o_19h8154frb81132j1t4ivvndjra.pdf
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Identität (Band I)<br />
Roman von Sarah Reitz
<br />
1. Ausgabe <br />
<br />
© November 2014 | Sarah Reitz | Duisburg | reitzsa@gmail.com<br />
www.sarah-reitz.de<br />
oder besucht mich auf Facebook https://www.facebook.com/sarahreitz.de<br />
Covergestaltung: Grittany Design, www.grittany-design.de - Bilder: © konradbak – Fotolia.com,<br />
© zarg404 – Fotolia.com<br />
Korrektorat: Melanie Reichert, Lekorrektorat, www.lekorrektorat.de<br />
Das Taschenbuch erscheint im Sommer 2015 im Latos Verlag, www.latos-verlag.de<br />
Eine ältere Version dieses Romans wurde bereits 2011 von der Autorin unter dem Pseudonym<br />
„Callie“ veröffentlicht.
Über das Buch<br />
Bist du bereit dich zu verlieben?<br />
Grace Burning ist eine ehrgeizige Agentin der CIA. Nach einem fatalen Fehler ist sie in<br />
Langley nicht mehr willkommen und ist froh, als sie nach Los Angeles versetzt wird. Die<br />
Euphorie ist aber nicht von Dauer. Schon bald entpuppt sich ihr vermeintlicher Geliebter<br />
als ihr neuer Partner John Stiles. Er hat sie belogen und ihr nie die Wahrheit gesagt über<br />
seinen Job, sein Leben und seine wahre Identität. Grace bleibt nichts anderes, als mit ihm<br />
zu arbeiten, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Doch die Gefühle für John sind zu stark.<br />
Bereits vor langer Zeit hat sie geschworen, sich nie wieder in einen Kollegen zu verlieben.<br />
Ihr grausames Schicksal droht sich zu wiederholen.<br />
Romantic Thrill made in Germany<br />
Intrigen, Liebe und Verrat. Was als unschuldige Romanze beginnt, wird zu einem perfiden<br />
Agentenspiel. Falsche Identitäten, schicksalshafte Vergangenheiten und Entscheidungen<br />
zwischen Leben und Tod. Im Zentrum eine Liebe, die das Unfassbare überstehen muss.<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
jetzt ist es doch soweit: „Burning“ ist da! Viele begleiten mich schon über einen langen<br />
Zeitraum und wissen, wie sehr ich mit dieser Geschichte gekämpft habe. Ursprünglich<br />
sollte dieses Buch schon vor einem Jahr veröffentlicht werden, aber ich war unzufrieden<br />
mit dem Text, den Figuren, der Geschichte einfach mit allem. Im Frühjahr habe ich das<br />
Projekt eingestampft und mich anderen Dingen zugewendet. Doch Grace und John ließen<br />
mir keine Ruhe. Sie sind die ersten Figuren meiner Schreiberkarierre, die eine richtige<br />
Geschichte bekamen und somit sind sie eng mit meiner Autorenseele verwachsen. Es war<br />
meine persönliche Challenge ihre Geschichte in einen brauchbaren Text zu bringen. Ich<br />
hoffe sehr, dass es mir gelungen ist und ihr Gefallen an „Burning“ findet. Ihr werdet<br />
feststellen, dass es ein wenig anders ist, als meine bisherigen Veröffentlichungen, denn<br />
ich habe mich sehr stark am Originaltext orientiert, den ich weit vor „Echtzeit“ und „Befreit“<br />
geschrieben habe.<br />
Insgesamt ist das der erste Teil einer Trilogie. Band II soll noch im Dezember erscheinen<br />
und Band III im März. Aber das ist noch nicht alles: Ich plane neben anderen Romanen<br />
noch zwei weitere Bände über Grace und John. Soviel zu meinen Plänen, ihr seht, es wird<br />
nicht langweilig. Ich will Euch aber jetzt nicht weiter aufhalten. Stürzt Euch in das Buch,<br />
saugt es auf, genießt es und freut Euch auf den nächsten Teil.<br />
Ich umarme jede Einzelne von Euch!<br />
Eure Sarah
Was ist ein Name? Das Ding, das wir Rose nennen, würde unter jedem anderen Namen<br />
ebenso lieblich duften.<br />
Shakespeare
Prolog<br />
Es war wie ein harter Faustschlag gegen seinen Brustkorb. Die Wucht nahm ihm den<br />
Atem. Er fiel auf die Knie, fasste sich an die schmerzende Stelle. Ein weiterer Stoß traf<br />
ihn, diesmal höher. Der Schmerz bohrte sich in seinen Körper, er hatte keine Kraft mehr,<br />
sich aufrecht zu halten und sein Oberkörper sank zusammen. Er schürfte sich die Wange<br />
am Straßenbelag auf, während er nach Luft rang.<br />
Oft hatte er Menschen zu Boden gehen sehen, hatte miterlebt, wie sie in ihren eigenen<br />
Exkrementen lagen und einsam ihre letzten Atemzüge nahmen. Nun lag er hier und die<br />
Dunkelheit in dieser Nacht war mächtiger als in anderen mondlosen Nächten.<br />
Blut tränkte sein Hemd. Er spürte die warme Flüssigkeit, die sich ausbreitete. Ein roter<br />
See schwoll unter seinem Körper an und bedeckte den grauen Asphalt. In seinem Mund<br />
bemerkte er den metallischen Geschmack von Blut.<br />
Verzweifelt saugte er den dringend benötigten Sauerstoff ein, kämpfte darum, seine<br />
Lunge zu füllen. Doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Schwarze Punkte flirrten<br />
vor seinen Augen, er wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Alles drehte sich und<br />
das Einzige, das er spürte, war die Kugel, die ihm seine Lunge zerfetzt hatte.<br />
Er ahnte, dass sein Leben hier zu Ende ging und er wollte seinen letzten Gedanken<br />
nicht verschwenden. Er wollte an sie denken. An die Frau, die sein Leben so sehr<br />
bereichert hatte und die er hatte fortschicken müssen. Zu Recht, gestand er sich ein, sonst<br />
läge sie blutend neben ihm.<br />
Sein Handy vibrierte, das Licht des Displays brach sich in seinen Tränen und funkelte<br />
wie ein Regenbogen. Es lag auf dem Boden von Blut umgeben, doch er war zu schwach,<br />
um seine Hand auszustrecken.<br />
Ein Paar glänzend polierte schwarze Stiefel erschienen am Ufer des roten Sees. In<br />
Lederhandschuhe verpackte Pranken fischten das Handy heraus und reinigten es<br />
provisorisch. Hämisches Lachen fiel auf ihn herab und sein Mörder hielt ihm die Nachricht<br />
auf dem Display vor das Gesicht.<br />
„Es ist vorbei!“ Ihre letzten Worte an ihn. Er schloss die Augen und erwartete den Tod.
Kapitel 1<br />
Grace mochte diesen Ort nicht. Man roch die modrige Feuchtigkeit in den Wänden und<br />
überall hatte sich der Geruch von alter Druckerschwärze festgesetzt. Vor ihr baute sich<br />
eine der alten Druckerpressen auf. Sie umfasste zwei Stockwerke und zog sich durch die<br />
gesamte Höhe des Gebäudes. Es war zugig und kalt, überall blätterte die Farbe ab und<br />
alles ging grau in grau über. Wahrlich kein gemütlicher Ort und wer auch immer diese alte<br />
Zeitungsdruckerei als Versteck für eine Undercover Taskforce der CIA ausgewählt hatte,<br />
hatte alles andere als Heimeligkeit im Sinn gehabt.<br />
Hinter der ersten Druckerpresse war ein einfaches Büro eingerichtet. Aktenschränke<br />
und abgenutzte Schreibtische aus Metall, die den eiskalten Industriecharme vollendeten.<br />
Ihren Schreibtisch hatte sie an das Fenster gezogen, um wenigstens ein bisschen was von<br />
dem Tageslicht abzubekommen, das durch die Milchglasscheiben, die mit Metallstreben<br />
durchzogen waren, in die graue Halle fiel.<br />
Grace legte ihren Motorradhelm ab und schälte sich aus ihrer Lederjacke. Sie fuhr den<br />
Computer hoch, doch noch bevor sie ihr Passwort eingeben konnte, knallte jemand einen<br />
braunen Aktenhefter mit dem Stempel „Vertraulich“ auf ihren Schreibtisch.<br />
„Guten Morgen Daniel“, knirschte sie. Um den Psychologen, der neben ihrem<br />
Schreibtisch stand, ansehen zu können, musste sie den Kopf ein wenig in den Nacken<br />
legen. Dieser Mann war einfach riesig. Er musterte sie kritisch und wies mit einem<br />
strengen Kopfnicken auf die Akte. Sie konnte sich denken, was dort drin stand. Seufzend<br />
fiel sie in ihren Stuhl und griff lässig nach der Mappe. Nicht für einen Moment sollte Daniel<br />
denken, dass sie sich von ihm einschüchtern ließ. Sie schlug die Akte auf, besah sich die<br />
ersten Seiten, auf denen immer dasselbe stand. Am markantesten war der große Stempel<br />
„Diensttauglich“.<br />
„Und was willst du mir jetzt damit sagen?“, fragte sie und klappte die Mappe wieder zu.<br />
Daniel grummelte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube nicht, was in<br />
deinen psychologischen Gutachten steht.“<br />
„Ach“, sagte sie. „Hältst du mich etwa für nicht diensttauglich?“<br />
„Das will ich damit nicht sagen, ich weiß nur, dass für einen sehr langen Zeitraum<br />
irgendetwas nicht stimmte. Ich erkenne gefälschte Gutachten.“<br />
„Was auch immer es gewesen sein soll, Daniel, wenn Langley nicht will, dass du es<br />
erfährst, wirst du es auch nicht erfahren.“ Sie schob ihm die Akte wieder rüber.<br />
„Grace“, sein Ton war jetzt sanfter. „Ich muss nur sichergehen, dass du mental<br />
hundertprozentig fit bist.“<br />
„Das bin ich“, sagte sie. „Und jetzt werde ich mir einen Kaffee holen, ich will ja nichts<br />
von meiner mentalen Fitness einbüßen.“ Sie zwinkerte Daniel noch kurz zu und ließ ihn<br />
dann einfach stehen.<br />
Die kleine Kaffeeküche bestand aus einem Tisch mit einer Kaffeemaschine darauf und<br />
einem kleinen Herd, auf dem ein Wasserkessel stand, nur für den Fall, dass jemand Tee<br />
trinken wollte, was so gut wie nie vorkam. Der Kaffee dampfte, als sie ihn in ihre Tasse<br />
schüttete und duftete einfach herrlich. Grace wollte gerade den ersten Schluck nehmen,<br />
als plötzlich Daniel wieder neben ihr stand.<br />
„Herrgott nochmal!“, fluchte sie und konnte gerade noch verhindern, dass der Kaffee<br />
ihre Bluse ruinierte. „Bist du ein Stalker, oder was?“<br />
„Nein!“ Er schien amüsiert. „Ich bin hier nur der Psychologe“, antwortete er trocken.<br />
„Was willst du noch von mir?“ Sie wischte den übergeschwappten Kaffee von der Tasse.<br />
„Ich weiß, dass du sehr eigen bist, aber wenn Gutachten über so einen langen Zeitraum<br />
gefälscht werden, dann ist das auffällig und somit mein Job, zu klären, ob mit dir<br />
tatsächlich alles in Ordnung ist“, sagte er ruhig.
Grace presste die Lippen aufeinander. Es ging ihn einen Scheißdreck an, was gewesen<br />
war! Nicht nur die CIA hatte Gründe, diese Dinge unter Verschluss zu halten. Ihre<br />
persönlichen Gründe wogen mit Sicherheit genauso schwer.<br />
„Guten Morgen ihr zwei!“ Ben, der andere Agent der Einheit, kam mit einem Handtuch<br />
um den Hals die Treppen hoch gejoggt. Der Schweiß glänzte auf seinen muskulösen<br />
Armen und neben Daniel wirkte er einschüchternd, obwohl er einen ganzen Kopf kleiner<br />
war. Er riss den Kühlschrank auf und nahm sich ein Mineralwasser.<br />
„Alles ok bei euch?“, fragte er und fuhr sich durch sein feuerrotes Haar, das ihm den<br />
Spitznamen „The Flame“ eingebracht hatte.<br />
„Natürlich“, flötete Grace und lehnte sich lässig gegen die Küchenzeile.<br />
Daniel schnaubte. Er deutete noch einmal provokant auf die Akte in seiner Hand und<br />
marschierte dann wütend davon.<br />
„Jetzt sag nicht, es ging schon wieder um die CIA-Sache?“, fragte Ben.<br />
Grace zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.<br />
„Ihr seid solche Starrköpfe.“ Er schraubte die Wasserflasche wieder zu und rieb sich mit<br />
dem Handtuch über das Gesicht. „Rhodes will uns sehen.“<br />
„Weswegen?“<br />
Garland Rhodes war der Boss dieser kleinen, geheimen Einheit.<br />
„John kommt heute zurück.“<br />
Grace hob die Augenbrauen. „Du meinst John Stiles?“<br />
„Natürlich!“ Er lachte. „Wen denn sonst?“<br />
John Stiles war ein Mysterium und weit über die CIA hinaus bekannt. Er war ein<br />
ausgezeichneter Undercoveragent, schlüpfte mühelos in die verschiedensten Rollen.<br />
Manche nannten ihn auch das Chamäleon oder behaupteten, dass selbst John Stiles nur<br />
eine seiner vielen Tarnidentitäten war. Grace brannte darauf, ihn kennenzulernen und<br />
endlich mit ihm arbeiten zu können.<br />
„Ich spring noch schnell unter die Dusche, du solltest schon mal vorgehen. John ist<br />
bestimmt schon da.“ Mit einem Lächeln im Gesicht sprintete Ben die Treppe zu den<br />
Duschen hinauf.<br />
Grace verzichtete gern auf ihren Kaffee, wenn die Entschädigung war, endlich John<br />
Stiles kennenzulernen. Sie durchquerte die Hallen auf dem Weg in Rhodes Büro. Es<br />
befand sich im alten Maschinenkontrollraum auf einer Ebene zwischen dem ersten und<br />
zweiten Stock. Mit Schwung nahm sie die ersten beiden Stufen und lief die Treppe hoch.<br />
Das Metall vibrierte unter ihren Bewegungen. Sie wusste, dass Rhodes es gar nicht leiden<br />
konnte, wenn man das tat, aber es war ihr stiller Protest gegen diese Örtlichkeit.<br />
Als sie die Tür öffnete waberte ihr gleich eine Qualmwolke entgegen.<br />
„Kommen Sie nur rein, Agent Burning. Ich habe Sie bereits kommen gehört“, brummte<br />
er.<br />
Garland Rhodes saß hinter einem massiven, antiken Schreibtisch und thronte auf<br />
einem passenden Stuhl. Er zog genüsslich an seiner Pfeife und bedeutete ihr, auf einem<br />
der grünen Lehnstühle vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Alle Möbel, mit<br />
Ausnahme der Aktenschränke, wirkten zwischen den alten Bedienpaneelen deplatziert.<br />
Dennoch ergab es mit Rhodes und seiner Pfeife ein herrschaftliches Bild. Nur John Stiles<br />
war nirgendwo zu sehen.<br />
Grace setzte sich und ihr Boss beugte sich über ein Memo auf seinem Schreibtisch,<br />
sodass sie seinen Haarkranz sehen konnte.<br />
„Doktor Keen ist nicht zufrieden mit Ihnen“, sagte er.<br />
Grace verdrehte die Augen. „Nein, er ist unzufrieden mit den Psychologenkollegen.“<br />
Rhodes tippte mit dem Finger nachdenklich gegen seine Pfeife und gönnte sich noch<br />
einen weiteren tiefen Zug. „Ich denke, er versucht nur seinen Job gut zu machen.“<br />
„Hören Sie zu Rhodes, es hat seine Gründe.“
„Es hatte auch seine Gründe, als Sie sich zu Beginn ihrer Tätigkeit für mich geweigert<br />
haben, ein psychologisches Gutachten anfertigen zu lassen. Sie wissen ganz genau, dass<br />
es nur Ihren Qualifikationen zu verdanken habe, dass ich auf ein eigenes Gutachten<br />
verzichtet habe.“<br />
„Ich brauche keinen Psychologen, es geht mir gut.“ Trotzig verschränkte sie die Arme<br />
vor der Brust.<br />
Rhodes atmete tief durch. „Doktor Keen wird Sie genau beobachten und ich werde ihn<br />
gewähren lassen.“<br />
Damit war Grace auf sich gestellt. Sie hasste diesen ganzen Psychologenkram und<br />
besonders Daniel war ihr unheimlich. Bisher war sie um eine genauere Untersuchung<br />
herumgekommen und sie hatte nicht vor, das zu ändern.<br />
Von draußen tönte Bens unverkennbares Lachen in das Büro und man hörte mehrere<br />
Personen die Treppe hinaufkommen. Es waren energische Schritte, kräftige, männliche.<br />
Ihr Herz schlug schneller. Jetzt war es so weit, sie sollte endlich John Stiles kennenlernen.<br />
Ein bisschen fühlte sie sich wie ein Teenager, so aufgeregt war sie. In ihrem Schoß rieb<br />
sie ihre Hände und als die Tür sich öffnete, konnte sie ihr Lächeln nicht mehr verbergen.<br />
Wozu auch, so wurde Stiles wenigstens freundlich begrüßt.<br />
Ben quatschte immer noch, als er das Büro betrat. Er gab mal wieder eine seiner<br />
Anekdoten zum Besten. Er war ein Meister der Unterhaltung. Sie erhob sich und Daniel<br />
betrat den Raum. Er versperrte die Sicht auf die Tür, sodass Grace’ Vorfreude nur noch<br />
weiter gesteigert wurde. Rasch ordnete sie ihr Haar, strich eine lange Strähne hinter das<br />
Ohr und dann, als sie den Kopf hob, sah sie ihn: Special Agent John Stiles.<br />
Schlagartig verwandelte sich ihre Freude in Übelkeit. Übelkeit und Wut. Dieser Mann,<br />
der plötzlich vor ihr stand, konnte nicht John Stiles sein. Es war Brandon, ihr Exfreund.
Kapitel 2<br />
Grace wurde heiß und kalt zugleich. Das war nicht möglich, das konnte nicht sein, das<br />
durfte nicht sein. Es war tatsächlich Brandon. Der Brandon, dem sie ihr Herz geschenkt<br />
hatte. Der Brandon, der sie daran erinnert hatte, zu leben. Und der Brandon, der nichts<br />
weiter getan hatte, als ihr einen Dolch mitten ins Herz zu rammen.<br />
Grace blinzelte in der Hoffnung, sich seine Anwesenheit war eingebildet zu haben, doch<br />
der unterschwellige Moschusduft seines Duschgels vermischte sich mit dem starken<br />
Tabakgeruch des Büros. Als sie die Augen wieder öffnete, hielt Stiles ihr die Hand hin.<br />
„Sie müssen Agent Burning sein“, sagte er, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.<br />
Eingängig betrachtete sie sein Gesicht. Er sah ganz anders aus. Sein dunkelblondes Haar<br />
war kurz geschoren und dazu trug er einen Dreitagebart. Er sah außerordentlich gut aus,<br />
wenn da nicht die dunklen Ringe unter seinen Augen gewesen wären. Er wirkte<br />
mitgenommen und für einen Moment dachte Grace, dass Agent Stiles ihrem Brandon<br />
einfach nur zum Verwechseln ähnlich sah. Doch die Berührung seiner Hand belehrte sie<br />
eines Besseren. Sofort spürte sie das Knistern zwischen ihren Handflächen, bevor seine<br />
Finger ihre umschlossen. Es war Brandon, ohne Zweifel und sie konnte nichts gegen die<br />
Bilder tun, die ihr durch den Kopf schossen. Das Café, der Strand, seine Küsse und seine<br />
Hände, die schon viel intimere Gegenden ihres Körpers berührt hatten als nur ihre<br />
Handfläche. Noch nie hatte sie einen Handschlag so erotisch erlebt.<br />
„Es freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Agent Stiles“, antwortete sie. Was sollte sie<br />
auch sonst tun? Ihm hier, im Büro ihres Vorgesetzten, eine kleben, weil er sie<br />
sitzengelassen hatte? Ohne Zweifel war es genau das, was er verdient hatte, doch sie<br />
musste ihre Professionalität wahren. Sie spielte sein Spiel mit, ließ aber gerade so viel<br />
wütendes Funkeln in ihren Blick, dass er genau verstehen konnte, was sie dachte, ohne<br />
dass es einer der anderen Anwesenden bemerkte.<br />
„Ich habe schon viel über das Chamäleon gehört. Spannend, zu erfahren, wer<br />
dahintersteckt.“ Grace freute sich insgeheim diebisch über die Zweideutigkeit ihrer<br />
Aussage und hoffte sehr, dass dieser Giftpfeil ihn empfindlich traf. Doch er zeigte keine<br />
Regung.<br />
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht“, antwortete er mit einem süffisanten Lächeln<br />
und setzte sich auf den zweiten Lehnstuhl vor dem Schreibtisch. War das etwa auch<br />
zweideutig gemeint?<br />
„Nun gut ...“ Rhodes ließ sich schnaufend wieder in seinen Stuhl fallen. „Es ist schön,<br />
endlich einmal alle Agenten dieser Einheit beisammen zu haben. Ich denke, dass Sie alle<br />
gut miteinander auskommen werden.“<br />
„Natürlich“, sagte Ben und klopfte Stiles lachend auf die Schulter. „Wir werden schon<br />
unseren Spaß haben.“<br />
Stiles lächelte kühl und schlug die Beine übereinander. „Ich freue mich, wieder hier zu<br />
sein“, sagte er.<br />
„Und wir sind froh, Sie zurückzuhaben“, sagte Rhodes. „Sie sind doch wieder ganz<br />
gesund, oder?“<br />
Wieder gesund? Grace konnte dem Gespräch nicht ganz folgen.<br />
Stiles breitete die Arme aus. „Ich fühle mich gesund.“<br />
Daniel schnaubte genauso unzufrieden wie vorhin, als sie ihm deutlich mitgeteilt hatte,<br />
dass sie nichts von seinem psychologischen Fachwissen hielt.<br />
„Du hast dich kein bisschen verändert.“ Ben lachte wieder und schlug Stiles erneut auf<br />
die Schulter. Der Witz des Gespräches blieb ihr verborgen.<br />
Dezent vibrierte ihr Handy in der Gesäßtasche und sie zog es rasch hervor.<br />
„Entschuldigt mich bitte“, sagte sie knapp zu den Herren, die inzwischen den neusten
Klatsch diverser FBI-Einheiten austauschten. Grace drehte sich weg, um sich besser auf<br />
das Gespräch konzentrieren zu können. Es war Rose, einen kleine, engagierte Pathologin,<br />
die ihr Kontakt in der Gerichtsmedizin war. Ihr Anliegen war wie üblich kein Erfreuliches.<br />
Grace beendete das Gespräch rasch mit einem „Ich bin gleich da“ und legte auf.<br />
„Es wurde wieder eine Mädchenleiche gefunden, die in das Schema passt.“ Ihre<br />
Stimme schnitt scharf durch die Unterhaltung der Männer.<br />
„Seit wann ermitteln wir in Mordfällen?“, fragte Stiles mit einer deutlichen<br />
Überheblichkeit in seiner Stimme.<br />
„Das sind keine einfachen Mordfälle.“ Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu<br />
viel giftigen Unterton erkennen zu lassen.<br />
Rhodes griff ein. „Agent Burning wird es Ihnen genauer erklären können.“<br />
„Ja!“ Sie schob ihr Handy zurück in die Tasche. „Aber nicht jetzt, ich muss mich<br />
beeilen.“ Sie wollte nur noch so schnell wie möglich hier raus und weg von Brandon, Stiles<br />
... wem auch immer.<br />
„Fährst du in die Gerichtsmedizin?“ Daniels Gesicht hatte sich erhellt und Grace wusste<br />
genau, warum. Eigentlich wäre sie ihm den Gefallen schuldig, nachdem sie ihn so<br />
angeranzt hatte, aber sie hatte auch keine Lust, im Auto Opfer seiner Psychospielchen zu<br />
werden.<br />
Sie nickte. „Aber wenn du mit willst, wirst du hinten auf meine Maschine steigen<br />
müssen.“<br />
Schlagartig veränderte sich Daniels Gesichtsfarbe. Niemals würde er unter diesen<br />
Umständen mit ihr fahren, ganz egal, wie wichtig ihm die kleine Pathologin war.<br />
„Ok“, sagte er zu ihrer Überraschung.<br />
Am Hinterausgang der Gerichtsmedizin brachte Grace ihre Maschine zum Stehen und<br />
ließ Daniel absteigen. Beinah panisch riss er sich den Helm vom Kopf und darunter kam<br />
sein kreidebleiches Gesicht zum Vorschein.<br />
„Ich weiß genau, warum du das gemacht hast!“ Er war sauer.<br />
„Keine Ahnung, was du meinst.“ Grace brachte ihre Locken in Ordnung, die vom Helm<br />
platt gedrückt waren.<br />
„Du bist gefahren wie eine Irre!“, fauchte er.<br />
Sie lachte leise in sich hinein. „Ich bin gefahren wie immer“, sagte sie und stieg<br />
ebenfalls ab. „Du hättest ja nicht mitkommen müssen, du weißt doch, dass dir<br />
Motorradfahren nicht bekommt.“<br />
„Also du und Doktor Schwartz?“, begann Grace, um ihn abzulenken. Die Antwort konnte<br />
knapper nicht sein und er sah sie dabei noch nicht einmal an. Entschlossen fasste die<br />
Agentin ihn am Arm.<br />
„Hör zu, Daniel, es tut mir wirklich leid. Ich sollte mich nicht so unfair dir gegenüber<br />
verhalten“, Grace entschuldigte sich aufrichtig bei ihm und hoffte inständig, er würde ihr<br />
verzeihen. Daniel blieb ebenfalls stehen und baute sich mit verschränkten Armen vor ihr<br />
auf. Er strahlte plötzlich eine sehr ernst zu nehmende Autorität aus, die selbst Grace etwas<br />
einschüchterte.<br />
„Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast, aber wenn du vielleicht auch nur ein einziges<br />
Mal meine Gesprächsangebote annehmen könntest, statt mir immer wieder aus dem Weg<br />
zu gehen.“ Seine Tonlage ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte zu. Die<br />
Agentin nickte nur, da musste sie jetzt wohl durch, auch wenn sie eine Abneigung<br />
gegenüber Psychologen hatte.<br />
„Außerdem könntest du mir einen Gefallen tun“, flötete er jetzt wieder im lockeren<br />
Plauderton.<br />
„Und welchen?“ Grace war total ahnungslos.<br />
„Bring mir das Schießen bei“, bat er.
Ihr verschlug es die Sprache. Schießen? Daniel? Er war der Letzte, dem sie freiwillig<br />
eine Waffe in die Hand geben würde. Na gut, ein paar Mal schießen, dürfte schon nicht<br />
schaden, wenn sie den Psychologen damit milder stimmen konnte und so womöglich<br />
Einfluss auf das neue Gutachten nahm.<br />
„Ok“, sagte sie, wandte sich ab und lief auf die stählerne Hintertür der Gerichtsmedizin<br />
zu.<br />
Fest klopfte sie dagegen und hoffte, dass Daniel nun keine weitere Zeit bekam, sie zu<br />
bequatschen. Als wenn sie sich überhaupt von ihm etwas sagen lassen würde.<br />
Quietschend öffnete sich die Tür und Rose’ stachelige Kurzhaarfrisur lugte hervor.<br />
„Da seid ihr ja schon“, sagte sie und ihr freundliches Lächeln erhellte sich, als sie Daniel<br />
sah. Und dieser grinste genauso breit.<br />
Grace schob sich an Rose vorbei, um das kleine Begrüßungsritual zwischen den beiden<br />
nicht zu stören. Zumindest in dieser Sache sollte sie Daniel entgegenkommen, wenn sie<br />
sonst schon nicht in der Lage war, ihm deutlicher mitzuteilen, wo ihr eigentliches Problem<br />
lag.<br />
In dem kleinen Obduktionssaal im Keller arbeitete Rose schon immer allein. Das war<br />
Grund genug gewesen, um die Kontaktperson der Einheit zu werden. So konnten sie im<br />
Stillen mit der Pathologie zusammenarbeiten, ohne großes Aufsehen zu erregen oder den<br />
offiziellen Weg gehen zu müssen.<br />
Mit einem Ruck zog Rose die Bahre mit der Leiche aus dem Kühlfach.<br />
„Also ...“, begann sie, „das Opfer ist zwischen 16 und 18 Jahre alt, 1,57 m groß,<br />
Gewicht 38,5 kg. Todesursache: Genickschuss.“<br />
Rose fasste sich kurz. Grace betrachtete das tote Mädchen, sie hatte lange dunkle<br />
Locken und weiche, noch sehr kindliche Gesichtszüge. Ihre karamellfarbene Haut ließ<br />
darauf schließen, dass sie nicht von hier stammte. Ihr zierlicher, magerer Körper war<br />
übersät von Blutergüssen unterschiedlichen Alters.<br />
Daniel und Rose flirteten ungeniert über die Leiche hinweg miteinander. Grace<br />
unterbrach die beiden barsch in ihrem Geplänkel.<br />
„Hatte das Mädchen sonstige Verletzungen?“, wollte sie wissen.<br />
„Ja, massive Verletzungen im Genital- und Analbereich, vermutlich wurde sie mehrfach<br />
über einen längeren Zeitraum immer wieder vergewaltigt.“<br />
Daniels Flirtpartnerin setzte Grace trocken und emotionslos über diese Tatsache in<br />
Kenntnis, um sich danach wieder strahlend dem Psychologen zuwenden zu können.<br />
Mittlerweile kam es Grace so vor, als wäre sie die Einzige, die hier professionell arbeitete.<br />
Sie fühlte sich wie auf einer albernen Singleparty. Die Leichenfledderin und der Psychodoc<br />
– die perfekte Grundlage für einen Horrorfilm.<br />
„Sperma?“ Grace sah Rose jetzt direkt an.<br />
Diese schüttelte den Kopf. „Wir haben Hautschuppen unter ihren Fingernägeln<br />
gefunden. Die DNA-Untersuchung ergab, dass sie zu einer weiblichen Person gehört, die<br />
vermutlich eine nahe Verwandte der Toten ist.“<br />
„Was genau meinst du mit Verwandte?“ Grace deckte das Mädchen mit dem<br />
Leichentuch wieder zu.<br />
„Vermutlich eine Schwester.“<br />
Grace sog tief Luft ein. Irgendwo da draußen war noch ein Mädchen in derselben<br />
schrecklichen Situation und vielleicht war dieses Mädchen noch am Leben. Aber wo sollte<br />
sie anfangen, zu suchen? Sie blickte sich um und entdeckte die Beweismittelbeutel auf<br />
dem Ablagetisch.<br />
„Das sind ihre Sachen, es war nicht viel“, erklärte Rose, als Grace zu dem Tisch<br />
hinüberging. Sie griff einen der kleinen, durchsichtigen Beutel und betrachtete den Inhalt<br />
genauer.<br />
„Das ist ein Banjara“, sagte sie.
Daniel kam näher und ließ sich das Beweisstück von ihr geben. „Was meinst du damit?“<br />
Sie nahm sich den nächsten Beutel, in dem sich ein dreckiges weißes Hemdchen<br />
befand, das bisher bei allen Mädchenleichen gefunden wurde. „Ein Banjara“, erklärte sie,<br />
„ist ein Armband oder Fußkettchen. Ein einfaches Schmuckstück aus Stoff, Spitzenborte<br />
und kleinen Perlen gefertigt.“ Sie nahm Daniel die Tüte wieder aus der Hand. „Banjaras<br />
werden von Mädchen und jungen Frauen im Nahen Osten getragen, dieses hier ist mit<br />
türkisfarbenen Perlen gefertigt, das bedeutet, dass dieses Mädchen noch unberührt war.“<br />
Für einen kurzen Moment schwiegen die drei, bis Rose andächtig die Bahre wieder<br />
zurück in die Kühlung schob.<br />
„Es gibt noch etwas, das ich euch zeigen muss.“<br />
Sie öffnete die Tür neben dem Fach, in dem die Leiche des Mädchens lag, und zog eine<br />
weitere Bahre heraus. Die Leiche auf dieser war größer und kräftiger. Das Laken wurde<br />
zurückgeschlagen und man erkannt das Gesicht eines Mannes, etwa Mitte dreißig.<br />
„Das ist die Leiche von Navy Commander Gregory Theck. Er wurde neben dem toten<br />
Mädchen gefunden und genauso wie sie mit einem Genickschuss getötet.“ Rose bedeckte<br />
ihn wieder und schob die Bahre zurück.<br />
„Heißt das, er wurde zusammen mit dem Mädchen hingerichtet?“ Grace’ Puls ging<br />
schneller, das könnte der Beweis für ihre Theorie sein.<br />
„Zumindest hat die Spurensicherung das so festgestellt.“ Rose zog ebenfalls einen der<br />
Beweismittelbeutel hervor und reichte ihn Grace.<br />
„Seine anderen Sachen sind alle noch im Labor, aber das hier habe ich für euch auf die<br />
Seite geschafft“, erklärte Rose.<br />
Grace betrachtete die Einzelteile, die mal ein Handy gewesen sein mussten. Es würde<br />
schwer werden für Ben, daraus noch einige Daten zu ziehen, aber besser als nichts. Sie<br />
musste herausfinden, warum der Commander bei dem Mädchen gefunden wurde. Es war<br />
eindeutig, dass sich der oder die Mörder beider hatten entledigen wollen.