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DRACHENBRÜDER – Leseprobe

Unter den Millionen Augen der Lichter lebt das Drachenvolk von Leotrim. Der Drache Norwin hat einen schwierigen Start ins Leben. Eine Amme lässt sein Ei fallen, die Schale ist beschädigt, ein Flügel verletzt. Es wird schnell klar, er wird nie fliegen können. Als er alt genug ist, kommt sein menschlicher Vater, um ihn bei den Menschen leben zu lassen. Die Drachenmutter muss darauf hoffen, dass die jahrhundertealte Verbindung zwischen den Völkern ausreicht, um Norwin einen Platz in ihrer Mitte finden zu lassen. Anfänglich hat sein halbgebürtiger Bruder Ambro Schwierigkeiten, etwas mit seinem Drachenbruder anzufangen. Die beiden passen nirgends hin. Jeder in Leotrim hat seinen Platz, seine Aufgabe. Diese beiden müssen nun selbst herausfinden, wofür sie gut sind.

Unter den Millionen Augen der Lichter lebt das Drachenvolk von Leotrim.
Der Drache Norwin hat einen schwierigen Start ins Leben. Eine Amme lässt sein Ei fallen, die Schale ist beschädigt, ein Flügel verletzt. Es wird schnell klar, er wird nie fliegen können. Als er alt genug ist, kommt sein menschlicher Vater, um ihn bei den Menschen leben zu lassen. Die Drachenmutter muss darauf hoffen, dass die jahrhundertealte Verbindung zwischen den Völkern ausreicht, um Norwin einen Platz in ihrer Mitte finden zu lassen.
Anfänglich hat sein halbgebürtiger Bruder Ambro Schwierigkeiten, etwas mit seinem Drachenbruder anzufangen. Die beiden passen nirgends hin. Jeder in Leotrim hat seinen Platz, seine Aufgabe.
Diese beiden müssen nun selbst herausfinden, wofür sie gut sind.

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Drachenbrüder<br />

Prolog<br />

Hangameh sah erstaunt auf. Ihre Feder noch in der<br />

Hand, schaute sie zum Vorplatz ihrer Höhle, den sie<br />

von ihrem Schreibpult aus gut einsehen konnte. Sie<br />

liebte es, während der Arbeit weit übers Meer blicken zu können.<br />

Ein Hüter aus den Himmelsbergen war auf dem Weg zu ihr, sie<br />

spürte das Vibrieren der Luft unter seinen Flügelschlägen, spürte<br />

die Dringlichkeit. Sie schlug eine neue Seite auf. Dieses Ereignis<br />

benötigte eine eigene Seite in ihrer Chronik. Es war noch nie<br />

vorgekommen, dass ein Ei zu Bruch gegangen war. Der Vater des<br />

Drachenjungen wusste es nicht, der zukünftige Bruder war noch<br />

nicht geboren.<br />

Norwin hatte einen schweren Start in diese Welt.<br />

Hangameh stand auf, ließ die leere Seite, die Feder und das<br />

Tintenfass zurück, um den Drachen und seine Nachricht in Empfang<br />

zu nehmen.<br />

7


DAS drachenvolk von leotrim<br />

Die Chronistin von Leotrim<br />

Hangameh konnte nicht hellsehen, sie war keine Zauberin<br />

oder in sonstiger Weise übernatürlich. Sie war<br />

ein Kind.<br />

Nein, das stimmte nicht ganz.<br />

Sie steckte im Körper einer Achtjährigen und war sehr alt. Es<br />

kam ihr nicht in den Sinn sich als erwachsen zu bezeichnen. So<br />

wie Erwachsene Verantwortung übernahmen, ein Sommerhaus<br />

bauten und eine Winterstatt einrichteten für ihre Kinder, so wie<br />

sie alt wurden und weise und zum Schluss alles vergaßen, kurz<br />

bevor sie starben. Es war, als dürften die Alten nicht einmal die<br />

Erinnerungen ihres Lebens mitnehmen, wenn sie unter die Rosen<br />

gingen.<br />

Hangameh hatte viele Menschen sterben sehen und war dabei<br />

keinen Tag gealtert.<br />

Kein Sterbender hatte Angst, wenn eine Achtjährige fragte:<br />

»Was nimmst du mit?« Sie wusste nicht genau, warum sie diese<br />

Frage stellen musste. Doch wenn ihr Gegenüber »Nichts« sagte,<br />

durfte er gehen.<br />

Unter die Rosen. Hangameh hatte es sich schon manches<br />

Mal vorgestellt, wie es wohl wäre, nicht das Sterben an sich, sie<br />

wünschte es sich nicht. Aber sie war von allen Zeremonien ausgeschlossen.<br />

Sie durfte sich keinen Ort aussuchen, an dem sie liegen<br />

wollte. Durfte kein Grab ausheben und pflegen, keine Heckenrose<br />

pflanzen für ihren ewigen Schlaf. Sie würde nicht sterben. Ob sie<br />

8


Drachenbrüder<br />

weise war, konnte sie nicht sagen. Sie beobachtete ja nur, schrieb<br />

auf, was passierte, nüchterne Fakten. Sie enthielt sich jeder Wertung.<br />

Was wusste sie über Weisheit, über kluge Entscheidungen,<br />

über den Wert eines Lebens? Sie wusste von all dem nichts.<br />

Nein, das stimmte nicht ganz.<br />

Sie wusste Dinge, manchmal. Sie wusste, was geschehen würde,<br />

bevor es passierte. Als wäre ihr Herz ein kleiner Kompass, nach dem<br />

sie sich richtete. Sie wusste, wann sie an welchem Ort sein musste,<br />

mit ihrem Buch und ihrer Feder. Sie wusste, welche Worte sie zu<br />

schreiben hatte, ohne je eine Schule besucht zu haben. Sie wusste,<br />

manchmal, was andere dachten oder fühlten. Wo auch immer<br />

dieses Wissen herkam, sie widersetzte sich nicht. Sie hatte es versucht,<br />

am Anfang, und es bitter bereut. Sie konnte nichts dagegen<br />

tun, dass Dinge geschahen. Durch ihr Nichtstun wurde Schlechtes<br />

noch schlimmer. Niemand sah und hörte dieses Leid. Wenn<br />

Hangameh nicht in ihr Buch hineinschrieb, war es, als hätten<br />

Mensch und Drache nie existiert. So gab sie auch heute Abend<br />

dem Gefühl nach und folgte dem inneren Kompass. Es drängte<br />

sie an den Strand. Hinaus aus ihrer Höhle, hinunter, weiter hinunter,<br />

bis zum Wasser, das gierig alles verschlang, was sich ihm<br />

näherte. Das Meerwasser war giftig. Sie kannte es auch nicht anders.<br />

Es musste schon immer unwirtlich gewesen sein <strong>–</strong> vielleicht<br />

nicht ganz so gefährlich, nicht ganz so tödlich wie heute. Trinkbar<br />

war es wohl nie gewesen.<br />

Trotz der Gefahr, nahm sie die in Stein gehauene Treppe vorsichtig<br />

Stufe um Stufe hinab zum grünen Gift, weil dieses Gefühl<br />

in ihr es verlangte. Die Stufen waren nass, es regnete heftig, die<br />

Gewitterwolken hingen tief über dem Wasser, Hangameh meinte,<br />

sie wie einen gewaltigen Wattebausch beiseiteschieben zu können.<br />

Natürlich ging das nicht. Die dunklen Wolken blieben über<br />

ihr, fast trotzig.<br />

9


DAS drachenvolk von leotrim<br />

Glaub bloß nicht, dass wir wegen dir aufhören hier herumzulungern,<br />

schienen sie zu sagen. Der Wind zerrte an ihr wie ein<br />

Rüpel, der versuchte, sie die Treppe hinunterzustoßen. Sie hatte<br />

ihr langes, braunes Haar zu einem Knoten gebunden, der ihr jetzt<br />

schwer im Nacken lag. Der Wind stob unter ihren langen Mantel,<br />

blähte ihn auf wie Flügel. Hangameh konnte nicht fliegen.<br />

Sie ging schneller, hielt sich an den groben Felsen links und<br />

rechts von sich fest, um nicht auszurutschen, ignorierte den sauren<br />

Geruch des Meeres und atmete durch den Mund. Sofort waren<br />

alle ihre Sinne salzig; Mund, Nase, Augen. Selbst ihre Ohren<br />

drückten, sie meinte zu ertrinken, meinte Gift auf ihrer Haut zu<br />

spüren wie Säure. Es brannte.<br />

Sie erreichte den Strand, heftig atmend und müde. So müde.<br />

Sie rannte über die schwarzen Kieselsteine der Küste, jeder ihrer<br />

Schritte klackerte, trotz des Windes, des peitschenden Regens<br />

und der brechenden Wellen, bedrohlich laut. Hangameh entdeckte<br />

ein kleines Ruderboot, niemand saß darin, die Paddel waren<br />

fortgespült und die Wellen spielten damit ein gehässiges Spiel.<br />

Hin und her warfen sie es, wie gemeine Kinder beim Versuch, es<br />

kentern zu lassen.<br />

Hangameh hörte ein kleines Geräusch, wie ein Schmatzen,<br />

und sie sah ein Licht. Es war keines von oben, das sich im Wasser<br />

spiegelte. Hangameh sah zum Himmel, die Lichter von Leotrim<br />

versteckten sich hinter den dicken Wolken.<br />

»Ihr Wasserdrachen von Leotrim«, rief sie, »ihr Hüter des Hafens,<br />

bringt mir dieses Ruderboot!« Sie stand am Strand, mit den<br />

Lederstiefeln schon im Wasser, die grünen Wellen rissen an ihr,<br />

spülten Kieselsteine unter ihr hinweg, wollten sie holen, ungeachtet<br />

dessen, wer sie war.<br />

Ein Kopf tauchte aus dem Wasser auf, ein weiterer, ein weiterer.<br />

»Bitte«, rief sie gegen das Tosen an.<br />

10


Drachenbrüder<br />

Mehrere Drachen, grün wie das Wasser, stürmisch wie die See,<br />

schwammen zu dem kleinen Boot. Das dunkle Holz wirkte fast<br />

schwarz, genau wie die Wolken darüber. Und doch, irgendeine<br />

Lichtquelle musste in dem Boot sein. Hangameh spürte es.<br />

Die Drachen hatten keine Schwingen wie ihre Artgenossen der<br />

Luft. Ihre Flügel waren kleine, praktische und wendige Flossen.<br />

Sie hatten auch keine Federn, sondern Schuppen. Staunend sah<br />

Hangameh ihnen zu, wie sie kraftvoll durchs Wasser glitten wie<br />

Fische. Sie hatte lange keine Fische mehr gesehen, obgleich sie<br />

wusste, dass es noch welche gab, weiter draußen. Sie wunderte<br />

sich zum wiederholten Mal, dass die Wasserdrachen, die grünen<br />

Meerdrachen, noch nicht ausgestorben waren. Sonst hatte sie es<br />

nur mit freundlichen, albern planschenden Seedrachen zu tun<br />

<strong>–</strong> das Leben spendende, blaue Wasser aus den Himmelsbergen<br />

hatte viel Einfluss auf das Gemüt der Tiere.<br />

Mehrere schwarze, stolze Augenpaare sahen sie an. Wer hier<br />

überleben konnte, musste stolz sein. Kein Lebensraum war so<br />

feindlich wie dieser hier. Vier von ihnen geleiteten das Boot an<br />

den Strand. Hangameh hörte das Knirschen, als das Holz den<br />

steinigen Boden berührte beim Aufsetzen an Land. Es war Wasser<br />

in die Barke eingedrungen, aber sie hatte offensichtlich kein<br />

Leck. Das Meerwasser musste durch die hohen Wellen in sie<br />

hineingeschwappt sein. Das Boot war leer, bis auf ein paar herumschwimmende<br />

Utensilien, einen Mantel, ein Kleiderbündel<br />

und einen Weidenkorb. Die vier Wasserdrachen kamen an Land,<br />

legten die Flossen eng an den Körper, schüttelten das Wasser ab<br />

und atmeten <strong>–</strong> hörbar <strong>–</strong> statt mit den Kiemen durch die Lunge.<br />

Lungenfische, dachte Hangameh, vielleicht ist das euer Geheimnis.<br />

Ihr könnt jederzeit gute Luft atmen.<br />

Einer schnaubte Hangameh ins Gesicht, nicht unfreundlich.<br />

Den Atem mit einem Drachen zu teilen war seit jeher ein Zeichen<br />

11


DAS drachenvolk von leotrim<br />

der Verbundenheit. Das Meer schien sich zu beruhigen. Viele<br />

Köpfe schauten aus dem Wasser, viele schwarze Augen betrachteten<br />

die Szenerie am Strand. Hangameh meinte, ihre Neugier zu<br />

spüren. Ihre Fragen.<br />

Es war weder Mensch noch Drache im Boot, es gab niemanden<br />

zu retten.<br />

Da war wieder das kleine Geräusch.<br />

Der Schnauber drehte sich schnell und lautlos um, schnüffelte,<br />

untersuchte den Inhalt des Bootes.<br />

Hangameh spürte seinen Gedanken: »Ich höre es. Ich rieche<br />

nichts.« Er sprach mowarisch. Wie alle Wasserdrachen weigerte<br />

er sich leotrisch zu sprechen und Worte mit der Kehle zu formulieren.<br />

Da sie nicht miteinander vertraut waren, geschweige<br />

denn verbunden, wäre es unhöflich gewesen, in seiner Sprache zu<br />

antworten.<br />

»Lass mich mal sehen«, sagte sie.<br />

Der Wasserdrache sah sie direkt an. »Rem«, sagte sie und<br />

hielt dem Blick stand. Auch wenn sie kurz meinte, in ein tiefes,<br />

schwarzes Loch zu fallen. Seine Schuppen glänzten, Rem war jung<br />

und sehr schön. Er fühlte sich geschmeichelt, als sie das dachte. Er<br />

huschte in sie hinein und so wie er die kleine Barke beschnüffelt<br />

und geprüft hatte, untersuchte er ihre Gedanken, ihre Befindlichkeiten.<br />

Natürlich wusste er, wer sie war, wusste, dass sich dies<br />

nicht gehörte, ohne Erlaubnis, doch es kümmerte ihn nicht. Wie<br />

der Rauch eines Feuers verzog er sich wieder.<br />

Dünn und wendig wie ein Aal, bewegte er sich auf sie zu. Es<br />

machte für ihn keinen Unterschied, ob er im Wasser war oder<br />

nicht, er verlor nichts von seiner Anmut. Seine Verbindungszeremonie<br />

musste schon einige Lenze her sein, doch sie erinnerte<br />

sich. Er schnaubte wieder, als wollte er sagen, dass auch er sich<br />

erinnerte.<br />

12


Drachenbrüder<br />

»Geh zurück, Rem. Du und deine Geschwister habt mir gut<br />

geholfen.« Die anderen ließen sich das nicht zweimal sagen und<br />

glitten zurück ins Wasser, fast lautlos. Rem zögerte.<br />

»Ja, ich weiß«, sagte Hangameh, »irgendetwas ist in dem<br />

Korb.« Sie zog den Weidenkorb zu sich her, er schwamm sachte<br />

auf dem Wasser, das sich im Boot gesammelt hatte, wie eine kleine<br />

Nussschale.<br />

»Waren noch andere hier?«, fragte sie.<br />

»Das Wasser hat sie geholt.«<br />

Hangameh verstand nicht. Wären Menschen von Leotrim in<br />

diesem Ruderboot gewesen, hätten die Hüter im Hafen Alarm<br />

geschlagen, sie hätten Hilfe geschickt, Vincent, der Launige<br />

Vincent, hätte reagiert. Sie hätten es gewusst, die Wasserdrachen<br />

<strong>–</strong> nichts geschah hier, ohne dass sie es bemerkten. Die Wasserdrachen<br />

hätten sie gerettet. Seit vielen Jahren, seit das Wasser<br />

so giftig geworden und kaum eine Fischsorte mehr genießbar<br />

war, war kein Mensch mehr im Grünen Meer von Trim ertrunken.<br />

Das Wasser würde die bloße Haut verletzen, sie regelrecht<br />

abätzen. Boote wurden begleitet, keiner fuhr hinaus ohne Schutz.<br />

Die Wasserdrachen nahmen keine solche Schuld auf sich <strong>–</strong> einen<br />

Menschen in ihrem Umfeld zu verlieren. Sie sprachen nicht<br />

die raue Sprache der Menschen, sie lebten zurückgezogen, aber<br />

sie hatten denselben Grundsatz wie alle Drachen: Kein Mensch<br />

durfte zu Schaden kommen.<br />

Es war kein richtiges Gesetz. Jeder Drache hatte eine Siostra,<br />

einen Broder, jeder hatte jemanden, den er verlieren konnte.<br />

»Das Wasser hat sie geholt?«<br />

Rem schwieg. Seine Augen wirkten traurig. Das Schwarz war<br />

… eigentümlich. Das Meer war hart. Rem nicht.<br />

»Es stammt nicht von hier.«<br />

Hangameh hörte noch diesen letzten Gedanken, bevor Rem<br />

13


DAS drachenvolk von leotrim<br />

im Wasser verschwand.<br />

Da war es wieder. Das kleine Geräusch.<br />

Hangameh zog die nassen Tücher auseinander, die über dem<br />

Korb lagen. Darin lag ein kleines Kind, unmöglich zu sagen, ob<br />

Mädchen oder Junge. Es mochte zwei sein, keine drei, weiß wie<br />

der Mond mit flammend rotem Haar.<br />

»Hala«, sagte Hangameh.<br />

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