typisch evangelisch - Kirchenbezirk Geislingen
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Aus Kirche und Gesellschaft<br />
95 Thesen verändern die Welt<br />
Warum sind wir <strong>evangelisch</strong>?<br />
DR. MICHAEL KANNENBERG<br />
Als der Augustiner-Mönch und Wittenberger Theologie-<br />
Professor Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95<br />
Thesen gegen den Ablass am Schwarzen Brett der Universität<br />
– oder war es doch an der Tür der Schlosskirche?<br />
– anheftete, da war das nichts Außergewöhnliches. Akademische<br />
Lehrer veröffentlichten auf diese Weise ihre<br />
Gedanken und stellten sie einem gelehrten Publikum zur<br />
Diskussion. Heute würde Luther einen Artikel an die<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung oder an die Süddeutsche<br />
Zeitung schicken. Und er könnte sicher sein, dass ihm<br />
schon bald mehr oder weniger schlaue Leserbriefe antworten<br />
würden. Oder er ließe einen Aufsatz in einer<br />
theologischen Zeitschrift abdrucken und würde dann<br />
gespannt auf die Reaktionen der Fachkollegen warten.<br />
Vom akademischen Streit zur Spaltung der Kirche<br />
Vor knapp 500 Jahren machte man einen Thesenanschlag<br />
und das kam öfter vor. Selten fand eine solche akademische<br />
Veröffentlichung aber ein derart gewaltiges Echo wie<br />
Luthers Ablassthesen. Er hatte den Nerv der Zeit getroffen.<br />
Und er hatte Freunde, die seine lateinischen Thesen ins<br />
Deutsche übersetzten, vervielfältigten und als gedruckte<br />
Flugblätter einem breiten Publikum in allen deutschen<br />
Ländern zugänglich machten. Das aber forderte den Widerstand<br />
der Kirchenhierarchie heraus. Solange gelehrte<br />
Theologen untereinander in universitären Hinterzimmern<br />
streiten, hebt kein dösender Bischof ein Augenlid. Wenn<br />
aber plötzlich in ganz Deutschland die kritischen Thesen<br />
eines bisher unbekannten Mönches diskutiert werden und<br />
vor allem Unterstützung finden, dann brennt die Kurie in<br />
Rom. Nicht lange und Luther hatte einen Glaubensprozess<br />
am Hals. Nur politische Gründe zögerten das Verfahren<br />
mehrere Monate hinaus. Im Juni 1520 wurde Luther<br />
schließlich die Exkommunikation angedroht. Genau besehen<br />
kam er der Kirche zuvor: Am 10. Dezember 1520<br />
verbrannte er vor dem Wittenberger Elstertor ein Exemplar<br />
des Kanonischen Rechts, also des kirchlichen Gesetzbuches.<br />
Mit diesem symbolischen Akt exkommunizierte<br />
Luther seinerseits die Papstkirche, die er ursprünglich von<br />
innen hatte reformieren wollen.<br />
Weniger mit dem 31. Oktober 1517 als mit dem 10. Dezember<br />
1520 war die Spaltung der Kirche vollzogen und<br />
die Entstehung zweier getrennter Konfessionskirchen<br />
angelegt. Luther und seine Anhänger gingen ab diesem<br />
Zeitpunkt daran, unabhängig von Rom, vom Papst und<br />
von den Bischöfen Kirche zu gestalten. Damit haben wir<br />
eine erste ereignisgeschichtliche Erklärung, warum wir<br />
heute <strong>evangelisch</strong> sind.<br />
Reformation begünstigt durch technischen Fortschritt<br />
Dass ein in den Anfängen akademischer Streit über den<br />
Ablass derart weitgreifende Folgen nach sich ziehen<br />
konnte, hatte allerdings notwendige Vorbedingungen und<br />
tiefer liegende Ursachen. Wie gesagt, Luther hatte den<br />
Nerv der Zeit getroffen. Aber er traf auch auf günstige<br />
Umstände. Dazu zählten wichtige Fortschritte der Kommunikation.<br />
Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen<br />
Lettern und das gleichzeitig entstehende öffentliche<br />
16 EVANG. KIRCHENBEZIRKSZEITUNG<br />
Postwesen eröffneten ungeahnte Möglichkeiten der Massenkommunikation.<br />
Buchdruck und Post bewirkten eine<br />
Revolution der Kommunikation noch vor der Reformation<br />
und förderten diese ungemein. Hundert Jahre früher hätten<br />
Luthers Gedanken kaum diese rasche und umfassende<br />
Verbreitung finden können.<br />
Aufbruchstimmung<br />
Die tieferen Ursachen von Luthers Erfolg sind vielschichtig.<br />
Gelehrte Köpfe haben dazu schon unzählige Blätter<br />
an Papier und Tabak verbraucht und sind sich in hitzigen<br />
Debatten in die Haare geraten (so noch vorhanden).<br />
Die Jahrzehnte vor und nach 1500 waren in Europa eine<br />
ungeheuer dynamische Zeit. Neben der erwähnten Kommunikationsrevolution<br />
seien die Entdeckung ferner Erdteile<br />
durch Kolumbus und andere oder die Entdeckung<br />
des Individuums durch die Renaissancekunst genannt.<br />
Vieles war im Aufbruch. Und diese allgemeine Stimmung<br />
des Aufbruchs verband sich mit einer spürbaren antiklerikalen<br />
Stimmung auf der Ebene der Gemeinden. Kurz<br />
gesagt: Die spätmittelalterliche Papst-, Bischofs-, Priesterund<br />
Mönchskirche war schon lange reformbedürftig und<br />
hatte seit einiger Zeit auch schon manche Reform erfahren.<br />
Luther und seine Anhänger vermochten es aber nun,<br />
das Reformbedürfnis in griffige Formeln und Formulierungen<br />
zu packen. Sola scriptura war eine solche Formel.<br />
Allein die Schrift, allein die Bibel sollte darüber entscheiden,<br />
was in der Kirche und im Glauben richtig und<br />
wichtig sei – und nicht mehr der Papst oder die Bischöfe.<br />
Sola gratia, allein aus Gnade, war ein anderes wichtiges<br />
Schlagwort. Gott allein bewirkte das Heil der Menschen,<br />
nicht die Priester oder die Heiligen. Und schließlich und<br />
damit zusammenhängend: das allgemeine Priestertum<br />
aller Gläubigen. Nicht der Kirchenapparat von oben, sondern<br />
die Gemeinde vor Ort und von unten sollte das<br />
Gestaltungsprinzip der Kirche als Ganzer sein. Jede einzelne<br />
dieser Formeln ist für sich ein theologischer Grund,<br />
warum wir heute <strong>evangelisch</strong> sind.<br />
Einfluss vom Süden<br />
Als bewusste Württemberger und Württembergerinnen<br />
sollten wir allerdings eines – bei aller Ehre für Luther –<br />
nicht vergessen: Fast gleichzeitig mit ihm wirkte südlich<br />
unseres Landes der Schweizer Zwingli, der mit seinen<br />
Anhängern zu ganz ähnlichen Einsichten wie Luther<br />
gekommen war. Dass wir in und um <strong>Geislingen</strong> <strong>evangelisch</strong><br />
sind, hat auch ziemlich viel mit Zwingli und den<br />
Seinen zu tun. Denn zur Zeit der Reformation gehörte<br />
<strong>Geislingen</strong> zur Reichsstadt Ulm. Die aber wurde mit ihrem<br />
ganzen Territorium durch drei Freunde Zwinglis <strong>evangelisch</strong>:<br />
Martin Butzer, Johannes Ökolampad und Ambrosius<br />
Blarer. Unser schöner württembergischer<br />
Gottesdienst hat bei diesen Theologen<br />
seinen Ursprung. Nicht der schlechteste<br />
Grund, <strong>evangelisch</strong> zu sein!<br />
Dr. Michael Kannenberg war Pfarrer in<br />
Unterböhringen und Hausen. Er wohnt<br />
nun in Künzelsau und unterrichtet dort<br />
Religion am Gymnasium.