara Bönsch (30) und Jörn Quellmann (25) lernten sich während ihrer Schneiderausbildung kennen.<br />
Gemeinsam kreierten sie 2006 das Mode-Label „Schwarzwaldkirsch“, unter dem sie im Januar 2007 ihre<br />
erste Kollektion präsentierten. <strong>Für</strong> das Frühjahr 2009 entwarfen sie nun ihre zweite Mode-Reihe, die in<br />
Deutschland bei 25 Einzelhändlern erhältlich sein wird. Sie wohnen in einem Reihenhaus in Hattingen.<br />
www.schwarzwaldkirsch.de<br />
Fotografie Mathias Schmitt | Styling Laura Azura Feldhoff<br />
Make-Up Sabrina Holtmann | Models Sandra & Patrick<br />
Mode Sandra trägt Schwarzwaldkirsch, Patrick trägt Diesel/Diesel Black Gold<br />
48
nr. 5 | heimatkleid<br />
51
heimatkleid | nr. 5<br />
fym<br />
Mittsommernachtstraum<br />
für Mädchenfrauen<br />
text Sascha Abel<br />
Namen sind Schall und Rauch. Nur gut, dass hinter Fym mehr<br />
steckt <strong>als</strong> ein schöner Klang.<br />
Fym – das klingt nach Feenwald und zarten Elfenwesen. Barfuß huschen sie durch einen lauen<br />
Sommerregen. Tänzeln über Stock und Stein, von Ast zu Ast und halten sich an den Händen. Wenn<br />
Fym aber nicht mehr wäre <strong>als</strong> das – es wäre ganz schön langweilig. Das Designduo „Frida y Maya“<br />
macht Fym zu einem zeitgemäßen Label für selbstbewusste Mädchenfrauen. 2007 haben Frida<br />
Staeckel und Maya Jakobs sich zusammengetan. Sie wollten Mode entwerfen für Frauen, die das<br />
Besondere zu schätzen wissen. Dass sie sich dabei von Vorbildern wie Yves Saint Laurent oder<br />
Givenchy haben anregen lassen, ist nicht von der Hand zu weisen. Während Givenchy für sinnliche<br />
Weiblichkeit und eine perfekte Schnittkunst steht, verstand es Yves Saint Laurent seit jeher, Traditionen<br />
durch unerwartete Neuerungen zu brechen. Ein Spagat, vor dem die beiden Designerinnen mit<br />
ihrer Kollektion „Moritzburg“ nicht zurückschrecken. Inspirieren ließen sie sich dazu vom gleichnamigen<br />
Barockschloss bei Dresden. Herausgekommen ist eine Mode, die den Betrachter ins 17.<br />
Jahrhundert zurückversetzt: etwa in Gestalt eines königsblauen Kleids mit einem in hundert kleine<br />
Fältchen gelegten Rüschenkragen. Die nötige Modernität kommt durch die Länge: Es reicht seiner<br />
Trägerin bis zum Knie. Frida und Maya zitieren vergangene Epochen, ohne sich in ihnen zu verlieren.<br />
Eine schneeweiße Bluse mit historisch nachempfundenen, hammelkeulenartigen Ärmeln erinnert an<br />
die Biedermeierzeit. Ein extra hoher Stehkragen und die dazu kombinierte Taillenhose mit Dreigürtelsystem<br />
übersetzen den Look ins Hier und Jetzt. Und dann die Details: eingearbeitete Biesen,<br />
Paspeln und Borten, aufgenähte Stickereien und Blenden, verdeckte Knopfleisten, ganze Kleider sind<br />
in Falten gelegt. All das zeugt von viel Arbeit – und einer akribischen Detailverliebtheit: Vom Schnitt<br />
bis zur Veredelung entsteht Fym in Handarbeit. Auf sorgfältige Verarbeitung, auf Fasern, die sich<br />
auf der Haut gut anfühlen, legen Frida und Maya viel Wert. Damit die Fym-Frau ganz unbeschwert<br />
durch den lauen Sommerregen huschen kann. Über Stock und Stein, von Ast zu Ast, direkt ins Büro. ◆<br />
Frida Staeckel, 32, stammt aus Bautzen bei Dresden. Nach Zwischenstationen in Argentinien, Montreal<br />
und Panama ließ sie sich an der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Köln zur Damenschneiderin ausbilden.<br />
Im gleichen Jahrgang traf sie dort auf Maya Jakobs (28). Nach der Ausbildung entschieden sich beide, in<br />
Köln das Damenlabel Fym zu gründen.<br />
www.fymkosmos.de<br />
Fotografie Mark Ansorg | Assistenz Dorit Eichmann | Make-Up Sabrina Holtmann<br />
Models Luise, Esther, Kathlyn Marie<br />
Mode FYM, Kollektion Moritzburg | Location Schloss Nordkirchen<br />
54
nr. 5 | heimatkleid<br />
57
heimatkleid | nr. 5<br />
58<br />
fym
heimatkleid | nr. 5<br />
Mazine<br />
Wer bist du denn?<br />
text Petra Engelke<br />
Streetwear von Mazine ist für Individualisten gedacht. Die Köpfe<br />
hinter dem Label bleiben lieber incognito.<br />
Schaut man sich Tom Ford, Karl Lagerfeld oder Wolfgang Joop an, bekommt man den Eindruck,<br />
jeder Modeschöpfer mache einen Riesenbohei um seine Person. Dabei engagieren immer mehr<br />
große Modelabels inzwischen Designer, die sich hinter dem Markennamen bescheiden zurücknehmen.<br />
Das Mülheimer Streetwear-Label Mazine geht noch einen Schritt weiter und gibt die Ego-<br />
politur einfach weiter: Who are you?, fragt es in seinem Claim. Schließlich unterstreichen die Leute,<br />
die ihre Kollektionen mögen, damit ihre Persönlichkeit.<br />
Bei den Entwürfen denkt das siebenköpfige Design-Team nicht kleinteilig über Schnitte, sondern<br />
über ganze Silhouetten nach. Die sind recht langlebig, wenn sich die Nuancen auch ständig ändern –<br />
das bedeutet Zentimeterarbeit in Länge und Weite. Eins ist allen gemein: Die Klamotten sind<br />
seit einer Weile eher eng <strong>als</strong> „baggy“. Hosen, Hemden, Soft Shell-Jacken, Strickpullover, Kapuzensweater,<br />
T-Shirts: Rund 250 Teile hat die aktuelle Kollektion, und die wiederum gibt es in verschiedenen<br />
Farben – und mit erfrischenden Details, zum Beispiel violett abgesetzten Reißverschlüssen<br />
oder Neon-Kapuzenbändern. Blockstreifen laufen bei Mazine gerne mal diagonal, grafische Muster<br />
ziehen sich fein ziseliert über sportliche Jacken.<br />
Verkaufen lässt sich das an vielen Orten, aber die Mazine-Macher suchen sich sehr genau aus, in welchen<br />
Läden sie herumhängen möchten. Und Firmenporträts oder Modestrecken-Shootings lehnen<br />
sie konsequent ab. Mit dieser einen Ausnahme. Dafür denkt man sich erst recht etwas Passendes<br />
aus: Als hätte es ein zickiger Modegott so verordnet, wird der Zwirn in der Heimat präsentiert – von<br />
Menschen auf der Straße. <strong>Für</strong> sie hat man bei Mazine noch mehr Fragen, die sich jeder stellen soll:<br />
Ist mir das zu weit, zu groß, zu schmal, zu lang zu eng, zu kurz – passt das zu mir? Bei der Antwort, so<br />
versichern sie, hilft nur zweierlei: anprobieren und ausprobieren. ◆<br />
Fotografie Jens Oellermann<br />
Models Annika, Elena, Simone, Christian, Peter<br />
Mode Mazine<br />
60
heimatkleid | nr. 5<br />
62
heimatkleid | nr. 5<br />
64
heimatlied | nr. 5<br />
Eichbaumoper<br />
Indie-Arien von nebenan<br />
text Volker K. Belghaus | fotografie Christine Steiner<br />
Applaus: Aus der Straßenbahnhaltestelle „Eichbaum“ soll<br />
eine Oper werden.<br />
So sieht <strong>als</strong>o die Moderne aus, wenn sie alt geworden<br />
ist: rissiger Beton, beschmierte Wände,<br />
siffige Ecken. Vor 30 Jahren stand die Haltestelle<br />
„Eichbaum“ der Linie U18 zwischen Essen und<br />
Mülheim für moderne Infrastruktur; auf dem<br />
Mittelstreifen der A40 fuhr die U-Bahn dem<br />
Stau davon. Heimaterde heißt der dazugehörige<br />
Mülheimer Stadtteil zwar ganz betulich, die<br />
Haltestelle ist aber zum Schauplatz für Überfälle<br />
und Vergewaltigungen verkommen. Dieser Ort<br />
braucht Veränderung, dachten sich die Architekten<br />
vom „raumlabor_berlin“. Gemeinsam mit<br />
dem Schauspiel Essen, dem Musiktheater im<br />
Revier Gelsenkirchen und dem Ringlokschuppen<br />
Mülheim fordern sie: „Eichbaum muss Oper<br />
werden!“<br />
Bemerkenswert am Standort „Eichbaum“ ist<br />
erstens seine Lage abseits der Kulturhochburgen<br />
66<br />
wie Zollverein, zweitens die Indie-Ausrichtung<br />
des ganzen Projekts. Ein Opernhaus stellt man<br />
sich anders vor – aber Puccini fürs Abendkleidpublikum<br />
darf man hier ohnehin nicht erwarten.<br />
Dafür sorgen schon Namen wie Bernadette la<br />
Hengst: Die Berliner Elektro-Chanteuse schreibt<br />
mit an der Oper, die speziell für diesen Ort gedacht<br />
ist und hier im Juni 2009 Premiere feiern<br />
wird. Neben la Hengst arbeiten Komponisten<br />
und Theaterleute wie der New Yorker Dirigent<br />
Ari Benjamin Mayers an dem Projekt mit.<br />
Damit die Musik den Charakter des Ortes ein-<br />
fängt, werden die Komponisten in der Opern-<br />
bauhütte arbeiten, einem Pavillon, der gleichzeitig<br />
Raum für Konzerte und Vorträge bietet –<br />
hoffentlich keine vorübergehende Aufhübschung<br />
widriger Architektur, die sich nach dem<br />
Kulturhauptstadtjahr 2010 erledigt hat.<br />
Immerhin arbeiten beim Eichbaum-Projekt drei<br />
Ruhrgebietsstädte zusammen, was in der hie-<br />
sigen Kulturpolitik nicht selbstverständlich ist.<br />
Die Macher geben sich optimistisch: Sie setzen<br />
auf den Erfolg dieses ungewöhnlichen Konzertortes,<br />
weil sie die Bevölkerung und speziell<br />
die Anwohner explizit einbinden. So ist die<br />
geplante Opernpremiere nur Zukunftsmusik, in<br />
der Zwischenzeit geben Veranstaltungen wie<br />
die OpernbauBar Gelegenheit, den künftigen<br />
Kulturort kennenzulernen. ◆<br />
Opernbauhütte an der U18-Haltestelle Eichbaum,<br />
mi & do 14-19 Uhr<br />
OpernBauBar: DJs, Konzerte, Vorträge, Kino etc.<br />
18.12./15.01./19.02., jeweils 20 Uhr, Eintritt frei.<br />
www.eichbaumoper.de
WWW.DESIGNERSFAIR.DE<br />
www.kuenstlerhaus-dortmund.de<br />
2009<br />
MESSE FÜR JUNGES<br />
MÖBEL‐ UND INTERIORDESIGN<br />
BY SUPPORTED BY<br />
18. ‐ 25. JANUAR 2009<br />
RHEINTRIADEM KÖLN
heimatlied | nr. 5<br />
68<br />
Philipp Bückle<br />
Kitsch-Kanonen auf<br />
Spaß-Spatzen<br />
text Tom Thelen | illustration Thomas Armborst<br />
„Never Forget“ von Take That ertönt – und wildfremde<br />
Menschen liegen sich in den Armen. Über das Retro-Phänomen<br />
„Eurodance“ spricht der Dortmunder DJ Philipp Bückle.<br />
Niem<strong>als</strong> vergessen haben wohl viele die 80er<br />
und 90er. Doch was ist passiert, dass jetzt<br />
auf immer mehr Partys die musikalischen Mainstream-Ergüsse<br />
jener Jahre gefeiert werden?<br />
Billige Techno-Beats mit gepitchten Stimmen,<br />
hirnzersetzenden Texten und „Melodien“,<br />
schmierige Boygroup-Schmachtfetzen und<br />
lausiger deutschsprachiger HipHop der frühen<br />
Tage liegen im Trend.<br />
Der 29-jährige Philipp Bückle ist eigentlich einer,<br />
von dem man eine Party-Reihe wie „Eurodance“<br />
gerade nicht erwartet. In den Tagen seiner<br />
musikalischen Sozialisation war jener Sound für<br />
ihn schließlich der Staatsfeind Nummer Eins:<br />
Von punkiger Gitarrenmusik kommt er her, seit<br />
Mitte der 90er veröffentlich er <strong>als</strong> „team|forest“<br />
intelligente elektronische Klänge auf Liebhaberlabels<br />
wie Morr Music oder Aesthetics und macht<br />
inzwischen hauptberuflich Musik.<br />
Und doch legt er <strong>als</strong> DJ bei Abenden auf, die<br />
von ironiefesten Akademiker-Hipstern genauso<br />
besucht werden wie von voll tätowierten Hardcorejüngern<br />
mit Attitüde und echten Fans mit<br />
Strähnchen und Lebensalter. Wie kommt das?<br />
„Ich habe immer auch Partymusik aufgelegt und<br />
dabei festgestellt, dass ‚Musik, die jeder kennt‘<br />
einfach gut läuft. Wir haben dann gelegentlich<br />
diese ‚Special’-Abende gemacht, etwa zu Karneval<br />
oder <strong>als</strong> Borussia Meister wurde.“ Diese Musik,<br />
die jeder kennt, sind Knaller wie „I Like To Move<br />
It“, Hüpfmusik von den Rednex oder Whigfields<br />
„Saturday Night“.<br />
Bückle spricht manchmal von „schwer auszuhaltender<br />
Musik“, sieht bereits die Kelly Family am<br />
Horizont erscheinen und schwärmt doch von<br />
der Stimmung bei den Partys. Fast alle Gäste<br />
wünschen sich Songs, inzwischen geht schon ein<br />
Klemmbrett durch die Reihen zum Notieren der<br />
Hits, Hits, Hits. Wie lange das wohl zu erleben<br />
sein wird, vermag der DJ nicht zu beurteilen.<br />
„Die Ü30-Partys gibt es jetzt schon ewig, mit den<br />
Eurotrash-Abenden sind wir erst am Anfang<br />
der Welle.“ Es bleibt <strong>als</strong>o abzuwarten, ob dieses<br />
tendenziell regressive Phänomen Bestand<br />
haben wird, oder ob es nur ein kurzes, spaßiges<br />
Gastspiel in der immer schnelleren Folge der<br />
Retro-Wellen ist. Zum Glück ziehen sich die Partygäste<br />
wenigstens nicht so an wie dam<strong>als</strong>. ◆<br />
Eurodance<br />
jeden 1. Samstag im Monat ab 23 Uhr<br />
Silent Sinners, Rittershausstr. 65, 44137 Dortmund
www.ruhr2010.dortmund.de<br />
nectar
heimatlust | nr. 5<br />
Bergmann Bier<br />
Über den Durst<br />
text Jan-Peter Wulf | fotografie Julia Reschucha<br />
Jahre nach dem Niedergang von Dortmunds Ruf <strong>als</strong> Bierstadt<br />
braut einer ein Bier in Kleinauflage – die Branche hält das für<br />
eine Schnapsidee. So kann man irren.<br />
Akkurater Haarschnitt, kariertes Hemd, sympathisches<br />
Auftreten, Doktortitel im Fach Mikrobiologie:<br />
Einen verrückten Menschen stellt man<br />
sich irgendwie anders vor. Doch <strong>als</strong> Thomas<br />
Raphael Branchenkennern von seiner Idee erzählte,<br />
ein Mikrobier auf den Markt zu bringen,<br />
hieß es: Total verrückt sei er, ein Spinner. Ohne<br />
großen Industriepartner im Rücken? Ohne<br />
Marketingkonzept? In kleinen Mengen? Und<br />
dann auch noch ein Exportbier? Das trinkt doch<br />
keiner mehr. Funktioniert doch alles nicht.<br />
70<br />
„Man muss sich an etwas herantrauen, das<br />
eigentlich gar nicht geht. Das hat mir ganz neue<br />
Perspektiven eröffnet“, berichtet Thomas Raphael.<br />
Auch in Bezug auf Dortmund. Dort gefiel<br />
seine Idee, ein eigenes Vintage-Bier zu brauen.<br />
Die Stadtväter ließen speziell für das Unternehmen<br />
Bergmann einem alten Kiosk am Hohen<br />
Wall, schmuckes Relikt aus den Fünfzigern, neues<br />
Leben einhauchen. Ein Dachdecker stellte<br />
dem Team spontan seinen stilechten Kleinlaster<br />
(Barkers Framo, Baujahr 1961) zur Verfügung.<br />
Rund 50 Läden und zahlreiche Gastronomien<br />
verkaufen das Bier mittlerweile. Es gibt es ein<br />
Bergmann-Brot und sogar ein Bergmann-Eis.<br />
Regelmäßig treffen E-Mails von Leuten ein, die<br />
dem Bier zu weiterem Erfolg verhelfen wollen.<br />
Ehrenamtlich. „Es sind die vielen kleinen Punkte<br />
der Unterstützung, von denen unsere Idee lebt“,<br />
so Raphael. Noch während wir uns am Bergmann-Kiosk<br />
unterhalten, tritt ein örtlicher Büdchenbesitzer<br />
auf Thomas Raphael zu und fragt,<br />
fast etwas verschüchtert, ob auch er Bergmann<br />
verkaufen dürfe.<br />
Da kommen Erinnerungen an große Zeiten<br />
hoch: Dortmund war mal die Bierstadt Nummer<br />
Eins in Europa. 1796 gegründet, verkaufte die<br />
Bergmann Brauerei ihr Bier bis in die frühen<br />
70er Jahre in der Stadt und hatte, <strong>als</strong> kleinste der<br />
acht städtischen Brauereien, stets einen festen<br />
Nischenplatz neben den großen Marken. Als<br />
dann alle Betriebe dicht gemacht oder von Kon-<br />
zernen geschluckt wurden, verschwand auch die<br />
Marke Bergmann von der Bildfläche.
2005 wurde sie vom zwischenzeitlichen Eigentümer,<br />
der Union-Ritter Brauerei, endgültig aufgegeben.<br />
Lichter aus. Doch schon nach kurzer<br />
Zeit gehen die Lichter wieder an: Mehr durch<br />
Zufall stößt Thomas Raphael im Markenregister<br />
auf den Löschungsvermerk. Eigentlich hatte er<br />
dort etwas ganz anderes gesucht. Prompt sichert<br />
er sich die Rechte – „ohne wirklich zu wissen,<br />
was man damit anfangen soll.“<br />
Erst dann keimt die Idee, selbst Bierbrauer zu<br />
werden. Zusammen mit Freunden setzt er die<br />
ersten Sude auf, Gebräue im wahrsten Sinne,<br />
denn die Bergmann-Originalrezepte sind nicht<br />
mehr verfügbar. Also entwerfen die Bergmann-<br />
Pioniere in umliegenden Kleinbrauereien eigene<br />
Kreationen in Anlehnung an klassische Sorten<br />
wie Pils, Schwarzbier oder Export – einst der<br />
Biertypus der Stadt schlechthin. „Wenn sich herausgestellt<br />
hätte, das wird nichts, dann hätten wir<br />
den Rest eben selbst ausgetrunken.“ Doch das<br />
Ergebnis schmeckt nicht nur ihnen, sondern<br />
vielen freiwilligen Testern. Nächste Aufgabe:<br />
der Auftritt der „Marke Eigenbrau“. Dafür geht<br />
es erst einmal in das private Archiv von Theo<br />
Sobkowiak, einem fleißigen Sammler alter<br />
Bergmann-Requisiten vom Bierdeckel bis zur<br />
Leuchtreklame.<br />
Ein wunderbares Sammelsurium, leider ohne<br />
stringentes Corporate Design: „Das Logo und<br />
die Schriften wurden von den alten Markeninhabern<br />
sehr oft gewechselt oder durcheinander<br />
verwendet“, erklärt Nardin Moadel. Die<br />
Diplom-Designerin vereint im neuen Etikett das<br />
traditionelle, kräftige Rot, die Buchstaben DBB<br />
(für Dortmunder Bergmann Bier) sowie Hammer<br />
und Schlägel <strong>als</strong> Symbole des Bergbaus. Das<br />
ist alles. Das reduzierte, farbintensive Design<br />
gibt den Flaschen eine enorme Fernwirkung.<br />
Schließlich ist die <strong>Gestaltung</strong>smaxime „weniger<br />
ist mehr“ bei Bier-Etikettierungen eher Ausnahme<br />
denn Regel.<br />
Auch mit neuen Flaschenmodellen, die die bis-<br />
lang genutzten Standardflaschen ergänzen oder<br />
ersetzen könnten, liebäugelt das Bergmann-<br />
nr. 5 | heimatlust<br />
Team. Zum Beispiel mit weinflaschenartigen<br />
Formen oder Bügelflaschen in Sondergrößen.<br />
Kostspielige Umrüstzeiten und Spezial-<br />
Abfüllmaschinen, die es bis dato nur fernab des<br />
Verkaufsgebiets gibt, lassen diese Pläne vorerst<br />
Visionen bleiben. Aber in der eigenen Braustätte,<br />
die gerade in der Dortmunder Schäferstraße<br />
entsteht, werden sich die „Bergmänner“ bald so<br />
richtig austoben können. Ein neues, altes Bier<br />
ist bereits in Planung: „Es heißt Adambier und<br />
stammt aus dem Mittelalter“, verrät Thomas<br />
Raphael. Mittelalter? Total verrückt. Funktioniert<br />
doch alles nicht. ◆<br />
Bergmann-Kiosk: Hoher Wall 36, mo-fr 16-20,<br />
sa 10-20 Uhr<br />
www.bergmann-bier.de<br />
71
heimatlust | nr. 5<br />
Ortsbegehung<br />
Brauerei der Schelme<br />
text Grobilyn Marlowe | fotografie Thomas Skroch<br />
Zwei Adlige namens Gisbert, ein torkelnder Hans Albers, eine<br />
antike Brauerei, mutige belgische Kriegsgefangene und der Strukturwandel<br />
im Ruhrgebiet: Im alten Gut Brünninghausen am<br />
Eingang des Dortmunder Rombergparks laufen die Fäden zusammen.<br />
Geballte Ruhrpotthistorie trifft hier auf westfälische<br />
Schnurren, politischer Irrweg auf den wachsenden Widerstand<br />
der Steuerzahler.<br />
Wenn man die Treppe der U-Bahnhaltestelle<br />
„Rombergpark“ hinabsteigt, liegt es gleich zur<br />
Linken: Ein Ensemble aus fast 200 Jahre alten<br />
Gebäuden in einer seltenen Mischarchitektur<br />
aus den Anfängen der Industriellen Revolution.<br />
Von dem ursprünglichen Gutshof erhalten sind<br />
u.a. ein villenartiges Herrenhaus, Stallungen,<br />
eine Schmied-Wohnung sowie ein rotgeziegeltes<br />
Brauereigebäude samt Katakomben. Erbauen<br />
lassen hat dies alles um 1820 Freiherr Gisbert I.<br />
von Romberg (1778-1859), <strong>als</strong> Ergänzung zu sei-<br />
nem heute nicht mehr erhaltenen Schloss. Gisbert<br />
I. residierte hier bis zu seinem Tod <strong>als</strong> ziem-<br />
72<br />
lich reicher Adliger, Bergwerksbesitzer, Politiker<br />
und Reformer. Nicht nur der eigentliche Tiefbau<br />
wurde auf seinen Zechen begründet, er war es<br />
auch, der 1799 die erste Dampfmaschine aufstellen<br />
ließ. Der erste Strukturwandel von Landwirtschaft<br />
zur Industrie war eingeleitet. Sein wilder<br />
Enkel und Erbe, Gisbert II. (1839-1897) verstand<br />
Opas Reichtum zwar zu mehren – schmiss aber<br />
mit der Kohle nur so um sich.<br />
Gern zerdepperte er bei seinen volksnahen Gela-<br />
gen sämtliches Geschirr, zerschoss die Scheiben<br />
seines Schlosses, raste mit seinem Gespann über<br />
Stock und Stein und foppte die anderen Adligen,<br />
wo er nur konnte. Heute ist er landesweit legen-<br />
där und gilt <strong>als</strong> westfälisches Äquivalent zu<br />
Eulenspiegel und Münchhausen (und so ganz<br />
nebenbei auch <strong>als</strong> Erfinder des Dortmunder<br />
Rennsports): „Der Tolle Bomberg“ nannte<br />
Joseph Winckler ihn in seinem Roman, der<br />
in den fünfziger Jahren mit Hans Albers und<br />
Harald Juhnke äußerst berauschend verfilmt<br />
wurde. Doch das Gut weist noch andere historische<br />
Bezüge auf. Während des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
waren hier belgische und französische<br />
Kriegsgefangene interniert. Die erlaubten sich<br />
eine dam<strong>als</strong> lebensgefährliche Schelmerei: 1943<br />
verewigten sie sich und die belgische Krone<br />
mit Hammer und Meißel im Sandsteinbogen<br />
der Brauerei. Man kann ihre Namen noch heute<br />
dort lesen. Ob das so bleibt, ist fraglich. Dem Gut<br />
droht laut städtischem Wirtschaftsförderungsbericht<br />
der Komplett-Abriss, wenn ein zukünftiger<br />
Wellness-Investor es denn so wünscht. Eine<br />
Bürgerinitiative läuft dagegen Sturm: Wären die<br />
faszinierenden Gemäuer restauriert nicht ein<br />
genialer Ort, sich im Jahr 2010 <strong>als</strong> echte Kulturhauptstadt<br />
zu präsentieren? Der Tolle Bomberg<br />
hatte dam<strong>als</strong> jedenfalls schon ein passendes<br />
Trinklied: „Wir bleiben, was wir waren, der<br />
Schrecken der Barbaren.“ ◆
heimatgedanke | nr. 5<br />
Marke Eigenbau<br />
Die Revolution des<br />
Selbermachens<br />
text Jan-Peter Wulf | illustration Annika Janssen<br />
Raus aus den Kellern:<br />
Handwerken ist sexy!<br />
74<br />
Do it yourself: einst belächelt, jetzt begehrt. Das<br />
Web 2.0 macht möglich, dass handgemachte<br />
Lampen, Stofftiere, Schmuckstücke, Schuhe und<br />
viele andere Dinge heutzutage weltweit erstan-<br />
den werden können. Ein Webshop lässt sich <strong>als</strong><br />
Plugin kinderleicht auf dem eigenen Blog installieren,<br />
große Reichweiten für Selbstgemachtes<br />
bieten einschlägige Portale wie DaWanda oder<br />
Etsy. Mit dem Phänomen, das Holm Friebe<br />
(Mitautor von „Wir nennen es Arbeit“) und<br />
Thomas Ramge (schreibt u.a. für brand eins) in<br />
ihrem Buch „Marke Eigenbau“ beschreiben,<br />
verhält es sich ein bisschen wie mit der neuen<br />
Hinwendung zur Ökologie: früher kratzender<br />
Idealismus in Schafwollsocken, heute salonfähiger<br />
Pragmatismus in selbst entworfener Eco-<br />
Chic-Kleidung. Früher schrulliges Selbstbau-<br />
Liegerad, heute liebevoll handgefertigte Holzfahrräder<br />
für den Nachwuchs.<br />
Das Buch dazu ist Hintergrundliteratur für den<br />
gut sortierten Werkzeugkasten – voller Beispiele<br />
und Erfolgsgeschichten. Die Marke Eigenbau,<br />
sagen Friebe und Ramge, schüttelt die Welt der<br />
Massenproduktion kräftig durch: Skalen- und<br />
Verbundeffwekte, früher Vorteile auf Fabrikseite,<br />
stechen nur noch bedingt. Jetzt trumpfen die<br />
Kleinen: Wir machen es besser, schöner, in-<br />
dividueller. Oft auch teurer. Aber das wird ge-<br />
würdigt: Denn die Selbermacher verschleiern<br />
die Herstellung nicht mehr, sondern legen sie<br />
offen, machen Wertschöpfung und Wert sichtbar.<br />
„True Economy“ heißt das Stichwort. Oder<br />
„Fabrikation Open Source“.<br />
Das birgt Möglichkeiten über unsere direkte<br />
Umgebung hinaus: Offene Bauanleitungen für<br />
lokal benötigte Produkte, hergestellt von DIY-<br />
Teams vor Ort, könnten eine zeitgemäße<br />
Variante der Entwicklungshilfe werden, die<br />
früher nur Waren anlieferte. Schon jetzt gibt es<br />
in Regionen, die von den Güterzyklen der<br />
Welt abgeschnitten scheinen, so genannte „fab<br />
labs“: kleine Labore, in denen mit modernster<br />
Technologie beispielsweise Ersatzteile für<br />
Fahrzeuge hergestellt werden. Da bekommt der<br />
abgenutzte Begriff der Selbsthilfe auf einmal<br />
ganz neuen Glanz. ◆<br />
Holm Friebe, Thomas Ramge: Marke Eigenbau.<br />
Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion.<br />
Campus Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Ansprechpartner, viele Experten...<br />
Der Mittelstand ist<br />
der wichtigste Impulsgeber<br />
für Wirtschaftswachstum<br />
und Innovation.<br />
Wir fördern ihn seit<br />
unserer Gründung.<br />
http://dovoba.mobi www.dovoba.de<br />
Das Ergebnis:<br />
Eine gewachsene,<br />
enge Partnerschaft,<br />
in der wir unsere Ziele<br />
gemeinsam erreichen.
heimatgedanke | nr. 5<br />
Essen Hauptbahnhof<br />
Die Ästhetik des<br />
Übergangs<br />
text Volker K. Belghaus | fotografie Marc Hinz<br />
Das Ziel ist der Weg: Der Essener Hauptbahnhof wird bei laufendem<br />
Betrieb umgebaut, was zu gewissen Irritationen führt.<br />
Richtung Freiheit geht’s nach links. Eigentlich.<br />
Erst mal ist nämlich kein Durchkommen zu die-<br />
sem Platz hinter dem Essener Hauptbahnhof,<br />
dessen U-Bahn-Zugänge bis vor kurzem mit<br />
Würstchenbuden und kargem Restgrün umstellt<br />
waren. Es braucht schon Fantasie, eine urbane<br />
Mittelmäßigkeit wie diese „Freiheit“ zu nennen.<br />
Der direkte Weg dorthin ist durch eine hohe<br />
Bretterwand versperrt – darauf ein Plakat: Ein<br />
surrealistischer Comic-Maulwurf in Trenchcoat<br />
und Hütchen, der einen Hund Gassi führt, steht<br />
vor einem Lageplan. „Wir bauen für sie!“<br />
76<br />
Ja, schön. Abgesehen davon, dass man lieber<br />
nicht wissen möchte, welchem Hirn dieses biedere<br />
Bahn-Baustellenmaskottchen entwichen<br />
ist – ist denen schon mal aufgefallen, dass ein<br />
Maulwurf zwar buddelt, aber gleichzeitig blind<br />
wie die Nacht ist? Unter dem Plakat hocken<br />
zwei gleichgültige, dönerkauende Jugendliche;<br />
nebenan, bei McDonald’s, ein Aushang: Heute<br />
kein Kaffee wegen defekter Maschine. Nicht<br />
einmal darauf ist noch Verlass.<br />
Der Essener Hauptbahnhof ist seit einigen Monaten<br />
ein Ort der Veränderung. Schöner soll er<br />
werden und heller – kulturhauptstadtiger eben.<br />
Das bedeutet Komplettumbau bei laufendem<br />
Betrieb. Trotz Baustelle werden weiterhin täglich<br />
rund 150.000 Fahrgäste durch die Baustelle ge-<br />
lotst, müssen Umwege gehen und täglich neue<br />
Überraschungen erleben. Wo gestern noch der<br />
Zugang zum Gleis möglich war, enden Wege<br />
heute im Nichts. Die Menschen legen eine<br />
zielstrebige Orientierungslosigkeit an den Tag;<br />
sie erregen sich laut oder ertragen es stumm.<br />
Aber man kann sich ja durchfragen. Im Zugang<br />
der S-Bahngleise hinter McDonald’s stehen zwei<br />
Mitarbeiter der Bahnhofsmission unter einer<br />
defekten Uhr, die mit Klebeband „durchgestrichen“<br />
wurde. Auf den blauen Thermowesten<br />
prangt das Missionskreuz; ist es schon so weit<br />
gekommen? Hilft jetzt nur noch beten? Nein,<br />
die beiden machen sich ganz weltlich nützlich,<br />
geben Auskunft oder tragen Kinderwagen an die<br />
Gleise.<br />
„Ich hab mich so an dich gewöhnt“ sang die Knef<br />
vor Jahren, und wie mit Lebenspartnern scheint<br />
es auch mit Gebäuden zu sein: Es wird einem<br />
doch melancholisch zumute, wenn etwas verän-<br />
dert oder abgerissen wird. So ist der geschlossene<br />
Kiosk auf Gleis 11 zum Pausenraum für die<br />
Bauarbeiter geworden. An der Tür hängt noch<br />
der Abschiedsgruß der Vorgänger, die sich bei<br />
den Kunden „für das jahrelange Vertrauen“ be-<br />
danken. In der angeschlossenen Trinkhalle stan-<br />
den vor dem Umbau schon morgens jene Men-<br />
schen mit zuviel Zeit beim Bier in der zugequalmten<br />
Stehtischgemütlichkeit. Die Bahnsteige<br />
davor haben sich (noch) wenig verändert,
nr. 5 | heimatgedanke<br />
auf den gesperrten Treppen liegt Baustaub, von<br />
unten lärmen die Bohrhämmer. Es fehlt der typische<br />
Bahnhofsgeruch, dieser warme Bratwurst-<br />
Döner-Pommes-Kaffee-Drogerie-Dampf. Den<br />
Bäcker Kamps haben sie passenderweise in der<br />
ehemaligen DB-Betriebskantine untergebracht;<br />
turnhallengroß, mit Wänden in Klinkeroptik und<br />
der Atmosphäre eines Gemeindezentrums der<br />
80er Jahre.<br />
An der ehemaligen „Freiheit“, die bald ganz anders<br />
aussehen soll, sind die Buden verschwunden.<br />
Am Parkhaus brüllt ein fassadenhohes Pla-<br />
kat den Betrachter an, dass der Spieltreff trotz<br />
Umbaus geöffnet sei und weist mit einem<br />
riesigen Pfeil auf den Eingang eines Automatencasinos,<br />
das leider nicht dem Bagger anheim fiel.<br />
Ein Stück Asphalt ist quadratisch abgesperrt;<br />
außer einem Berg trockenen Laubs ist aber<br />
nichts zu sehen. Könnte Kunst sein, ist aber in<br />
seiner Sinnlosigkeit fast schon wieder rührend.<br />
Ein kleiner Stillstand in der Bahnhofshektik.<br />
Das Alte verschwindet, das Neue ist noch nicht<br />
ganz erkennbar. Diese Phase des Übergangs<br />
erzeugt eine ganz eigene, improvisierte Ästhetik<br />
des Gegenwärtigen. Die Kofferrampen, die mit<br />
ein paar Schaufeln Teer an den Bordsteinkanten<br />
aufgehäuft wurden, werden bald der Vergangenheit<br />
angehören. Richtig schön ist das alles nicht,<br />
aber wenn alles fertig ist, werden solche Eingriffe<br />
in den öffentlichen Raum nur noch Erinnerung<br />
sein. Wehmut? Das dann doch nicht. Eher die<br />
Trauer der Vollendung. ◆<br />
77
heimatgedanke | nr. 5<br />
Martinis<br />
Monstergeschichten<br />
78<br />
Das Monster und die Wahrheit<br />
„Warum hast du mich angelogen?” fragte der<br />
Dachs.<br />
„Ich bin nicht schwindelfrei”, sagte das Monster.<br />
•<br />
Das Monster zeigt sich tolerant<br />
Auf heiße Badetage oder lauschige Sommernächte<br />
hatte man in diesem Jahr vergeblich ge-<br />
wartet. Nach der allgemein <strong>als</strong> zu feucht empfundenen<br />
Jahreszeit, nach kühlen wie trüben<br />
Monaten August und September, färbten sich<br />
die ersten Blätter erst weit nach kalendarischem<br />
Herbstanfang rot.<br />
„Na endlich”, seufzte erleichtert der Fuchs, der<br />
seiner Meinung nach sowieso und jährlich über<br />
einen viel zu langen Zeitraum koplementärfarben<br />
durch Wald und Wiese schnüren musste<br />
und wünschte sich nichts lieber, <strong>als</strong> ein grünes<br />
Fell ab Mai und für den ganzen Sommer.<br />
„Meinetwegen, soll er doch machen”, gab sich<br />
das Monster konziliant. „Hauptsache, es beeinflusst<br />
nicht den Geschmack.”<br />
•<br />
Das Monster und die Hasen<br />
„Natürlich”, sagte der Dachs, „wenn du es so<br />
siehst, ist Morgenstern eher etwas für Weicheier.”<br />
Er gab dem Monster ein Paket echt fieser<br />
hardboiled Krimis mit, die es Abend für Abend<br />
verschlang. Es dauerte knapp zwei Wochen,<br />
dann träumte es nicht mehr in breitwandigem<br />
Technicolor, sondern in den harten Schwarz-<br />
Weiß-Kontrasten des film noir. ‚Geschafft‘,<br />
dachte das Monster kühl, <strong>als</strong> es am Morgen des<br />
dreizehnten Tages wach wurde. Kalter Niesel<br />
prasselte von bleigrauem Himmel aufs Dach.<br />
Das Monster frühstückte schwarzen Kaffee in<br />
sehr wenig Wasser und dazu Toastbrot mit Tabasco.<br />
Dann verließ es das Haus. Der Wind trieb<br />
jetzt Schneeflocken vor sich her. Das Monster<br />
streckte seine Pranke aus, eine Flocke landete,<br />
ohne zu schmelzen, unter eisblauen Blicken.<br />
Kaltblütig wie es war, schritt es aus und auf den<br />
Bau der Hasen zu.<br />
„Hallo Monster”, sagte der Hasenpapi.<br />
„Hallo Hasenpapi”, sagte das Monster.<br />
„Hallo Monster”, sagte die Hasenmami.<br />
„Hallo Hasenmami”, sagte das Monster.<br />
„Hallo Monster”, schrien fünf kleine Häschen im<br />
Chor.<br />
„Hallo Häschen”, sagte das Monster, „verdammt,<br />
ich bringe es einfach nicht fertig.”<br />
Zum Trost fraß es den Fuchs.<br />
„Danke, liebes Monster”, sagten die Häschen.<br />
Auch das noch.<br />
•<br />
Das nicht existierende Monster<br />
Der Tag begann gut für den kleinen Cockerspaniel.<br />
Die Sonne schien und er durfte zeitig<br />
raus um auf der Wiese vor dem Haus zu spielen.<br />
Mutig verbellte er den Briefträger und anschließend<br />
jagte er die getigerte Nachbarskatze. Dabei<br />
sprang er übermütig über den niedrigen Zaun,<br />
der den Garten begrenzte. Die Katze konnte fliehen,<br />
aber er entdeckte das Kaninchen, das aufs<br />
offene Feld flüchtete. Das verflixt schnelle Tier<br />
schlug Haken und raste mit einen Affenzahn<br />
auf ein niedriges Gebüsch am Rand des Ackers<br />
zu. Um Haaresbreite entkam es in seinem Bau.<br />
Schade, aber ein früher Schmetterling lenkte den<br />
kleinen Hund ab. Der taumelte knapp über dem<br />
Boden durch die warme Frühlingsluft. Beherzt<br />
setzte der Spaniel zum Sprung an, aber er konnte<br />
das im Licht bunt schillernde Flattermännchen<br />
nicht erwischen. Egal, Spaß machte es trotzdem<br />
und dann hatte er mit einem Mal die würzige
Witterung von Rebhuhn in der Nase. Der folgte<br />
er, bis er an den Waldrand kam. Dort verlor sich<br />
zwar diese Spur, aber tausend und ein anderer<br />
Duft lockten ihn immer tiefer in den Wald. Bis er<br />
merkte, dass er sich verlaufen hatte.<br />
Er versuchte, auf der eigenen Fährte zurückzufinden,<br />
aber da waren so viele Düfte und Gerüche,<br />
die ihn verwirrten. Ängstlich schaute er sich um.<br />
Panik kam auf. Dunkel und drohend standen<br />
mächtige Bäume um ihn herum, tief hingen die<br />
Zweige der Fichten, er spürte feuchtes Moos und<br />
glitschigen Moder an den Pfoten. Und er hatte<br />
schon so viel vom Monster gehört, dass es auch<br />
Hunde fressen würde, dass es sogar die schnellen<br />
Windhunde gejagt, gefangen und verschlungen<br />
habe. Und schlimmeres. All die Geschichten fielen<br />
ihm wieder ein, die man ihm in Welpentagen<br />
vorgelesen hatte. Aber der Cockerspaniel wusste,<br />
dass das Märchen waren, die nur erzählt wurden,<br />
um kleinen Hunden Angst zu machen. Damit sie<br />
nicht allein in den Wald liefen.<br />
Jetzt war er im Wald. Ein Wind kam auf und trieb<br />
raschelnd altes Laub vom letzten Herbst vor<br />
sich her. War der Wind nicht unnatürlich kalt?<br />
Spürte er nicht den eisigen Griff? Der nach<br />
ihm griff?<br />
„Äh... griff griff ”, lachte der gefleckte Stöberhund<br />
hysterisch, „griff griff ”, ging es in ein schrilles<br />
Bellen über.<br />
„Es gibt gar keine Monster”, sagte er sich.<br />
„Monster existieren nicht. Nur im Märchen gibt<br />
es die.” Er versuchte, sich zu beruhigen. Plötzlich<br />
knackte es hinter ihm im Unterholz. Der Cockerspaniel<br />
zuckte zusammen, drehte sich um. Ein<br />
roter Blitz raste auf ihn zu, drehte im letzten<br />
Moment ab und hetzte senkrecht den Stamm<br />
einer Buche empor. „Ein Eichhörnchen”, entfuhr<br />
es dem Hund. „Das hatte bestimmt genau so<br />
viel Angst wie ich. Da haben wir aber beide Glück<br />
gehabt.” Das Herz schlug ihm dennoch bis zum<br />
H<strong>als</strong> und er zitterte am ganzen Leib. „Es gibt<br />
keine Monster, es gibt keine Monster, gibt keine<br />
Monster, gibt keine Monster”, wiederholte er<br />
immerfort, murmelte es <strong>als</strong> Sedativum mantraartig<br />
vor sich hin.<br />
Dann fraß ihn der Bär.<br />
Das Monster <strong>als</strong> Hypochonder<br />
„Bei den Kühen ist das Fleckfieber ausgebrochen”,<br />
sagte der Kräuterdachs. „Du könntest dich<br />
mal nützlich machen und mir helfen.”<br />
Das Monster kam, sah und siechte.<br />
•<br />
Das Monster und die<br />
Wollhandkrabbe<br />
Bei einem Abendspaziergang bei Ebbe am Meer<br />
stolperte das Monster über einen verfilzten<br />
Klumpen aus blau-weißem Material, fand keinen<br />
Anfang und kein Ende, aber komische Sachen<br />
darin. Es bückte sich, das Knäuel näher zu<br />
untersuchen.<br />
„Hallo Monster”, sagte die Wollhandkrabbe, die<br />
über den nassen Sand gelaufen kam.<br />
„Hallo Wollhandkrabbe”, sagte das Monster.<br />
„Was ist das?”<br />
„Seemannsgarn”, erwiderte die Krabbe, „Soll ich<br />
dir einen Matrosen stricken?”<br />
„Warum nicht”, entgegnete das Monster.<br />
Das Krustentier begann, behend bewegten sich<br />
die beiden Scheren und in kurzer Zeit war das<br />
Werk vollbracht.<br />
„Ahoi Monster”, sagte der Matrose, fand ein<br />
Boot und stach in See.<br />
„Es geschehen Dinge am Meer, die glaubst du<br />
nicht”, erklärte das Monster später dem Dachs.<br />
•<br />
Das Monster und das<br />
gefundene Fressen<br />
Der Fuchs.<br />
nr. 5 | heimatgedanke<br />
79
heimatgedanke | nr. 5<br />
Birgit Graf<br />
Brief aus Berlin<br />
text Birgit Graf | illustration Thomas Armborst | portrait Dirk Rose<br />
Als ich nach Berlin umzog, war ich sehr erstaunt:<br />
In vielen Gesprächen mit Freunden und Be-<br />
kannten aus dem Ruhrgebiet musste ich herausfinden,<br />
dass einem Umzug in diese Stadt immer<br />
etwas nahezu Ideologisches zugrunde gelegt<br />
wird. Meine Gründe hingegen waren so banal,<br />
dass mir oftm<strong>als</strong> unterstellt wurde, ich würde<br />
meine wahren Beweggründe verschweigen.<br />
Tatsache ist, ich bin ein sehr ortsgebundener<br />
Mensch und ich kann noch heute guten Gewissens<br />
behaupten, ich hätte in Dortmund alt<br />
werden mögen. Ich glaube, vielen Bewohnern<br />
dieser etwas seltsamen Stadt ist überhaupt nicht<br />
klar, wie schön es dort ist. Regelmäßig, wenn<br />
ich zu Besuch bin, wandere ich stundenlang um-<br />
her und erfreue mich wahllos an allem, was ich<br />
sehe. Ein Sommer in Berlin ist aber tatsächlich<br />
etwas Tolles. Man kann jeden Tag zu einem<br />
anderen See fahren, in Parks rumlungern und<br />
Schiffen nachschauen. Wenn man sich jedoch<br />
darüber schlau machen möchte, was gerade<br />
getragen wird, so wird man zunächst in eine<br />
unbegrenzte Zahl an Sackgassen gejagt, gefüllt<br />
mit Klischees und Vorurteilen. Jeder Stadtteil ist<br />
ein Modeghetto. Kreuzberger gehen nicht zu den<br />
Zecken nach Friedrichshain, Neuköllner nicht<br />
nach Mitte, Ossis nicht in den Westen und so<br />
weiter.<br />
In Friedrichshain tragen die Menschen Bundeswehrchic<br />
mit Sebstgestricktem und oft bis in den<br />
späten Herbst hinein keine Schuhe. In Kreuzberg<br />
gibt es mehr Bioläden <strong>als</strong> Menschen, doch<br />
die sind in diesem Winter besonders schön.<br />
Oft wird die enge Jeans, die auch hier nicht<br />
totzukriegen ist, zu Hause gelassen und durch<br />
schwarze Strumpfhosen mit kurzen bunten<br />
Stoffröcken ersetzt, kombiniert mit schlichten<br />
80<br />
schwarzen Stiefeln bis knapp über die Waden.<br />
Selbst die bunte Inkamütze mit Ohrenschützern<br />
kann mich nicht stören. Und sogar die Männer<br />
sehen irgendwie gut aus. Wer schöne Menschen<br />
sehen will und nur einem Tag Zeit hat, sich in<br />
Berlin umzusehen, dem empfehle ich einen<br />
langen Spaziergang durch Kreuzberg. Doch wer<br />
wirklich was erleben will, der fährt nach Mitte,<br />
vorrausgesetzt, er hat sehr viel Humor. Dieser<br />
Stadtteil ist voll mit Fashionvictims à la Victoria<br />
Beckham: Leute, die Geld haben, aber eben<br />
nicht die geringste Ahnung, wie man den ganzen<br />
teuren Quatsch tragen soll. Hier kann man<br />
sehen, was garantiert nicht hip werden wird.<br />
Ein weiteres Phänomen ist der Prenzlauer Berg,<br />
der schon seit einiger Zeit ‚Pregnancy Hill’<br />
genannt wird, was ich richtig doof finden würde,<br />
wenn es nicht so sehr stimmen würde. Dieser<br />
Stadtteil ist ein riesiges Reiche-Mädchen-<br />
Zimmer. Ihre Männer tragen weite braune oder<br />
graue Anzüge, sie selbst und ihre ein bis zwei<br />
Kinder sehen aus wie ökologisch gefärbtes<br />
Holzspielzeug. Ein Spaziergang durch Prenzlauer<br />
Berg ist ein bisschen wie ein Zoobesuch, in dem<br />
Sinne, dass man es gerne mal sehen würde, aber<br />
auch nicht stören will. Die zwei lustigsten Dinge<br />
sind mir dann aber doch in Neukölln aufgefallen:<br />
Der 16-jährige Junge trägt Vokuhila-Iro mit<br />
Strähnchen, was mich erfreulich an die Schwulenbewegung<br />
der frühen Achtziger erinnert.<br />
Das zweite ist das Ensemble aus Chucks und<br />
engen Jeans, das bei Jugendlichen im Mainstream<br />
gelandet ist, bei den Alternativen, genau<br />
wie zur meiner Zeit, aber auch immer noch<br />
getragen wird. Bewegung und Gegenbewegung<br />
sehen gleich aus, vielleicht mit dem kleinen Unterschied,<br />
dass die Modebewussten die Schuhe<br />
wegschmeißen, wenn sie Löcher kriegen, und<br />
die anderen sich erst dann damit raustrauen. Am<br />
Ende weist nun wirklich nichts darauf hin, dass<br />
es irgendwann mal langweilig werden könnte.<br />
Und wenn doch, ignorieren wir es.
www.macht–mich–schlau.de
Impressum<br />
<strong>Heimatdesign</strong> – Winter 2008/2009<br />
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Kleppingstr. 47,<br />
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Schlussredaktion<br />
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Art Direktion und Bildredaktion<br />
<strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!<br />
(bandefuergestaltung.de)<br />
dasa-workflow-heimatdesign.qxd 13.10.2008 16:49 Uhr Seite 1<br />
J U N G E V I D E O - K U N S T I N D E R D A S A<br />
Sehschärfe: Die Welt hinter dem Bildschirm entdecken<br />
10 Videos und eine Installation reflektieren Mensch<br />
und Gesellschaft in der medialen Gegenwart<br />
5. September 2008 – 4. Januar 2009<br />
DASA<br />
Friedrich-Henkel-Weg 1–25, 44149 Dortmund<br />
Telefon 0231 9071-2479 (Information)<br />
Telefon 0231 9071-2645 (DASA-Terminbüro)<br />
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Typografie „Klebo“ (Überschriften)<br />
Elena Schneider (radau-gestaltung.de)<br />
Titelbild<br />
Mark Ansorg<br />
Autoren dieser Ausgabe<br />
Sascha Abel, Volker K. Belghaus, Petra Engelke<br />
(p-eng.de), Wolfgang Kienast (Martini), Nina<br />
Maaßen, Grobilyn Marlowe, Mario Schulte<br />
(Birgit Graf), Tom Thelen, Tanja Wißing,<br />
Jan-Peter Wulf<br />
Fotografen dieser Ausgabe<br />
Mark Ansorg (markansorg.de), <strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong><br />
<strong>Gestaltung</strong>!, Marc Hinz (marchinz.com),<br />
Anna Kopylkow (photodesign-kopylkow.de),<br />
Reza Nadji (studiozirkus.de), Jens Oellermann<br />
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