typisch evangelisch - Kirchenbezirk Geislingen
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Aus Kirche und Gesellschaft<br />
KARLHEINZ BAUER<br />
Die Reformation veränderte die kirchlichen Verhältnisse<br />
auch in unserer Landschaft tief greifend. Die Kunde über<br />
den Thesenanschlag Martin Luthers vom 31. Oktober<br />
1517 verbreitete sich in Windeseile und sein mutiges<br />
Auftreten im Sinne einer Erneuerung der Kirche löste in<br />
weiten Teilen des Reiches hohe Erwartungen, aber auch<br />
bange Fragen aus. In unserem Gebiet war es zuerst die<br />
Reichsstadt Ulm, in der die Schriften Luthers eifrig gelesen<br />
wurden. Als dann dort 1521 die ersten Prediger erschienen,<br />
um die neue Lehre zu verkünden, kamen sie als Aufwiegler<br />
kurzerhand ins Gefängnis. Doch bald milderte sich<br />
die Haltung des Rates. In Ulm wurde 1524 als <strong>evangelisch</strong>er<br />
Prediger Konrad Sam aus Rottenacker angestellt; er<br />
war ein Freund des Schweizer Reformators Ulrich Zwingli.<br />
Es war unausbleiblich, dass der reformatorische Brandherd<br />
in Ulm auch einen Funkenflug nach <strong>Geislingen</strong> bewirkte.<br />
Der Geislinger Stadtpfarrer Dr. Georg Osswald sah sich im<br />
Frühjahr 1526 veranlasst, gegen die <strong>evangelisch</strong>e Bewegung<br />
vorzugehen. Es war ihm bekannt geworden, dass<br />
auch in <strong>Geislingen</strong> schon Leute das Neue Testament<br />
besitzen und lesen. Von der Kanzel aus schalt er den<br />
Ulmer Prediger Konrad Sam einen Ketzer und behauptete,<br />
in Ulm lebe man „türkisch, viehisch und teuflisch“. Daraufhin<br />
wurde Osswald vor den Ulmer Rat geladen, der<br />
ihm sein höchstes Missfallen ausdrückte und ihn vor weiteren<br />
Schmähungen warnte. Doch der kampfbereite Pfarrer<br />
ließ sich davon nicht beirren und wetterte auf der Kanzel<br />
der Geislinger Stadtkirche weiterhin<br />
leidenschaftlich gegen die neue<br />
Lehre. Es half freilich wenig. Ulm<br />
setzte schon 1527 in <strong>Geislingen</strong><br />
einen <strong>evangelisch</strong>en Prädikanten<br />
ein; es war Paulus Beck aus Munderkingen,<br />
der zunächst in der<br />
dortigen Spitalkirche (ehemals am<br />
Wilhelmsplatz) predigte.<br />
Martin Luther<br />
Wie <strong>Geislingen</strong> <strong>evangelisch</strong> wurde<br />
Bürgerentscheid<br />
über Reformation<br />
Um das Kirchenwesen zu verändern,<br />
ging der Ulmer Rat äußerst<br />
vorsichtig zu Werk. Die Reformation<br />
wurde in der Reichsstadt<br />
nicht durch einen obrigkeitlichen<br />
Akt eingeführt, sondern kam auf<br />
demokratischem Wege zu Stande.<br />
Die gesamte Bürgerschaft war am<br />
3./4. November 1530 zur Abstim-<br />
Philipp Melanchton mung aufgerufen. Bei dieser denkwürdigen<br />
Befragung entschieden<br />
sich sieben Achtel der wahlberechtigten Bevölkerung für<br />
die <strong>evangelisch</strong>e Sache. Angesichts dieser breiten Mehrheit<br />
sah sich der Ulmer Rat berechtigt, in seinem gesamten<br />
Hoheitsgebiet das Kirchenwesen zu reformieren. Er<br />
bestellte dazu 1531 die berühmten Prediger Martin Butzer<br />
14 EVANG. KIRCHENBEZIRKSZEITUNG<br />
von Straßburg, Johann Ökolampad von Basel und<br />
Ambrosius Blarer von Konstanz. Es waren Theologen, die<br />
weniger im Sinne Martin Luthers dachten, sondern der<br />
Lehrmeinung Ulrich Zwinglis folgten.<br />
Zwangsweise sollte die Reformation im Ulmer Land nicht<br />
eingeführt werden. Es wurde vielmehr beschlossen, sämtliche<br />
Untertanen in ihre Amtsorte zu laden, dort drei Tage<br />
hintereinander durch einen Prediger aufklären und für die<br />
neue Sache gewinnen zu lassen. Man ging davon aus,<br />
dass sich die Abschaffung der Messe und die Beseitigung<br />
der Bilder aus den Kirchen leichter durchführen lasse,<br />
wenn eine entsprechende Belehrung des Volkes vorausgegangen<br />
wäre.<br />
Predigt und Gegenpredigt<br />
Diese Predigtaktion begann am Pfingstsonntag 1531.<br />
Sämtliche Untertanen mussten mit ihren Frauen, Kindern<br />
und Dienstboten morgens um 7 Uhr in den Kirchen der<br />
gebotenen Amtsorte zur Unterweisung erscheinen. Die<br />
Predigten in der Geislinger Stadtkirche hielt der Reformator<br />
Martin Butzer aus Straßburg. Dabei kam es zu einem<br />
höchst dramatischen Auftritt. Als Butzer seine Predigt<br />
beendet hatte, entgegnete ihm der streitbare Geislinger<br />
Stadtpfarrer Osswald: „Wenn ihr nicht gelehrter seid,<br />
wäret ihr wohl daheim geblieben.“ Dann bestieg er selbst<br />
die Kanzel und hielt eine Gegenpredigt, in der er Butzers<br />
Worte als ketzerische Lehre brandmarkte. Osswald fehlte<br />
es nicht an Mut und Kampfgeist; er war im ganzen Ulmer<br />
Land der einzige Pfarrer, von dem solches berichtet wird.<br />
Nachdem die Bevölkerung über die neue Lehre und die<br />
kirchlichen Veränderungen unterrichtet war, setzte man<br />
sich mit der Geistlichkeit auseinander. Alle Pfarrer wurden<br />
nach Ulm geladen und mussten ihre persönliche Haltung<br />
zu der neuen Lehre darlegen. Bei der Vernehmung seiner<br />
Pfarrer zeigte sich der Ulmer Rat wenig nachsichtig. Wer<br />
die Neuerungen ablehnte und sich weiterhin zur alten<br />
Lehre bekannte, wurde kurzerhand entlassen.<br />
Aus Altenstadt war Pfarrer Magister Hans Ruß ins Ulmer<br />
Rathaus zitiert. Er zeigte sich von Anfang an aufgeschlossen<br />
für die Reformation und<br />
erklärte bei seiner Vernehmung,<br />
er halte die Ulmer<br />
Artikel für christlich. Nachdem<br />
er den geforderten Eid<br />
auf das veränderte Kirchenwesen<br />
abgelegt hatte, durfte<br />
er in seiner Gemeinde bleiben.<br />
Hans Ruß war damit<br />
der letzte katholische und<br />
zugleich der erste <strong>evangelisch</strong>e<br />
Pfarrer in Altenstadt.<br />
Über sein Verbleiben<br />
beschloss der Ulmer Rat:<br />
„Ist zu dulden, in [der] Hoffnung,<br />
er werde Gottes Wort<br />
fleißiger als bisher oblie- Stadtkirche <strong>Geislingen</strong>