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Download Heimatdesign Nr.5 als PDF - Bande - Für Gestaltung!

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HEIMATDESIGN<br />

Hochzeitsmekka<br />

Marxloh<br />

Anke Bernotat<br />

über Industriedesign<br />

Mario Lombardo<br />

über die Emscher<br />

Winter 2008/2009 Nr. 5<br />

Modestrecken: yvonne wadewitz Schwarzwaldkirsch FYM Mazine


BRIDGES<br />

Fotoprojekt Emscher Zukunft<br />

www.bridges-projects.com<br />

REDESIGN<br />

aus grau wird blau<br />

Es passiert etwas im Ruhrgebiet.<br />

Das Mega-Projekt Emscher-Umbau,<br />

getragen von der Emschergenos-<br />

senschaft, verwandelt den alten,<br />

vom Industriezeitalter schwer ge-<br />

zeichneten Emscherlauf in einen<br />

blauen Fluss. Es stoßen Zukunft<br />

und Vergangenheit, Erinnerung und<br />

Vision, Altes und Neues aufein-<br />

ander und das sorgt für jede Menge<br />

Diskussionsstoff und kreative Ener-<br />

gie. Mit BRIDGES Fotoprojekt<br />

Emscher Zukunft hat die Emscher-<br />

genossenschaft ein Projekt ins<br />

Leben gerufen, das diese Energie<br />

nutzen will. Seit 2005 laden wir<br />

jährlich Fotografen ein, sich künst-<br />

lerisch mit dem Wandel aus-<br />

einanderzusetzen.<br />

Mit Mario Lombardo hat das Foto-<br />

projekt einen Künstlerischen Leiter<br />

gefunden, der mit der Neuausrichtung<br />

des Projekts auf Qualität und<br />

künstlerischen Anspruch setzt.<br />

Neugierig geworden?<br />

Noch bis zum 12. Januar 2009<br />

können Arbeiten und Konzepte<br />

zum Thema »destroy/create« ein-<br />

gereicht werden.<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.bridges-projects.com


Editorial<br />

<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 5<br />

Prokrastination ist ein doofes neues Trendwort.<br />

Im Aufschieben wichtiger Dinge schwelgen wir<br />

aber nicht, auch wenn es so aussieht: Das Gegenteil<br />

von fauler Zögerlichkeit ist der Grund,<br />

warum seit der letzten Ausgabe von <strong>Heimatdesign</strong><br />

gute zwei Jahre vergangen sind. Das liegt<br />

zum einen daran, dass der Herausgeber wechselte.<br />

Vor allem aber waren wir mit den anderen Bereichen<br />

dieser Plattform für Ruhrgebietsdesigner<br />

derart beschäftigt, dass das Magazin plötzlich<br />

weit hinten auf der Dringlichkeitsliste landete.<br />

Zunächst einmal war da die Geschichte mit<br />

dem Laden: Im ehemaligen Hotel Rombergpark<br />

eröffnete <strong>Heimatdesign</strong> im Frühjahr 2007 ein<br />

Büro mit Ausstellungsräumen, Café und Laden.<br />

Bis zur letzten Minute werkelte unser Team mit<br />

Farbeimern und Pinseln in dem leerstehenden<br />

Gebäude, das die Stadt Dortmund für eine begrenzte<br />

Zeit zur Verfügung stellte. Ein Pop-Up-<br />

Store, in den es die Leute auch zu Lesungen und<br />

Partys zog – und in dem sich immer mehr Designer<br />

aus dem Ruhrgebiet mit Mode, Möbeln und<br />

Accessoires präsentieren wollten.<br />

Deswegen machten wir aus dem temporären<br />

Projekt eine Dauereinrichtung und zogen<br />

Anfang 2008 – wieder mit städtischer Unterstützung<br />

– in die Dortmunder Innenstadt. Auch<br />

dort finden Ausstellungen statt; inzwischen haben<br />

wir mit „Bildheimat“ auch eine Fotografenrepräsentanz<br />

eröffnet. Ganz nebenbei organisieren<br />

4<br />

wir außerdem Messen und Veranstaltungen an<br />

anderen Orten im Ruhrgebiet. Auf Pecha Kucha-<br />

Nächten beispielsweise führen allerlei kreative<br />

Menschen das Klischee langatmiger Powerpoint-<br />

Präsentationen ad absurdum:<br />

20 Folien á 20 Sekunden lautet das Motto, unter<br />

dem in jeweils knapp sieben Minuten Projekte<br />

vorgestellt werden.<br />

Etwas mehr Zeit haben wir uns mit dem vorliegenden<br />

Magazin genommen. Der Idee, damit<br />

kreative Menschen aus dem Ruhrgebiet nach<br />

vorne zu bringen, bleibt es treu – auch, was die<br />

direkt Beteiligten betrifft: Die Art Direction<br />

wechselt grundsätzlich alle zwei Ausgaben,<br />

damit immer wieder neue Grafik-Experten dem<br />

Magazin ihre gestalterische Duftmarke aufdrücken<br />

können. Nach Lisa Schweizer und Thomas<br />

Armborst haben wir diesmal gleich ein Trio ins<br />

Boot geholt: Jannis Reichard, Amir Rezaloo und<br />

Stefan Tuschy sind die „<strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!“.<br />

Ganz heimatverbunden haben sie „I Love U“<br />

gestaltet, einen T-Shirt-Kommentar zum Dortmunder<br />

U(niongebäude). Und gleich neben<br />

ihrem Büro haben sie kürzlich die Galerie<br />

Werkbank eröffnet – eine Fundgrube für unsere<br />

Reihe „Designer illustrieren Heimat“. Außerdem<br />

brachte die <strong>Bande</strong> uns auf die Idee, uns in dieser<br />

Ausgabe mit dem Thema Typografie zu befassen.<br />

Zum Beispiel ist es gar nicht so einfach, sich<br />

für ein Magazin auf eine geeignete Schriftart zu<br />

einigen. Elena Schneider gestaltete die Schrift<br />

„Klebo“, die wir für die Überschriften dieser Ausgabe<br />

verwenden durften. Und für die kommende<br />

Ausgabe werden wir einen Schrift-Wettbewerb<br />

ausschreiben.<br />

Auch mit dem wiederauferstandenen Magazin<br />

im Nacken bleibt <strong>Heimatdesign</strong> ein Hansdampf<br />

auf allen Laufstegen: Mitten in der Produktion<br />

gab es eine <strong>Heimatdesign</strong>-Messe, und im Januar<br />

werden wir die „designers fair“ ausrichten, eine<br />

Möbelmesse im Kölner Rheintriadem, die wir<br />

gerade in Zusammenarbeit mit den „Passagen“<br />

planen – inklusive Rahmenprogramm aus Vorträgen,<br />

Diskussionen und Unterhaltung. Diesmal<br />

soll uns das nicht vom Magazinmachen abhalten:<br />

Im Sommer 2009 wird die nächste Ausgabe<br />

aus der Druckerei kommen. <strong>Für</strong> einen Moment<br />

halten wir inne – und wünschen viel Spaß beim<br />

Lesen!<br />

Marc Röbbecke (<strong>Heimatdesign</strong>-Erfinder) und<br />

Petra Engelke (Chefredakteurin)


heimatdesign – laden und büro<br />

Kleppingstraße 43<br />

44135 Dortmund<br />

mo-fr 10-19, sa 10-18 Uhr<br />

www.heimatdesign.de<br />

fotorepräsentanz<br />

www.bildheimat.de<br />

ausstellungen im laden<br />

bis 30.12.<br />

Kay Thoss (Möbeldesign) und<br />

Mason (<strong>Gestaltung</strong>)<br />

Januar:<br />

Anna Kopylkow (Fotografie) und<br />

Kirschkern (Mode)<br />

Februar:<br />

Julian Faulhaber (Fotografie)<br />

typografie-wettbewerb<br />

Beginn der Bewerbungsfrist: März 2009<br />

www.heimatdesign.de<br />

www.JAN-KATH.com<br />

designers fair<br />

Messe für junges Möbel- und Interiordesign<br />

18. -25.01.2009, Rheintriadem, Köln<br />

www.designersfair.de<br />

pecha kucha night dortmund<br />

27.03.2009, 20.10 Uhr im Kundenzentrum DEW,<br />

Ostwall 51 , Dortmund<br />

www.pechakucha-dortmund.de<br />

u-shirt<br />

www.u-und-du.de<br />

5


heimatkunde | nr. 5<br />

<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 5<br />

Winter 2008/2009<br />

Sascha Abel, Mark Ansorg, Thomas<br />

Armborst, <strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!,<br />

Stefan Becker, Volker K. Belghaus,<br />

Kay Berthold, Petra Engelke,<br />

Alexander Gegia, Marc Hinz, Frauke<br />

Hoffschulte, Annika Janssen, Anna<br />

Kopylkow, Reinhild Kuhn, Wolfgang<br />

Kienast, Nina Maaßen, Frank<br />

Machoczek, Grobilyn Marlowe, Reza<br />

Nadji, Jens Oellermann, Albert<br />

Palowski, Julia Reschucha, Marc<br />

Röbbecke, Dirk Rose, Peter Roth,<br />

Mathias Schmitt, Elena Schneider,<br />

Mario Schulte, Thomas Skroch, Kim<br />

Sperling, Christine Steiner, Tom<br />

Thelen, Stephanie Julia Wagner,<br />

Tanja Wißing, Jan-Peter Wulf,<br />

Dennis Yenmez<br />

6


Inhalt<br />

04 Editorial<br />

07 Inhalt<br />

82 Impressum<br />

0 8 heimatkunde<br />

08 Neues aus der Heimat<br />

12 Da schau her<br />

14 heimatobjekt<br />

14 Wer den Pfennig nicht ehrt<br />

Wie wertsteigernd Schmuck sein kann<br />

16 Wundersames Talent<br />

Was Klamotten plötzlich festkletten lässt<br />

18 »Der erste Gedanke ist nicht<br />

immer der richtige.«<br />

Wie gutes Design entsteht: Interview<br />

mit Anke Bernotat, Professorin für<br />

Industriedesign<br />

20 heimatbild<br />

20 Designer illustrieren Heimat<br />

26 Time after Times<br />

Wie Schrift die Designwelt bewegt<br />

28 Über den Fluss<br />

Was der „Bridges“ Fotopreis will,<br />

kommentiert von Mario Lombardo<br />

30 heimatkultur<br />

30 Der stille Maschinist<br />

Wie Gereon Lepper Kunst baut<br />

32 Mit Puschen ins Theater<br />

Wo Regisseur Kristo Šagor eine<br />

neue Heimat fand<br />

34 heimatkleid<br />

34 Die rettende Robeninsel?<br />

Wie die Hochzeitsmodenmeile in<br />

Duisburg-Marxloh aussieht<br />

40 Die Mischung machts<br />

Was die Essener Wohngemeinschaft<br />

so alles hat<br />

42 jungehelden<br />

die Modestrecken<br />

42 Yvonne Wadewitz<br />

48 Schwarzwaldkirsch<br />

54 fym<br />

60 Mazine<br />

6 6 heimatlied<br />

66 Indie-Arien von nebenan<br />

Was eine Eichbaumoper ist<br />

68 Kitsch-Kanonen auf<br />

Spaß-Spatzen<br />

Wie Philipp Bückle zum Eurodance<br />

gekommen ist<br />

70 heimatlust<br />

70 Über den Durst<br />

Wie Bergmannbier wiederauferstanden ist<br />

72 Ortsbegehung<br />

Neue Reihe, diesmal: Brauerei<br />

der Schelme<br />

74 heimatgedanke<br />

74 Die Revolution des<br />

Selbermachens<br />

Was das Buch „Marke Eigenbau“ zu<br />

erzählen hat<br />

76 Die Ästhetik des Untergangs<br />

Wie es im Essener Hauptbahnhof zugeht<br />

78 Monstergeschichten<br />

Fabelhaftes von Martini<br />

80 Kolumne: Birgit Graf<br />

7


heimatkunde | nr. 5<br />

Neues aus der heimat<br />

Blick nach innen<br />

Studenten kommen und gehen, und so sind<br />

ihre gemeinsamen Projekte oft nur von kurzer<br />

Dauer. Doch dies ist bereits die vierte Ausgabe<br />

des Magazins „Steppenhexe“: Vorwiegend<br />

illustrative Arbeiten in Schwarz-Weiß zeigt darin<br />

ein ambitioniertes studentisches Kollektiv aus<br />

dem Dunstkreis der Essener Uni. <strong>Für</strong> jedes Heft<br />

denkt es sich ein neues Schwerpunktthema aus.<br />

Über eine Myspace-Seite verbreiten die Magazinmacher,<br />

was genau für die nächste Ausgabe<br />

gefragt ist, und sammeln Beiträge ein. Die Bandbreite<br />

reicht von Fotografien über digitale Zeichnungen<br />

bis hin zu Scribbles, schnell dahingekritzelten<br />

Skizzen. All das verbirgt sich diesmal<br />

unter einem ganz besonderen Cover: Das farbige<br />

Siebdruck-Motiv lässt sich zum Poster ausklappen.<br />

Inhaltlich wählte das Steppenhexen-Team<br />

Werke aus, die sich mit dem Thema „Introspektion“<br />

beschäftigen. Mit selbstverliebtem Kreisen<br />

ums Ego hat die nun erschienene Ausgabe aber<br />

nichts zu tun. <strong>Für</strong> Ernsthaftigkeit hatten die Studenten<br />

schließlich schon im Vorfeld gesorgt: Um<br />

die Aufgabe zu beschreiben, zitierten sie in der<br />

Ausschreibung den griechischen Philosophie-<br />

Paten Plato. ◆<br />

www.myspace.com/steppenhexe<br />

8<br />

Freistecken<br />

Knapp daneben ist in diesem Falle trotzdem ge-<br />

wonnen: Den ersten Platz beim Bochumer Designpreis<br />

hat Stefan Piotrowski nicht eingesackt.<br />

Aber den zweiten. Und er ist der einzige Designer<br />

aus dem Ruhrgebiet, der es überhaupt geschafft<br />

hat, in diesem Jahr bei der Bochumer Jury<br />

zu punkten – immer wieder haben Menschen<br />

aus anderen Regionen die Nase vorn. Aber mit<br />

seinem modularen Raumteiler stößt Piotrowski<br />

auf gute Resonanz. Ganz gezielt sucht er in seiner<br />

Firma Holz Total die Materialien aus, fühlt<br />

sich in die Ansprüche seiner Kunden ein und<br />

achtet schließlich auf vielfältige Verwendbarkeit.<br />

So kam er auf die Idee mit dem Raumteiler, den<br />

man ganz leicht auch zum Regal oder Tresen<br />

umfunktionieren kann. Dazu erfand der gelernte<br />

Schreiner in rund 1000 Skizzen ein Stecksystem:<br />

Die beiden Grundelemente lassen sich beliebig<br />

verändern und mit einem dritten Modul zum<br />

geschlossenen Möbel erweitern – ganz ohne An-<br />

leitung und Werkzeug. Viele Menschen schätzen<br />

schließlich die Freiheit, ihre Wohnung oder<br />

ihren Laden immer wieder umzugestalten. Die<br />

hohe Variabilität war denn auch der Grund,<br />

warum die Designpreis-Jury ihm einen Preis<br />

verlieh. ◆<br />

www.holz-total.de<br />

Kreativität<br />

findet Stadt<br />

Die einen wollen kreative Arbeit partout nicht<br />

mit Kommerz in Verbindung bringen, die anderen<br />

sehen gerade dies <strong>als</strong> Hoffnung des Ruhrgebiets.<br />

Kreativwirtschaft soll die Region vor der<br />

Ödnis retten, die fliehende Geldbringer hinterlassen.<br />

Kohle, Stahl, Braukunst und Autobau<br />

garantieren eben schon lange keine Arbeitsplätze<br />

mehr. Deshalb pflegt die Wirtschaftsförderung<br />

Dortmund seit vielen Jahren den Kontakt zu<br />

kreativen Unternehmen der Stadt – in Branchen<br />

wie Musikproduktion, Computerspielprogrammierung<br />

und allen möglichen Designrichtungen.<br />

Seit Anfang 2008 ist dieses Wissen im Netz<br />

gebündelt: Vom Firmenregister über Erfolgsstorys<br />

bis zum Veranstaltungkalender bekommt<br />

man dort einen Überblick, wo und wie Kreativität<br />

sich in Dortmund ausdrückt. An zwei<br />

Veranstaltungsreihen ist <strong>Heimatdesign</strong> beteiligt:<br />

„DORTMUND.KREATIV.stars“ präsentiert<br />

eben diese in monatlich wechselnden Ausstellungen,<br />

während „DORTMUND.KREATIV.<br />

trends“ die Grundidee <strong>als</strong> Vortragsveranstaltung<br />

mit Referenten umsetzt, die sich beispielsweise<br />

mit Werbestrategien für Kulturhäuser auskennen<br />

oder von Ergebnissen der Hirnforschung<br />

zum Thema Kreativität berichten. Am 14. Januar<br />

2009 wird es im Jazzclub domicil um das Thema<br />

„Design“ gehen. ◆<br />

www.kreativwirtschaft-dortmund.de


Was macht<br />

eigentlich … Jana?<br />

Sie ist eine alte Bekannte: Jana Januschewski war<br />

mit einer Modestrecke in der ersten Ausgabe<br />

von <strong>Heimatdesign</strong> vertreten – <strong>als</strong> neues Talent.<br />

Danach hat sie weitergearbeitet, sich aber auch<br />

auf ihr Studium konzentriert und im Januar 2008<br />

einen glänzenden Abschluss an der Akademie<br />

Mode und Design Düsseldorf hingelegt. So ist<br />

nun die Bahn frei, um sich Neues für ihr „Streetwear<br />

Chic“-Label Jot Jot auszudenken. Zum<br />

Beispiel eine verspielte Website, auf der sie ihre<br />

Damen- und Herrenmode so unkonventionell<br />

päsentiert, wie die Teile selbst geschnitten sind:<br />

Hosen mit tiefergelegtem Schritt, Jacken mit<br />

spitzer, weit hinausgezogener Schulterpartie –<br />

und auch bei den Shirts sind die Proportionen<br />

eigenwillig interpretiert. Gemeinsam mit Partner<br />

Carlos Howard arbeitet Januschewski derzeit<br />

am Ausbau des Vertriebs. Auch beim neuesten<br />

Shooting setzt sie auf Kooperation: Die Hüte<br />

sind von Christina Wallrodt, Fotos, Make-Up<br />

und Styling von Tanja de Maan, das Artwork<br />

machte das Designbüro 1zunull. Zu haben ist die<br />

neue Kollektion unter anderem in der Essener<br />

Boutique Uniquat. ◆<br />

www.jotjot-mode.de<br />

Uniquat, Rellinghauser Str. 110, Essen<br />

Umgarnt<br />

Verlust und Tod sind die Kernthemen von<br />

Pierre Krachts Diplomarbeit an der Dortmunder<br />

Fachhochschule im Studienschwerpunkt „Objekt-<br />

und Raumdesign“. Kronleuchter, Stehlampe,<br />

Lehnstuhl: Die Formen dieser Alltagsgegenstände<br />

sind uns so vertraut, dass wir sie auch<br />

erkennen, wenn sie verhüllt sind. Filmemacher<br />

nutzen das zuweilen, indem sie ein Zimmer mit<br />

zugedecktem Mobiliar zeigen – und so an ein<br />

vergangenes oder verlassenes Leben erinnern.<br />

Pierre Kracht nähert sich diesem Phänomen mit<br />

Fäden: Wie eine Spinne wickelt er seine Objekte<br />

ein, nimmt sie in Besitz, um ihnen dann den<br />

Körper zu klauen. Zum Schluss bleiben nur die<br />

Fäden übrig. Auf den ersten Blick ergibt das<br />

ein chaotisches Gewirr, aber siehe da: Langsam<br />

ordnet das Auge, aus der Oberfläche scheint sich<br />

allmählich eine Struktur herauszubilden – und<br />

obendrein die Silhouette des verschwundenen<br />

Gegenstands. Funktionieren können die „wrapped<br />

prototypes“ nicht mehr, aber der Geist der<br />

Gegenstände ist noch da. Um diese Vergänglichkeit<br />

festzuhalten, brauchte Pierre Kracht etwa<br />

sechs Kilometer Garn und zwei Liter Epoxitharz.<br />

Und wer weiß, wen oder was er <strong>als</strong> Nächstes<br />

einwickelt. ◆<br />

Unsere<br />

Stadt<br />

lebt.<br />

Kultur für Heimatverbundene:<br />

Lesungen<br />

Musik<br />

Theater<br />

Comedy<br />

NightWash Club<br />

Kabarett<br />

Ausstellungen<br />

Mehr Infos findest Du im Internet<br />

unter: www.dew21kultur.de


heimatkunde | nr. 5<br />

Neues aus der heimat<br />

Zufallsspiel<br />

Internationale Aufmerksamkeit hat Nils Deneken<br />

mit dem Computerspiel „Rückblende“ erregt.<br />

Dabei wollte er anfangs gar nicht spielen: Zunächst<br />

ging es ihm nur um Musik, doch für eine<br />

Abschlussarbeit in Kommunikationsdesign<br />

war das zu mager. Als die visuelle <strong>Gestaltung</strong><br />

hinzukam, entschied er sich gleich noch für<br />

Interaktion: Und ab geht die nostalgische Reise<br />

durch ein Haus. Seitdem ist auch Nils Deneken<br />

unterwegs. Nach dem Studium in Essen entschließt<br />

er sich, in Kopenhagen zu arbeiten.<br />

Und er reist zu Festiv<strong>als</strong> in die USA. Schließlich<br />

ist Deneken inzwischen <strong>als</strong> Indiegame-Kenner<br />

gefragt. Die folgen einer anderen Logik <strong>als</strong> die<br />

gängigen Autorennen, Monsterjagden und<br />

Militärschachzüge, die zig Fortsetzungen nach<br />

sich ziehen. Indiegames schwirren an der Grenze<br />

zur Kunst entlang, sie können durchaus<br />

verrückten Geschichten folgen, nachdenklich<br />

oder traurig machen. Kleine Teams mit noch<br />

kleineren Budgets arbeiten an Gesamtwerken<br />

aus Programmierung, Grafik, Story und Musik –<br />

hochgeschätzt von Insidern. Mit seinem ersten<br />

Spiel gewann Deneken im Oktober 2008 den<br />

„Developers Choice Award“ beim „Indiecade“-<br />

Festival. ◆<br />

www.gutefabrik.com<br />

www.indiecade.com<br />

10<br />

Europamodelle<br />

Das Goethe-Institut macht jetzt auch in Mode.<br />

Mit dem Wettbewerb „create europe: The Fashion<br />

Academy Award“ stellt es die Frage, wie<br />

sehr Mode die europäische Kulturgeschichte<br />

und -gegenwart beeinflusst. Im ersten Jahr geben<br />

die Teilnehmer mit ihren Entwürfen ganz unterschiedliche<br />

Hinweise: Futuristisch, romantisch<br />

oder funktional sind die rund 180 Modelle angelegt,<br />

die in der Finalisten-Gala im Oktober 2008<br />

gezeigt werden. Aus Spanien kommen Herren<br />

im Rock, aus Bosnien-Herzegowina Damen mit<br />

Helm, die Niederlande warten mit einem Kragen<br />

auf, der wie ein Strahlenkranz wirkt. Die Materialien<br />

sind mal an Landestraditionen, mal an Vorbildern<br />

aus der Kunst orientiert. Mit alldem ist<br />

die Frage nicht eindeutig beantwortet, aber das<br />

Goethe-Institut sieht den Wettbewerb vielleicht<br />

gerade deswegen <strong>als</strong> Erfolg. Und zwar so sehr,<br />

dass Ende Januar 2009 bereits die Einreichfrist<br />

für den nächsten Wettbewerb beginnt. Diesmal<br />

dürfen nicht mehr nur Designer und Studenten<br />

aus Europa teilnehmen, sondern auch aus Afrika.<br />

Sie alle aber sollen zwischen 18 und 32 Jahren alt<br />

sein. ◆<br />

www.createurope.com<br />

Schriftführer<br />

Von der Dortmunder Fachhochschule direkt in<br />

den Fokus des Art Directors Club – das hat<br />

Daniel Göttling geschafft. Damit liefert Dortmund<br />

schon zum zweiten Mal in Folge den<br />

Nachwuchs für die Auszeichnung „Talent des<br />

Jahres“. 2007 gewann der Diplomand Christoph<br />

Große Hovest mit „die.art“, einer Kombination<br />

aus Animationsfilm und Buch. Daniel Göttling<br />

schaffte den Sprung aufs Siegertreppchen mit<br />

Typografie: Er entwarf vier Schriften mit illustren<br />

Namen. „Cutout“, und „Bauhouse“ bindet er<br />

in Illustrationen ein, „Mayonnaise“ sieht aus wie<br />

aus der Tube gedrückt, und je größer „Birotimes“<br />

wird, desto mehr sieht man von den Unregelmäßigkeiten<br />

beim Ausmalen. Aber nicht nur<br />

die gute Gestalt allein überzeugt Experten. Der<br />

Art Directors Club verlieh Göttling auch deswegen<br />

den Titel „Talent des Jahres 2008“, weil er<br />

in seine Abschlussarbeit „Welcome to Fontmess“<br />

auch gleich die eigenen Werbemittel einbindet.<br />

Bücher, T-Shirts, Plakate, Animationsfilme und<br />

eine Website vervollständigen sein Konzept. Der<br />

Erfolg hat Folgen: Daniel Göttling zieht nach<br />

Hamburg – dort wartet eine Festanstellung bei<br />

einer Agentur. ◆<br />

www.fontmess.com


Pfau im Auge<br />

Nadine Wiesner hat den Wettbewerb „DesignArt<br />

Kunst und Mode“ gewonnen, den der Verband<br />

deutscher Mode- und Textildesigner im September<br />

2008 vergab. Vorgegeben war das Thema<br />

„Virtuelle Natur“: Die Teilnehmer sollten mit<br />

Stoffen arbeiten, die eigentlich für Vorhänge<br />

oder Rollos vorgesehen sind. Wiesner nähte<br />

daraus das Modell „Pfau“: Ein mehrlagiger, sommergrasgrüner<br />

Rock bauscht sich unter einem<br />

dunkleren Oberteil mit Pfauenaugen. Das Spiel<br />

mit Stoffqualitäten liegt der Kölner Designerin<br />

ohnehin: Ob sie nun mit feinster Baumwolle<br />

oder mit grobem Molton arbeitet, ihre Schnitte<br />

entstehen stets im Experiment mit dem jeweiligen<br />

Stoff an der Puppe. Hier hat ein weiches<br />

Oberteil weite, keulenförmige Ärmel mit engem,<br />

langen Bund, da ist es nur ein schmales Band,<br />

kombiniert mit einer überlangen Hose, dann<br />

kommt ein Kleid stilvoll zerrissen daher. In ihren<br />

Kollektionen ist Wiesner auf der Suche nach<br />

dem perfekten Chaos – es ist Absicht, dass sie<br />

damit ein Paradoxon jagt. Diese Vielschichtigkeit<br />

lässt sie auf ihrem eigenen Leben gründen:<br />

Aufgewachsen in der DDR, kennt sie sich mit<br />

Umbrüchen und Strukturwandel bestens aus. ◆<br />

www.nadine-wiesner.com<br />

Reh Plus Bus<br />

Der größte Rebus der Welt: So nennt die Essener<br />

Werbe- und Designagentur Marcellini ihr<br />

rätselhaftes Projekt. Zusammen mit Schülern der<br />

Goetheschule und Auszubildenden des Berufskollegs<br />

Ost arbeiteten die Designer an der Frage,<br />

wie man das Verständnis zwischen ganz unterschiedlichen<br />

Menschen fördern kann. Schnell<br />

war klar: Es braucht eine Sprache ohne Barrieren,<br />

international verständlich. So enstanden 88<br />

Würfel, die zusammen ein Bilderrätsel ergeben –<br />

das man auch auf der Marcellini-Website erknobeln<br />

kann. Der Lösungssatz des Rebus ist zwar<br />

auf Deutsch formuliert, aber die Bilder selbst<br />

lassen sich auch ohne Sprachkenntnisse erfassen:<br />

Ein maskierter Mann hat einen dicken Beutel<br />

geschultert, ein gesichtsloser Kopf hat immerhin<br />

Ohren, in einem dampfenden Haufen steckt<br />

ein Arbeitsgerät. Mal denkt man an den Kölner<br />

Dom, mal an einen ICE. Ganz frei von kulturell<br />

bedingtem Insiderwissen ist das Bilderrätsel <strong>als</strong>o<br />

nicht; diese Wörter muss man aber nicht kennen.<br />

Dafür mag der Rebus insgesamt bekannt<br />

werden: Das Projekt schaffte den Weltrekord <strong>als</strong>,<br />

na was wohl: größter Rebus der Welt. ◆<br />

www.marcellini.de<br />

herzglück<br />

check dein herz<br />

herzkraft<br />

herzlust<br />

sei aktiv<br />

herzwunsch<br />

herzsprung<br />

trainiere sicher<br />

herzklopfen<br />

herzrasen<br />

reise weit<br />

herzleid<br />

herzschmerz<br />

schütze dich<br />

herzbruch<br />

Praxis für Kardiologie + Sportmedizin I Dr. med. Lodde + Dr. med. Brunke I Praxisklinik, Leopoldstraße 10, Dortmund I Fon 0231.567843- 0 I k@rdiologen.de I www.kardiologie-dortmund.de


heimatkunde | nr. 5<br />

Da schau her<br />

fotografie Anna Kopylkow<br />

12.<br />

1. RettungsRing<br />

Von NIXE schmuckdesign, ca. 75 Euro<br />

nicolekoetter@gmx.de<br />

2. Turnbockleder-Geldbörse<br />

Von elkedag, ca. 45 Euro<br />

www.elkedag.de<br />

3. „Der Herr Seltsam“, „Hoppel“, „Zipfel“<br />

Von Jagdschloss, ab ca. 15 Euro<br />

www.jagdschloss-frankfurt.de<br />

12<br />

1.<br />

13.<br />

4. Taschenbegleiter<br />

Von Roterfaden, ab ca. 49 Euro<br />

www.roterfaden.com<br />

5. Lieblingsplätzchen „Zoom“ und „U“<br />

Von Ruhrperle, ca. 4,90 Euro<br />

www.ruhrperle.com<br />

6. Handgelenkportemonnaie Leder<br />

Von Rockidz, ca. 32,50 Euro<br />

www.rockidz.de<br />

11.<br />

10.<br />

2.<br />

7. Schuhe „Bolero“ und „Oxford“<br />

Von Romika, ca. 39,95 Euro<br />

www.romika.de<br />

3.


5.<br />

9.<br />

8. Hüte<br />

Von beautyfullthinks, ca. 30 Euro<br />

www.beautyfullthinks.com<br />

9. Lampe „Minikomat“<br />

Von Komat, ca. 47 Euro<br />

www.komat-berlin.de<br />

10. Ledertaschen „Seitenlinie“<br />

Von Haeute, ab ca. 109 Euro<br />

www.haeute.info<br />

8.<br />

4.<br />

11. Lederbuch “Once Upon A Time”<br />

Von Jeremy Fish, ca. 35 Euro<br />

www.gingkopress.com<br />

12. Handy- und iPod-Taschen<br />

Von Lipbert, ab ca. 17 Euro<br />

www.lipbert.de<br />

6.<br />

13. dalaki limited edition box 002<br />

Von dalaki, ca. 25 Euro<br />

www.dalaki.net<br />

… und das alles gibt es auch im <strong>Heimatdesign</strong>-Laden,<br />

Kleppingstr. 43, Dortmund<br />

7.<br />

nr. 5 | heimatkunde<br />

13


heimatobjekt | nr. 5<br />

Christina Boch<br />

Wer den Pfennig nicht ehrt<br />

text Tanja Wissing<br />

Christina Boch ist sparsam. Deshalb hat sie sich Pfennige<br />

zur Seite gelegt. Heute schlägt der günstigste Pfennig bei ihr<br />

mit 140 Euro zu Buche.<br />

„Wer den Pfennig nicht ehrt…“, zitiert die blonde<br />

Essenerin die alte Redensart, und ihre blauen<br />

Augen blitzen humorvoll auf. Scherze wegen ih-<br />

res Umrechnungskurses darf sich die Schmuckdesignerin<br />

auf Messen und Ausstellungen in<br />

ganz Deutschland anhören. Es gibt jedoch auch<br />

keinen Grund, ob des Preises nickelig zu reagieren.<br />

So dient der gute alte Glückspfennig<br />

nur <strong>als</strong> Vorlage für einen Abguss in Silber oder<br />

Gold. Die veredelte Ausgabe liegt auf einem<br />

schmalen Silberreif oder thront gar auf einem<br />

breiten Goldring mit gekrönter Fassung. Dann<br />

allerdings fällt der Wechselkurs für den deut-<br />

14<br />

schen Glücksbringer deutlich höher aus. Diesen<br />

sind selbst Männer bereit zu zahlen, um sich<br />

den Pfennig – klar, nicht in die Tasche – sondern<br />

ins Knopfloch zu stecken. Seit einigen Monaten<br />

fertigt die Katernbergerin nämlich silberne und<br />

goldene Manschettenknöpfe mit Hilfe ihres<br />

Sparstrumpfes. „Sie kommen <strong>als</strong> schlichtes und<br />

doch edles Accessoire gut an“, stellt sie fest. Warum<br />

Manschettenknöpfe seit zwei Jahren wieder<br />

gefragt sind, kann sich Christina Boch nicht er-<br />

klären. Auch nicht, warum Männer sich heute<br />

vermehrt schmücken. „Ich beobachte nur, dass<br />

bei ihnen der Trend vom Ohrring weg- und hin<br />

zu Fingerring, Kette und Manschettenknöpfen<br />

geht“, schildert sie ihre Eindrücke von Messen.<br />

Dort hört sie von älteren Besuchern häufig<br />

Anekdoten über das einstige Zahlungsmittel.<br />

„Jüngere erkennen den Pfennig meist erst nicht“,<br />

staunt die 31-Jährige, die stets einen solchen<br />

Glücksbringer in der Geldbörse hatte.<br />

Aus ihren kostbaren Pfennigen macht Christina<br />

Boch auch Ohrhänger oder -stecker. An zarten<br />

kurzen und langen Silberketten bilden sie die<br />

Schließen, oder sie säumen <strong>als</strong> Anhänger opulente<br />

Perlenketten aus geschliffener Lava. Auf<br />

dem Werktisch liegen Pfennige in unterschiedlichen<br />

Verarbeitungsstadien. Ein bisschen sieht<br />

der Holzsekretär aus wie der Arbeitsplatz einer<br />

Geldfälscherin. Dass ihr die alte Währung ausgehen<br />

könnte, fürchtet Christina Boch nicht: „Das<br />

Material ist strapazierfähig. 20 bis 30 Güsse steht<br />

ein Pfennig durch.“ So muss sie nicht irgendwann<br />

zum Cent greifen. „Der Sinnspruch ist eh<br />

nicht übertragbar“, glaubt sie. „Obwohl der Euro<br />

eine stabile Währung ist, wird der Cent nicht so


Kommunikationsdesign | Film/Regie | Fotodesign | Computeranimation | Illustration | Freie Kunst<br />

Hagener Straße 241<br />

58239 Schwerte<br />

0 23 04 - 99 60 00<br />

www.ruhrakademie.de<br />

bewerbung@ruhrakademie.de<br />

Ruhr akademie<br />

~<br />

geschätzt.“ Christina Boch findet es spannend,<br />

der alten Münze mit ihrer Kollektion „Wer den<br />

Pfennig nicht ehrt…“ neuen Glanz verliehen<br />

zu haben und sie mit ihrer zweiten Kollektion<br />

„Kröne dich“ sogar zu adeln. Vor allem freut es<br />

sie aber, dass die Serie harmonisch Kunsthandwerk<br />

und Schmuckdesign vereint – etwas, das<br />

sie schwierig findet. Als Goldschmiedin hat sie<br />

das Kunsthandwerk von der Pieke auf gelernt,<br />

sich dann aber gegen die Meisterprüfung und<br />

für das Schmuck- und Produktdesignstudium<br />

entschieden.<br />

„Das Handwerk gefiel mir richtig gut“, sagt die<br />

diplomierte Designerin, „doch ich fühlte mich<br />

dadurch eingeschränkt, nur Entwürfe anderer<br />

umzusetzen.“ Im Studium lag ihr Augenmerk<br />

nicht mehr auf der Verkäuflichkeit, sondern der<br />

Konzeption von Schmuck – vom Materi<strong>als</strong>piel<br />

bis zum Prototyp. Die Arroganz mancher Dozenten<br />

versteht Christina Boch allerdings nicht:<br />

„Ohne die klassische Ausbildung ist Schmuckdesign<br />

nicht möglich – da fallen einem im Stu-<br />

dium schon mal Arbeitsstücke auseinander.“<br />

Wehe <strong>als</strong>o dem, der die Goldschmiedekunst<br />

nicht ehrt. ◆<br />

www.cb-schmuckdesign.de<br />

Privates Studium<br />

Medien, Design und Kunst<br />

15


heimatobjekt | nr. 5<br />

Klette Shop-System<br />

Wundersames Talent<br />

text Nina Maassen<br />

Sie stand schon oft Modell, doch noch nie wurde aus ihr ein<br />

ganzes Shopsystem entwickelt – eine Pflanze <strong>als</strong> Idol.<br />

Es war ein leidiges Thema auf Schulausflügen:<br />

Man spazierte durch Wiesen, schon klebte etwas<br />

am Pullover und eine Horde Mitschüler lachte,<br />

wenn man vergeblich versuchte, das unliebsame<br />

Teil von der Kleidung zu entfernen. Und das<br />

war schwer genug, schließlich handelte es sich<br />

um eine Klette. Vielleicht klang Susanne Henke<br />

dieses Lachen während der Ideenfindung für<br />

ihre Diplomarbeit noch in den Ohren.<br />

Diesmal will sie jedoch die natürliche Klett-<br />

Funktion positiv nutzen, und so entwickelte die<br />

Dortmunderin ein neues Shopsystem – mit der<br />

Klette <strong>als</strong> großer Hauptdarstellerin. Die Eigen-<br />

schaft, an jeder Struktur kleben bleiben zu können,<br />

sollte zum Leitgedanken für die <strong>Gestaltung</strong><br />

von Läden werden: „Die Distanz zwischen Pro-<br />

dukt und Shopsystem wird komplett aufgelöst<br />

und verschmilzt zu einem stimmigen Gesamtbild.“<br />

Wie ihr diese Verschmelzung nun gelingen sollte,<br />

darüber machte sich Susanne Henke intensiv<br />

Gedanken und entwarf vom Klette-Logo über<br />

eine Ladentheke bis hin zu Umkleidekabinen alles<br />

nach den Vorgaben der vorbildlichen Pflanze.<br />

In ihren Läden kann man die Kleidungsstücke<br />

ohne Bügel direkt von den Wänden nehmen –<br />

16<br />

denn sie kletten einfach daran fest. Über<br />

velourbezogene Etiketten können T-Shirts,<br />

Pullis oder Hosen an spezielle Wand-Bezüge<br />

gehängt werden, und das – zur Freude der<br />

Kunden – vollkommen ohne Ordnung. Hat man<br />

sich ein Teil von der Wand geangelt, so muss<br />

man sich nicht merken, wohin das gute Stück<br />

zurückgeklebt werden soll, sondern sucht sich<br />

schlicht ein neues Wandfleckchen.<br />

Diese Läden sollen nach dem Willen der Designerin<br />

einen starken Bezug zur Natur schaffen.<br />

Daher sind Kleidungsstücke nicht nur an den<br />

Wänden ausgestellt, sondern sie lassen sich auch<br />

an Halmen auf- und abhängen, die zu kleinen<br />

Büscheln zusammengefasst im Laden aufgestellt<br />

sind. „Wie eine wilde Wiese“, so beschreibt<br />

Susanne Henke ihre Idee, die Kunden bei ihrem<br />

Einkauf durch eine fiktive Naturlandschaft<br />

zu geleiten. So wird nicht nur das Einkaufen,<br />

sondern schon allein der Besuch zum entspannten<br />

Erlebnis. Als Erinnerung daran kann man die<br />

erworbenen Lieblinge zuhause mit einem Stück<br />

Klettband direkt auf die Wände heften. ◆<br />

www.klette.cc<br />

susehenke@gmx.de


heimatobjekt | nr. 5<br />

Anke Bernotat<br />

»Der erste Gedanke<br />

ist nicht immer der<br />

richtige.«<br />

interview Petra Engelke | fotografie Julia Reschucha<br />

Anke Bernotat ist Professorin<br />

für Industriedesign an der Uni<br />

Essen-Duisburg – und gestaltet<br />

in ihrer Firma Bernotat & Co<br />

Produkte wie die Pflastersteine<br />

„Greenspot“ mit einem Loch<br />

für Pflanzen oder das „Campus<br />

Abfallsystem“, das 2008 den<br />

Red Dot Award bekam. Sie<br />

räumt mit dem Vorurteil auf,<br />

dass solche Ideen allein auf Talent<br />

beruhen – und quasi über<br />

Nacht entstehen.<br />

18<br />

Frau Bernotat, wenn jemand Design studieren<br />

will, hört man öfter: Ich möchte Mode machen<br />

oder Illustration – <strong>als</strong> Industriedesign.<br />

Ich denke nicht, dass Industriedesign einen<br />

schlechten Ruf hat. Industriedesigner haben das<br />

Ziel, technische Entwicklungen begreifbar oder<br />

nutzbar zu machen. Das sehe ich <strong>als</strong> etwas Positives.<br />

Der große Unterschied zum Modedesign ist<br />

der Zeitablauf: Projekte aus dem Industriedesign<br />

sind meistens ziemlich langwierig. Wenn ein<br />

Produkt entwickelt wird, muss es vom Nutzer<br />

geliebt werden, es muss funktionell sein, man<br />

muss die geeignete Technik finden, damit es<br />

effizient produziert werden kann, und es muss<br />

bezahlbar sein. <strong>Für</strong> mich ist es ein gutes Produkt,<br />

wenn ich es nicht übermorgen wieder in den<br />

Mülleimer werfe. Ich will damit nicht sagen, dass<br />

Mode das tut – aber der Zeitdruck ist dort ein<br />

anderer: Heutzutage hat man in vielen Läden<br />

schon mehr <strong>als</strong> vier Saisons pro Jahr. Das hat<br />

auch seinen Charme: Ich mache etwas, das ich<br />

bald auf dem Markt sehe. Bis man bei einem<br />

Industriedesignprodukt mal etwas auf der Straße<br />

sieht, das kann lange dauern.<br />

Wo Sie die Straße schon erwähnen: Wie lange<br />

haben denn die Pflastersteine gedauert, die Sie<br />

entwickelt haben?<br />

Begonnen hat es mit der quadratischen Form,<br />

die wir durchbrechen wollten. Wir suchten<br />

nach einer Lösung, die im öffentlichen Raum<br />

besonders anmutet und dazu technisch mach-<br />

bar ist. Bei selbst initiierten Projekten liegt die<br />

Entwicklungszeit oft darin, jemanden zu finden,<br />

der es produzieren kann. Wir sind soweit.<br />

Ist es Teil der Ausbildung, diese Vermarktung zu<br />

lernen?<br />

Nein, wir lehren unsere Studenten nicht, wie sie<br />

gute Unternehmer werden können, sondern<br />

wie sie gute Gestalter werden. Wir haben ganz<br />

gute Kontakte zur Industrie, viele Absolventen<br />

gehen zu VW, Audi, Bosch-Siemens, Philips und<br />

in Agenturen.<br />

Was entwickeln die Absolventen dann?<br />

Beispielsweise elektronische Produkte, Küchen,<br />

Haushaltsgeräte, Autos. Wenn man sich fragt,<br />

was Industriedesign überhaupt kann, muss man<br />

sich nur umschauen: Eigentlich ist alles gestaltet,<br />

nur die Natur nicht.<br />

Wie viel Technikverstand braucht man <strong>als</strong><br />

Industriedesigner?<br />

Es ist wichtiger, zu wissen, was man gut kann.<br />

Wenn technisches Interesse und Verständnis<br />

weniger groß sind, kann ich mir andere Schwerpunkte<br />

zum Gestalten suchen. Technisches<br />

Wissen ist durchaus nützlich, vor allem ist<br />

dreidimensionales Denken wichtig. Das kann<br />

man aber alles lernen.<br />

Was muss ein Industriedesigner noch unbedingt<br />

lernen?<br />

Man muss üben: Bei uns wird viel gezeichnet,<br />

auch digital. Und man muss verinnerlicht haben:<br />

Der erste Gedanke ist nicht immer der richtige.<br />

Man braucht Methode und Experiment, um<br />

kreativ zu sein und um ein Projekt angstfrei<br />

durchführen zu können. Planung ist ein großes<br />

Thema: Es gibt Themen, die so komplex sind,<br />

dass man sie nicht über Nacht entwickeln kann.<br />

Daran muss man sich herantasten. Selbst die<br />

Dinge, die wir gut kennen, zum Beispiel Türgriffe<br />

oder Lichtschalter, muss man noch einmal<br />

erforschen. Das transdiziplinäre Wissen wie<br />

Gebrauch, Technologie und Markt wird bei uns<br />

ebenso gefördert wie alles rund um <strong>Gestaltung</strong>.<br />

Dabei wiederum geht es um Form, Fläche,<br />

Farbe, um perspektivisches Sehen, die Arbeit am<br />

Computer.<br />

Bekommen Sie Anfragen von Firmen, die möchten,<br />

dass Ihre Studenten etwas gestalten?<br />

Ja. Dieses Jahr hatten wir ein Projekt mit VW,<br />

Abteilung Konzern Zukunftsforschung und<br />

Trendtransfer, und eines mit der Ikea Stiftung.<br />

Die Studenten sind dann gefragt, die Situation<br />

zu analysieren, sie quasi auf den Kopf zu<br />

stellen, ganz anders zu betrachten und mit<br />

neuen Lösungen zu kommen. Sie sollen sich


von dem Gewohnten entfernen und etwas neu<br />

interpretieren. Deshalb gibt es auch ungewöhnliche<br />

Lösungen: zum Beispiel Brillen, die das<br />

Gegenüber erkennen können, um Sehbehinderten<br />

Informationen mitzuteilen. Oder Produkte,<br />

die sprechen können. Wir versuchen ja, bei<br />

neuen technischen Entwicklungen zu schauen:<br />

Was hat der Mensch davon? Als Gestalter ist<br />

man ein ganzes Stück weit pragmatisch und<br />

möchte sofort in Lösungen denken. Dann wird<br />

entweder für das Jahr 2025 vorausgedacht – oder<br />

wir arbeiten an Entwicklungen, die man morgen<br />

schon produzieren könnte.<br />

Sie bilden Studenten aus, haben aber auch Ihre<br />

eigene Designfirma. Wie geht das?<br />

Die Lehre ist etwas, bei dem man viel gibt. Um<br />

das zu können, ist es wichtig, zu wissen, wie<br />

der Alltag im Design aussieht. Mich faszinieren<br />

hauptsächlich Dinge, die ich erfassen kann.<br />

Produkte im Außenraum, Büro, Home Accessoires<br />

oder Möbel, alles, was quasi Menschgröße<br />

hat, was ich ablaufen, begreifen, anfassen kann.<br />

Mich hat auch Architektur immer interessiert,<br />

aber der Maßstab ist dann doch nicht der meine.<br />

Was hat Sie überhaupt dazu bewogen, Industriedesign<br />

zu studieren?<br />

Ich habe gern an Autos herumgeschlüsselt. Dann<br />

habe ich eine Schreinerausbildung gemacht<br />

und in einer Keramikwerkstatt gelernt, wie man<br />

mit Ton und Porzellan umgeht. Das war mir alles<br />

nicht genug. Industriedesign war der einzige<br />

Beruf, in dem man querdenken kann, mit den<br />

verschiedensten Materialien und Fertigungstechniken<br />

zu tun hat und sie mischen kann.<br />

Wie ist das heute bei Ihren Studenten: Warum<br />

wollen die Industriedesign studieren?<br />

Es gibt individuelle Triebfedern. Als Gestalter ist<br />

man oft skeptisch. Ich zum Beispiel gehe nicht<br />

so gern einkaufen, weil mir vieles nicht gefällt.<br />

Ich würde das selbst oft anders gelöst haben.<br />

Manche Studenten stören sich wie ich so sehr an<br />

Dingen, sie ärgern sich, dass ein Produkt nicht<br />

so und so funktioniert. Oder sie sind Bastler.<br />

Die meisten Industriedesigner wollen bilden,<br />

formen, zeichnen.<br />

So entsteht dann irgendwann etwas, das Sie<br />

bewerten müssen. Wie definieren Sie dabei gutes<br />

Design?<br />

Gutes Design ist ästhetisch und kulturell wert-<br />

voll, es setzt neue Maßstäbe und ist wirtschaftlich<br />

überzeugend. Die Studenten müssen in<br />

ihrer Dokumentation und Präsentation auch die<br />

Sensibilität zeigen, mit der sie dieses Projekt-<br />

problem bearbeitet haben: Können sie es wahrnehmen,<br />

durchspielen und mit einer adäquaten<br />

Lösung auf den Punkt bringen? Es wird <strong>als</strong>o<br />

nicht nur das Design, sondern auch der Plan<br />

bewertet. Wenn jemand nicht innerhalb der<br />

geplanten Zeit fertig wird, hat er in Zukunft bei<br />

seinem Auftraggeber verloren.<br />

Sie arbeiten lösungsorientiert. Ist es einfacher,<br />

sich ein Problem zu suchen, statt frei zu sagen:<br />

Ich gestalte mal eine Vase?<br />

In der Hochschule arbeite ich immer problemorientiert<br />

– das ist auch in der Industrie so.<br />

Man macht nicht einfach mal ein Mobiltelefon,<br />

schließlich ist das mit Riesenkosten, Zeit- und<br />

nr. 5 | heimatobjekt<br />

Arbeitsaufwand verbunden. Und wenn jemand<br />

eine Vase einfach so entwickelte, müsste er<br />

überlegen: Gibt es die schon? Und was habe ich<br />

davon, warum ist sie so besonders? Es ist sehr<br />

sinnvoll, sich stattdessen erst einmal grundsätzlich<br />

mit der Aufbewahrung von Blumen im Haus<br />

auseinanderzusetzen. Vielleicht hat man am Ende<br />

einen Glastisch, in dem man selbstgezüchtete<br />

Tomaten wachsen lässt. Man kommt auf ganz<br />

neue Ideen, wenn man das Problem aufschlüsselt<br />

und danach auf den Punkt bringt. ◆<br />

19


heimatbild | nr. 5<br />

designer illustrieren<br />

heimat<br />

20


nr. 5 | heimatbild<br />

21


heimatbild | nr. 5<br />

22


heimatbild | nr. 5<br />

text Tanja Wissing<br />

Albert Palowski<br />

Albert Palowski hat Sehnsucht. Sehnsucht nach<br />

der Welt, die er in sich trägt. Daher hat sich<br />

der 36-Jährige aufgemacht: Mit seinem Semesterticket<br />

suchte er, dam<strong>als</strong> noch Grafikdesign-<br />

Student, im ganzen Ruhrgebiet nach Zwischenorten.<br />

„Wirklich und zugleich nicht-wirklich“,<br />

beschreibt er. Er hat sie gefunden und ihnen den<br />

fantastischen Namen „Irdenlen“ gegeben. Über<br />

200 solcher Orte hat er zwischen Dortmund und<br />

Duisburg mit seiner Kamera analog festgehalten<br />

und in einem Buch für sein Diplom zusammengestellt.<br />

Sei es nun der Schatten eines Baumes,<br />

der auf eine Mauer fällt, oder eine Häuserfassade,<br />

die sich fast unwirklich gegenüber einer dunklen<br />

Ausfahrt erhebt: Allen Arbeiten ist eine<br />

verhaltene Romantik, eine stille Poesie zu eigen.<br />

Auch die für <strong>Heimatdesign</strong> ausgewählte Arbeit<br />

strahlt etwas Surreales aus. Albert Palowski hat<br />

so seine Sehnsucht nach einem paradiesischen<br />

Zustand künstlerisch ausgelebt. „Ich bin in Polen<br />

aufgewachsen, lebe aber schon 17, 18 Jahre in<br />

Deutschland – meine Heimat ist meine innere<br />

Welt“, erklärt er. Und so wird für den Suchenden<br />

auch ein mobiler Anhänger, der vor einem Neubaugebiet<br />

für Wohnungstüren wirbt, zu einem<br />

Symbol für Heimat.<br />

Geboren 1971 in Laurahütte/Polen, 2003-2008<br />

Studium Fachhochschule Dortmund, Ausstellungen:<br />

2007 Gruppenausstellung „Sieben im Park“, Hotel<br />

am Rombergpark, Dortmund, „bleibt alles anders“,<br />

Dortmunder Kunstverein. www.palowski.de<br />

Frank Machoczek<br />

Heimat – das ist für Frank Machoczek ein Begriff,<br />

der neu definiert werden muss. Die traditio-<br />

24<br />

nelle Auffassung davon <strong>als</strong> einem Ort, „an<br />

dem man aufgewachsen ist und vielleicht noch<br />

die Arbeit seines Vaters fortgeführt hat“, greift<br />

für ihn nicht mehr. „Diese Lebensweise wird<br />

heute immer mehr aufgebrochen, allein schon<br />

dadurch, dass man öfter seinen Arbeitsplatz<br />

wechseln muss.“ Er selbst ist in Bonn geboren,<br />

in Siegen aufgewachsen und hat in Dortmund<br />

studiert. In den Augen des 27-Jährigen verzweigen<br />

sich die Lebenswege der Menschen immer<br />

stärker. Die wachsende Individualisierung der<br />

Gesellschaft bringt für Frank Machoczek, der<br />

sich mit dem Thema bereits während seines<br />

Studiums beschäftigt hat, einen Zuwachs an<br />

Selbstbestimmung, damit aber auch an Selbstverantwortung<br />

mit sich. Als „eine zunehmende<br />

Vernetzung“ beschreibt er den gesamten<br />

Prozess. Auf einem linierten Bogen seines grün<br />

eingefärbten Collegeblocks hat er diese Gedanken<br />

festgehalten: Vor einem Auge, Symbol für<br />

die Wahrnehmung, entfaltet sich ein Netzwerk<br />

aus schwarzer Tusche. Wie ein Trichter wird es<br />

breiter und breiter, wächst gar über den Rand<br />

der Zeichnung hinaus.<br />

Geboren 1981 in Bonn, 2002-2008 Studium Fachhochschule<br />

Dortmund, Ausstellungen: 2008 „Arena<br />

und Agora“, Galerie Werkbank, Dortmund,<br />

www.frank-machoczek.com<br />

Alexander Gegia<br />

Es gibt Bilder, die bleiben im Kopf. Die Schlägereien,<br />

die Alexander Gegia nach einem Fußballspiel<br />

und zu viel Alkohol erlebte, zählen dazu.<br />

Seine Arbeiten in Öl auf Leinwand zeugen von<br />

dem Erlebten. Ein Jugendlicher hat sich auf<br />

dem Straßenpflaster zum Schlafen zusammengerollt.<br />

Barfuß. Seine Schuhe? Sind irgendwann<br />

irgendwo im Rausch verloren gegangen. In einer<br />

anderen Arbeit ist ein Jugendlicher auf der Mittellinie<br />

einer Straße betäubt von der Wucht des<br />

Alkohols liegen geblieben. Die Bierflasche noch<br />

in der Hand. Beide sind typische Opfer einer<br />

Freitag- oder Samstagabend-Zechtour. Doch<br />

Alexander Gegia will nicht werten, er will aber<br />

auch nicht wegschauen. <strong>Für</strong> den jungen Maler<br />

drückt seine Arbeit, die aus einer vierteiligen<br />

Serie stammt, nicht unbedingt Heimat aus. „Es<br />

sind jedoch vertraute Szenen aus dem Alltag“,<br />

sagt er. Auf den ersten Blick wirken sie vielleicht<br />

banal. Doch der ehemalige Immendorff-Schüler<br />

sieht sie <strong>als</strong> Dokumentation: „Ich mag es, wenn<br />

Malerei politische, gesellschaftliche Konnotationen<br />

trägt.“ Als Appell möchte Alexander Gegia<br />

seine Werke dennoch nicht verstanden wissen.<br />

Geboren 1980 in Tiflis/Georgien, 1998-2004<br />

Studium Kunstakademie Tiflis, seit 2006 Studium<br />

Kunstakademie Düsseldorf, Ausstellungen: u. a.<br />

2007 „Klasse Immendorff, von Pferden und Affen“,<br />

Ludwig Museum, Koblenz; 2008 Gruppenausstellung<br />

„Project Flux“, Sino-German Contemporary<br />

Art Exchange Exhibition, Sichuan University, Art<br />

Gallery Chuan Da Lu, Shuangliu, Chengdu, China<br />

Peter Roth<br />

Wo Peter Roths Heimat liegt? Ganz sicher nicht<br />

an einem bestimmten Ort. Heimat lässt sich für<br />

ihn weder geografisch noch zeitlich fassen. „Sie<br />

ist eher ein Gefühl“, sagt der 27-Jährige. „Ein<br />

Gefühl der Vertrautheit.“ Dieses entzündet sich<br />

für ihn an einer Sache, Farbe oder Person, die<br />

eine Erinnerung auslöse. Und gerade dies mache<br />

das Heimatgefühl flüchtig. Wer sich Peter Roths<br />

Foto- und Grafikarbeit erschließen möchte, muss<br />

auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Denn<br />

der Designer hat sowohl die Fotos <strong>als</strong> auch ein<br />

Diagramm so verfremdet, dass die Collage eine<br />

Unbestimmtheit und Leere produziert, die der<br />

Betrachter selbst füllen muss. Die theoretische<br />

Basis für die abstrakte Arbeit bildet Peter Roths<br />

Diplomprojekt: Mit der Aneignung von Welt hat<br />

sich der Dortmunder für „f.0 – Nullpunkt – Die<br />

Entdeckung der Leere“ befasst. „Im Mittelpunkt<br />

steht der Zustand der Leere und Unbestimmtheit<br />

– ein Zustand des ständigen Wechsels zwi-<br />

schen konzentrierter Betrachtung und umherschweifender<br />

Suche“, schildert er. Grafisch umgesetzt<br />

hat er das Thema, indem er z.B. Karten<br />

ihrer beschreibenden Elemente „beraubte“ und<br />

sie mit Fotostrecken oder Handzeichnungen<br />

kombinierte.<br />

Geboren 1981 in Lüdenscheid, 2002-2008 Studium<br />

Fachhochschule Dortmund, Ausstellungen: 2006<br />

Gruppenausstellung „Campus NRW“ – „Entry-<br />

2006“, Zeche Zollverein, Essen; 2007 Gruppenausstellung<br />

„On The Move“ - Stuttgarter Fotosommer,<br />

Sympra, Stuttgart; 2008 Diplomausstellung<br />

„Unkontrolliert“, Künstlerhaus Dortmund,<br />

www.peterroth.net


heimatbild | nr. 5<br />

Typografie<br />

Time after Times<br />

text Volker K. Belghaus | illustration Stefan Becker<br />

Grafikprogramme haben den<br />

Umgang mit Schrift auch für<br />

den Otto-Normal-Anwender<br />

ermöglicht. Diese Amateurtypografie<br />

hat durchaus ihren<br />

Charme – an guten Schriften<br />

kommt man trotzdem nicht<br />

vorbei.<br />

26<br />

Wahrscheinlich ist Bill Gates mal wieder an<br />

allem schuld. Oder Steve Jobs, je nach Weltanschauung.<br />

Man könnte jetzt die Systemfrage<br />

stellen und Äpfel mit Fenstern vergleichen, das<br />

führt aber nicht weiter. Es bleibt festzustellen:<br />

Die Einführung von Home-Computern hat den<br />

Umgang mit Typografie leichter gemacht und<br />

infolgedessen ein kreatives Inferno ausgelöst,<br />

dem nur schwer beizukommen ist. Zu Zeiten des<br />

Bleisatzes waren die Setzer noch unter sich; sie<br />

saßen in Werkstätten, betrieben richtiges Handwerk<br />

mit Buchstaben aus Blei und wogen die<br />

Schrifttypen in Kilo. Durch die Digitalisierung<br />

änderte sich das, sie nahm der Typografie die<br />

Schwere. In den 90er Jahren wurde der Blei-<br />

satz immer mehr von Computern und deren<br />

Grafikprogrammen abgelöst. Bedienerfreundli


che Betriebssysteme und Monitore konnten<br />

die Bilder und Schriften endlich naturgetreu ab-<br />

bilden, und damit war die Zeit, in denen ein<br />

grünliches Gepixel auf schwarzem Hintergrund<br />

Buchstaben darstellen sollte, endgültig vorbei.<br />

Auch die Nadeldrucker, die, wie Schreibmaschinen,<br />

nur mit wenigen Schrifttypen bestückt<br />

waren, um diese unter größtmöglichem Radau<br />

auf das Endlospapier zu knattern, waren reif für<br />

die Tonne. Eine bunte Grafikwelt tat sich auf, ein<br />

gestalterisches Teletubbie-Land für die breite<br />

Masse.<br />

Die Digitalisierung bedeutet die Demokratisierung<br />

der Schriftkunst. Anfangs arbeiteten<br />

wirklich nur Profis mit der Technologie, aber<br />

seitdem dicke Grafikprogrammpakete auf den<br />

Discount-Rechnern vorinstalliert sind, können<br />

sich auch Laien <strong>als</strong> Gestalter versuchen. Dabei<br />

bleiben sie meistens erst einmal an den vor-<br />

eingestellten und deshalb meistgenutzten Schriften<br />

hängen: „Times New Roman“ und „Arial“.<br />

Die „Times“ ist eine klassische „Antiqua“, die<br />

aus dem Zeitungsdruck kommt und von der<br />

englischen Zeitung „The Times“ verwendet<br />

wurde. Die Schriftart basiert auf der „Capitalis<br />

Monumentalis“, einer Schrift, die die Römer 100<br />

v. Chr. in Großbuchstaben (Versalien) in Gra-<br />

nit meißelten. Von dieser Technik sind die<br />

Serifen übriggeblieben, jene kleinen An- und<br />

Abstriche am Buchstaben, die gerade bei längeren<br />

Texten die Lesbarkeit erhöhen. Dagegen ist<br />

die „Arial“ eine „Serifenlose Linear-Antiqua“,<br />

„Grotesk“ oder „Endstrichlose“ – diese Variante<br />

entstand im ersten Drittel des 19. Jahrhundert.<br />

Also eine Art „Times“ ohne Häkchen, aber<br />

anders konstruiert: sachlicher, von Schnörkeln<br />

befreit.<br />

Die „Arial“ ist ein Sonderfall: Sie ist ein Klon. In<br />

den 50er Jahren entwarf der Schweizer Typograf<br />

Max Miedinger eine Schrift namens „Helvetica“,<br />

die sich zu einer der erfolgreichsten Schriften<br />

überhaupt entwickelte. Was früher Bleipakete<br />

waren, sind heute Dateien – gleich bleibt: Wenn<br />

man eine Schrift nutzen will, muss man sie kaufen.<br />

Wenn nun ein Computerhersteller alle seine<br />

Rechner mit der „Helvetica“ ausliefern will,<br />

muss er dafür teure Lizenzen bezahlen. Deswegen<br />

veränderte Microsoft die Helvetica minimal<br />

und installierte sie <strong>als</strong> „Arial“ im Betriebssystem.<br />

Ein weiteres Helvetica-Imitat ist die „Swiss“,<br />

die dem Grafikprogramm Corel Draw beiliegt,<br />

und die von 2001 an vom ZDF <strong>als</strong> Hausschrift<br />

eingesetzt wird. Dem ist nur schwer beizukommen,<br />

da es für Schriftdateien so wie gut keinen<br />

Kopierschutz gibt. Hinter einem Schriftentwurf<br />

steckt aber oft monatelange Entwicklung, und<br />

so ist es perfide, sich die Arbeit anderer eigen zu<br />

machen, in dem man ein Häkchen weglässt oder<br />

die Strichstärke verändert.<br />

Man liest unwissend darüber hinweg, aber Ge-<br />

stalter benötigen gerade für umfangreiche<br />

Satzarbeiten gut ausgebaute Qualitätsschriften<br />

mit möglichst vielen Sonderzeichen. Dazu<br />

gehören immer noch die oben erwähnten Stan-<br />

dards. In den letzten Jahren besonders beliebt<br />

sind „Frutiger“ (Leitsystem des Flughafens<br />

Charles de Gaulle), „Thesis“ (ARD und Tagesschau)<br />

oder „DIN“ (Deutsche Autobahnbeschilderung)<br />

– diese Schriftfamilien sind mittlerweile<br />

bis hin zu den abseitigsten osteuropäischen Son-<br />

derzeichen ausgebaut. Nicht nur die Schrift<br />

selber, sondern auch die Art, mit ihr zu gestalten,<br />

ist Moden unterworfen. So war in den 90ern,<br />

den Zeiten des „anything goes“, der kalifornische<br />

Surfer und Gestalter David Carson der<br />

Lebensabschnittsheilige der Szene. Der lagerte<br />

Text- und Bildebenen bis zur Unlesbarkeit über-<br />

einander und entwarf auch experimentelle, fast<br />

unleserliche Schriften für Magazine wie „Ray<br />

Gun“. Aber irgendwann ist auch der schönste<br />

Kindergeburtstag vorbei und das große Aufräumen<br />

angesagt. Um die Jahrtausendwende kamen<br />

Magazine wie „brand eins“ auf den Markt, die<br />

gemäß der Parole „Quiet is the new loud“ den<br />

Gegenentwurf probten: Sie verwenden edle<br />

Antiquaschriften wie die „Sabon“ und bauen die<br />

Magazinseiten ruhig und mit viel Weißraum auf.<br />

Unter Hobbytypografen am heimischen PC<br />

sind weiterhin die krudesten, vorinstallierten<br />

Dekoschriften wie die infantile „Comic Sans“<br />

verbreitet, womöglich hinterlegt mit einem<br />

Regenbogenverlauf. Warum? Weil es geht. Und<br />

weil viele Menschen, die ihre Einladungskarten<br />

selbst zusammenschrauben, es eben nicht<br />

besser wissen. Das zeigt, dass für gute Typografie<br />

Experten gefragt sind. Und Schriften jenseits<br />

der großen Namen – die eben Geld kosten.<br />

Die besten Schriften sind für Satzarbeiten ge-<br />

eignet und weisen kleine Details auf, die das<br />

Schriftbild neu und einzigartig machen, ohne<br />

die Lesbarkeit einzubüßen. Man nennt so etwas<br />

Charakter. ◆<br />

<strong>Heimatdesign</strong><br />

sucht …<br />

nr. 5 | heimatbild<br />

… neue Schriften. <strong>Für</strong> die kommende Ausgabe<br />

schreibt <strong>Heimatdesign</strong> einen Typografie-Wettbewerb<br />

aus. Gefragt ist jeweils<br />

eine Schrift für Überschriften (Headline),<br />

Vorspann (Lead) und Text. Die Teilnehmer<br />

können Vorschläge für alle drei einreichen<br />

oder sich eine der Aufgaben vornehmen.<br />

Der Wettbewerb beginnt im März. Die<br />

Fristen und Teilnahmebedingungen stehen<br />

dann auf www.heimatdesign.de.<br />

27


heimatbild | nr. 5<br />

Bridges – Fotoprojekt<br />

Emscher Zukunft<br />

Über den Fluss<br />

text Tom Thelen<br />

„destroy/create“ heißt das Thema des diesjährigen Wettbewerbs<br />

zum Fotoprojekt über die Emscher. Ein Thema, das zur Geschichte<br />

des Flusses zwischen Holzwickede und Dinslaken passt.<br />

Rund 80 Kilometer lang ist dieser Fluss, dessen<br />

Geschichte für die Region typischer ist <strong>als</strong> jene<br />

der Ruhr. Die Emscher wurde zum offenen Ab-<br />

wasserkanal der Industrialisierung: Sie stank<br />

zum Himmel. Seit 1991 wird sie renaturiert, ein<br />

gewaltiges Vorhaben mit einem Gesamtvolumen<br />

von 4,4 Mrd. Euro. Im Jahr 2005 hat die verantwortliche<br />

Emschergenossenschaft „Bridges –<br />

Fotoprojekt Emscher Zukunft“ ins Leben gerufen,<br />

angeregt durch die mehr <strong>als</strong> 200.000 Archivfotos<br />

des Wasserwirtschaftsverbandes. Das Projekt<br />

28<br />

lädt zur fotografischen Auseinandersetzung mit<br />

dem Wandel des Flusses und seines Umfeldes<br />

ein und soll „dokumentieren, kommentieren, fo-<br />

kussieren und vermitteln.“<br />

Damit erinnert „Bridges“ an das Fotoprogramm<br />

der Farm Security Administration in den USA<br />

der 30er Jahre. Sie beauftragte Künstler wie<br />

Walker Evans und Gordon Parks, die Nöte der<br />

Bevölkerung zu zeigen und darüber zu berichten.<br />

„Bridges“ versucht Ähnliches. In diesem Jahr<br />

etwa steht die Frage nach dem prekären Verhält-<br />

Beispiele aus den Serien der Sammlung (von links):<br />

Marita Bullmann „ZOB/Berliner Platz“, Christian Diehl<br />

„Betreten Verboten“, Henk Wittinghofer „Schwaden“,<br />

Dominik Asbach „Die Taubenzüchter“<br />

nis zwischen Zerstörung und (Wieder-)Aufbau<br />

im Vordergrund. Bis zum Ende des Emscher-<br />

Umbaus 2020 sollen dann Fotos „eine zweite<br />

Landschaft zeigen: eine, die aus Erinnerungen,<br />

Visionen, Wünschen – aus Sichtbarem und<br />

Unsichtbarem besteht.“<br />

In diesem Jahr ist der Wettbewerb mit insgesamt<br />

20.000 Euro dotiert – verteilt auf mehrere Preise.<br />

Mitglied der Jury ist Mario Lombardo, bekannt<br />

<strong>als</strong> Art Director von Spex, Dummy oder Liebling.<br />

Weitere Jurymitglieder stammen aus den<br />

Bereichen Publizistik, Soziologie, Fotografie,<br />

Akademie und Planung. Die Zusammenarbeit<br />

mit eben diesen Planern ist ein weiterer Ansatz<br />

des Projekts: Idealerweise soll ein konkreter<br />

Dialog zwischen dokumentarischen, gleichwohl<br />

auch ästhetischen Positionen und den verantwortlichen<br />

Planern des konkreten Umbaus<br />

stattfinden. Gefragt sind Ideen, die die vielfältigen<br />

wirtschaftlichen, kulturellen, landschaftlichen<br />

und sozialen Verhältnisse kreativ abbilden.<br />

Bisher wurden jedes Jahr um die 100 Fotoserien<br />

eingereicht – mit steigender Tendenz und zumeist<br />

von heimischen Künstlern, die professionell<br />

mit dem Medium arbeiten.<br />

Einsendeschluss für den Wettbewerb 2008<br />

ist der 12.01.2009.<br />

www.bridges-projects.com


© Markus Mrugalla<br />

Fünf Fragen an Mario Lombardo<br />

Als Art Director hat Mario Lombardo für Maga-<br />

zine wie Spex, Dummy und Page gearbeitet.<br />

Er trägt unter anderem den Designpreis der<br />

Bundesrepublik Deutschland und den Red Dot<br />

Award, 2008 wurde er von der Lead Academy<br />

zum „Visual Leader of the Year“ gewählt. Als<br />

Künstlerischer Leiter des Bridges-Fotoprojekts<br />

erzählt er vom Austausch zwischen Kunst und<br />

Planung, von besonderen Bildsprachen – und der<br />

Emscher.<br />

Herr Lombardo, was sagen Sie, wenn Sie gefragt<br />

werden: Was ist denn die Emscher?<br />

Ich sage: Das ist ein spannender Fluss, der mit<br />

der Zeit geht und sich den Bedürfnissen seiner<br />

Umwelt anpasst. Er erlebt jetzt gerade seine dritte<br />

Formveränderung. Erst war er ein gewöhnlicher<br />

Fluss, der in seiner Vergangenheit sogar<br />

zum Weinbau diente. Dann hat er jahrzehntelang<br />

<strong>als</strong> Kanal das Abwasser und Grubenwasser des<br />

Ruhrgebiets transportiert und wurde zur offenen<br />

Kloake einer ganzen Region. Und nun setzt man<br />

buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung,<br />

diesen Fluss wieder in einen „natürlichen“ Fluss<br />

zu verwandeln. Großartig.<br />

Mit den Planern dieses Prozesses soll das Fotoprojekt<br />

in den Dialog treten. Klappt das?<br />

Das kommt darauf an, was man sich davon ver-<br />

spricht. In diesem Fall kann man nicht davon<br />

ausgehen, dass die Rechnung „eins plus eins“<br />

zwei ergibt. Diese Planungsergebnisse, von de-<br />

nen wir hier sprechen, sind die Folge weitreichender<br />

kalkulierbarer Zusammenhänge und<br />

Fakten. Einem künstlerischen Ergebnis wohnen<br />

solch feste Parameter nur zu einem Teil bei. Ich<br />

versuche in meiner Aufgabe <strong>als</strong> Künstlerischer<br />

Leiter, zwischen den Parteien zu vermitteln und<br />

eine Sensibilität zu erzeugen. Es gibt beispielsweise<br />

Podiumsdiskussionen, bei denen sich Vertreter<br />

der verschiedenen Bereiche austauschen.<br />

Mit welchem Effekt?<br />

Ob das dann ganz konkrete Auswirkungen auf<br />

den Prozess des Emscher-Umbaus hat, bleibt<br />

eine Hoffnung. Das hängt nämlich auch von der<br />

eben erwähnten Sensibilität der Planenden ab<br />

und kann deswegen nicht das Erfolgsbarometer<br />

nr. 5 | heimatbild<br />

des Fotoprojekts sein. Eine Zweckorientierung<br />

empfinde ich <strong>als</strong> hinderlich, wenn zugleich der<br />

freie, künstlerische Anspruch hochgehalten werden<br />

soll. Wenn die Arbeiten dennoch konkreten<br />

Einfluss auf die Planung haben – um so besser.<br />

Einige, wie beispielsweise die Nachtaufnahmen<br />

von Stefan Bayer, haben diesen ja auch schon<br />

gehabt.<br />

Gibt es eine Gemeinsamkeit in den Arbeiten,<br />

etwas, das in anderen Medien „Sprache“ oder<br />

„Sound“ genannt würde?<br />

Nostalgie vielleicht, und ein gewisser Stolz. Bis-<br />

her haben besonders Menschen teilgenommen,<br />

die im Emschergebiet leben oder aus dem Ruhrgebiet<br />

stammen. Das merkt man den Arbeiten<br />

sehr stark an. Sie sind alle sehr unterschiedlich,<br />

aber ihnen gemeinsam ist ein liebevoller Umgang<br />

mit der Region – trotz der ebenso vorhandenen<br />

Kritik.<br />

Wie idyllisch darf ein Abwasserkanal denn<br />

aussehen?<br />

Das hängt ganz von der subjektiven Perspektive,<br />

dem Geist und der Idee des Fotografen ab.<br />

Eine idyllische Inszenierung kann beispielsweise<br />

eine bewusst eingesetzte Verfremdung zum<br />

Ausdruck bringen, vielleicht spiegelt sie eine Er-<br />

innerung oder ist <strong>als</strong> Kommentar zu verstehen.<br />

Es geht bei diesem Fotoprojekt nicht um reali-<br />

tätsgetreue Dokumentationsfotografie. Ich<br />

wünsche mir sogar abstrakte oder modellhafte<br />

Arbeiten. Ich suche nicht nur gute Umsetzungen,<br />

sondern vor allem gute Ideen. Ich wünsche<br />

mir von den Teilnehmern einen möglichst<br />

inspirierten, freien und künstlerischen Umgang<br />

mit dem Thema Emscher-Umbau. ◆<br />

29


heimatkultur | nr. 5<br />

Gereon Lepper<br />

Der stille Maschinist<br />

text Volker K. Belghaus | fotografie Kim Sperling „Kapiere ich auch nicht alles, was ich so baue.“<br />

Wie jetzt? Gereon Lepper schickt ein Lächeln<br />

Und sie bewegen sich doch:<br />

Gereon Leppers Installationen<br />

suchen Technik und finden<br />

Natur.<br />

30<br />

hinterher, aber der Satz ist raus. Klingt kokett, ist<br />

aber ehrlich gemeint. Manche der Bewegungsabläufe<br />

seiner Installationen sind halt nur durch<br />

Fummeln zu finden, wie er sagt. Dabei kann man<br />

Leppers Werk durchaus eine angewandte Komplexität<br />

unterstellen, die viel Wissen in Physik<br />

und Maschinenbau zu erfordern scheint. Fotos<br />

bringen den Betrachter nicht weiter: Man muss<br />

schon erleben, wie die Konstruktionen durch<br />

Motoren, Wind, Wasser und Gravitation zum<br />

Leben erwachen – wie Sperriges poetisch wird.<br />

Wie der „Lockruf der Berge“, eine stählerne, mit<br />

bröckeligen Steinen gefüllte Trommel, die, sich<br />

langsam drehend, die Steine zu einem Berg aufhäuft;<br />

irgendwann fällt der dann in sich zusammen,<br />

wobei die Steine immer mehr zerkrümeln.<br />

Ab einem bestimmten Punkt überlässt Lepper<br />

die Kontrolle seiner Arbeiten den natürlichen<br />

Einflüssen. Nahe seines Ateliers, einer Werkhalle<br />

auf der Hattinger Henrichshütte, steht an einem<br />

Kreisverkehr sein überdimensionierter Wegweiser<br />

mit dem Titel „Die Kenntnis der einzuschlagenden<br />

Richtung“. Vertrauen kann man dem<br />

roten Pfeil aber nicht – schon ein leichter Wind<br />

dreht ihn eine andere Richtung. Das sind sanfte<br />

Veränderungen der Umwelt; eine Zähmung<br />

der Natur liegt Lepper fern, es geht ihm eher um<br />

das spielerische Sichtbarmachen von Energie.<br />

Schon wirft der Künstler „Drei Bucks auf Charlie“<br />

an, ein Kreissegment, an dessen oberen Ende<br />

sich zwei gegenüberstehende Flugzeugpropeller<br />

gegenseitig stabilisieren. Der Höllenlärm vertreibt<br />

Leppers Rehpinscher Leo in die hintere<br />

Ecke des Ateliers. Lepper steht im entfachten<br />

Sturm und bekennt: „Das Aggressive stellt für<br />

mich auch eine Poesie dar – eine Poesie der<br />

Gewalt.“ Selbstironisch gibt der Künstler seinen<br />

Höllenmaschinen Namen wie „Babette“ oder<br />

„Käthe Hermann“. Wenn alles klappt, ist der<br />

stille Maschinist bald auf französischen Wasserstraßen<br />

zu finden. Dann hätte sich sein Traum<br />

vom solarbetriebenen Atelier-Hausboot erfüllt.<br />

Die Konstruktionspläne für diesen Traum hängen<br />

schon im Atelier – ganz ohne Fummeln. ◆<br />

www.gereonlepper.de


Jedes Material hat spezielle Qualitäten.<br />

Eine unserer Spezialitäten ist, Sie darüber zu informieren.<br />

Die Begegnung erlesener, natürlicher und innovativer Materialien in Symbiose mit handwerklicher Perfektion und reduziertem Design, ist<br />

das Wesen eines 3form Unikates. Das Wissen um die Güte und Beanspruchung ausgewählter Materialien, ist der Garant für Dauerhaftigkeit.<br />

Lassen Sie sich inspirieren. 3form gestaltet und fertigt Einrichtungen und Möbel nach Maß. Ab Januar in neuer Werkstatt.<br />

3form GmbH Tischlerei, Raum-/ Objektdesign, Auf dem Hövellande 5, 44269 Dortmund, Tel. 02 31/ 700 55 50, www.3form.de, info@3form.de


heimatkultur | nr. 5<br />

Wohnen unter Tage<br />

Mit Puschen ins Theater<br />

text Tom Thelen | fotografie Kim Sperling<br />

„Neue Heimat“ heißt ein aktuelles Projekt zur kreativen<br />

Nutzung des Bochumer Theaters unter Tage: Kristo Šagor,<br />

32-jähriger Autor und Regisseur, wohnt jetzt dort.<br />

Das Bochumer Schauspielhaus sorgte in der<br />

Spielzeitpause für ein schönes neues Heimat-<br />

Design. Wo in den letzten Jahren der Nachwuchs,<br />

das Experiment und die Partypeople das<br />

Sagen hatten, ist jetzt eine funktionstüchtige<br />

Wohnung entstanden. Inklusive Sanitärbereich<br />

und Küche mit Herd und Waschmaschine, zentralem<br />

Bett, vielen Sofas, einem Fernseher und<br />

Bücherregalen, die aber bei näherer Betrachtung<br />

mit reichlich viel Schrott befüllt sind.<br />

In diesem fensterlosen Riesenraum lebt und arbeitet<br />

Kristo Šagor bis zum Ende der Spielzeit.<br />

Das heißt, er veranstaltet dort Konzerte, Karaoke,<br />

Lesungen und Vorlesungen, bittet Schauspieler,<br />

ihre Lieblingsplatten vorzuspielen und dazu<br />

aus dem wilden Nähkästchen zu plaudern, holt<br />

32<br />

sich Bochumer Bürger und ihre mittelinteressanten<br />

Geschichten in die Wohnung und zeigt<br />

dort auch seine Inszenierungen. Allein die Wohn-<br />

situation „unter Tage“ gibt dabei dann schon<br />

konzeptionelle Vorgaben.<br />

Geschichten von unten will der Theatermacher<br />

(„Genannt Gospodin“) immer wieder hervorholen,<br />

manchmal ganz konkret: mit den Storys<br />

eines Bestattungsunternehmers oder von Bergleuten.<br />

Dazu dann eben diejenigen Geschichten,<br />

die quasi nur subkutan überall verborgen lie-<br />

gen – wie die zu den Lieblingsliedern seiner En-<br />

semblekollegen. Daneben thematisiert und<br />

theoretisiert er das Wohnen und das Zusammenleben<br />

gelegentlich <strong>als</strong> Großprojekt, mit Wissenschaftlern<br />

und anderen Experten, der Rest<br />

des Theaterfests ist Spiel und Spaß mit Musik,<br />

Literatur und Küchenparty. Dabei kommen<br />

dem theoriefesten Betrachter avantgardistische<br />

Konzepte des 20. Jahrhunderts in den Kopf, von<br />

der Auflösung der Kunst in Lebenspraxis bis hin<br />

zur Kommune 1 – doch der Spaß im Keller an<br />

der Königsallee soll gar nicht so tief gelegt sein.<br />

Natürlich kenne er diese Dinge, sagt Šagor, man<br />

sei unterschwellig in der künstlerischen Arbeit<br />

immer dadurch beeinflusst. Doch dieses Konzept<br />

sei einfach eine Idee gewesen, die aus einer<br />

Anfrage zur Nutzung des Raumes entstand. Man<br />

habe dann dieses sehr offene Projekt entworfen,<br />

zu dem jeder Zugang hätte.<br />

Eines der Hauptanliegen des Theatermachers ist<br />

es, den Zuschauer in der „Neuen Heimat“ zum<br />

Überdenken, zum Zweifeln an Alltagskategorien<br />

zu bringen. Wer einmal hierher gekommen sei,<br />

ein Theaterstück <strong>als</strong> Zuschauer zu sehen, dann<br />

aber beim nächsten Mal lässig in der Küche sitze,<br />

bemerke womöglich das Zerfallen von Kategorien<br />

wie „Wohnung“ oder „Bühne“. Eine recht<br />

optimistische Idee, bedenkt man, dass sich das<br />

alles ja in der Institution Stadttheater abspielt.<br />

Und doch ist es interessant fürs kulturelle Leben,


wenn sich diese Institution mit ihren – auch<br />

ökonomisch – vielfältigen Möglichkeiten öffnet<br />

und versucht, ein anderes Publikum anzulocken<br />

<strong>als</strong> jenes, das sich humanistisches Bildungsgut<br />

auf der Guckkastenbühne vorführen lassen will.<br />

Im besten Fall wird das Theater so zu einem<br />

Zentrum von akademischen, theoretischen und<br />

auch Party-Diskursen, die befreit sind von den<br />

Zwängen ihrer üblichen Umgebungen wie Uni<br />

oder Club. Bisher läuft Šagors Wohnclub aber<br />

noch etwas heimelig und bieder ab. Nach der<br />

Premiere des grandiosen Stückes „Haus der<br />

tausend Zungen“ von Jonathan Garfinkel präsentierte<br />

sich der Regisseur etwa in blauen Pantoffeln<br />

– ganz der gemütliche, stolze Hausherr.<br />

Vielleicht muss es sich noch etwas herumsprechen,<br />

dass sich dort unten etwas befindet, das<br />

auch denjenigen eine Heimat verspricht, die sich<br />

in den letzten Jahren vom Bochumer Schauspielhaus<br />

– aus welchen Gründen auch immer<br />

– abgewandt haben. Oder für jene, die bisher<br />

überhaupt nicht auf die Idee verfallen sind, eine<br />

Heimat ausgerechnet im Theater zu suchen. Deren<br />

Design muss quasi geschärft werden. Wenn<br />

das schief läuft, hat der junge Mann allerdings<br />

auch kein Problem: Sein „Mietvertrag“ läuft<br />

sowieso mit Spielzeitende aus. Dann wohnt er<br />

halt wieder woanders – dort, wo niemand seine<br />

blauen Puschen sehen kann. ◆<br />

Neue Heimat – Wohnen unter Tage<br />

bis zum 28.02.2009<br />

Öffnungszeiten: mo-fr 10-18, sa 10-14 & 18 Uhr bis<br />

Öffnung der Abendkasse, so 17-18 Uhr.<br />

www.wohnenuntertage.de<br />

technische universität<br />

dortmund<br />

gefördert durch<br />

www.kultur-unternehmen-dortmund.de<br />

für Unternehmensgründungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft


heimatkleid | nr. 5<br />

Hochzeit in Marxloh<br />

Die rettende Robeninsel?<br />

text Petra Engelke | fotografie Dennis Yenmez<br />

Prinzessinnenparadies, Hochzeitsmekka:<br />

Es gibt viele<br />

Schlagworte für die Geschäfte,<br />

die sich an der Weseler Straße<br />

in Duisburg-Marxloh ballen.<br />

Im Mittelpunkt steht die Mode.<br />

Rettet sie am Ende den Stadtteil?<br />

34<br />

Meterweise schneeweißer Tüll über dem Reifrock<br />

– ja, so stellt man sich die Brautmode vor.<br />

Daneben brilliert eine plissierte Empire-Linie<br />

in Champagner. Schon der erste Schaufensterbummel<br />

in Duisburg-Marxloh hinterlässt zwei<br />

Eindrücke: Sowohl Designs <strong>als</strong> auch Preise ge-<br />

hen weit auseinander.<br />

Es gibt Brautkleider in allen erdenklichen Aus-<br />

maßen, tief dekolletierte, fließende Neckholder<br />

in leuchtenden Farben, reich bestickte, dunkelrot-golden<br />

schimmernde Zweiteiler mit knappen<br />

Korsagen und passenden Boleros, außerdem<br />

Anzüge aus edlem Stoff in gedeckten Farben, ver-<br />

wegene violette Rüschenhemden und Herrenwesten<br />

mit aufwändigem floralen Muster in<br />

Schwarz-Silber.<br />

Die Ladenbesitzer lassen zusätzliche Perlen auf<br />

die zum Kleid passenden Handschuhe sticken<br />

oder entwerfen gleich das ganze Outfit speziell<br />

für die Kundin – Extraservice und Maßanfertigungen<br />

sind hier sozusagen Standard. Von der<br />

Stange kommen nur Modelle, die in die Ausrichtung<br />

des jeweiligen Ladens passen; einer hat sich<br />

auf Extravagantes spezialisiert, der nächste auf<br />

schlichte, junge Mode. Ein Brautkleid ist schon<br />

für etwa 300 Euro zu haben, Abendkleider knapp<br />

unter 100 Euro – beides gibt es aber auch im<br />

deutlich vierstelligen Bereich. Nach oben gibt<br />

es keine Grenzen. Nur billigen Ramsch verkauft<br />

hier niemand. Das wiederum ist eines der Vorurteile,<br />

gegen die diese Einkaufsmeile täglich<br />

nadelstichhaltige Beweise liefert. Die Geschäfte


gehören Türken oder türkischstämmigen Deutschen;<br />

sie kämpfen gegen die Vorstellung, dass<br />

türkische Festkleidung aus Rüschen, Schleifchen<br />

und Billigstoffen besteht. Schließlich ist die Textilindustrie<br />

in der Türkei längst nicht mehr für<br />

hastig gefertigte Ware bekannt; mit den Preisen<br />

der asiatischen Großproduktionen konnte sie<br />

schon vor Jahren nicht mehr Schritt halten – so<br />

besann man sich auf Qualitätsarbeit.<br />

Heute bestellen auch internationale Designer<br />

hochwertige Stoffe in der Türkei – etwa aufwändige<br />

Stickereien und Seidentaft, wie man ihn<br />

in Deutschland schwerlich bekommt. Von entsprechenden<br />

Kontakten profitieren die Händler<br />

in Marxloh. Und was das Design betrifft: Klare<br />

Schnitte sind derzeit bei türkischen Designern<br />

beliebter <strong>als</strong> ein Overkill an Dekoration. Vielen<br />

deutschen Bräuten hingegen bedeutet Traumhochzeit<br />

häufig genau das - ein uferloses weißes<br />

Kleid in Zuckerbäckermanier.<br />

Gebannt blicken zwei junge Damen auf ein rosa<br />

Kleid, das in einem Geschäft namens White<br />

Lady effektvoll auf eine Puppe drapiert ist. Die<br />

Korsage ist mit Perlen bestickt, die an runde<br />

Blüten erinnern, und geht in einen ausladenden<br />

Rock über, dessen unzählige Tüllvolants an den<br />

Seiten zu großen Rosen zusammenlaufen. Darin<br />

könnte die Braut Dornröschen sein und von<br />

einem märchenhaften Erwachen träumen. In<br />

Nach oben gibt es keine Grenzen.<br />

Nur billigen Ramsch verkauft hier niemand.<br />

voller Rüstung wird der Bräutigam wohl nicht<br />

erscheinen, aber schimmern, das geht: Ein paar<br />

hundert Schritte weiter steht ein Modell im<br />

Schaufenster, das zu einem schlichten, weißen<br />

Hemd einen goldglänzenden Anzug trägt – mit<br />

glitzernden Manschettenknöpfen.<br />

Die Braut lässt sich derweil von einer Verkäuferin<br />

ein weißes, schulterfreies Modell mit Spitze<br />

und Stickerei von einer der Puppen zupfen.<br />

Während beide in der geräumigen Umkleidekabine<br />

verschwinden, schaut sich die Begleiterin<br />

die Schuhe an, die auf stilisierten Säulen am Ein-<br />

gang wie zur Parade stehen: hochhackige, aus<br />

Seide gearbeitete Modelle in zartrosa, leuchtendlila,<br />

moosgrün, apfelbäckchenrot, katzenfell-<br />

schwarz. Sie passen exakt zu den Abendkleidern,<br />

es gibt sie mit Glitzerspange oder Seidenapplikation.<br />

Über all dem schwebt die Stimme eines türkischen<br />

Sängers. Weiter hinten im Laden steht ei-<br />

ne Recamiere aus rotem Plüsch, davor ein Tischchen<br />

mit einer Schale voller Zuckerstückchen.<br />

Tee wird gerade nicht serviert. Eine Kopftuch-<br />

nr. 5 | heimatkleid<br />

trägerin hockt am Rand, über die Lehne hat sie<br />

einen goldglänzenden Rock ausgebreitet, auf<br />

dem Tisch liegen passende Perlen und daneben<br />

ein Stück hauchzarten weißen Stoffs: ein Schleier,<br />

dem vielleicht auch noch etwas Dekoration<br />

fehlt.<br />

Hochzeitskleider, so erzählen die Verkäuferinnen<br />

nebenan bei Duett, werden grundsätzlich zusammen<br />

mit Schleier und Spange oder Diadem<br />

verkauft – es soll glitzern, auch wenn bei ihnen<br />

die Kleider weniger pompös ausfallen. Röcke<br />

mit vielen Volants liegen zwar im Trend, aber<br />

diejenigen mit zig Stofflagen laufen nicht mehr.<br />

Erst recht nicht die Zweiteiler. Stattdessen holen<br />

die beiden einige lange Abendkleider in leuchtenden<br />

und gedeckten Farben: ein dunkelrotes<br />

Satinkleid mit zierlichen, aus Perlen gestickten<br />

Blütenranken am Dekolletee, ein unschuldig<br />

aussehendes Spaghettiträgerkleidchen in altrosa,<br />

ein gerafftes Chiffon-Cocktailkleid in einem<br />

Blumenmuster auf grünem Grund. Ein Blick in<br />

die Auslagen des Tresens verrät, dass sich nicht<br />

35


heimatkleid | nr. 5<br />

nur die Bräute gern den Kopf passend zum Kleid<br />

schmücken: In allen Farben des Regenbogens<br />

schillern hier Stoffblüten, die sich in Hochsteckfrisuren<br />

einarbeiten lassen.<br />

Die Unterschiede im Brauchtum zeigen sich in<br />

Details: In einem großen Regal reihen sich reich<br />

verzierte Minikörbchen, Seidenblumenarrangements<br />

oder Muscheln, in denen sich Süßes ver-<br />

steckt. Denn während es in Deutschland nach<br />

der Trauung meist einen Sektempfang gibt, verschenkt<br />

man in anderen Kulturen Bonbons an<br />

die Gäste. Kürzlich orderte eine Libanesin 500<br />

Stück – so viel zahlen andere für die Saalmiete.<br />

Und Türkische Hochzeiten werden groß gefeiert.<br />

Mehrere hundert Gäste sind Standard, es<br />

kann auch vierstellig werden. <strong>Für</strong> manche Mädchen,<br />

die nicht in Clubs gehen dürfen, ist das ein<br />

Disco-Ersatz: Sie tanzen jedes Wochenende auf<br />

einer anderen Hochzeit. Es gilt schließlich <strong>als</strong><br />

Tabu, eine Hochzeitseinladung auszuschlagen.<br />

Eine Gruppe Frauen, von denen nur die Gesich-<br />

ter und Finger zu sehen sind, fachsimpelt über<br />

Kleider, die viel Haut zeigen. Auch das hat sei-<br />

nen Grund: Das Pendant zum Polterabend<br />

oder Junggesellenabschied ist in der türkischen<br />

Tradition der Hennaabend. Hier feiern Männer<br />

und Frauen getrennt. Ganz unter sich, können<br />

die Frauen mit spektakulären Abendkleidern<br />

prunken. Auch Gewänder in der Tradition roter<br />

36<br />

Trachten finden sich bei Duett, es gibt sie sogar<br />

in Kindergrößen. Eigentlich tragen Kinder so<br />

etwas nicht, „aber manche Eltern finden das<br />

eben putzig“, sagt die Verkäuferin. Aufgerüscht<br />

werden die Kinder bei Hochzeitsfeiern durchaus:<br />

Ganze Ständer hängen voller Satinkleider<br />

in Miniformat, und bei den niedlichen Anzügen<br />

reihen sich die Größen wie für einen Fototermin.<br />

Zum klassischen Outfit beim Hennaabend ge-<br />

hören kleine Täschchen, in die die Braut ihre<br />

Hände stecken kann, nachdem ihre Freundinnen<br />

und Verwandten diese mit Henna bemalt haben.<br />

Und die Braut bekommt einen Schleier, hinter<br />

dem sie ihr Gesicht verbergen kann, wenn sie zu<br />

In voller Rüstung wird der Bräutigam wohl nicht erscheinen,<br />

aber schimmern, das geht.<br />

weinen beginnt. Schließlich soll sie den Abschied<br />

von den Eltern dramatisch in Szene setzen.<br />

Manchmal geht das schief: „Die Braut heult<br />

nicht!“, krakeelte kürzlich ein Kind, das von der<br />

Damenrunde zu den Herren lief. Ein Fauxpas,<br />

von dem die Verkäuferin berührt erzählt.<br />

Doch nicht alles muss so traditionell laufen. Vie-<br />

le türkische Paare kommen gemeinsam in den<br />

Laden, einige leben bereits vor der Hochzeit zusammen,<br />

erzählt das junge Fachpersonal. Aber<br />

es gebe natürlich nach wie vor Mädchen, die<br />

jungfräulich in die Ehe gehen möchten. Traditionell<br />

tragen diese Bräute ein rotes Band um<br />

die Taille – „das ist etwas, das man in der großen<br />

Gesellschaft dann stolz präsentieren möchte.“<br />

Auch die Herren sind an einem solchen Tag voller<br />

Stolz: Südländische Kunden kaufen durchaus<br />

Figurbetontes und haben keine Scheu vor leuch-<br />

tenden Farben, zum Beispiel, wenn sie das<br />

Hemd zum Anzug aussuchen. Sie interessieren<br />

sich oft für Finessen und sind es gewohnt, sich<br />

richtig schick macht. Die deutschen Männer<br />

hingegen bevorzugen gedeckte Farben, machen<br />

weniger Experimente. Allenfalls die Krawatte<br />

darf bei ihnen einen farblichen Akzent setzen.<br />

Leider gebe es in Deutschland nicht so viele<br />

Anlässe, bei denen man sich feinmache, bedauert<br />

eine Ladenbesitzerin ein paar Häuser weiter.<br />

Manchmal kämen dann aber doch Frauen, die<br />

zur Theaterpremiere auftrumpfen möchten.<br />

Schützenfeste hingegen sind ein Anlass zum<br />

Kleiderkauf, den man hier häufig hört: Da werden<br />

König und Königin gekürt, die mit einem<br />

ganzen Hofstaat feiern – und sich der Parallelgesellschaft<br />

ihrer Schützenwelt in Galaroben<br />

zeigen.<br />

Dass das Hochzeitsmekka von Marxloh auch<br />

Teil einer Parallelgesellschaft sei, ist allerdings<br />

ein Trugschluss. Knapp 18.000 Einwohner zählte<br />

die Duisburger Statistik Ende 2006 in Marxloh,<br />

davon etwa 6.000 Ausländer, von denen wiederum<br />

4.000 Türken waren. Sie sind eine Minderheit,<br />

die rechtsradikale Begriffe wie „Überfremdung“<br />

mit den Waffen der Logik schlägt.<br />

Ebenso f<strong>als</strong>ch ist es aber, ein gezuckertes Multikultitörtchen<br />

des Stadtteils zu backen. Viele le-<br />

ben schlicht aneinander vorbei – und es gibt Rei-<br />

bungspunkte. Ein kleines Fräulein, das mit gesenktem<br />

Blick ihr Kopftuch zurechtzurrt, erntet<br />

den missbilligenden Blick einer Blondine, die


eindeutig zu lange auf der Sonnenbank war. Der<br />

leichte Alkoholgeruch, der ihren Begleiter umhüllt,<br />

spricht Bände darüber, dass Arbeits- und<br />

Perspektivlosigkeit keine Staatsangehörigkeit<br />

kennt. Eine türkische Frau im Businesskostüm<br />

schreitet elegant an ihnen vorbei, klackert in<br />

Stilettos auf ihren Wagen zu – und schimpft.<br />

In zweiter Reihe parken manchmal klischeehafte<br />

Jung-Machos, die einem womöglich vor die<br />

Füße rotzen oder „Fotze“ <strong>als</strong> Begrüßungsformel<br />

verwenden. Schön ist das nicht. Ebenso trifft<br />

man hier eine deutsche Mittfünzigerin, die<br />

sich lautstark beklagt, seit so viele Ausländer<br />

herzogen und der Stadtteil so heruntergekommen<br />

sei, gebe es in Marxloh nicht einmal mehr<br />

einen Metzger. Schräg hinter ihrer Schulter<br />

sind Fleischauslagen zu sehen. Abgesehen von<br />

Schweineschnitzeln bekäme die Dame in dieser<br />

türkischen Metzgerei, was auch immer sie in die<br />

Pfanne hauen möchte. Wenn sie denn wollte.<br />

Dem Niedergang des Viertels haben die Deutschen,<br />

die seit Generationen hier wohnen,<br />

jedenfalls nicht entgegengewirkt. Immer wieder<br />

erzählen einem die türkischen Ladeninhaber:<br />

„Wir wollen mehr Deutsche.“ Damit meinen sie<br />

nicht nur die Kundschaft – den Anteil der<br />

Deutschen schätzen sie, je nach Laden, bereits<br />

zwischen 20 und 40 Prozent. Es hat sich herumgesprochen,<br />

dass die Mode hier internationale<br />

Geschmäcker trifft. Von dem der Schützenköniginnen<br />

ganz zu schweigen. Außerdem geht der<br />

Trend dahin, Abiturfeiern zu festlichen Bällen zu<br />

machen. Mit gezielten Anzeigen in Schülerzeitungen<br />

haben die findigen Geschäftsleute längst<br />

auf sich aufmerksam gemacht. „Aber wir wollen<br />

auch deutsche Fachgeschäfte“, sagt Hatice Kök,<br />

die gerade einen Laden namens Hatice an der<br />

Kreuzung Weseler Straße und Kaiser-Wilhelm-<br />

Straße eröffnet.<br />

Sie kam mit zwei Jahren ins Ruhrgebiet – ging<br />

später für ihre Schneiderlehre aber in die Türkei:<br />

In Deutschland sei die Ausbildung einfach<br />

nicht gut genug. Ihre Kleider schneidert sie den<br />

Damen auf den Leib. „Jede Frau träumt doch<br />

davon, einmal im Leben Prinzessin zu sein“, sagt<br />

sie. „Und meine Aufgabe ist es, herauszufinden,<br />

wie dieser Traum aussieht.“ Die Zeichnung<br />

ist dabei ein unwesentlicher Teil: Erst bei den<br />

37


heimatkleid | nr. 5<br />

zahlreichen Anproben zeige sich, wie man die<br />

Maßanfertigung weiterentwickeln muss. Es gibt<br />

Kleider, die in wenigen Tagen fertig sind – andere<br />

brauchen fast ein halbes Jahr. Und manchmal<br />

muss Hatice Kök dem Glück ein bisschen nach-<br />

helfen. Gerade ist eine Frau im Laden, die unbedingt<br />

ein schwarzes Kleid haben möchte – für<br />

ihre Hochzeit. Kök ist sicher, dass das nur zu<br />

einem Ärgernis führen würde: Manche Gäste<br />

würden der Braut die Schau stehlen. Stundenlang<br />

lässt sie sie Kleider probieren, arbeitet sich<br />

langsam zu braun vor, der Bräutigam sieht immer<br />

erleichterter aus. Nun hofft Kök, die Dame<br />

von einem feinen Bordeauxrot überzeugen zu<br />

können.<br />

Es muss ja nicht weiß sein – ein Credo, das deutsche<br />

und türkische Bräute vereint. Ein grünes,<br />

tief ausgeschnittenes Modell ist mit einem<br />

Spitzenstoff überzogen, in den Goldfäden eingewirkt<br />

sind. An einem weich fallenden lila Kleid<br />

baumeln zierliche Perlenstränge, und an einem<br />

hellblauen Modell schlängelt sich eine gestickte<br />

Blütenranke. Solche Arbeiten schafft Kök in ein<br />

bis zwei Stunden. Aber sie hat es schwer, gute<br />

Stickerinnen in Deutschland zu finden – vielen<br />

fehle die nötige Routine. Qualität setzt sich in<br />

Marxloh durch.<br />

Danach sieht es im Duisburger Norden längst<br />

nicht überall aus. Die Faszination von dampfenden<br />

Kühltürmen, rostigen Rohren, verlassenen<br />

Lagerhäusern und düsteren Tunneln zieht immer<br />

wieder Kamerateams her. In Ruhrort trotzt<br />

ein Stück des Duisburger Hafens dem Image mit<br />

riesigen Stapeln bunter Container: Hier gehen<br />

Das Engagement, das den Stadtteil aus dem Dreck ziehen könnte,<br />

kommt sehr oft von der so genannten anderen Seite.<br />

immer noch Güter die Ruhr herunter. Nicht weit<br />

entfernt künden blinde Schaufensterscheiben<br />

von längeren Leerständen. Eine Imbissstube<br />

wirbt in schreienden Farben um ein bisschen Um-<br />

satz, und gleich nebenan fällt der Blick auf<br />

leere Käfige und Glaskästen, zurückgelassen im<br />

geschlossenen Zoohandel. Hinter vorgehaltener<br />

Hand, so hört man, raten selbst Angestellte der<br />

Stadt den Bewohnern dieser Viertel, sich so viel<br />

zu bilden wie möglich – und dann wegzuziehen.<br />

Stadtteile wie Ruhrort, Bruckhausen und Marx-<br />

loh sind <strong>als</strong> Filmlocation gefragt, weil sie verschiedene<br />

Stadien des Verfalls dokumentieren.<br />

Fährt man mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof<br />

nach Marxloh, geht es im schnellen<br />

Wechsel vorbei am neu eröffneten Riesensupermarkt<br />

und am Gründerzeithaus, von dessen<br />

38<br />

Fassade die Farbe abblättert – und doch scheint<br />

hier die Zeit stehen geblieben zu sein. Jedenfalls<br />

ging das Produzententeam von „Das Wunder<br />

von Bern“ (2003) zum Drehen nicht, wie ihm<br />

geraten wurde, nach Polen. Der Film entstand zu<br />

einem großen Teil in Marxloh, weil sich hier eine<br />

Atmosphäre wie die von 1954 leicht herstellen<br />

ließ.<br />

Gerne nehmen Medien jetzt darauf Bezug: „Das<br />

Wunder von Marxloh“ titeln sie, weil doch<br />

der Bau der Ende Oktober eröffneten Merkez-<br />

Moschee so friedlich vollendet wurde. Auch<br />

Zeitungen in Großbritannien, Indonesien,<br />

Taiwan und Indien richteten ihren Blick auf den<br />

Ort, an dem es im Gegensatz zu Köln, München<br />

oder Berlin keinerlei Proteste gegeben hat.<br />

Unter dem Stichwort „Bürgerbeteiligung“ ist<br />

dann aber oft nur vom Wohlwollen toleranter<br />

Deutscher die Rede. Doch schaut man sich<br />

ein wenig in Marxloh um, stellt man bald fest:<br />

Das Engagement, das den Stadtteil aus dem<br />

Dreck ziehen könnte, kommt sehr oft von der<br />

so genannten anderen Seite. Auf Initiative eines<br />

türkischen Unternehmervereins entstanden die<br />

rund 40 Geschäfte, die an der Weseler Straße<br />

und der Kaiser-Wilhelm-Straße für Betrieb<br />

sorgen. Der Politiker Cem Özdemir besuchte<br />

Marxloh im Juni – und besichtigte nicht nur<br />

die fast fertige Moschee, sondern schaute sich<br />

auch an, was sonst noch so passiert in diesem<br />

Stadtteil, an dem das Etikett „sozialer Brennpunkt“<br />

kokelt. Sein Fazit: „Die türkischstämmigen<br />

Unternehmer schaffen es, Kaufkraft nach<br />

Duisburg zu lenken.“


Denn zum Hochzeits-Shopping kommen Menschen<br />

nicht nur aus Duisburg; auch nicht nur<br />

aus dem restlichen Ruhrgebiet. Die Kundschaft,<br />

so erzählen alle Ladenbesitzer einmütig, kommt<br />

insbesondere am Wochenende auch aus den<br />

Niederlanden, Belgien und Frankreich. Die<br />

Läden heißen Topkapi, Prestije oder La Mariée.<br />

„Wenn Sie anderswo nach einem Brautkleid<br />

schauen, müssen sie weite Wege in Kauf<br />

nehmen“, sagt eine Verkäuferin. „Dann haben<br />

Sie spätestens im dritten Laden vergessen, wie<br />

das beste Kleid im ersten Laden aussah, und am<br />

Ende kaufen Sie irgendetwas, das Sie gar nicht<br />

so gut finden – bloß weil Sie das Herumfahren<br />

leid sind.“<br />

In Marxloh lässt man sich von einem Geschäft<br />

ins nächste treiben, kann noch einmal zurück-<br />

laufen, hier probieren, dort nachfragen – das ist<br />

einzigartig. Darauf ist längst auch der Amtsschimmel<br />

aufmerksam geworden: Mit rund<br />

360.000 Euro unterstützten das Land NRW<br />

und die EU diesen Standort. Man hofft sogar,<br />

internationale Konzerne anzulocken. So sitzt<br />

Oberbürgermeister Adolf Sauerland im Beirat<br />

des 2006 eigens gegründeten IHZ (Internationales<br />

Handelszentrum Duisburg) – unter anderem<br />

mit Murat Yalcintas, dem Vorsitzenden der<br />

Istanbuler Handelskammer.<br />

<strong>Für</strong> die Menschen, die zum Einkaufen nach<br />

Marxloh kommen, ist das stahlgraue Theorie.<br />

Sie bestaunen ein giftgrünes Kleid mit reichlich<br />

Applikationen aus grün-weißen Seidenblumen<br />

mit Funkelstein in der Mitte, eine Abendrobe<br />

aus so dunklem Taft, dass sie tief lila zu glühen<br />

nr. 5 | heimatkleid<br />

scheint, oder die Nadelstreifen eines glänzenden<br />

Satin-Anzugs, den eine Schaufensterpuppe mit<br />

gegelter Sturmfrisur trägt.<br />

An einem trüben Donnerstagmittag hält eine<br />

Limousine direkt vor dem Fotoladen. Ein junger<br />

Mann kontrolliert rasch den Sitz seiner Krawatte<br />

im Seitenspiegel und öffnet die Tür: Perfekt<br />

geschminkte Damen in großer Garderobe steigen<br />

aus, immer darauf bedacht, ihre kunstvoll<br />

aufgetürmten Frisuren nicht zu ruinieren.<br />

Menschen mit Einkaufstüten laufen an dieser<br />

Szene vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken.<br />

Das ist eben Marxloh. „Ich lüg dich nicht an“,<br />

ruft ein Mann in sein Handy und geht wieder ins<br />

Türkische über. Vielleicht braucht auch er bald<br />

einen neuen Anzug für seinen großen Tag. ◆<br />

39


heimatkleid | nr. 5<br />

Wohngemeinschaft Essen<br />

Die Mischung macht's<br />

text Tanja Wissing | fotografie Anna Kopylkow<br />

Judith Haselroth hat gerne<br />

Leute um sich. Daher hat<br />

die 36-Jährige im April eine<br />

WG gegründet. Was all die<br />

Gäste dort zu suchen haben?<br />

Nichts. Ist ja alles da.<br />

40<br />

„Bei uns findet man was“, sagt Judith. „Ich glaube,<br />

wir verkaufen Dinge, die Bestand haben und<br />

Herzensangelegenheiten sind.“ Mit ihrem Ge-<br />

schäft hat die Textilwissenschaftlerin für sich<br />

und andere Kreative eine Verkaufsplattform<br />

geschaffen. Schauen die Fassade, Decken und<br />

Wände des einstigen Ruhrmöbel-Hauses in<br />

ihrem frischen Weiß auch kühl und nüchtern<br />

aus: Die „Wohngemeinschaft Essen“ lädt zum<br />

Stöbern ein. Wer durch die Eingangstür hereinspaziert,<br />

an der Papst Benedikt handgroß in<br />

Plastik baumelt, ist herzlich willkommen. In<br />

aller Seelenruhe können Besucher auf elegant<br />

geformten Küchenstühlen probeweise Platz<br />

nehmen, das neueste Outfit von Schaufensterpuppe<br />

May beäugen oder Judith zuschauen, wie<br />

sie eine „gerda“ näht, denn das Arbeitszimmer,<br />

in dem die Tornister-gleichen Umhängetaschen<br />

mit den Reflektorschließen entstehen, ist für alle<br />

offen. Hier summt ein gut gefüllter Kühlschrank<br />

und gluckert die Kaffeemaschine.<br />

Sieht man von Judith und der stets stillen May<br />

ab, zählt die WG drei weitere Mitglieder. Archi-<br />

tekt Björn Dadek richtet sein Augenmerk auf<br />

das große Ganze. „Er weiß, welche Lampen<br />

wo und wie hängen müssen“, beschreibt Judith<br />

und blickt auf die Leuchten mit den großen<br />

gelb-grünen Schirmen, die über einem Esstisch<br />

sanft Licht spenden und zum Verkauf stehen.<br />

Kellerkind Heike Kollakowski zeigt sich wenig,<br />

rückt dafür aber wirkungsvoll die WG ins Bild –<br />

z. B. im Internet. „Andreas Bischoff hat den<br />

Superoberhammerblog gestaltet“, lobt Judith den<br />

eigentlich letzten Mitbewohner.<br />

Doch auch Wil Borgmann und Else Walter sind<br />

mehr <strong>als</strong> bloße Dauergäste. Mit fantasievollen<br />

Kindersachen sind sie in der WG vertreten. Wil<br />

macht aus alten Blümchenstoffen knisternde<br />

Greiflinge, Kinderwagenketten und Spieluhren;<br />

von Else gibt es farbenfrohe Gürtel mit Eulen,<br />

Fliegenpilzen oder Wikingerhelmen zu kaufen.<br />

„Else kommt immer mit einem großen Koffer“,<br />

berichtet Judith. Wann Else wieder mit neuer<br />

Ware auftaucht, kann die WG-Chefin allerdings<br />

selten genau sagen: „Ich freue mich einfach,<br />

wenn sie da ist.“ Diese Unbeschwertheit des WG-<br />

Lebens schätzt Judith. In der Wohngemeinschaft<br />

hat auch die liebe Familie ihren Raum. So fin


den sich im Regal Babymützen von „Häkel onsight“ und auf Bügeln<br />

Kleidchen von „Oma Usch“. Die beiden Designerinnen sind Mutter<br />

und Tochter und fertigen nicht mehr nur fürs eigene (Enkel-)Kind.<br />

Neben solchen Unikaten ist die WG mit ausgesuchten Serienprodukten<br />

wie der schneeweißen Etagere „Babell“ von Koziol ausgestattet.<br />

Auf schwarz-weiß gesprenkelten Resopaltischen, die wie überdimensionale<br />

Frühstücksbrettchen aussehen, ist das Rentier „Rudi“ – ein Teelichthalter<br />

aus Walnussholz – ebenso liebevoll arrangiert wie auf den<br />

Sofalehnen die Armstulpen im Raubtierlook von „Glückskind“. Der<br />

abendliche Kassensturz zeigt: Diese Mischung macht’s. „Die Großen<br />

unterstützen indirekt die Kleinen“, erklärt Judith. Wichtig ist ihr, dass<br />

die meisten Stücke selbst gemacht sind. Individualität ist das Stichwort.<br />

Das Konzept kommt an: So erhielt die Wohngemeinschaft, die sich<br />

für „Essens kreative Klasse“ mit einigen Rüttenscheider Nachbarn zur<br />

„rü-union“ zusammengeschlossen hatte, die Auszeichnung <strong>als</strong> bester<br />

Newcomer 2008. „Der Preis ist mir superwichtig, weil er sagt, dass das,<br />

was wir machen, richtig ist“, freut sich Judith. Scheu vor Konkurrenz<br />

haben sie und ihre Mitbewohner nicht: „Es ist besser, zusammenzuarbeiten.“<br />

◆<br />

Wohngemeinschaft<br />

Annastraße 51, 45130 Essen<br />

Öffnungszeiten: mo-fr 11-19, sa 10-16 Uhr<br />

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heimatkleid | nr. 5<br />

Yvonne Wadewitz<br />

Viel Talent, wenig Zeit<br />

text Tanja Wissing<br />

Yvonne Wadewitz ist wie ihre Espressokanne: unter Druck.<br />

Vielleicht bringt das ihr hektischer Alltag <strong>als</strong> Herren-<br />

maßschneiderin am Aalto-Theater mit sich. Oder es liegt an<br />

den zig Entwürfen, die sie im Kopf hat für ihr „eijenes Zeuch“.<br />

Yvonne Wadewitz hat viel Talent – nur nie genug Zeit.<br />

Der Kaffee kocht fast über. Die 26-Jährige gießt ein, löffelt schnell Milchschaum ins Glas. In einer<br />

Stunde muss sie wieder im Theater sein. Nachdem sie den ganzen Tag Pumphosen für die Oper<br />

„<strong>Für</strong>st Igor“ genäht und Kostüme für das Ballett „Dornröschen“ angepasst hat, muss sie noch ein<br />

Sakko ändern. Ausgerechnet.<br />

„Ick krieje Krämpfe, wenn ick Änderungen machen muss“, sagt die gebürtige Brandenburgerin. Lieber<br />

würde sie fix ein neues Sakko nähen. Das ist eher der Arbeitsstil der quirligen Brünetten. Wenn<br />

sie selbst eine Idee hat, hockt sie stundenlang in ihrem überquellenden Heimatelier und rattert – bis<br />

das Teil fertig ist. Was sie so antreibt? „Ick will wissen, ob et funktioniert und aussieht.“<br />

Hat die grazile Essenerin eine ihrer Schaffensorgien, sind die Ideen „zack, einfach da“. In ihren Sinnkrisen<br />

hat sie nicht mal „Bock, Nadel und Stoff anzufassen“. Das passiert ihr gerne im Sommer,<br />

wenn die Sonne sie nach draußen treibt. Joggen geht die frühere Ballerina schon, bevor sie sieben<br />

Stunden an ihrer Nähmaschine in der Kostümschneiderei sitzt. Letzteres ist für das Energiebündel<br />

eine Nervenprobe. In der hellen Werkstatt arbeitet Yvonne Wadewitz jedoch „saujerne“. Stoffe,<br />

Schnitte und Verarbeitungen bringen sie auf Ideen für ihre Mode, die Historisches futuristisch<br />

entstaubt. Der Kostümfundus ist für sie ein Traum.<br />

Das war ihr Leben <strong>als</strong> Ballerina auch. Doch vor drei Jahren verschwand die zarte Tänzerin hinter den<br />

Kulissen. Der Fuß, die Bänder … Ein wenig Wehmut wird wach, wenn sie eine Kollegin im Tutu<br />

hinter der Bühne trifft. Dafür genießt sie es, nun weniger selbstzerstörerisch zu leben. Nur: Wo und<br />

wie sie leben möchte, hat sie noch nicht entschieden.<br />

„Ick würde jerne Gewandmeisterin werden und eijene Kostüme entwerfen. Oder in ’nem kleenen<br />

Laden mein eijenes Zeuch verkofen. Ick könnte och Hausfrau und Mutter sein. Ick würde superjeile<br />

Sachen für mein Kind nähen.“ In ihre ehemalige Wahl-Heimat Berlin würde sie wohl nicht zurückkehren.<br />

Zu viel Konkurrenz, zu viele Pleiten unter Designern. Eher würde es sie aufs Land ziehen – zu<br />

ihren Eltern, nach Neutrebbin. Doch das Ruhrgebiet hat auch seinen Reiz: „Die Leute sind noch<br />

nicht so übersättigt.“ Dabei geht es ihr nicht ums Geld. „Det ist eenfach schön, dass denen meene<br />

Sachen jefallen“, sagt sie leise – nur um dann wieder aufzuspringen. ◆<br />

Yvonne Wadewitz ist am 30. Mai 1982 in Neutrebbin nahe Frankfurt/Oder geboren. Nach der Grundschule<br />

besuchte sie die Staatliche Ballettschule Berlin. Ab 2000 tanzte sie am Aalto-Theater. Von 2005 bis 2007<br />

schulte sie dort zur Herrenmaßschneiderin um. Seit 2007 entwirft sie neben der Theaterarbeit ihre eigene<br />

Mode, die es exklusiv im <strong>Heimatdesign</strong>-Shop gibt. Kontakt: www.yvonne-wadewitz.de<br />

Fotografie Reza Nadji, Studio Zirkus | Make-Up/Haare Hanna Meier<br />

Models Karin, Sascha | Mode Yvonne Wadewitz<br />

42


heimatkleid | nr. 5<br />

Schwarzwaldkirsch<br />

Klappe, die zweite!<br />

text Nina Maassen<br />

Das junge Designer-Duo „Schwarzwaldkirsch“ entführt mit<br />

seiner neuen Kollektion in die Eleganz einer Filmära – und legt<br />

sich kurzerhand ein neues Image zu.<br />

Es war die Zeit der Nouvelle Vague – der dunklen Filme mit Schauplätzen meist in spärlich beleuchteten<br />

Gassen von Paris –, die mit neuer Bildästhetik die gesamte Filmbranche revolutionierte.<br />

Erinnert man sich an die alten Schwarz-Weiß-Bilder, so ist es vor allem der Kleidungs-Stil, der<br />

unweigerlich mit den Klassikern verbunden bleibt – und natürlich ein Vertreter des Genres, der diese<br />

Mode wie kein anderer verkörperte: Jean-Paul Belmondo. Seine geradlinige Eleganz feiert nun ein<br />

nicht minder graziöses Revival.<br />

Das Designer-Duo vom noch jungen Mode-Label Schwarzwaldkirsch (SWK) entwarf seine zweite<br />

Kollektion ganz in Gedanken an die großen Nouvelle Vague-Klassiker und betitelten die Reihe überaus<br />

passend: „Love me like Belmondo!“ Enge Röcke, große Knöpfe und schmale Krawatten dürfen<br />

so auch in der SWK-Serie nicht fehlen, dabei setzen Jörn Quellmann und Sara Bönsch auf exklusive<br />

Qualität, die bis zu kleinen Kunstwerken aus reiner Seide reichen.<br />

Mit ihrer ersten Kollektion „Trallafitti“ hatten sich die beiden Modekünstler auf knallige Streetwear<br />

konzentriert und somit ein junges Käufer-Publikum angesprochen. Den Mix aus unterschiedlichen<br />

Materialien und Farben ersetzen sie nun in der Belmondo-Serie durch eine bewusste Reduzierung<br />

der Farben auf Schwarz-Weiß-Cocktails. Die edlen Stoffe und femininen Schnitte sollen neue<br />

Käuferschichten ansprechen und bewusst das Image des anfänglich wilden Jugend-Labels hin zu<br />

eleganter Fashion verschieben.<br />

Auch wenn sich ab dem nächsten Sommer manche bisherige Kundin vielleicht von der neuen<br />

Kollektion nicht begeistert zeigen wird, erweist „Schwarzwaldkirsch“ mehr denn je seinem Namen<br />

alle Ehre: „Schwarze“ Eleganz, kombiniert mit „waldiger“ Natürlichkeit und „kirsch“-roter Leidenschaft<br />

werden mit der Belmondo-Kollektion in idealer Weise interpretiert. Das Hattinger Label setzt<br />

auch weiterhin auf ökologisch gefertigte Materialien aus regionaler Produktion und hofft, mit diesem<br />

Konzept seinen Platz auf dem europäischen Markt weiter ausbauen zu können.<br />

Letztlich enthält „Love me like Belmondo“ alles, was einer rundum gelungenen Hommage an den<br />

Kult einer Filmära bedarf. Trotzdem bewegt sich die Kollektion abseits bloßer Nostalgie, denn<br />

Schwarzwaldkirsch schafft es, die klassisch-strengen Schnitte mit gegenwärtiger Lässigkeit zu verknüpfen.<br />

Eine filmreife Gasse für den Belmondo-würdigen Auftritt findet sich so nicht nur in Paris. ◆<br />

Sara Bönsch (30) und Jörn Quellmann (25) lernten sich während ihrer Schneiderausbildung kennen.<br />

Gemeinsam kreierten sie 2006 das Mode-Label „Schwarzwaldkirsch“, unter dem sie im Januar 2007 ihre<br />

erste Kollektion präsentierten. <strong>Für</strong> das Frühjahr 2009 entwarfen sie nun ihre zweite Mode-Reihe, die in<br />

Deutschland bei 25 Einzelhändlern erhältlich sein wird. Sie wohnen in einem Reihenhaus in Hattingen.<br />

www.schwarzwaldkirsch.de<br />

Fotografie Mathias Schmitt | Styling Laura Azura Feldhoff<br />

Make-Up Sabrina Holtmann | Models Sandra & Patrick<br />

Mode Sandra trägt Schwarzwaldkirsch, Patrick trägt Diesel/Diesel Black Gold<br />

48


nr. 5 | heimatkleid<br />

51


heimatkleid | nr. 5<br />

fym<br />

Mittsommernachtstraum<br />

für Mädchenfrauen<br />

text Sascha Abel<br />

Namen sind Schall und Rauch. Nur gut, dass hinter Fym mehr<br />

steckt <strong>als</strong> ein schöner Klang.<br />

Fym – das klingt nach Feenwald und zarten Elfenwesen. Barfuß huschen sie durch einen lauen<br />

Sommerregen. Tänzeln über Stock und Stein, von Ast zu Ast und halten sich an den Händen. Wenn<br />

Fym aber nicht mehr wäre <strong>als</strong> das – es wäre ganz schön langweilig. Das Designduo „Frida y Maya“<br />

macht Fym zu einem zeitgemäßen Label für selbstbewusste Mädchenfrauen. 2007 haben Frida<br />

Staeckel und Maya Jakobs sich zusammengetan. Sie wollten Mode entwerfen für Frauen, die das<br />

Besondere zu schätzen wissen. Dass sie sich dabei von Vorbildern wie Yves Saint Laurent oder<br />

Givenchy haben anregen lassen, ist nicht von der Hand zu weisen. Während Givenchy für sinnliche<br />

Weiblichkeit und eine perfekte Schnittkunst steht, verstand es Yves Saint Laurent seit jeher, Traditionen<br />

durch unerwartete Neuerungen zu brechen. Ein Spagat, vor dem die beiden Designerinnen mit<br />

ihrer Kollektion „Moritzburg“ nicht zurückschrecken. Inspirieren ließen sie sich dazu vom gleichnamigen<br />

Barockschloss bei Dresden. Herausgekommen ist eine Mode, die den Betrachter ins 17.<br />

Jahrhundert zurückversetzt: etwa in Gestalt eines königsblauen Kleids mit einem in hundert kleine<br />

Fältchen gelegten Rüschenkragen. Die nötige Modernität kommt durch die Länge: Es reicht seiner<br />

Trägerin bis zum Knie. Frida und Maya zitieren vergangene Epochen, ohne sich in ihnen zu verlieren.<br />

Eine schneeweiße Bluse mit historisch nachempfundenen, hammelkeulenartigen Ärmeln erinnert an<br />

die Biedermeierzeit. Ein extra hoher Stehkragen und die dazu kombinierte Taillenhose mit Dreigürtelsystem<br />

übersetzen den Look ins Hier und Jetzt. Und dann die Details: eingearbeitete Biesen,<br />

Paspeln und Borten, aufgenähte Stickereien und Blenden, verdeckte Knopfleisten, ganze Kleider sind<br />

in Falten gelegt. All das zeugt von viel Arbeit – und einer akribischen Detailverliebtheit: Vom Schnitt<br />

bis zur Veredelung entsteht Fym in Handarbeit. Auf sorgfältige Verarbeitung, auf Fasern, die sich<br />

auf der Haut gut anfühlen, legen Frida und Maya viel Wert. Damit die Fym-Frau ganz unbeschwert<br />

durch den lauen Sommerregen huschen kann. Über Stock und Stein, von Ast zu Ast, direkt ins Büro. ◆<br />

Frida Staeckel, 32, stammt aus Bautzen bei Dresden. Nach Zwischenstationen in Argentinien, Montreal<br />

und Panama ließ sie sich an der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Köln zur Damenschneiderin ausbilden.<br />

Im gleichen Jahrgang traf sie dort auf Maya Jakobs (28). Nach der Ausbildung entschieden sich beide, in<br />

Köln das Damenlabel Fym zu gründen.<br />

www.fymkosmos.de<br />

Fotografie Mark Ansorg | Assistenz Dorit Eichmann | Make-Up Sabrina Holtmann<br />

Models Luise, Esther, Kathlyn Marie<br />

Mode FYM, Kollektion Moritzburg | Location Schloss Nordkirchen<br />

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nr. 5 | heimatkleid<br />

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heimatkleid | nr. 5<br />

58<br />

fym


heimatkleid | nr. 5<br />

Mazine<br />

Wer bist du denn?<br />

text Petra Engelke<br />

Streetwear von Mazine ist für Individualisten gedacht. Die Köpfe<br />

hinter dem Label bleiben lieber incognito.<br />

Schaut man sich Tom Ford, Karl Lagerfeld oder Wolfgang Joop an, bekommt man den Eindruck,<br />

jeder Modeschöpfer mache einen Riesenbohei um seine Person. Dabei engagieren immer mehr<br />

große Modelabels inzwischen Designer, die sich hinter dem Markennamen bescheiden zurücknehmen.<br />

Das Mülheimer Streetwear-Label Mazine geht noch einen Schritt weiter und gibt die Ego-<br />

politur einfach weiter: Who are you?, fragt es in seinem Claim. Schließlich unterstreichen die Leute,<br />

die ihre Kollektionen mögen, damit ihre Persönlichkeit.<br />

Bei den Entwürfen denkt das siebenköpfige Design-Team nicht kleinteilig über Schnitte, sondern<br />

über ganze Silhouetten nach. Die sind recht langlebig, wenn sich die Nuancen auch ständig ändern –<br />

das bedeutet Zentimeterarbeit in Länge und Weite. Eins ist allen gemein: Die Klamotten sind<br />

seit einer Weile eher eng <strong>als</strong> „baggy“. Hosen, Hemden, Soft Shell-Jacken, Strickpullover, Kapuzensweater,<br />

T-Shirts: Rund 250 Teile hat die aktuelle Kollektion, und die wiederum gibt es in verschiedenen<br />

Farben – und mit erfrischenden Details, zum Beispiel violett abgesetzten Reißverschlüssen<br />

oder Neon-Kapuzenbändern. Blockstreifen laufen bei Mazine gerne mal diagonal, grafische Muster<br />

ziehen sich fein ziseliert über sportliche Jacken.<br />

Verkaufen lässt sich das an vielen Orten, aber die Mazine-Macher suchen sich sehr genau aus, in welchen<br />

Läden sie herumhängen möchten. Und Firmenporträts oder Modestrecken-Shootings lehnen<br />

sie konsequent ab. Mit dieser einen Ausnahme. Dafür denkt man sich erst recht etwas Passendes<br />

aus: Als hätte es ein zickiger Modegott so verordnet, wird der Zwirn in der Heimat präsentiert – von<br />

Menschen auf der Straße. <strong>Für</strong> sie hat man bei Mazine noch mehr Fragen, die sich jeder stellen soll:<br />

Ist mir das zu weit, zu groß, zu schmal, zu lang zu eng, zu kurz – passt das zu mir? Bei der Antwort, so<br />

versichern sie, hilft nur zweierlei: anprobieren und ausprobieren. ◆<br />

Fotografie Jens Oellermann<br />

Models Annika, Elena, Simone, Christian, Peter<br />

Mode Mazine<br />

60


heimatkleid | nr. 5<br />

62


heimatkleid | nr. 5<br />

64


heimatlied | nr. 5<br />

Eichbaumoper<br />

Indie-Arien von nebenan<br />

text Volker K. Belghaus | fotografie Christine Steiner<br />

Applaus: Aus der Straßenbahnhaltestelle „Eichbaum“ soll<br />

eine Oper werden.<br />

So sieht <strong>als</strong>o die Moderne aus, wenn sie alt geworden<br />

ist: rissiger Beton, beschmierte Wände,<br />

siffige Ecken. Vor 30 Jahren stand die Haltestelle<br />

„Eichbaum“ der Linie U18 zwischen Essen und<br />

Mülheim für moderne Infrastruktur; auf dem<br />

Mittelstreifen der A40 fuhr die U-Bahn dem<br />

Stau davon. Heimaterde heißt der dazugehörige<br />

Mülheimer Stadtteil zwar ganz betulich, die<br />

Haltestelle ist aber zum Schauplatz für Überfälle<br />

und Vergewaltigungen verkommen. Dieser Ort<br />

braucht Veränderung, dachten sich die Architekten<br />

vom „raumlabor_berlin“. Gemeinsam mit<br />

dem Schauspiel Essen, dem Musiktheater im<br />

Revier Gelsenkirchen und dem Ringlokschuppen<br />

Mülheim fordern sie: „Eichbaum muss Oper<br />

werden!“<br />

Bemerkenswert am Standort „Eichbaum“ ist<br />

erstens seine Lage abseits der Kulturhochburgen<br />

66<br />

wie Zollverein, zweitens die Indie-Ausrichtung<br />

des ganzen Projekts. Ein Opernhaus stellt man<br />

sich anders vor – aber Puccini fürs Abendkleidpublikum<br />

darf man hier ohnehin nicht erwarten.<br />

Dafür sorgen schon Namen wie Bernadette la<br />

Hengst: Die Berliner Elektro-Chanteuse schreibt<br />

mit an der Oper, die speziell für diesen Ort gedacht<br />

ist und hier im Juni 2009 Premiere feiern<br />

wird. Neben la Hengst arbeiten Komponisten<br />

und Theaterleute wie der New Yorker Dirigent<br />

Ari Benjamin Mayers an dem Projekt mit.<br />

Damit die Musik den Charakter des Ortes ein-<br />

fängt, werden die Komponisten in der Opern-<br />

bauhütte arbeiten, einem Pavillon, der gleichzeitig<br />

Raum für Konzerte und Vorträge bietet –<br />

hoffentlich keine vorübergehende Aufhübschung<br />

widriger Architektur, die sich nach dem<br />

Kulturhauptstadtjahr 2010 erledigt hat.<br />

Immerhin arbeiten beim Eichbaum-Projekt drei<br />

Ruhrgebietsstädte zusammen, was in der hie-<br />

sigen Kulturpolitik nicht selbstverständlich ist.<br />

Die Macher geben sich optimistisch: Sie setzen<br />

auf den Erfolg dieses ungewöhnlichen Konzertortes,<br />

weil sie die Bevölkerung und speziell<br />

die Anwohner explizit einbinden. So ist die<br />

geplante Opernpremiere nur Zukunftsmusik, in<br />

der Zwischenzeit geben Veranstaltungen wie<br />

die OpernbauBar Gelegenheit, den künftigen<br />

Kulturort kennenzulernen. ◆<br />

Opernbauhütte an der U18-Haltestelle Eichbaum,<br />

mi & do 14-19 Uhr<br />

OpernBauBar: DJs, Konzerte, Vorträge, Kino etc.<br />

18.12./15.01./19.02., jeweils 20 Uhr, Eintritt frei.<br />

www.eichbaumoper.de


WWW.DESIGNERSFAIR.DE<br />

www.kuenstlerhaus-dortmund.de<br />

2009<br />

MESSE FÜR JUNGES<br />

MÖBEL‐ UND INTERIORDESIGN<br />

BY SUPPORTED BY<br />

18. ‐ 25. JANUAR 2009<br />

RHEINTRIADEM KÖLN


heimatlied | nr. 5<br />

68<br />

Philipp Bückle<br />

Kitsch-Kanonen auf<br />

Spaß-Spatzen<br />

text Tom Thelen | illustration Thomas Armborst<br />

„Never Forget“ von Take That ertönt – und wildfremde<br />

Menschen liegen sich in den Armen. Über das Retro-Phänomen<br />

„Eurodance“ spricht der Dortmunder DJ Philipp Bückle.<br />

Niem<strong>als</strong> vergessen haben wohl viele die 80er<br />

und 90er. Doch was ist passiert, dass jetzt<br />

auf immer mehr Partys die musikalischen Mainstream-Ergüsse<br />

jener Jahre gefeiert werden?<br />

Billige Techno-Beats mit gepitchten Stimmen,<br />

hirnzersetzenden Texten und „Melodien“,<br />

schmierige Boygroup-Schmachtfetzen und<br />

lausiger deutschsprachiger HipHop der frühen<br />

Tage liegen im Trend.<br />

Der 29-jährige Philipp Bückle ist eigentlich einer,<br />

von dem man eine Party-Reihe wie „Eurodance“<br />

gerade nicht erwartet. In den Tagen seiner<br />

musikalischen Sozialisation war jener Sound für<br />

ihn schließlich der Staatsfeind Nummer Eins:<br />

Von punkiger Gitarrenmusik kommt er her, seit<br />

Mitte der 90er veröffentlich er <strong>als</strong> „team|forest“<br />

intelligente elektronische Klänge auf Liebhaberlabels<br />

wie Morr Music oder Aesthetics und macht<br />

inzwischen hauptberuflich Musik.<br />

Und doch legt er <strong>als</strong> DJ bei Abenden auf, die<br />

von ironiefesten Akademiker-Hipstern genauso<br />

besucht werden wie von voll tätowierten Hardcorejüngern<br />

mit Attitüde und echten Fans mit<br />

Strähnchen und Lebensalter. Wie kommt das?<br />

„Ich habe immer auch Partymusik aufgelegt und<br />

dabei festgestellt, dass ‚Musik, die jeder kennt‘<br />

einfach gut läuft. Wir haben dann gelegentlich<br />

diese ‚Special’-Abende gemacht, etwa zu Karneval<br />

oder <strong>als</strong> Borussia Meister wurde.“ Diese Musik,<br />

die jeder kennt, sind Knaller wie „I Like To Move<br />

It“, Hüpfmusik von den Rednex oder Whigfields<br />

„Saturday Night“.<br />

Bückle spricht manchmal von „schwer auszuhaltender<br />

Musik“, sieht bereits die Kelly Family am<br />

Horizont erscheinen und schwärmt doch von<br />

der Stimmung bei den Partys. Fast alle Gäste<br />

wünschen sich Songs, inzwischen geht schon ein<br />

Klemmbrett durch die Reihen zum Notieren der<br />

Hits, Hits, Hits. Wie lange das wohl zu erleben<br />

sein wird, vermag der DJ nicht zu beurteilen.<br />

„Die Ü30-Partys gibt es jetzt schon ewig, mit den<br />

Eurotrash-Abenden sind wir erst am Anfang<br />

der Welle.“ Es bleibt <strong>als</strong>o abzuwarten, ob dieses<br />

tendenziell regressive Phänomen Bestand<br />

haben wird, oder ob es nur ein kurzes, spaßiges<br />

Gastspiel in der immer schnelleren Folge der<br />

Retro-Wellen ist. Zum Glück ziehen sich die Partygäste<br />

wenigstens nicht so an wie dam<strong>als</strong>. ◆<br />

Eurodance<br />

jeden 1. Samstag im Monat ab 23 Uhr<br />

Silent Sinners, Rittershausstr. 65, 44137 Dortmund


www.ruhr2010.dortmund.de<br />

nectar


heimatlust | nr. 5<br />

Bergmann Bier<br />

Über den Durst<br />

text Jan-Peter Wulf | fotografie Julia Reschucha<br />

Jahre nach dem Niedergang von Dortmunds Ruf <strong>als</strong> Bierstadt<br />

braut einer ein Bier in Kleinauflage – die Branche hält das für<br />

eine Schnapsidee. So kann man irren.<br />

Akkurater Haarschnitt, kariertes Hemd, sympathisches<br />

Auftreten, Doktortitel im Fach Mikrobiologie:<br />

Einen verrückten Menschen stellt man<br />

sich irgendwie anders vor. Doch <strong>als</strong> Thomas<br />

Raphael Branchenkennern von seiner Idee erzählte,<br />

ein Mikrobier auf den Markt zu bringen,<br />

hieß es: Total verrückt sei er, ein Spinner. Ohne<br />

großen Industriepartner im Rücken? Ohne<br />

Marketingkonzept? In kleinen Mengen? Und<br />

dann auch noch ein Exportbier? Das trinkt doch<br />

keiner mehr. Funktioniert doch alles nicht.<br />

70<br />

„Man muss sich an etwas herantrauen, das<br />

eigentlich gar nicht geht. Das hat mir ganz neue<br />

Perspektiven eröffnet“, berichtet Thomas Raphael.<br />

Auch in Bezug auf Dortmund. Dort gefiel<br />

seine Idee, ein eigenes Vintage-Bier zu brauen.<br />

Die Stadtväter ließen speziell für das Unternehmen<br />

Bergmann einem alten Kiosk am Hohen<br />

Wall, schmuckes Relikt aus den Fünfzigern, neues<br />

Leben einhauchen. Ein Dachdecker stellte<br />

dem Team spontan seinen stilechten Kleinlaster<br />

(Barkers Framo, Baujahr 1961) zur Verfügung.<br />

Rund 50 Läden und zahlreiche Gastronomien<br />

verkaufen das Bier mittlerweile. Es gibt es ein<br />

Bergmann-Brot und sogar ein Bergmann-Eis.<br />

Regelmäßig treffen E-Mails von Leuten ein, die<br />

dem Bier zu weiterem Erfolg verhelfen wollen.<br />

Ehrenamtlich. „Es sind die vielen kleinen Punkte<br />

der Unterstützung, von denen unsere Idee lebt“,<br />

so Raphael. Noch während wir uns am Bergmann-Kiosk<br />

unterhalten, tritt ein örtlicher Büdchenbesitzer<br />

auf Thomas Raphael zu und fragt,<br />

fast etwas verschüchtert, ob auch er Bergmann<br />

verkaufen dürfe.<br />

Da kommen Erinnerungen an große Zeiten<br />

hoch: Dortmund war mal die Bierstadt Nummer<br />

Eins in Europa. 1796 gegründet, verkaufte die<br />

Bergmann Brauerei ihr Bier bis in die frühen<br />

70er Jahre in der Stadt und hatte, <strong>als</strong> kleinste der<br />

acht städtischen Brauereien, stets einen festen<br />

Nischenplatz neben den großen Marken. Als<br />

dann alle Betriebe dicht gemacht oder von Kon-<br />

zernen geschluckt wurden, verschwand auch die<br />

Marke Bergmann von der Bildfläche.


2005 wurde sie vom zwischenzeitlichen Eigentümer,<br />

der Union-Ritter Brauerei, endgültig aufgegeben.<br />

Lichter aus. Doch schon nach kurzer<br />

Zeit gehen die Lichter wieder an: Mehr durch<br />

Zufall stößt Thomas Raphael im Markenregister<br />

auf den Löschungsvermerk. Eigentlich hatte er<br />

dort etwas ganz anderes gesucht. Prompt sichert<br />

er sich die Rechte – „ohne wirklich zu wissen,<br />

was man damit anfangen soll.“<br />

Erst dann keimt die Idee, selbst Bierbrauer zu<br />

werden. Zusammen mit Freunden setzt er die<br />

ersten Sude auf, Gebräue im wahrsten Sinne,<br />

denn die Bergmann-Originalrezepte sind nicht<br />

mehr verfügbar. Also entwerfen die Bergmann-<br />

Pioniere in umliegenden Kleinbrauereien eigene<br />

Kreationen in Anlehnung an klassische Sorten<br />

wie Pils, Schwarzbier oder Export – einst der<br />

Biertypus der Stadt schlechthin. „Wenn sich herausgestellt<br />

hätte, das wird nichts, dann hätten wir<br />

den Rest eben selbst ausgetrunken.“ Doch das<br />

Ergebnis schmeckt nicht nur ihnen, sondern<br />

vielen freiwilligen Testern. Nächste Aufgabe:<br />

der Auftritt der „Marke Eigenbrau“. Dafür geht<br />

es erst einmal in das private Archiv von Theo<br />

Sobkowiak, einem fleißigen Sammler alter<br />

Bergmann-Requisiten vom Bierdeckel bis zur<br />

Leuchtreklame.<br />

Ein wunderbares Sammelsurium, leider ohne<br />

stringentes Corporate Design: „Das Logo und<br />

die Schriften wurden von den alten Markeninhabern<br />

sehr oft gewechselt oder durcheinander<br />

verwendet“, erklärt Nardin Moadel. Die<br />

Diplom-Designerin vereint im neuen Etikett das<br />

traditionelle, kräftige Rot, die Buchstaben DBB<br />

(für Dortmunder Bergmann Bier) sowie Hammer<br />

und Schlägel <strong>als</strong> Symbole des Bergbaus. Das<br />

ist alles. Das reduzierte, farbintensive Design<br />

gibt den Flaschen eine enorme Fernwirkung.<br />

Schließlich ist die <strong>Gestaltung</strong>smaxime „weniger<br />

ist mehr“ bei Bier-Etikettierungen eher Ausnahme<br />

denn Regel.<br />

Auch mit neuen Flaschenmodellen, die die bis-<br />

lang genutzten Standardflaschen ergänzen oder<br />

ersetzen könnten, liebäugelt das Bergmann-<br />

nr. 5 | heimatlust<br />

Team. Zum Beispiel mit weinflaschenartigen<br />

Formen oder Bügelflaschen in Sondergrößen.<br />

Kostspielige Umrüstzeiten und Spezial-<br />

Abfüllmaschinen, die es bis dato nur fernab des<br />

Verkaufsgebiets gibt, lassen diese Pläne vorerst<br />

Visionen bleiben. Aber in der eigenen Braustätte,<br />

die gerade in der Dortmunder Schäferstraße<br />

entsteht, werden sich die „Bergmänner“ bald so<br />

richtig austoben können. Ein neues, altes Bier<br />

ist bereits in Planung: „Es heißt Adambier und<br />

stammt aus dem Mittelalter“, verrät Thomas<br />

Raphael. Mittelalter? Total verrückt. Funktioniert<br />

doch alles nicht. ◆<br />

Bergmann-Kiosk: Hoher Wall 36, mo-fr 16-20,<br />

sa 10-20 Uhr<br />

www.bergmann-bier.de<br />

71


heimatlust | nr. 5<br />

Ortsbegehung<br />

Brauerei der Schelme<br />

text Grobilyn Marlowe | fotografie Thomas Skroch<br />

Zwei Adlige namens Gisbert, ein torkelnder Hans Albers, eine<br />

antike Brauerei, mutige belgische Kriegsgefangene und der Strukturwandel<br />

im Ruhrgebiet: Im alten Gut Brünninghausen am<br />

Eingang des Dortmunder Rombergparks laufen die Fäden zusammen.<br />

Geballte Ruhrpotthistorie trifft hier auf westfälische<br />

Schnurren, politischer Irrweg auf den wachsenden Widerstand<br />

der Steuerzahler.<br />

Wenn man die Treppe der U-Bahnhaltestelle<br />

„Rombergpark“ hinabsteigt, liegt es gleich zur<br />

Linken: Ein Ensemble aus fast 200 Jahre alten<br />

Gebäuden in einer seltenen Mischarchitektur<br />

aus den Anfängen der Industriellen Revolution.<br />

Von dem ursprünglichen Gutshof erhalten sind<br />

u.a. ein villenartiges Herrenhaus, Stallungen,<br />

eine Schmied-Wohnung sowie ein rotgeziegeltes<br />

Brauereigebäude samt Katakomben. Erbauen<br />

lassen hat dies alles um 1820 Freiherr Gisbert I.<br />

von Romberg (1778-1859), <strong>als</strong> Ergänzung zu sei-<br />

nem heute nicht mehr erhaltenen Schloss. Gisbert<br />

I. residierte hier bis zu seinem Tod <strong>als</strong> ziem-<br />

72<br />

lich reicher Adliger, Bergwerksbesitzer, Politiker<br />

und Reformer. Nicht nur der eigentliche Tiefbau<br />

wurde auf seinen Zechen begründet, er war es<br />

auch, der 1799 die erste Dampfmaschine aufstellen<br />

ließ. Der erste Strukturwandel von Landwirtschaft<br />

zur Industrie war eingeleitet. Sein wilder<br />

Enkel und Erbe, Gisbert II. (1839-1897) verstand<br />

Opas Reichtum zwar zu mehren – schmiss aber<br />

mit der Kohle nur so um sich.<br />

Gern zerdepperte er bei seinen volksnahen Gela-<br />

gen sämtliches Geschirr, zerschoss die Scheiben<br />

seines Schlosses, raste mit seinem Gespann über<br />

Stock und Stein und foppte die anderen Adligen,<br />

wo er nur konnte. Heute ist er landesweit legen-<br />

där und gilt <strong>als</strong> westfälisches Äquivalent zu<br />

Eulenspiegel und Münchhausen (und so ganz<br />

nebenbei auch <strong>als</strong> Erfinder des Dortmunder<br />

Rennsports): „Der Tolle Bomberg“ nannte<br />

Joseph Winckler ihn in seinem Roman, der<br />

in den fünfziger Jahren mit Hans Albers und<br />

Harald Juhnke äußerst berauschend verfilmt<br />

wurde. Doch das Gut weist noch andere historische<br />

Bezüge auf. Während des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

waren hier belgische und französische<br />

Kriegsgefangene interniert. Die erlaubten sich<br />

eine dam<strong>als</strong> lebensgefährliche Schelmerei: 1943<br />

verewigten sie sich und die belgische Krone<br />

mit Hammer und Meißel im Sandsteinbogen<br />

der Brauerei. Man kann ihre Namen noch heute<br />

dort lesen. Ob das so bleibt, ist fraglich. Dem Gut<br />

droht laut städtischem Wirtschaftsförderungsbericht<br />

der Komplett-Abriss, wenn ein zukünftiger<br />

Wellness-Investor es denn so wünscht. Eine<br />

Bürgerinitiative läuft dagegen Sturm: Wären die<br />

faszinierenden Gemäuer restauriert nicht ein<br />

genialer Ort, sich im Jahr 2010 <strong>als</strong> echte Kulturhauptstadt<br />

zu präsentieren? Der Tolle Bomberg<br />

hatte dam<strong>als</strong> jedenfalls schon ein passendes<br />

Trinklied: „Wir bleiben, was wir waren, der<br />

Schrecken der Barbaren.“ ◆


heimatgedanke | nr. 5<br />

Marke Eigenbau<br />

Die Revolution des<br />

Selbermachens<br />

text Jan-Peter Wulf | illustration Annika Janssen<br />

Raus aus den Kellern:<br />

Handwerken ist sexy!<br />

74<br />

Do it yourself: einst belächelt, jetzt begehrt. Das<br />

Web 2.0 macht möglich, dass handgemachte<br />

Lampen, Stofftiere, Schmuckstücke, Schuhe und<br />

viele andere Dinge heutzutage weltweit erstan-<br />

den werden können. Ein Webshop lässt sich <strong>als</strong><br />

Plugin kinderleicht auf dem eigenen Blog installieren,<br />

große Reichweiten für Selbstgemachtes<br />

bieten einschlägige Portale wie DaWanda oder<br />

Etsy. Mit dem Phänomen, das Holm Friebe<br />

(Mitautor von „Wir nennen es Arbeit“) und<br />

Thomas Ramge (schreibt u.a. für brand eins) in<br />

ihrem Buch „Marke Eigenbau“ beschreiben,<br />

verhält es sich ein bisschen wie mit der neuen<br />

Hinwendung zur Ökologie: früher kratzender<br />

Idealismus in Schafwollsocken, heute salonfähiger<br />

Pragmatismus in selbst entworfener Eco-<br />

Chic-Kleidung. Früher schrulliges Selbstbau-<br />

Liegerad, heute liebevoll handgefertigte Holzfahrräder<br />

für den Nachwuchs.<br />

Das Buch dazu ist Hintergrundliteratur für den<br />

gut sortierten Werkzeugkasten – voller Beispiele<br />

und Erfolgsgeschichten. Die Marke Eigenbau,<br />

sagen Friebe und Ramge, schüttelt die Welt der<br />

Massenproduktion kräftig durch: Skalen- und<br />

Verbundeffwekte, früher Vorteile auf Fabrikseite,<br />

stechen nur noch bedingt. Jetzt trumpfen die<br />

Kleinen: Wir machen es besser, schöner, in-<br />

dividueller. Oft auch teurer. Aber das wird ge-<br />

würdigt: Denn die Selbermacher verschleiern<br />

die Herstellung nicht mehr, sondern legen sie<br />

offen, machen Wertschöpfung und Wert sichtbar.<br />

„True Economy“ heißt das Stichwort. Oder<br />

„Fabrikation Open Source“.<br />

Das birgt Möglichkeiten über unsere direkte<br />

Umgebung hinaus: Offene Bauanleitungen für<br />

lokal benötigte Produkte, hergestellt von DIY-<br />

Teams vor Ort, könnten eine zeitgemäße<br />

Variante der Entwicklungshilfe werden, die<br />

früher nur Waren anlieferte. Schon jetzt gibt es<br />

in Regionen, die von den Güterzyklen der<br />

Welt abgeschnitten scheinen, so genannte „fab<br />

labs“: kleine Labore, in denen mit modernster<br />

Technologie beispielsweise Ersatzteile für<br />

Fahrzeuge hergestellt werden. Da bekommt der<br />

abgenutzte Begriff der Selbsthilfe auf einmal<br />

ganz neuen Glanz. ◆<br />

Holm Friebe, Thomas Ramge: Marke Eigenbau.<br />

Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion.<br />

Campus Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro.


Ein Ansprechpartner, viele Experten...<br />

Der Mittelstand ist<br />

der wichtigste Impulsgeber<br />

für Wirtschaftswachstum<br />

und Innovation.<br />

Wir fördern ihn seit<br />

unserer Gründung.<br />

http://dovoba.mobi www.dovoba.de<br />

Das Ergebnis:<br />

Eine gewachsene,<br />

enge Partnerschaft,<br />

in der wir unsere Ziele<br />

gemeinsam erreichen.


heimatgedanke | nr. 5<br />

Essen Hauptbahnhof<br />

Die Ästhetik des<br />

Übergangs<br />

text Volker K. Belghaus | fotografie Marc Hinz<br />

Das Ziel ist der Weg: Der Essener Hauptbahnhof wird bei laufendem<br />

Betrieb umgebaut, was zu gewissen Irritationen führt.<br />

Richtung Freiheit geht’s nach links. Eigentlich.<br />

Erst mal ist nämlich kein Durchkommen zu die-<br />

sem Platz hinter dem Essener Hauptbahnhof,<br />

dessen U-Bahn-Zugänge bis vor kurzem mit<br />

Würstchenbuden und kargem Restgrün umstellt<br />

waren. Es braucht schon Fantasie, eine urbane<br />

Mittelmäßigkeit wie diese „Freiheit“ zu nennen.<br />

Der direkte Weg dorthin ist durch eine hohe<br />

Bretterwand versperrt – darauf ein Plakat: Ein<br />

surrealistischer Comic-Maulwurf in Trenchcoat<br />

und Hütchen, der einen Hund Gassi führt, steht<br />

vor einem Lageplan. „Wir bauen für sie!“<br />

76<br />

Ja, schön. Abgesehen davon, dass man lieber<br />

nicht wissen möchte, welchem Hirn dieses biedere<br />

Bahn-Baustellenmaskottchen entwichen<br />

ist – ist denen schon mal aufgefallen, dass ein<br />

Maulwurf zwar buddelt, aber gleichzeitig blind<br />

wie die Nacht ist? Unter dem Plakat hocken<br />

zwei gleichgültige, dönerkauende Jugendliche;<br />

nebenan, bei McDonald’s, ein Aushang: Heute<br />

kein Kaffee wegen defekter Maschine. Nicht<br />

einmal darauf ist noch Verlass.<br />

Der Essener Hauptbahnhof ist seit einigen Monaten<br />

ein Ort der Veränderung. Schöner soll er<br />

werden und heller – kulturhauptstadtiger eben.<br />

Das bedeutet Komplettumbau bei laufendem<br />

Betrieb. Trotz Baustelle werden weiterhin täglich<br />

rund 150.000 Fahrgäste durch die Baustelle ge-<br />

lotst, müssen Umwege gehen und täglich neue<br />

Überraschungen erleben. Wo gestern noch der<br />

Zugang zum Gleis möglich war, enden Wege<br />

heute im Nichts. Die Menschen legen eine<br />

zielstrebige Orientierungslosigkeit an den Tag;<br />

sie erregen sich laut oder ertragen es stumm.<br />

Aber man kann sich ja durchfragen. Im Zugang<br />

der S-Bahngleise hinter McDonald’s stehen zwei<br />

Mitarbeiter der Bahnhofsmission unter einer<br />

defekten Uhr, die mit Klebeband „durchgestrichen“<br />

wurde. Auf den blauen Thermowesten<br />

prangt das Missionskreuz; ist es schon so weit<br />

gekommen? Hilft jetzt nur noch beten? Nein,<br />

die beiden machen sich ganz weltlich nützlich,<br />

geben Auskunft oder tragen Kinderwagen an die<br />

Gleise.<br />

„Ich hab mich so an dich gewöhnt“ sang die Knef<br />

vor Jahren, und wie mit Lebenspartnern scheint<br />

es auch mit Gebäuden zu sein: Es wird einem<br />

doch melancholisch zumute, wenn etwas verän-<br />

dert oder abgerissen wird. So ist der geschlossene<br />

Kiosk auf Gleis 11 zum Pausenraum für die<br />

Bauarbeiter geworden. An der Tür hängt noch<br />

der Abschiedsgruß der Vorgänger, die sich bei<br />

den Kunden „für das jahrelange Vertrauen“ be-<br />

danken. In der angeschlossenen Trinkhalle stan-<br />

den vor dem Umbau schon morgens jene Men-<br />

schen mit zuviel Zeit beim Bier in der zugequalmten<br />

Stehtischgemütlichkeit. Die Bahnsteige<br />

davor haben sich (noch) wenig verändert,


nr. 5 | heimatgedanke<br />

auf den gesperrten Treppen liegt Baustaub, von<br />

unten lärmen die Bohrhämmer. Es fehlt der typische<br />

Bahnhofsgeruch, dieser warme Bratwurst-<br />

Döner-Pommes-Kaffee-Drogerie-Dampf. Den<br />

Bäcker Kamps haben sie passenderweise in der<br />

ehemaligen DB-Betriebskantine untergebracht;<br />

turnhallengroß, mit Wänden in Klinkeroptik und<br />

der Atmosphäre eines Gemeindezentrums der<br />

80er Jahre.<br />

An der ehemaligen „Freiheit“, die bald ganz anders<br />

aussehen soll, sind die Buden verschwunden.<br />

Am Parkhaus brüllt ein fassadenhohes Pla-<br />

kat den Betrachter an, dass der Spieltreff trotz<br />

Umbaus geöffnet sei und weist mit einem<br />

riesigen Pfeil auf den Eingang eines Automatencasinos,<br />

das leider nicht dem Bagger anheim fiel.<br />

Ein Stück Asphalt ist quadratisch abgesperrt;<br />

außer einem Berg trockenen Laubs ist aber<br />

nichts zu sehen. Könnte Kunst sein, ist aber in<br />

seiner Sinnlosigkeit fast schon wieder rührend.<br />

Ein kleiner Stillstand in der Bahnhofshektik.<br />

Das Alte verschwindet, das Neue ist noch nicht<br />

ganz erkennbar. Diese Phase des Übergangs<br />

erzeugt eine ganz eigene, improvisierte Ästhetik<br />

des Gegenwärtigen. Die Kofferrampen, die mit<br />

ein paar Schaufeln Teer an den Bordsteinkanten<br />

aufgehäuft wurden, werden bald der Vergangenheit<br />

angehören. Richtig schön ist das alles nicht,<br />

aber wenn alles fertig ist, werden solche Eingriffe<br />

in den öffentlichen Raum nur noch Erinnerung<br />

sein. Wehmut? Das dann doch nicht. Eher die<br />

Trauer der Vollendung. ◆<br />

77


heimatgedanke | nr. 5<br />

Martinis<br />

Monstergeschichten<br />

78<br />

Das Monster und die Wahrheit<br />

„Warum hast du mich angelogen?” fragte der<br />

Dachs.<br />

„Ich bin nicht schwindelfrei”, sagte das Monster.<br />

•<br />

Das Monster zeigt sich tolerant<br />

Auf heiße Badetage oder lauschige Sommernächte<br />

hatte man in diesem Jahr vergeblich ge-<br />

wartet. Nach der allgemein <strong>als</strong> zu feucht empfundenen<br />

Jahreszeit, nach kühlen wie trüben<br />

Monaten August und September, färbten sich<br />

die ersten Blätter erst weit nach kalendarischem<br />

Herbstanfang rot.<br />

„Na endlich”, seufzte erleichtert der Fuchs, der<br />

seiner Meinung nach sowieso und jährlich über<br />

einen viel zu langen Zeitraum koplementärfarben<br />

durch Wald und Wiese schnüren musste<br />

und wünschte sich nichts lieber, <strong>als</strong> ein grünes<br />

Fell ab Mai und für den ganzen Sommer.<br />

„Meinetwegen, soll er doch machen”, gab sich<br />

das Monster konziliant. „Hauptsache, es beeinflusst<br />

nicht den Geschmack.”<br />

•<br />

Das Monster und die Hasen<br />

„Natürlich”, sagte der Dachs, „wenn du es so<br />

siehst, ist Morgenstern eher etwas für Weicheier.”<br />

Er gab dem Monster ein Paket echt fieser<br />

hardboiled Krimis mit, die es Abend für Abend<br />

verschlang. Es dauerte knapp zwei Wochen,<br />

dann träumte es nicht mehr in breitwandigem<br />

Technicolor, sondern in den harten Schwarz-<br />

Weiß-Kontrasten des film noir. ‚Geschafft‘,<br />

dachte das Monster kühl, <strong>als</strong> es am Morgen des<br />

dreizehnten Tages wach wurde. Kalter Niesel<br />

prasselte von bleigrauem Himmel aufs Dach.<br />

Das Monster frühstückte schwarzen Kaffee in<br />

sehr wenig Wasser und dazu Toastbrot mit Tabasco.<br />

Dann verließ es das Haus. Der Wind trieb<br />

jetzt Schneeflocken vor sich her. Das Monster<br />

streckte seine Pranke aus, eine Flocke landete,<br />

ohne zu schmelzen, unter eisblauen Blicken.<br />

Kaltblütig wie es war, schritt es aus und auf den<br />

Bau der Hasen zu.<br />

„Hallo Monster”, sagte der Hasenpapi.<br />

„Hallo Hasenpapi”, sagte das Monster.<br />

„Hallo Monster”, sagte die Hasenmami.<br />

„Hallo Hasenmami”, sagte das Monster.<br />

„Hallo Monster”, schrien fünf kleine Häschen im<br />

Chor.<br />

„Hallo Häschen”, sagte das Monster, „verdammt,<br />

ich bringe es einfach nicht fertig.”<br />

Zum Trost fraß es den Fuchs.<br />

„Danke, liebes Monster”, sagten die Häschen.<br />

Auch das noch.<br />

•<br />

Das nicht existierende Monster<br />

Der Tag begann gut für den kleinen Cockerspaniel.<br />

Die Sonne schien und er durfte zeitig<br />

raus um auf der Wiese vor dem Haus zu spielen.<br />

Mutig verbellte er den Briefträger und anschließend<br />

jagte er die getigerte Nachbarskatze. Dabei<br />

sprang er übermütig über den niedrigen Zaun,<br />

der den Garten begrenzte. Die Katze konnte fliehen,<br />

aber er entdeckte das Kaninchen, das aufs<br />

offene Feld flüchtete. Das verflixt schnelle Tier<br />

schlug Haken und raste mit einen Affenzahn<br />

auf ein niedriges Gebüsch am Rand des Ackers<br />

zu. Um Haaresbreite entkam es in seinem Bau.<br />

Schade, aber ein früher Schmetterling lenkte den<br />

kleinen Hund ab. Der taumelte knapp über dem<br />

Boden durch die warme Frühlingsluft. Beherzt<br />

setzte der Spaniel zum Sprung an, aber er konnte<br />

das im Licht bunt schillernde Flattermännchen<br />

nicht erwischen. Egal, Spaß machte es trotzdem<br />

und dann hatte er mit einem Mal die würzige


Witterung von Rebhuhn in der Nase. Der folgte<br />

er, bis er an den Waldrand kam. Dort verlor sich<br />

zwar diese Spur, aber tausend und ein anderer<br />

Duft lockten ihn immer tiefer in den Wald. Bis er<br />

merkte, dass er sich verlaufen hatte.<br />

Er versuchte, auf der eigenen Fährte zurückzufinden,<br />

aber da waren so viele Düfte und Gerüche,<br />

die ihn verwirrten. Ängstlich schaute er sich um.<br />

Panik kam auf. Dunkel und drohend standen<br />

mächtige Bäume um ihn herum, tief hingen die<br />

Zweige der Fichten, er spürte feuchtes Moos und<br />

glitschigen Moder an den Pfoten. Und er hatte<br />

schon so viel vom Monster gehört, dass es auch<br />

Hunde fressen würde, dass es sogar die schnellen<br />

Windhunde gejagt, gefangen und verschlungen<br />

habe. Und schlimmeres. All die Geschichten fielen<br />

ihm wieder ein, die man ihm in Welpentagen<br />

vorgelesen hatte. Aber der Cockerspaniel wusste,<br />

dass das Märchen waren, die nur erzählt wurden,<br />

um kleinen Hunden Angst zu machen. Damit sie<br />

nicht allein in den Wald liefen.<br />

Jetzt war er im Wald. Ein Wind kam auf und trieb<br />

raschelnd altes Laub vom letzten Herbst vor<br />

sich her. War der Wind nicht unnatürlich kalt?<br />

Spürte er nicht den eisigen Griff? Der nach<br />

ihm griff?<br />

„Äh... griff griff ”, lachte der gefleckte Stöberhund<br />

hysterisch, „griff griff ”, ging es in ein schrilles<br />

Bellen über.<br />

„Es gibt gar keine Monster”, sagte er sich.<br />

„Monster existieren nicht. Nur im Märchen gibt<br />

es die.” Er versuchte, sich zu beruhigen. Plötzlich<br />

knackte es hinter ihm im Unterholz. Der Cockerspaniel<br />

zuckte zusammen, drehte sich um. Ein<br />

roter Blitz raste auf ihn zu, drehte im letzten<br />

Moment ab und hetzte senkrecht den Stamm<br />

einer Buche empor. „Ein Eichhörnchen”, entfuhr<br />

es dem Hund. „Das hatte bestimmt genau so<br />

viel Angst wie ich. Da haben wir aber beide Glück<br />

gehabt.” Das Herz schlug ihm dennoch bis zum<br />

H<strong>als</strong> und er zitterte am ganzen Leib. „Es gibt<br />

keine Monster, es gibt keine Monster, gibt keine<br />

Monster, gibt keine Monster”, wiederholte er<br />

immerfort, murmelte es <strong>als</strong> Sedativum mantraartig<br />

vor sich hin.<br />

Dann fraß ihn der Bär.<br />

Das Monster <strong>als</strong> Hypochonder<br />

„Bei den Kühen ist das Fleckfieber ausgebrochen”,<br />

sagte der Kräuterdachs. „Du könntest dich<br />

mal nützlich machen und mir helfen.”<br />

Das Monster kam, sah und siechte.<br />

•<br />

Das Monster und die<br />

Wollhandkrabbe<br />

Bei einem Abendspaziergang bei Ebbe am Meer<br />

stolperte das Monster über einen verfilzten<br />

Klumpen aus blau-weißem Material, fand keinen<br />

Anfang und kein Ende, aber komische Sachen<br />

darin. Es bückte sich, das Knäuel näher zu<br />

untersuchen.<br />

„Hallo Monster”, sagte die Wollhandkrabbe, die<br />

über den nassen Sand gelaufen kam.<br />

„Hallo Wollhandkrabbe”, sagte das Monster.<br />

„Was ist das?”<br />

„Seemannsgarn”, erwiderte die Krabbe, „Soll ich<br />

dir einen Matrosen stricken?”<br />

„Warum nicht”, entgegnete das Monster.<br />

Das Krustentier begann, behend bewegten sich<br />

die beiden Scheren und in kurzer Zeit war das<br />

Werk vollbracht.<br />

„Ahoi Monster”, sagte der Matrose, fand ein<br />

Boot und stach in See.<br />

„Es geschehen Dinge am Meer, die glaubst du<br />

nicht”, erklärte das Monster später dem Dachs.<br />

•<br />

Das Monster und das<br />

gefundene Fressen<br />

Der Fuchs.<br />

nr. 5 | heimatgedanke<br />

79


heimatgedanke | nr. 5<br />

Birgit Graf<br />

Brief aus Berlin<br />

text Birgit Graf | illustration Thomas Armborst | portrait Dirk Rose<br />

Als ich nach Berlin umzog, war ich sehr erstaunt:<br />

In vielen Gesprächen mit Freunden und Be-<br />

kannten aus dem Ruhrgebiet musste ich herausfinden,<br />

dass einem Umzug in diese Stadt immer<br />

etwas nahezu Ideologisches zugrunde gelegt<br />

wird. Meine Gründe hingegen waren so banal,<br />

dass mir oftm<strong>als</strong> unterstellt wurde, ich würde<br />

meine wahren Beweggründe verschweigen.<br />

Tatsache ist, ich bin ein sehr ortsgebundener<br />

Mensch und ich kann noch heute guten Gewissens<br />

behaupten, ich hätte in Dortmund alt<br />

werden mögen. Ich glaube, vielen Bewohnern<br />

dieser etwas seltsamen Stadt ist überhaupt nicht<br />

klar, wie schön es dort ist. Regelmäßig, wenn<br />

ich zu Besuch bin, wandere ich stundenlang um-<br />

her und erfreue mich wahllos an allem, was ich<br />

sehe. Ein Sommer in Berlin ist aber tatsächlich<br />

etwas Tolles. Man kann jeden Tag zu einem<br />

anderen See fahren, in Parks rumlungern und<br />

Schiffen nachschauen. Wenn man sich jedoch<br />

darüber schlau machen möchte, was gerade<br />

getragen wird, so wird man zunächst in eine<br />

unbegrenzte Zahl an Sackgassen gejagt, gefüllt<br />

mit Klischees und Vorurteilen. Jeder Stadtteil ist<br />

ein Modeghetto. Kreuzberger gehen nicht zu den<br />

Zecken nach Friedrichshain, Neuköllner nicht<br />

nach Mitte, Ossis nicht in den Westen und so<br />

weiter.<br />

In Friedrichshain tragen die Menschen Bundeswehrchic<br />

mit Sebstgestricktem und oft bis in den<br />

späten Herbst hinein keine Schuhe. In Kreuzberg<br />

gibt es mehr Bioläden <strong>als</strong> Menschen, doch<br />

die sind in diesem Winter besonders schön.<br />

Oft wird die enge Jeans, die auch hier nicht<br />

totzukriegen ist, zu Hause gelassen und durch<br />

schwarze Strumpfhosen mit kurzen bunten<br />

Stoffröcken ersetzt, kombiniert mit schlichten<br />

80<br />

schwarzen Stiefeln bis knapp über die Waden.<br />

Selbst die bunte Inkamütze mit Ohrenschützern<br />

kann mich nicht stören. Und sogar die Männer<br />

sehen irgendwie gut aus. Wer schöne Menschen<br />

sehen will und nur einem Tag Zeit hat, sich in<br />

Berlin umzusehen, dem empfehle ich einen<br />

langen Spaziergang durch Kreuzberg. Doch wer<br />

wirklich was erleben will, der fährt nach Mitte,<br />

vorrausgesetzt, er hat sehr viel Humor. Dieser<br />

Stadtteil ist voll mit Fashionvictims à la Victoria<br />

Beckham: Leute, die Geld haben, aber eben<br />

nicht die geringste Ahnung, wie man den ganzen<br />

teuren Quatsch tragen soll. Hier kann man<br />

sehen, was garantiert nicht hip werden wird.<br />

Ein weiteres Phänomen ist der Prenzlauer Berg,<br />

der schon seit einiger Zeit ‚Pregnancy Hill’<br />

genannt wird, was ich richtig doof finden würde,<br />

wenn es nicht so sehr stimmen würde. Dieser<br />

Stadtteil ist ein riesiges Reiche-Mädchen-<br />

Zimmer. Ihre Männer tragen weite braune oder<br />

graue Anzüge, sie selbst und ihre ein bis zwei<br />

Kinder sehen aus wie ökologisch gefärbtes<br />

Holzspielzeug. Ein Spaziergang durch Prenzlauer<br />

Berg ist ein bisschen wie ein Zoobesuch, in dem<br />

Sinne, dass man es gerne mal sehen würde, aber<br />

auch nicht stören will. Die zwei lustigsten Dinge<br />

sind mir dann aber doch in Neukölln aufgefallen:<br />

Der 16-jährige Junge trägt Vokuhila-Iro mit<br />

Strähnchen, was mich erfreulich an die Schwulenbewegung<br />

der frühen Achtziger erinnert.<br />

Das zweite ist das Ensemble aus Chucks und<br />

engen Jeans, das bei Jugendlichen im Mainstream<br />

gelandet ist, bei den Alternativen, genau<br />

wie zur meiner Zeit, aber auch immer noch<br />

getragen wird. Bewegung und Gegenbewegung<br />

sehen gleich aus, vielleicht mit dem kleinen Unterschied,<br />

dass die Modebewussten die Schuhe<br />

wegschmeißen, wenn sie Löcher kriegen, und<br />

die anderen sich erst dann damit raustrauen. Am<br />

Ende weist nun wirklich nichts darauf hin, dass<br />

es irgendwann mal langweilig werden könnte.<br />

Und wenn doch, ignorieren wir es.


www.macht–mich–schlau.de


Impressum<br />

<strong>Heimatdesign</strong> – Winter 2008/2009<br />

Verlag<br />

<strong>Heimatdesign</strong> GbR,<br />

Kleppingstr. 47,<br />

44135 Dortmund<br />

Fon: 0231- 950 03 28<br />

Fax: 0231 – 950 03 58<br />

info@heimatdesign.de<br />

www.heimatdesign.de<br />

Herausgeber<br />

<strong>Heimatdesign</strong> GbR<br />

Chefredaktion<br />

Petra Engelke (V.i.S.d.P.)<br />

Konzept, Marketing<br />

Marc Röbbecke<br />

Schlussredaktion<br />

Reinhild Kuhn<br />

Vertrieb<br />

Kay Berthold<br />

Art Direktion und Bildredaktion<br />

<strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong> <strong>Gestaltung</strong>!<br />

(bandefuergestaltung.de)<br />

dasa-workflow-heimatdesign.qxd 13.10.2008 16:49 Uhr Seite 1<br />

J U N G E V I D E O - K U N S T I N D E R D A S A<br />

Sehschärfe: Die Welt hinter dem Bildschirm entdecken<br />

10 Videos und eine Installation reflektieren Mensch<br />

und Gesellschaft in der medialen Gegenwart<br />

5. September 2008 – 4. Januar 2009<br />

DASA<br />

Friedrich-Henkel-Weg 1–25, 44149 Dortmund<br />

Telefon 0231 9071-2479 (Information)<br />

Telefon 0231 9071-2645 (DASA-Terminbüro)<br />

www.dasa-dortmund.de<br />

Typografie „Klebo“ (Überschriften)<br />

Elena Schneider (radau-gestaltung.de)<br />

Titelbild<br />

Mark Ansorg<br />

Autoren dieser Ausgabe<br />

Sascha Abel, Volker K. Belghaus, Petra Engelke<br />

(p-eng.de), Wolfgang Kienast (Martini), Nina<br />

Maaßen, Grobilyn Marlowe, Mario Schulte<br />

(Birgit Graf), Tom Thelen, Tanja Wißing,<br />

Jan-Peter Wulf<br />

Fotografen dieser Ausgabe<br />

Mark Ansorg (markansorg.de), <strong>Bande</strong> – <strong>Für</strong><br />

<strong>Gestaltung</strong>!, Marc Hinz (marchinz.com),<br />

Anna Kopylkow (photodesign-kopylkow.de),<br />

Reza Nadji (studiozirkus.de), Jens Oellermann<br />

(freelens.com/jens-oellermann), Julia<br />

Reschucha (reschucha-design.de), Dirk Rose,<br />

Mathias Schmitt (mathiasschmitt.com),<br />

Thomas Skroch (thomas-skroch.de), Kim<br />

Sperling (kimsperling.de), Christine Steiner<br />

(christinesteiner.net), Dennis Yenmez<br />

(dennisyenmez.de)<br />

Öffnungszeiten<br />

dienstags bis samstags 9 bis 17 Uhr<br />

sonntags 10 bis 17 Uhr<br />

montags geschlossen<br />

Illustratoren dieser Ausgabe<br />

Thomas Armborst (thomasarmborst.com),<br />

Stefan Becker (bckr.eu), Annika Janssen<br />

(radau-gestaltung.de)<br />

Anzeigen<br />

Marc Röbbecke (Ltg.), Frauke Hoffschulte<br />

Druck<br />

Druckverlag Kettler, Bönen<br />

papier<br />

Tauro Offset 120g/m2<br />

Auflage 15.000, Erscheinungsweise halbjährlich<br />

Ein Nachdruck der Texte oder Fotos in <strong>Heimatdesign</strong><br />

– auch im Internet – ist nur mit schriftlicher<br />

Genehmigung des Verlages gestattet. <strong>Für</strong><br />

unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial<br />

wird keine Haftung übernommen.


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Kult[ur]getränk<br />

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