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Springer-Lehrbuch
Peter Kappeler<br />
Verhaltensbiologie<br />
2., überarbeitete und korrigierte Auflage<br />
123
Prof. Dr. Peter M. Kappeler<br />
Abt. Soziobiologie/Anthropologie<br />
Universität Göttingen<br />
Berliner Str. 28<br />
37073 Göttingen<br />
pkappel@gwdg.de<br />
ISBN 978-3-540-68776-4 e-ISBN 978-3-540-68792-4<br />
DOI 10.1007/978-3-540-68792-4<br />
Springer-Lehrbuch ISSN 0937-7433<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
c○ 2009 Springer-Verlag Berlin Heidelberg<br />
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benutzt werden dürften.<br />
Satz: Druckfertige Vorlage des Autors<br />
Einbandgestaltung: WMX Design GmbH, Heidelberg<br />
Gedruckt auf säurefreiem Papier<br />
987654321<br />
springer.de
Vorwort zur 2. Auflage<br />
Verhalten ist das herausragende charakterisierende Merkmal von Tieren.<br />
Pflanzen, Viren und Bakterien teilen mit Tieren zwar alle grundlegenden<br />
Eigenschaften des Lebens, aber sie verhalten sich nicht. Für Tiere ist Verhalten<br />
dagegen ein umfassendes Merkmal, das in vielfältiger Weise zu deren<br />
Überlebens- und Fortpflanzungserfolg beiträgt. Daher stellt die Verhaltensbiologie<br />
das integrative Element der organismischen Biologie dar, mit<br />
zahlreichen Berührungspunkten mit anderen Disziplinen, wie Ökologie,<br />
Genetik, Physiologie, Populations- und Evolutionsbiologie. Dementsprechend<br />
hat die Verhaltensforschung zahlreiche Spezialisierungen erfahren.<br />
All diesen Strömungen und Entwicklungen in einem Buch gerecht zu werden,<br />
ist inzwischen unmöglich, da es für einen Einzelnen (zumindest für<br />
mich) unmöglich ist, alle Entwicklungen auf diesen Gebieten im Detail zu<br />
verfolgen. Der Inhalt und die Gliederung des vorliegenden Lehrbuches reflektieren<br />
daher teilweise persönliche Interessen und Schwerpunktsetzungen<br />
und in keinem Fall die komplette Spannbreite der aktuellen Verhaltensforschung.<br />
Entsprechend der Hauptausrichtung der aktuellen Verhaltensbiologie hat<br />
dieses Buch eine explizit evolutionäre Ausrichtung. Eines meiner Anliegen<br />
bestand darin, durch bewusste Organisation zu verdeutlichen, dass das<br />
Verhalten von Tieren in seiner atemberaubenden Vielfalt den zentralen<br />
Schlüssel zum Verständnis ihrer Biologie und evolutionären Anpassungen<br />
darstellt. Ein weiteres Anliegen bestand für mich darin, große Zusammenhänge<br />
und Grundprinzipien in den Vordergrund zu stellen und damit ein<br />
theoretisches Grundgerüst zur Einordnung der täglich neu erscheinenden<br />
Fallbeispiele und Detailuntersuchungen anzubieten.<br />
Der rasche Ausverkauf der ersten Auflage hat gezeigt, dass es für dieses<br />
Buch einen Markt gibt. Mich hat besonders gefreut, dass es zahlreiche<br />
Rückmeldungen von KollegInnen und Studierenden gab, die es ermöglicht<br />
haben, die 2. Auflage noch besser an die Bedürfnisse der Leserschaft anzupassen.<br />
Mein besonderer Dank in diesem Zusammenhang gilt Jutta<br />
Schneider, Fritz Trillmich, Jürgen Tautz, Hynek Burda und Bernd Kramer<br />
für ihre vorbildliche Kollegialität und Kooperation sowie allen, die den<br />
Fragebogen des Verlags ausgefüllt haben. Diese Auflage ist jetzt hoffentlich<br />
weitestgehend frei von Tippfehlern und anderen Fehlerteufeln, die sich
VI<br />
Vorwort zur 2. Auflage<br />
der finalen Kontrolle der 1. Auflage entzogen haben. Außerdem ist diese<br />
Ausgabe üppiger illustriert und enthält als neues Element Kästchen, in denen<br />
einzelne Studien mit ihren Orginaldaten vorgestellt werden, um die<br />
wichtigsten theoretischen Inhalte anschaulicher zu präsentieren. Außerdem<br />
habe ich alle Kapitel mit neuen Ideen und Beispielen, die seit der Publikation<br />
der 1. Auflage erschienen sind, aktualisiert sowie einige neue Unterkapitel<br />
hinzugefügt.<br />
Mein ganz herzlicher Dank gilt den folgenden Personen, die es durch<br />
die Bereitstellung von Fotos oder Abbildungen ermöglicht haben, diese<br />
Auflage sehr viel lebendiger zu gestalten: Gary Alpert, Nils Anthes, Stevan<br />
Arnold, Jesse Barber, Behavioral Ecology Research Group Oxford<br />
University, Laura Bimson, Carl Dennis Buell, Dale Burzacott, Silvain<br />
Charlat, Tim Clutton-Brock, Melanie Dammhahn, Perry van Duijnhoven,<br />
Manfred Eberle, Doug Emlen, Anna Fabiani, Marco Festa-Bianchet, Claudia<br />
Fichtel, Julia Fischer, Diane Fisher, GNU Free Documentation License,<br />
Christina M. Gomez, Robert Groß, Günter Hahn, Roland Hilgartner,<br />
Geoff Hill, Pharaoh Hound, Adam Jones, Pimpelmees Jongen, Andras<br />
Keszei, Andreas Klein (www.naturfan.de), Barbara König, Sybille<br />
Krutzsch (www.fdz-ferienhaus.de), Martine Maan, Tetsuro Matsuzawa,<br />
Stefan Merker, Manfred Milinski, Peter Müller, Alberto Munoz, Dick<br />
Mudde, Stefan Nessler, Dietmar Nill, Fanie Pelletier, Adrian Pingstone,<br />
PLoS (doi:10.1371/journal.pbio.0040421), Martin Pot, Andy Radford,<br />
Crazy Renee, Lukas Riebling, Colette Rivault, Robek, Peter Rosen, William<br />
Ruggles, Salimfadhley, Jakob Schmalzriedt, Klaus Schmidt-Koenig,<br />
Carsten Schradin (www.stripedmouse.com), Walter Schön (www.schmetterling-raupe.de),<br />
Joanna Setchell, Björn Siemers, Slawomir Staszczuk,<br />
Brian Stone, Andrew Syred, Marek Szczepanek, Jürgen Tautz, Detlef Teiwes,<br />
BS Thurner, Malene Thyssen, Fritz Trillmich, Klaus van de Weyer,<br />
Andreas Vermeulen, Luc Viatour, Otto von Helversen, Ulrike Walbaum,<br />
David Watts, Klaus Weißmann (naturfilm), Alan Wilson (www.naturespicsonline.com),<br />
Jerry Wilkinson, Roswitha & Wolfgang Wiltschko, Matthias<br />
Wittlinger, www.similan.net und Dietmar Zinner.<br />
Mein Dank gilt Stefanie Wolf für ihre begleitende Unterstützung dieses<br />
Projekts. Ulrike Walbaum hat schon die rechtzeitige Publikation der ersten<br />
Auflage durch ihre Akribie, Zuverlässigkeit und ihren Sinn für Perfektion<br />
bei der Formatierung von Text und bei der Herstellung von Abbildungen<br />
überhaupt erst möglich gemacht. Was Du diesmal noch draufgesetzt hast –<br />
trotz „der Lütten“ an der Backe – ist unbeschreiblich – Danke Ulli!! Mein<br />
Dank gilt auch Janna Etz und Henning Lahmann für hilfreiche Verbesserungs-<br />
und Korrekturvorschläge. Claudia Fichtel hat alle Kapitel Korrektur<br />
gelesen und dabei zahlreiche entscheidende Hinweise zur verständlicheren<br />
Darstellung geliefert. Außerdem hat sie beim Schreiben für meine Homö-
Vorwort zur 2. Auflage VII<br />
ostase gesorgt, mir den Rücken frei gehalten, die langen Arbeitswochenenden<br />
mit Apfelkuchen erträglich gemacht, mir nachts um 1h noch einen<br />
Kaffee für die Nachtschicht gekocht und bei der einen oder anderen Flasche<br />
Kaapzicht dafür gesorgt, dass auch die wichtigen Dinge des Lebens<br />
nicht zu kurz kommen. Für eine gebührende Danksagung müsste ich noch<br />
mal ein Buch schreiben! Die Liebe von Theresa und Jakob sowie ihre Begeisterung<br />
für Pferde und Spinnen ;-) bzw. Pandas und Tierfilme haben<br />
mir schließlich immer wieder die notwendige Kraft zum Weitermachen<br />
gegeben. Vielen Dank für Euer Verständnis dafür, dass ich schon wieder<br />
ein Buch schreibe, das ich doch eigentlich schon geschrieben habe?!<br />
Peter M. Kappeler Göttingen, im Juli 2008
Inhaltsverzeichnis<br />
I GRUNDLAGEN................................................................................ 1<br />
1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte .............................. 3<br />
1.1 Was ist Verhalten? ............................................................... 3<br />
1.2 Warum Verhaltensforschung?.............................................. 6<br />
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie: ein kurzer Überblick ... 8<br />
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie................. 15<br />
1.4.1 Klassische Methoden .............................................. 16<br />
1.4.2 Moderne Konzepte .................................................. 19<br />
1.5 Verhalten und Fitness: die vier Probleme ............................ 31<br />
1.6 Zusammenfassung................................................................ 34<br />
Literatur.......................................................................................... 36<br />
2 Life histories, Ökologie und Verhalten ....................................... 39<br />
2.1 Diversität der Life histories und ihre Ursachen.................... 41<br />
2.2 Evolution von Life histories................................................. 44<br />
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale ............................... 46<br />
2.3.1 Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung......... 47<br />
2.3.2 Anzahl und Größe der Nachkommen...................... 52<br />
2.3.3 Fortpflanzungsstrategien und Lebensdauer............. 59<br />
2.4 Zusammenfassung................................................................ 66<br />
Literatur.......................................................................................... 67<br />
II ÜBERLEBENSSTRATEGIEN........................................................ 71<br />
3 Grundfunktionen und Verhalten................................................ 73<br />
3.1 Homöostasis......................................................................... 74<br />
3.1.1 Energie und Stoffwechsel........................................ 74<br />
3.1.2 Wasserhaushalt........................................................ 76<br />
3.1.3 Thermoregulation.................................................... 77<br />
3.1.4 Stress ....................................................................... 79<br />
3.1.5 Parasiten und Krankheiten ...................................... 81<br />
3.1.6 Schlaf....................................................................... 83
X<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3.2 Einteilung von Zeit und Energie .......................................... 86<br />
3.2.1 Optimale Effizienz .................................................. 87<br />
3.2.2 Maximierung der Energiegewinnrate...................... 89<br />
3.2.3 Kontrolle von Energie:<br />
interne und externe Speicher................................... 90<br />
3.3 Zusammenfassung................................................................ 92<br />
Literatur.......................................................................................... 93<br />
4 Orientierung in Zeit und Raum .................................................. 99<br />
4.1 Sinnesphysiologie ................................................................ 100<br />
4.1.1 Sehen....................................................................... 100<br />
4.1.2 Hören....................................................................... 102<br />
4.1.3 Mechanorezeption ................................................... 104<br />
4.1.4 Chemorezeption ...................................................... 104<br />
4.1.5 Thermorezeption ..................................................... 105<br />
4.1.6 Elektro- und Magnetorezeption............................... 105<br />
4.2 Orientierung in der Zeit........................................................ 107<br />
4.2.1 Circadiane Rhythmen.............................................. 108<br />
4.2.2 Gezeitenrhythmen ................................................... 112<br />
4.2.3 Lunarperiodik.......................................................... 114<br />
4.2.4 Circannuale Periodik............................................... 115<br />
4.3 Orientierung im Raum ......................................................... 116<br />
4.3.1 Kinesen und Taxien................................................. 117<br />
4.3.2 Navigation............................................................... 120<br />
4.3.3 Wanderungen .......................................................... 130<br />
4.4 Zusammenfassung................................................................ 135<br />
Literatur.......................................................................................... 136<br />
5 Habitat- und Nahrungswahl........................................................ 145<br />
5.1 Habitatwahl und Einnischung .............................................. 146<br />
5.1.1 Bedeutung der Habitatwahl..................................... 147<br />
5.1.2 Mechanismen der Habitatwahl................................ 148<br />
5.2 Nahrungssuche..................................................................... 153<br />
5.2.1 Determinanten des Fressverhaltens......................... 154<br />
5.2.2 Mechanismen der Nahrungssuche........................... 155<br />
5.3 Nahrungswahl ...................................................................... 160<br />
5.3.1 Optimale Nahrungswahl.......................................... 161<br />
5.3.2 Nahrungsqualität ..................................................... 164<br />
5.4 Nahrungskonkurrenz............................................................ 166<br />
5.4.1 Ultimate Aspekte..................................................... 167<br />
5.4.2 Formen und Ursachen der Nahrungskonkurrenz..... 167<br />
5.4.3 Ideal freie Verteilung .............................................. 170
Inhaltsverzeichnis XI<br />
5.5 Territorialität ........................................................................ 173<br />
5.5.1 Ursachen von Territorialität .................................... 175<br />
5.5.2 Ökonomie der Territorialität ................................... 176<br />
5.5.3 Mechanismen der Territorialität.............................. 178<br />
5.6 Tier-Pflanze-Interaktionen ................................................... 182<br />
5.6.1 Evolution von Herbivorie........................................ 183<br />
5.6.2 Tier-Pflanze-Mutualismus....................................... 184<br />
5.7 Zusammenfassung................................................................ 186<br />
Literatur.......................................................................................... 187<br />
6 Prädation....................................................................................... 197<br />
6.1 Evolutionäre Wettrennen ..................................................... 198<br />
6.2 Räuberstrategien................................................................... 203<br />
6.2.1 Ansitz- vs. Suchjäger .............................................. 204<br />
6.2.2 Solitäre vs. Gruppenjäger........................................ 206<br />
6.2.3 Giftige Räuber......................................................... 207<br />
6.3 Beutestrategien..................................................................... 208<br />
6.3.1 Krypsis .................................................................... 209<br />
6.3.2 Aposematismus ....................................................... 210<br />
6.3.3 Mimikry................................................................... 213<br />
6.3.4 Wehrhaftigkeit......................................................... 215<br />
6.3.5 Wachsamkeit ........................................................... 217<br />
6.3.6 Alarmsignale ........................................................... 221<br />
6.3.7 Gruppenbildung....................................................... 223<br />
6.4 Zusammenfassung................................................................ 224<br />
Literatur.......................................................................................... 225<br />
III FORTPFLANZUNG......................................................................... 231<br />
7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen............................ 233<br />
7.1 Sexuelle und natürliche Selektion........................................ 234<br />
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie .............................. 237<br />
7.2.1 Asexualität............................................................... 237<br />
7.2.2 Evolution der Sexualität.......................................... 238<br />
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen .................................... 242<br />
7.4 Geschlechterverhältnis......................................................... 248<br />
7.5 Zusammenfassung................................................................ 250<br />
Literatur.......................................................................................... 251<br />
8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren.............. 255<br />
8.1 Partnerfindung und Sensorik................................................ 257<br />
8.1.1 Partnerfindung......................................................... 258<br />
8.1.2 Sensorische Mechanismen ...................................... 258
XII<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.2 Größe, Stärke und Waffen ................................................... 262<br />
8.2.1 Physische Merkmale ............................................... 263<br />
8.2.2 Verteidigung............................................................ 264<br />
8.2.3 Kosten der intrasexuellen Selektion........................ 264<br />
8.2.4 Grundlagen des Fortpflanzungserfolges.................. 266<br />
8.2.5 Evolution sekundärer Geschlechtsmerkmale .......... 268<br />
8.3 Ornamente............................................................................ 270<br />
8.3.1 Visuelle Ornamente................................................. 272<br />
8.3.2 Akustische Ornamente ............................................ 274<br />
8.4 Dominanz............................................................................. 275<br />
8.4.1 Dominanz und Fortpflanzung.................................. 276<br />
8.4.2 Reproduktive Unterdrückung.................................. 279<br />
8.5 Spermienkonkurrenz ............................................................ 281<br />
8.5.1 Mechanismen .......................................................... 281<br />
8.5.2 Verhaltensanpassungen an Spermienkonkurrenz.... 286<br />
8.5.3 Anatomische Anpassungen<br />
an Spermienkonkurrenz........................................... 289<br />
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz ........................................... 292<br />
8.6.1 Bruce-Effekt............................................................ 292<br />
8.6.2 Infantizid ................................................................. 293<br />
8.6.3 Infantizid und Life history....................................... 297<br />
8.7 Strategien und Taktiken ....................................................... 299<br />
8.7.1 Alternative Strategien.............................................. 300<br />
8.7.2 Konditionale Strategien........................................... 302<br />
8.8 Partnerwahl durch Männchen .............................................. 306<br />
8.9 Zusammenfassung................................................................ 307<br />
Literatur.......................................................................................... 308<br />
9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen .......................... 317<br />
9.1 Arterkennung ....................................................................... 319<br />
9.1.1 Mechanismen der Arterkennung ............................. 319<br />
9.1.2 Speziation................................................................ 324<br />
9.1.3 Wahl von artfremden Männchen............................. 326<br />
9.2 Inzestvermeidung................................................................. 327<br />
9.2.1 Mechanismen der Inzestvermeidung....................... 328<br />
9.2.2 Verwandtenerkennung ............................................ 331<br />
9.3 Mechanismen der Partnerwahl............................................. 335<br />
9.3.1 Selektivität der Weibchen ....................................... 336<br />
9.3.2 Erhebungstaktiken................................................... 337<br />
9.3.3 Proximate Grundlagen der Wahl............................. 340<br />
9.3.4 Kryptische Weibchenwahl ...................................... 343
Inhaltsverzeichnis XIII<br />
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl ......................................... 345<br />
9.4.1 Effekte auf Fertilität und Fekundität ....................... 346<br />
9.4.2 Vaterqualitäten ........................................................ 348<br />
9.4.3 Andere Qualitäten der Männchen ........................... 350<br />
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl....................................... 352<br />
9.5.1 Sexy Söhne durch den Fisher-Prozess .................... 353<br />
9.5.2 Besserer Nachwuchs durch gute Gene .................... 357<br />
9.5.3 Genetische Kompatibilität....................................... 366<br />
9.6 Polyandrie ............................................................................ 368<br />
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen.......................................... 373<br />
9.7.1 Reproductive skew................................................... 373<br />
9.7.2 Weibliche Ornamente.............................................. 378<br />
9.8 Sexueller Konflikt................................................................ 380<br />
9.8.1 Theorie sexueller Konflikte..................................... 381<br />
9.8.2 Beispiele für sexuellen Konflikt.............................. 384<br />
9.8.3 Konsequenzen sexuellen Konflikts ......................... 386<br />
9.8.4 Sexuelle Nötigung................................................... 386<br />
9.9 Zusammenfassung................................................................ 388<br />
Literatur.......................................................................................... 389<br />
IV JUNGENAUFZUCHT...................................................................... 403<br />
10 Elterliche Fürsorge....................................................................... 405<br />
10.1 Life history und Fürsorge ..................................................... 406<br />
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge ......................................... 411<br />
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt ...................................... 418<br />
10.3.1 Sexueller Konflikt über elterliches Investment....... 419<br />
10.3.2 Eltern-Kind-Konflikt............................................... 422<br />
10.3.3 Geschwister-Konflikt .............................................. 437<br />
10.3.4 Brutparasitismus...................................................... 439<br />
10.4 Fürsorge und Kooperation ................................................... 442<br />
10.4.1 Eusozialität und reproduktiver Altruismus.............. 442<br />
10.4.2 Helfersysteme.......................................................... 449<br />
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens ......................... 457<br />
10.5.1 Gene und Verhalten................................................. 457<br />
10.5.2 Umwelt, Erfahrung und Verhalten .......................... 463<br />
10.6 Zusammenfassung................................................................ 471<br />
Literatur.......................................................................................... 472
XIV<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
V SOZIALE EVOLUTION.................................................................. 487<br />
11 Sozialsysteme ................................................................................ 489<br />
11.1 Soziale Organisation ............................................................ 492<br />
11.1.1 Sozioökologie.......................................................... 492<br />
11.1.2 Organisationsformen ............................................... 495<br />
11.1.3 Abwanderung und Philopatrie................................. 509<br />
11.2 Paarungssysteme .................................................................. 512<br />
11.2.1 Diversität der Paarungssysteme .............................. 512<br />
11.2.2 Konsequenzen ......................................................... 524<br />
11.3 Sozialstruktur ....................................................................... 527<br />
11.3.1 Kommunikation....................................................... 529<br />
11.3.2 Koordination ........................................................... 535<br />
11.3.3 Konkurrenz.............................................................. 538<br />
11.3.4 Kooperation............................................................. 544<br />
11.3.5 Kognition................................................................. 550<br />
11.3.6 Kultur ...................................................................... 557<br />
11.4 Zusammenfassung................................................................ 560<br />
Literatur.......................................................................................... 561<br />
Sachverzeichnis.................................................................................... 581<br />
Tierverzeichnis..................................................................................... 595
I GRUNDLAGEN
1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
1.1 Was ist Verhalten?<br />
1.2 Warum Verhaltensforschung?<br />
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie: ein kurzer Überblick<br />
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie<br />
1.4.1 Klassische Methoden<br />
1.4.2 Moderne Konzepte<br />
1.5 Verhalten und Fitness: die vier Probleme<br />
1.6 Zusammenfassung<br />
Was versteht man unter Verhalten? Warum ist ein Verständnis der Mechanismen,<br />
der Entwicklung, Funktion und Evolution von Verhalten wichtig?<br />
Welchen Verlauf nahm die wissenschaftliche Erforschung des Verhaltens<br />
bislang und welche Ansätze haben sich dabei durchgesetzt? Wie kann man<br />
Verhalten überhaupt untersuchen und welche Methoden, Konzepte und<br />
Hilfsmittel kommen in der Verhaltensforschung zur Anwendung? Im Einführungskapitel<br />
werden diese Fragen besprochen, um so eine Grundlage<br />
für die inhaltliche Behandlung von Fragen, Konzepten und Fakten in den<br />
folgenden Kapiteln zu schaffen.<br />
1.1 Was ist Verhalten?<br />
Die Verhaltensbiologie ist eine Disziplin der Biologie, die mit wissenschaftlichen<br />
Methoden das Verhalten von Tieren und Menschen untersucht.<br />
Was aber genau ist „das Verhalten“? Jeder hat vermutlich eine konkrete,<br />
ganz persönliche Vorstellung davon. Ein knurrender Hund, ein<br />
singender Vogel, eine jagende Fledermaus – diese anschaulichen Beispiele<br />
haben vermutlich viele vor Augen, wenn sie spontan an das Verhalten von<br />
Tieren denken. Verhalten lässt sich aber nicht einfach mit Bewegung oder<br />
Aktivität gleichsetzen, denn auch Pflanzen bewegen sich – aber niemand<br />
erforscht das Verhalten der Pflanzen! Andererseits können sich auch ver-
4 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
meintlich inaktive Tiere verhalten: Motten und Geckos zum Beispiel, die<br />
durch ihre Körperfärbung perfekt mit dem Muster einer Baumrinde verschmelzen,<br />
verringern dadurch ihr Risiko, von einem Räuber entdeckt und<br />
gefressen zu werden; oder regungslose Weibchen eines Nachtfalters können<br />
Duftstoffe abgeben, mit deren Hilfe sie von Männchen gefunden werden.<br />
Bei diesen Beispielen von Tarnung bzw. Paarungsverhalten, also zwei<br />
zentralen Themen der Verhaltensforschung, besteht das Verhalten aus dem<br />
Entsenden von Signalen. Signale sind neben Aktionen und Interaktionen<br />
also wichtige Aspekte des Verhaltens. Eine der wenigen publizierten Definitionen<br />
konzentriert sich auf funktionale Aspekte des Verhaltens im<br />
Rahmen der innerartlichen Kommunikation: „[…] unter Verhalten versteht<br />
man […] in der Regel Bewegungen, Lautäußerungen und Körperhaltungen<br />
eines Tieres, sowie diejenigen äußerlich erkennbaren Veränderungen, die<br />
der gegenseitigen Verständigung dienen […]“ (Immelmann 1982). In Inhaltsverzeichnissen<br />
von einschlägigen Lehrbüchern finden sich aber auch<br />
Einträge wie „Appetenz“, „Aversion“ oder „Neugier“, die offenbar auch in<br />
die Zuständigkeit der Verhaltensforschung fallen. Es ist daher gar nicht<br />
leicht, eine Definition von Verhalten zu finden, die über das Triviale „alles<br />
was Tiere tun“ oder „das, was tote Tiere nicht mehr tun“ (Hall u. Halliday<br />
1998) hinausgeht. Das Verhalten von Tieren, so wie ich den Begriff<br />
gebrauchen werde, bezieht sich daher auf die Kontrolle und Ausübung von<br />
Bewegungen oder Signalen, mit denen ein Organismus mit Artgenossen<br />
oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten Umwelt interagiert<br />
sowie Aktivitäten, die der Homöostase ( Kap. 3.1) eines Individuums<br />
dienen.<br />
Diese abstrakte Definition wird sehr viel anschaulicher, wenn man sich<br />
vergegenwärtigt, wie komplex die Aktionen eines Tieres sind und auf welchen<br />
Ebenen sie beschrieben werden können. Der Nobelpreisträger Nikolaas<br />
Tinbergen hat 1963 in diesem Zusammenhang als erster explizit darauf<br />
aufmerksam gemacht, dass sich vier logisch eindeutig trennbare<br />
Ebenen der Beschreibung und Analyse des Verhaltens unterscheiden lassen.<br />
Die inzwischen legendären vier Fragen Tinbergens in Bezug auf die<br />
Erklärung von Verhalten beziehen sich auf:<br />
• Die unmittelbaren oder proximaten Ursachen des Verhaltens.<br />
Welche internen und externen Faktoren kontrollieren eine Verhaltensweise<br />
mit Hilfe welcher Mechanismen? Zu diesen Mechanismen<br />
gehören Neurone, Hormone und Muskeln.<br />
• Die Entwicklung des Verhaltens. Wie entsteht eine Verhaltensweise<br />
in der Ontogenese eines Individuums? Welche Faktoren be-
1.1 Was ist Verhalten? 5<br />
einflussen die Entwicklung des Verhaltens und wie interagieren<br />
genetische und externe Einflüsse dabei?<br />
• Die evoluierte oder ultimate Funktion des Verhaltens. Welche<br />
Konsequenzen hat eine Verhaltensweise letztendlich für den<br />
Überlebens- und Fortpflanzungserfolg eines Individuums? Was ist<br />
die adaptive Bedeutung einer Verhaltensweise?<br />
• Den phylogenetischen Ursprung des Verhaltens. Wie ist eine<br />
Verhaltensweise im Laufe der Stammesgeschichte einer Art entstanden?<br />
Auf die simple Frage „Warum singt eine männliche Amsel?“ gibt es also<br />
mehrere richtige Antworten. Dieses Männchen singt, „weil seine Larynxmuskulatur<br />
durch daran ansetzende Motorneurone aktiviert wird“ oder<br />
„weil es im April einen besonders hohen Testosterongehalt hat“ (proximate<br />
Ursachen). Es singt aber auch, „weil es diese Gesangsstrophen als Jungtier<br />
während einer sensiblen Phase von einem männlichen Artgenossen gelernt<br />
hat“ (ontogenetische Ursache). Mit seinem Gesang „lockt das<br />
Männchen aber auch paarungsbereite Weibchen an und/oder hält Rivalen<br />
aus seinem Territorium fern“ (ultimate Ursachen). Schließlich singt ein<br />
Amselmännchen auch genau so, „weil Amseln von einer Art abstammen,<br />
deren Männchen ganz ähnlich gesungen haben“ (phylogenetische Ursache).<br />
An diesem einfachen Beispiel wird bereits deutlich, wie sehr Verhalten<br />
den integrativen Charakter der kompletten Biologie eines Organismus<br />
widerspiegelt. Physiologie, Genetik, Entwicklung und Evolution sind<br />
hier auf das Engste aufeinander abgestimmt, um das Überleben und die<br />
Fortpflanzung eines Individuums zu gewährleisten.<br />
Verhalten ist demnach ein zentraler Mechanismus zur Anpassung eines<br />
Organismus an seinen Lebensraum. Die wichtigsten dieser Anpassungen<br />
betreffen die Suche nach Nahrung, das Vermeiden von Räubern, das Finden<br />
und die Auswahl von Fortpflanzungspartnern sowie die Aufzucht der<br />
Jungen ( Kap. 1.5; Abb. 1.1). Die bei der Lösung dieser Probleme beteiligten<br />
Verhaltensweisen können zwischen Arten sowie in Abhängigkeit<br />
von sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen variieren und werden<br />
oft durch individuelle Erfahrungen modifiziert. Verhalten unterliegt damit<br />
der Evolution, kann aber auch den Verlauf der Evolution mit beeinflussen,<br />
da es, evolutionär gesehen, flexibler ist als viele morphologische oder physiologische<br />
Merkmale. Um dieser Bedeutung des Verhaltens gerecht zu<br />
werden, liegt der inhaltliche Schwerpunkt dieses Buches auf der adaptiven<br />
Funktion von Verhalten.
6 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Abb. 1.1a–d. Verhaltensforschung beschäftigt sich mit einem vielseitigen Phänomen.<br />
Tiere interagieren mit ihrer Umwelt, Mitgliedern anderer Arten sowie mit<br />
Artgenossen. Verhaltensweisen, die dem Nahrungserwerb (a Waldameise, Formica<br />
rufa), der Räubervermeidung (b Blattschwanzgecko, Uroplatus guentheri), der<br />
Fortpflanzung (c Frosch, hier Aglyptodactylus securifer) oder der Jungenaufzucht<br />
(d Huhn, Gallus gallus) dienen, spielen dabei bei allen Arten eine wichtige Rolle<br />
1.2 Warum Verhaltensforschung?<br />
Warum mühen wir uns mit der Untersuchung des Verhaltens ab, wenn es<br />
doch so komplex und variabel ist? Wäre es da nicht besser, die molekularen<br />
und zellulären Grundlagen des Verhaltens zu erforschen, um so die<br />
zugrunde liegenden Mechanismen und Prozesse einfacher und genauer zu<br />
bestimmen? Der technische Fortschritt auf dem Gebiet der Neurobiologie<br />
macht es ja inzwischen möglich, die chemische und elektrische Aktivität<br />
bestimmter Gehirnregionen und sogar einzelner Neurone zu messen. Zudem<br />
werden die genetischen Grundlagen mancher Verhaltensweisen nach<br />
der kompletten Genomsequenzierung auf der molekularbiologischen Ebene<br />
gesucht. Mit anderen Worten, ist es also überhaupt notwendig oder<br />
noch zeitgemäß, sich mit Verhaltensbiologie zu beschäftigen?
1.2 Warum Verhaltensforschung? 7<br />
Diese, leider nicht für alle, rhetorische Frage lässt sich am besten mit einer<br />
Analogie beantworten. Buchstaben, die kleinste Informationseinheit<br />
einer für uns wichtigen Kommunikationsform, können ganz genau in ihrer<br />
Zahl und Reihenfolge bestimmt werden. Allein mit dieser Information<br />
weiß man jedoch noch gar nichts über deren Bedeutung. Erst wenn die<br />
Buchstaben zu einzelnen Wörtern zusammengefügt werden, gewinnt man<br />
ein entscheidendes Maß an zusätzlicher Information. Dasselbe gilt für die<br />
Bildung von ganzen Sätzen aus eben diesen Wörtern. D. h. jede höhere<br />
Organisationsebene hat Eigenschaften, die nicht aus der Kenntnis der niederen<br />
Organisationsebenen heraus vorhergesagt werden können. Auf die<br />
Eingangsfrage übertragen bedeutet dies, dass ein Verständnis des Verhaltens<br />
des ganzen Organismus nicht aus der Kenntnis der neuro- oder molekularbiologischen<br />
Mechanismen allein gewonnen werden kann und dass<br />
umgekehrt ein Verständnis dieser Mechanismen Kenntnis über das Verhalten<br />
des gesamten Organismus voraussetzt. Aus diesen Gründen sollte Verhaltensbiologie<br />
ein essentieller Bestandteil biologischer Grundlagenforschung<br />
sein und bleiben.<br />
Welche anderen Gründe gibt es, sich mit dem Verhalten von Tieren zu<br />
beschäftigen (Tabelle 1.1)? Wie schon dargelegt, sind Kenntnisse über das<br />
Verhalten für das Verständnis von Evolution notwendig. Verhalten ist auch<br />
an sich interessant, d. h. zu verstehen, wie beispielsweise Bienen miteinander<br />
kommunizieren, trägt zu einem besseren Verständnis natürlicher Prinzipien<br />
bei. Verhaltensstudien an Tieren können auch wichtige Prozesse<br />
und Motivationen, wie Lernen oder Aggression, aufklären und somit<br />
grundlegende vergleichende Beiträge zum Verständnis der Funktion, Mechanismen<br />
und Kontrolle menschlichen Verhaltens liefern.<br />
Tabelle 1.1. Theoretische und praktische Gründe, Verhaltensforschung zu betreiben<br />
Warum Verhaltensforschung?<br />
• Verständnis der funktionalen Integration von Organismen<br />
• Verständnis von Evolution<br />
• Verhalten ist an sich interessant<br />
• Allgemeine Prinzipien von Funktion, Mechanismen und Kontrolle<br />
• Vorteile bei Jagd und Domestikation<br />
• Schädlingsbekämpfung, Nutztierhaltung<br />
• Grundlagen für fundierten Artenschutz<br />
• Spaß
8 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Neben diesen Überlegungen aus dem akademischen Elfenbeinturm gibt<br />
es aber noch eine Vielzahl von praktischen Gründen, sich für das Verhalten<br />
von Tieren zu interessieren. Den ältesten und pragmatischsten Grund<br />
liefern die Überlebensvorteile im Laufe unserer Stammesgeschichte. Das<br />
Verhalten von für uns gefährlichen Tieren einschätzen zu können, bei der<br />
Jagd das Verhalten des Beutetiers richtig vorherzusagen oder auch bei der<br />
Domestikation von Haustieren die Zucht und Haltung zu optimieren, waren<br />
und sind unschätzbare Vorteile beim mühseligen Kampf ums tägliche<br />
Überleben (Diamond 1997). Heutzutage ist es zusätzlich von Bedeutung,<br />
bei der Bekämpfung von Schädlingen Informationen über deren Fortpflanzungsverhalten<br />
einzusetzen oder die natürlichen Bedürfnisse von intensiv<br />
gehaltenen Nutztieren zu kennen. Eine neue und immer wichtiger werdende<br />
praktische Bedeutung gewinnt das Verhalten von Tieren bei der Planung<br />
und Umsetzung von Projekten zu deren Schutz und Erhalt. Nur mit<br />
Informationen über ihr natürliches Sozial- und Paarungssystem, ihre Nahrungs-<br />
und Habitatwahl können vom Aussterben bedrohte Tiere erfolgreich<br />
in Gefangenschaft gehalten und gezüchtet werden (Gosling u. Sutherland<br />
2000). Kenntnisse über Migrations- und Dispersionsmuster, über Raumansprüche<br />
und die ökologische Rolle als Beute und/oder Räuber für andere<br />
Arten sind zudem notwendig, um geeignete Schutzgebiete zu identifizieren.<br />
Schließlich macht es schlichtweg Spaß, Tiere zu beobachten. Warum<br />
sonst gäbe es all die Haustiere, Millionen von Zuschauern bei Tiersendungen<br />
im Fernsehen oder immer mehr Ökotouristen, die in ihrem Urlaub<br />
wilde Tiere in ihren verbleibenden Lebensräumen beobachten wollen?<br />
Verhaltensforschung ist also eine wissenschaftliche Disziplin, die Erkenntnisse<br />
in vielen Bereichen biologischer Grundlagenforschung erbringt<br />
und integriert, die wichtige praktische Nutzanwendungen mit enormen<br />
ökonomischen Konsequenzen eröffnet und die über die Medien wichtige<br />
Interessensbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten bedient.<br />
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie:<br />
ein kurzer Überblick<br />
Das Verhalten von Tieren ist schon seit prähistorischen Zeiten für Menschen<br />
faszinierend und wichtig gewesen, aber die systematische wissenschaftliche<br />
Verhaltensforschung hat ihre Wurzeln erst in den letzten 150<br />
Jahren ausgetrieben. In dieser relativ kurzen Zeit haben bereits mehrere<br />
verschiedene Konzepte, die bis heute erkennbar sind, die Erforschung des<br />
Verhaltens geleitet. Ein historischer Überblick über die wichtigsten dieser
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie: ein kurzer Überblick 9<br />
Ansätze und ihre Protagonisten hilft daher, die Komplexität aktueller Fragestellungen<br />
besser zu verstehen und einzuordnen.<br />
Charles Darwin (1809–1882) war nicht nur der Begründer<br />
der modernen Evolutionsbiologie, sondern auch<br />
einer der ersten systematischen Verhaltensforscher, der<br />
die Funktion bestimmter Verhaltensweisen klar analysierte.<br />
Aus der Zeit vor Darwin gibt es, beginnend mit<br />
Aufzeichnungen von Aristoteles, vor allem Beschreibungen<br />
verschiedener Tiere und ihrer Aktivitäten durch<br />
Naturforscher und Philosophen (Klopfer 1974). Darwin hingegen erkannte,<br />
dass manche Verhaltensweisen entscheidende Mechanismen evolutionsrelevanter<br />
Prozesse darstellen und gab damit der Untersuchung des Verhaltens<br />
als erster eine wissenschaftliche Legitimation. So interpretierte er<br />
zum Beispiel die spektakulären Balzrituale männlicher Paradiesvögel als<br />
Versuche, die Partnerwahl der Weibchen zu beeinflussen (Darwin 1859;<br />
Kap. 9.3).<br />
George Romanes (1848–1894), ein Freund und Zeitgenosse<br />
Darwins, versuchte dessen Evolutionstheorie zu<br />
unterstützen, indem er eine Theorie der Diskontinuität<br />
und Hierarchie mentaler Prozesse entwickelte. Er versuchte<br />
dabei zu zeigen, dass sich Arten in ihren mentalen<br />
Fähigkeiten unterscheiden und dass die Komplexität<br />
dieser Fähigkeiten parallel zu der phylogenetischen<br />
Entwicklungsstufe zunimmt. Seine Darstellung dieser Theorie kann als das<br />
erste moderne, rein verhaltensbiologische Werk angesehen werden (Romanes<br />
1882).<br />
Um die Jahrhundertwende wurden in der Zoologie und<br />
Psychologie Europas und Nordamerikas die Grundsteine<br />
weiterer Ansätze der Verhaltensforschung gelegt. Zoologen<br />
begannen systematisch und gezielt, das Verhalten<br />
verschiedenster Tiere in ihren natürlichen Lebensräumen<br />
zu beschreiben und zu klassifizieren. Ein amerikanischer<br />
Morphologe aus diesem Kreis, Charles Whitman<br />
(1842–1910), wird als einer der Gründerväter der späteren „klassischen<br />
Ethologie“ betrachtet, da er forderte „Instinkte und Organe müssen aus der<br />
gemeinsamen Sichtweise der phylogenetischen Abstammung studiert werden“<br />
(Whitman 1898). Den Begriff des „Instinkts“ hatte Whitman übrigens<br />
selbst eingeführt, um stereotype Verhaltensmuster von Tauben zu beschreiben.
10 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
In Europa war Oskar Heinroth (1871–1945), Gründer<br />
des Aquariums des Berliner Zoos und herausragender<br />
Ornithologe, der bedeutendste Vertreter dieser Richtung,<br />
der „den Stein ins Rollen brachte, den Lorenz und seine<br />
Schüler zu einer Lawine werden ließen“ (Weißpflug<br />
1998). Seine in diesem Zusammenhang wichtigste Arbeit<br />
beschäftigte sich mit der frühen Entwicklung der<br />
Entenvögel, in deren Rahmen er den Begriff der Prägung definierte (Heinroth<br />
1910; Kap. 10.5). Der historisch wichtige Beitrag der Naturbeobachtungen<br />
dieser Schule von Verhaltensforschern bestand darin, zu<br />
zeigen, dass es invariable arttypische Verhaltensweisen gibt, die für phylogenetische<br />
Analysen genauso verwendet werden können wie anatomische<br />
Merkmale.<br />
Des Weiteren entwickelten amerikanische Psychologen zur selben Zeit<br />
einen neuen Ansatz zur Erforschung des Verhaltens, der in gewisser Weise<br />
eine Gegenreaktion zu den hauptsächlich auf Anekdoten basierenden Arbeiten<br />
Romanes darstellte. Als erste Reaktion darauf hatte schon Lloyd<br />
Morgan (1852–1936) eine „Regel der Parsimonie“ formuliert, wonach eine<br />
Verhaltensweise immer auf der einfachsten möglichen Ebene erklärt werden<br />
sollte (Morgan 1896).<br />
Der aus dieser Einstellung hervorgehende Behaviorismus<br />
wurde von John Watson (1878–1958) endgültig<br />
etabliert. Der Behaviorismus geht davon aus, dass alle<br />
Organismen als tabula rasa geboren werden und dass<br />
jegliches Verhalten das Ergebnis früherer Erfahrungen<br />
darstellt. Verhalten von Tieren besteht demnach nur aus<br />
Reaktionen auf externe Reize, die als „bedingte Reflexe“<br />
ständig neu angelegt werden, und wird von keinerlei Emotionen beeinflusst.<br />
Der bedingte Reflex war vom russischen Psychologen Ivan Pavlov<br />
(1849–1936) erstmals in Versuchen mit Hunden demonstriert worden. Dabei<br />
wurde ein arbiträrer Reiz (Laut) so lange mit dem Anblick von Futter<br />
gekoppelt, bis der Laut alleine ausreichend war, um den Speichelfluss bei<br />
Hunden auszulösen ( Kap. 10.5). Der enge postulierte Zusammenhang<br />
zwischen spezifischer Reaktion und dem vorausgegangenen Reiz hatte<br />
auch Konsequenzen für den methodischen Ansatz der Behavioristen. Ihre<br />
Untersuchungen fanden unter streng kontrollierten Bedingungen in Gefangenschaft<br />
statt und konzentrierten sich auf verschiedene Aspekte des Lernens<br />
bei einigen wenigen Arten, insbesondere Tauben und Laborratten. Bis<br />
heute sind davon die Arbeiten von Edward Thorndike (1874–1949) und<br />
Burrhus Skinner (1904–1990) bekannt.
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie: ein kurzer Überblick 11<br />
In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts begann in<br />
Europa der Aufschwung der klassischen Ethologie. Der<br />
inhaltliche und methodische Ansatz dieser Richtung lag<br />
auf der ausführlichen Beschreibung von Verhaltensmustern<br />
und -abläufen bei einer Vielzahl von Taxa in ihrem<br />
natürlichen Habitat. Dieser Katalog arttypischer Verhaltensweisen,<br />
das Ethogramm, bildete die Grundlage für<br />
vergleichende phylogenetische Analysen und für die Entwicklung von<br />
Fragen nach dem Anpassungswert einzelner Elemente. Untersuchungen<br />
zur Kontrolle des Verhaltens stellten einen weiteren Schwerpunkt der klassischen<br />
Ethologie dar. Wichtige Grundlagen dazu lieferten Arbeiten von<br />
Jakob von Uexküll (1864–1944) mit seinen Überlegungen über die selektive<br />
Wahrnehmung der Umwelt durch Tiere (von Uexküll 1909) und Wallace<br />
Craig (1876–1954), der verschiedene Klassen von Verhaltensweisen<br />
danach unterschied, wie stereotyp sie ablaufen und welcher vermeintlichen<br />
Motivation sie unterliegen.<br />
Konrad Lorenz (1903–1989) brachte diese Konzepte<br />
erstmals in einem umfassenden Modell zusammen (Lorenz<br />
1937) und wird daher zu Recht als Begründer der<br />
vergleichenden Verhaltensforschung angesehen (Lorenz<br />
1939). Lorenz gründete nach dem 2. Weltkrieg die Station<br />
für vergleichende Verhaltensforschung in Altenberg,<br />
bevor er ab 1961 das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie<br />
in Seewiesen leitete. Er arbeitete im Laufe seiner langen<br />
Karriere mit einer Vielzahl von Arten, aber es sind vor allem seine Arbeiten<br />
über die Prägung bei Entenvögeln und die Verhaltensentwicklung im<br />
Allgemeinen, die ihm neben den phylogenetisch-vergleichenden Arbeiten<br />
1973 den Nobelpreis für Medizin einbrachten.<br />
Lorenz teilte den Nobelpreis mit zwei weiteren Ethologen,<br />
die mit ihren persönlichen Arbeitsschwerpunkten<br />
innerhalb der Ethologie die Grundlage für noch heute<br />
erfolgreiche Teildisziplinen legten. Karl von Frisch<br />
(1886–1982) gilt als Mitbegründer der modernen Verhaltensphysiologie,<br />
welche die physiologischen und regulatorischen<br />
Grundlagen des Verhaltens untersucht.<br />
Schon im 19. Jahrhundert hatten andere Pionierarbeit auf dem Gebiet der<br />
Sinnesphysiologie geleistet. So erarbeitete Herrmann von Helmholtz<br />
(1821–1894) Grundlagen des Verständnisses der Nervenimpulsleitung und<br />
des Farbensehens. Wilhelm Wundt (1832–1920) untersuchte physiologische<br />
Grundlagen der Gefühlswahrnehmung und gilt als Vater der moder-
12 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
nen Psychologie. Von Frisch demonstrierte in seinen frühen Arbeiten, dass<br />
Fische Farben wahrnehmen und einen Hörsinn besitzen (von Frisch 1923).<br />
Geehrt wurde er für seine späteren Arbeiten, in denen er den Bienentanz<br />
entdeckte und dabei zeigte, dass Honigbienen einen Sonnenkompass zur<br />
Orientierung benutzen (von Frisch 1965; Kap. 4.3).<br />
Die beiden Österreicher Lorenz und von Frisch teilten<br />
sich den Nobelpreis mit dem Niederländer Nikolaas<br />
Tinbergen (1907–1988). Dieser hatte im Freiland begonnen,<br />
die Mechanismen und Funktionen bestimmter<br />
Verhaltensweisen mit Hilfe einfacher, aber genialer experimenteller<br />
Manipulationen zu erforschen. So untersuchte<br />
er auf diese Weise unter anderem die Orientierung<br />
bei Bienenwölfen, das Balzverhalten von Stichlingen und die Funktion des<br />
Entfernens von Eischalen vom Nest bei Lachmöwen (Tinbergen 1951,<br />
1977). Dieser Ansatz war sowohl methodisch als auch konzeptionell neu,<br />
da er das Augenmerk auf den evolutiven Anpassungswert des Verhaltens<br />
lenkte. Damit lieferte Tinbergen wichtige Grundlagen für die nachfolgende<br />
Entwicklung der Verhaltensökologie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />
(Abb. 1.2).<br />
Während des Aufschwungs der klassischen Ethologie in Europa war in<br />
Nordamerika die „vergleichende Psychologie“ die dominierende Disziplin<br />
der Verhaltensforschung (Dewsbury 1989). Aufgrund ihrer Wurzeln im<br />
Behaviorismus konzentrierte sich die vergleichende Psychologie auf die<br />
Untersuchung proximater Fragen an wenigen Arten (Laborratte und Taube),<br />
die unter kontrollierten Bedingungen im Labor gehalten wurden.<br />
Daneben gab es aber auch andere einflussreiche Strömungen, die sich<br />
mit dem Verhalten verschiedenster Arten unter natürlichen Bedingungen<br />
beschäftigten. Im Rückblick waren dabei Robert Yerkes (1875–1956) und<br />
sein Student Ray Carpenter (1905–1975) als Begründer der Verhaltensforschung<br />
an Primaten, Theodore Schneirla (1902–1968) als Pionier von<br />
Freilandstudien an Ameisen, Frank Beach (1911–1988) als Begründer der<br />
systematischen Untersuchung der Kontrolle des Fortpflanzungsverhaltens<br />
und der Entwicklungspsychologe Harry Harlow (1905–1981) die einflussreichsten.<br />
Aus der amerikanischen zoologischen Schule dieser Zeit<br />
zwischen den Weltkriegen ist noch besonders Warder Allee (1885–1955)<br />
hervorzuheben, der als einer der ersten das Sozialverhalten verschiedener<br />
Wirbeltiere systematisch untersuchte und dessen zahlreiche Studenten die<br />
Nachkriegsentwicklung der amerikanischen Verhaltensforschung ganz entscheidend<br />
mitgestalteten. Trotz der zahlreichen und diversen Arbeiten an
1.3 Geschichte der Verhaltensbiologie: ein kurzer Überblick 13<br />
Abb. 1.2. Schematische Übersicht über die Beziehungen zwischen den wichtigsten<br />
Ansätzen der Verhaltensbiologie<br />
verschiedenen Fragen der Verhaltensbiologie fehlte der Disziplin in Nordamerika<br />
in dieser Zeit aber eine synthetische Theorie.<br />
Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer langsamen Annäherung zwischen<br />
den europäischen Ethologen und den amerikanischen Psychologen,<br />
die unter anderem durch die Gründung einer ersten spezifischen internationalen<br />
Fachzeitschrift („Behaviour“ 1948) und eines regelmäßigen Kongresses<br />
(„International Ethological Conference“; erstmals 1952 in Buldern<br />
bei Münster) vorangebracht wurde (Franck 2008). In einer aufsehenerregenden<br />
Arbeit kritisierte der amerikanische Psychologe Daniel Lehrman<br />
(1953) zentrale Punkte der Instinkttheorie von Lorenz und definierte damit<br />
klare Unterschiede zwischen verschiedenen Ansätzen der Verhaltensbiologie<br />
der damaligen Zeit, womit er wesentlich zum inhaltlichen Diskurs und<br />
damit zu einer graduellen Annäherung beitrug.<br />
Aus der Ethologie gingen in den 1970er Jahren zwei Schwerpunkte hervor,<br />
welche die aktuelle Verhaltensbiologie wesentlich prägen (Abb. 1.2).<br />
Die Verhaltensökologie beschäftigt sich vor allem mit dem Überlebenswert<br />
des Verhaltens unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen<br />
ökologischen Rahmenbedingungen, wobei ultimate Faktoren und proximate<br />
Mechanismen gleichermaßen bedeutsam sind. Die Art und Weise, wie<br />
Verhalten zum Überleben und Fortpflanzungserfolg beiträgt, ist stark von<br />
der Ökologie der Tiere abhängig. Diese Einsicht gab es schon lange, aber<br />
sie ging nicht über die Beschreibung von Korrelationen und plausiblen In-
14 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
terpretationen hinaus. Erst mit Hilfe der Methoden und Fragestellungen<br />
Tinbergens und der Einführung mathematischer und ökonomischer Konzepte<br />
( Kap. 1.4) wurde es möglich, präzise Vorhersagen mit quantitativen<br />
Daten, die oft experimentell gewonnen werden, zu überprüfen. Eine<br />
weitere wichtige Methode, Hypothesen über den Anpassungswert von<br />
Verhalten zu untersuchen, stellen Vergleiche zwischen Arten dar. John<br />
Crook (1964) war der Erste, der mit dieser Methode Unterschiede in der<br />
sozialen Organisation von Webervögeln mit deren Ökologie in Zusammenhang<br />
setzte, und wird daher zu Recht als einer der Pioniere der Verhaltensökologie<br />
betrachtet. Die zahlreichen und vielfältigen Arbeiten auf dem<br />
Gebiet der Verhaltensökologie wurden von Beginn an in einer einflussreichen<br />
Bücherserie von John Krebs und Nicholas Davies zusammengefasst<br />
(z. B. Krebs u. Davies 1978, 1981).<br />
Die zweite moderne Teildisziplin der Verhaltensbiologie, die Soziobiologie,<br />
untersucht die evolutionsbiologischen Funktionen des Sozialverhaltens.<br />
Sie stellt daher ein konzeptionelles Bindeglied zwischen dem Verhalten<br />
von Tieren und ihrer Populationsbiologie dar. Die Soziobiologie<br />
untersucht die Vor- und Nachteile von Verhaltensunterschieden für die individuelle<br />
Fitness, ohne die zugrunde liegenden Mechanismen selbst klären<br />
zu wollen. Ein in diesem Zusammenhang gängiges Missverständnis<br />
und Vorurteil gegenüber der Soziobiologie besagt, dass sie einen genetischen<br />
Determinismus propagiert, d. h. dass die Gene eines Individuums<br />
die Entwicklung und Ausprägung seiner Verhaltensweisen kontrollieren<br />
und bestimmen. Soziobiologen vertreten aber weder diesen absurden Determinismus<br />
noch interessieren sie sich für die proximaten Beziehungen<br />
zwischen DNA und ihrer Kaskade an Produkten ( Kap. 10.5), sondern<br />
allein dafür, ob bestimmte Verhaltensweisen den genetischen Erfolg von<br />
Individuen beeinflussen (Alcock 2001).<br />
Der Beginn der Soziobiologie ist eng mit der Publikation eines gleichnamigen<br />
Buches des amerikanischen Ameisenforschers Edward Wilson<br />
(1975) gekoppelt, der evolutionsbiologische Prinzipien erstmals umfassend<br />
mit Verhaltensmechanismen in Beziehung setzte. Seine Synthese beruht<br />
zum Teil auch auf Arbeiten von William Hamilton (1964), George<br />
Williams (1966) und Robert Trivers (1971, 1972), die wichtige Grundlagen<br />
zum Verständnis der Evolution von Sozialverhalten etablierten. In<br />
neuerer Zeit hat der soziobiologische Ansatz auch einen wichtigen Einfluss<br />
bei der Analyse menschlichen Sozialverhaltens genommen und gewinnt als<br />
„evolutionäre Psychologie“ zunehmend an Einfluss (Buss 1999).<br />
Durch immer stärker werdende Spezialisierung, zum Teil verbunden mit<br />
technischem und methodischem Fortschritt, existieren heute viele Teildisziplinen<br />
der Verhaltensbiologie nebeneinander (Abb. 1.3). Aufgrund<br />
des biologisch integrativen Charakters des Verhaltens kommt es zudem
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 15<br />
Abb. 1.3. Verhaltensbiologie ist die integrative Kraft der organismischen Biologie.<br />
Sie vereinigt Konzepte und Methoden vieler Nachbardisziplinen<br />
verstärkt zu Interaktionen und Kooperationen mit anderen Disziplinen, wie<br />
Genetik, Neurobiologie oder Ökonomie. So finden sich in einem zufällig<br />
ausgewählten Band einer Fachzeitschrift (Animal Behaviour 63(3) 2002)<br />
nebeneinander Arbeiten über non-lineare Phänomene in der Lautproduktion<br />
von Säugetieren, die Wahrnehmung von Objektrelationen bei Primaten,<br />
Vorteile des Gruppenlebens bei kolonialen Spinnen, ökologische Einflüsse<br />
auf das Gesangslernen bei Vögeln, die Reaktion von Gottesanbeterinnen<br />
auf computergenerierte visuelle Reize, strategische Kopulationen bei Dungfliegen<br />
und vieles andere mehr. Diese Vielfalt wird besonders deutlich,<br />
wenn man sich vergegenwärtigt, mit welchen unterschiedlichen Methoden<br />
Verhaltensbiologen arbeiten.<br />
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie<br />
Wie kann der kontinuierliche Strom aus Bewegungen, Ereignissen und Interaktionen,<br />
den wir als Verhalten operationalisieren können, beschrieben<br />
und gemessen werden? Dazu ist es zunächst notwendig, klar zu definieren,<br />
was mit welchen Methoden gemessen werden kann. Um einen besseren<br />
Eindruck der Komplexität, aber auch der Faszination der Verhaltensforschung<br />
zu geben, werde ich nachfolgend einige wichtige praktische Methoden<br />
diskutieren.
16 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
1.4.1 Klassische Methoden<br />
Die Beschreibung des Verhaltens kann prinzipiell auf zwei Ebenen erfolgen.<br />
Auf der einfachsten Ebene wird die Struktur des Verhaltens aufgezeichnet,<br />
indem man Bewegungen, Körperhaltungen und gegebenenfalls<br />
deren zeitliche Abfolge mit relativ großer Genauigkeit beschreibt. Dieser<br />
Ansatz erfordert sehr genaue Beobachtungen, resultiert aber oft in unnötigen<br />
Details. Daher ist es meist einfacher und ökonomischer, Verhalten in<br />
Bezug auf seine Konsequenzen zu beschreiben. Damit ist der Effekt einer<br />
Verhaltensweise auf die Umwelt, auf ein anderes Individuum oder auf das<br />
ausführende Tier selbst gemeint. In diesem Fall ist es nebensächlich, wie,<br />
d. h. mit Hilfe welcher Aktionen, dieser Effekt erzielt wurde. Es kann also<br />
zum Beispiel durchaus von Interesse sein, dass ein Gorilla seinen rechten<br />
Arm 20 cm nach vorne bewegt, durch eine ruckartige Bewegung mit der<br />
Hand die Stängel mehrerer Pflanzen abbricht, die Stiele mit den Blättern<br />
an die Nase führt, sie kurz beriecht, dann mit der anderen Hand einen davon<br />
nimmt, zum Mund führt und in die geöffnete Mundhöhle schiebt und<br />
nach 13 Kaubewegungen mit geschlossenem Mund schluckt (Struktur).<br />
Meist ist es aber ausreichend festzuhalten, dass der Gorilla Blätter frisst<br />
(Konsequenz).<br />
Für die wissenschaftliche Untersuchung von Verhalten ist es zunächst<br />
notwendig, messbare Einheiten zu definieren (Tabelle 1.2). Dazu ist es<br />
hilfreich, sich die beiden Enden eines Kontinuums vor Augen zu führen,<br />
zwischen denen man Verhaltensweisen kategorisieren kann. Auf der einen<br />
Seite gibt es Ereignisse, die durch ihre kurze Dauer charakterisiert sind.<br />
Ereignisse sind zeitlich so begrenzt und oft so stereotyp, dass sie leicht erkennbar<br />
sind und durch ihre Häufigkeit beschrieben werden können. Bellen,<br />
Picken, Schlagen und Markieren sind Beispiele dafür. Auf der anderen<br />
Seite des Kontinuums liegen die Zustände. Hier handelt es sich um ausgedehnte<br />
Aktivitäten, bestimmte Körperhaltungen oder Assoziationsmaße.<br />
Zustände sind vor allem durch ihre Dauer charakterisiert. Beispiele sind<br />
Schlafen, Wiederkäuen, Säugen oder Sich-Putzen. Die natürlichen Einheiten<br />
des Verhaltens, die als Ereignisse oder Zustände beschrieben werden<br />
können, bezeichnet man als Verhaltenskategorien. Für manche Arten existiert<br />
ein Ethogramm, also ein Katalog mit Beschreibungen der diskreten<br />
arttypischen Verhaltenskategorien, die das grundlegende Verhaltensrepertoire<br />
einer Art ausmachen.<br />
Von jeder definierten Verhaltenskategorie können maximal vier Arten<br />
von Informationen erhoben werden: Latenz, Häufigkeit, Dauer und Intensität.<br />
Die Latenz wird in Zeiteinheiten gemessen und repräsentiert die Zeit<br />
zwischen einem bestimmten Ereignis und dem ersten Auftreten der betreffenden<br />
Verhaltensweise oder den Abstand zwischen zwei Verhaltenswei-
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 17<br />
Tabelle 1.2. Übersicht der wichtigsten Methoden und Entscheidungen beim Beobachten<br />
von Verhalten<br />
Methoden der Verhaltensforschung<br />
• Unterscheidung und Definition von Ereignissen und Zuständen<br />
• Ethogramm: Zusammenfassung der Verhaltensdefinitionen<br />
• Quantifizierbare Informationen<br />
o Latenz<br />
o Häufigkeit<br />
o Dauer<br />
o Intensität<br />
• Aufnahmeregeln<br />
o Fokustier<br />
o Zensus<br />
o Fokusverhalten<br />
o Ad libitum<br />
• Aufzeichnungsregeln<br />
o Kontinuierlich<br />
o Zeitabhängig<br />
sen. Die Häufigkeit beschreibt, wie oft eine Verhaltensweise pro Zeiteinheit<br />
auftritt. Ihre Einheit ist also die reziproke Zeiteinheit. Die Dauer, mit<br />
der eine Verhaltensweise auftritt, wird ebenfalls in Zeiteinheiten gemessen<br />
und beschreibt den Zeitraum zwischen dem Beginn und Ende einer definierten<br />
Verhaltenskategorie. Manchmal ist es auch wünschenswert, die Intensität<br />
einer Verhaltensweise aufzuzeichnen. Dafür gibt es allerdings keine<br />
generelle Definition. In manchen Fällen wird es möglich sein, die<br />
Intensität über die Berechnung der lokalen Häufigkeit als die Anzahl der<br />
Anteile einer Verhaltensweise, die pro Zeiteinheit auftreten, zu bestimmen.<br />
Bei anderen Verhaltenskategorien wie z. B. „Kämpfen“ oder „Balzen“<br />
kann man Intensität durch Unterkategorien quantifizieren. Mit diesen vier<br />
Einheiten kann also alles Messbare an Verhalten erfasst werden.<br />
Als Letztes muss man noch festlegen, mit welchen Erhebungsmethoden<br />
und -strategien Verhalten gemessen wird. Prinzipiell müssen zwei Entscheidungen<br />
getroffen werden. Erstens gilt es zu entscheiden, wer wann<br />
beobachtet wird, und zweitens, wie das Verhalten aufgezeichnet wird. Bei<br />
der Entscheidung darüber, wer und wann beobachtet wird (Aufnahmeregel),<br />
gibt es vier Möglichkeiten. Bei der Fokustiermethode wird ein Tier<br />
für einen bestimmten Zeitraum beobachtet und die entsprechenden Details<br />
der definierten Verhaltenskategorien aufgezeichnet. Bei der Zensusmetho-
18 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
de werden alle beobachteten Tiere in regelmäßigen Abständen einem raschen<br />
visuellen Zensus unterworfen und dabei das momentane Verhalten<br />
aller sichtbaren Tiere aufgezeichnet. Die dritte Methode wird als Fokusverhaltensmethode<br />
bezeichnet. Dabei versucht man ebenfalls, alle Tiere<br />
ständig im Auge zu behalten, aber diesmal, um jedes Auftreten bestimmter<br />
Verhaltensweisen oder Interaktionen zu dokumentieren. Beim Ad-libitum-<br />
Verfahren gibt es schließlich keinerlei exakte Vorschriften darüber, was<br />
wann aufgezeichnet wird. Die Datenaufnahme beschränkt sich eher auf<br />
das, was sichtbar oder relevant ist.<br />
Wenn geklärt ist, wer oder was wann beobachtet wird, bleibt noch zu<br />
klären, wie das Verhalten aufgezeichnet wird (Aufzeichnungsregel). Man<br />
kann Verhalten entweder kontinuierlich oder mit bestimmten zeitabhängigen<br />
Regeln aufzeichnen. Bei der kontinuierlichen Aufzeichnung werden<br />
exakte und detaillierte Aufzeichnungen über Häufigkeit, Beginn und Dauer<br />
aller ausgewählten Verhaltenskategorien angefertigt. Im Falle einer zeitabhängigen<br />
Methode wird eine Beobachtungssitzung in Intervalle mit einer<br />
bestimmten Länge eingeteilt. Jedes Mal, wenn das Ende eines Intervalls erreicht<br />
ist, kann Information über mehrere Verhaltenskategorien aufgezeichnet<br />
werden. Ein fundiertes Verständnis dieser methodischen Grundregeln<br />
ist sowohl für das eigene Arbeiten als auch für die Bewertung der<br />
Arbeiten anderer unabdingbar. Naguib (2006) und Martin u. Bateson<br />
(2007) geben ausführliche Einführungen in diese Thematik.<br />
Zur Aufzeichnung der Daten stehen mehrere Methoden und Hilfsmittel<br />
zur Verfügung. Die ältesten und immer noch am weitesten verbreiteten<br />
Medien zur Datenerfassung sind Papier und Bleistift. Mit einem gut organisierten<br />
Datenblatt kann man erstaunlich viele Informationen korrekt aufzeichnen.<br />
Film oder Video eignen sich besonders für die Aufzeichnung<br />
schneller Verhaltensweisen oder Interaktionen, da man solche Sequenzen<br />
wiederholt in Zeitlupe analysieren kann. Unter bestimmten Umständen<br />
kann es auch angebracht sein, für solche Probleme ein Diktaphon zu benutzen.<br />
Vor allem bei Laboruntersuchungen werden häufig automatische<br />
Aufzeichnungsmethoden verwendet. Ähnliche Vorteile bieten eventrecorder,<br />
tragbare Aufzeichnungsgeräte oder palm tops, in die Verhaltensweisen<br />
kodiert über eine Tastatur eingegeben werden.<br />
Obwohl sich das Vorurteil vom typischen Verhaltensforscher in Gummistiefeln<br />
mit Papier, Bleistift und Fernglas hartnäckig hält, sind die meisten<br />
Forscher auf diesem Gebiet inzwischen extrem vielfältige und flexible<br />
Generalisten, die je nach Fragestellung physiologische oder immunologische<br />
Kenngrößen messen, schwankende Hormontiter erfassen, mit Hilfe<br />
von DNA-Analysen Verwandtschaftsverhältnisse bestimmen, über Peiloder<br />
GPS-Sender erhobene räumliche Daten auswerten, mit Mikrophonen,<br />
digitalen Kameras und anderem Gerät bislang unzugängliche Signale und
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 19<br />
Bewegungen auflösen, Nahrungsverfügbarkeit und Klimaänderungen<br />
quantifizieren oder mit Hilfe von phylogenetischen Rekonstruktionen die<br />
Koevolution von Merkmalen in einer taxonomischen Gruppe ermitteln.<br />
Nicht wenige Verhaltensforscher setzen mehrere Methoden gleichzeitig<br />
ein, um so ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.<br />
Wenn man sich zusätzlich vor Augen führt, welche zusätzlichen Möglichkeiten<br />
und Erfordernisse sich aus der Kombination von reinen Beobachtungen<br />
oder Experimenten einerseits und Arbeiten in Gefangenschaft oder<br />
im Freiland andererseits ergeben, wird die Diversität der methodischen<br />
Möglichkeiten und Notwendigkeiten der modernen Verhaltensbiologie<br />
deutlich.<br />
1.4.2 Moderne Konzepte<br />
Die moderne Verhaltensbiologie wird, insbesondere im Bereich der Verhaltensökologie,<br />
durch vier Konzepte in ihren Fragestellungen und analytischen<br />
Methoden geleitet. Dazu gehören (1) ein konsequent vergleichender<br />
Ansatz, um evolutionäre Grundprinzipien zu identifizieren, (2) die Analyse<br />
von Kosten und Nutzen einer Verhaltensweise, die in manchen Fällen Fragen<br />
nach (3) deren optimalem Verhältnis aufwirft, sowie (4) die Untersuchungen<br />
von bestimmten Verhaltensstrategien. Die Prinzipien dieser Ansätze<br />
werden nachfolgend kurz vorgestellt, wobei die nachfolgenden<br />
Kapitel eine Vielzahl von Beispielen aus den unterschiedlichsten Bereichen<br />
des Verhaltens enthalten.<br />
(1) Vergleiche zwischen Arten. Eine wichtige Methode, Hypothesen über<br />
den Anpassungswert von Verhalten zu untersuchen, stellen Vergleiche<br />
zwischen Arten dar. Verhaltensweisen unterscheiden sich in den meisten<br />
Fällen mehr zwischen Arten als zwischen den Individuen einer Art. So<br />
sind die meisten Mitglieder mancher Arten zum Beispiel gruppenlebend<br />
oder polygam oder tagaktiv, wohingegen die meisten Mitglieder anderer<br />
Arten solitär oder monogam oder nachtaktiv sind. Bei Vergleichen zwischen<br />
Arten wird Variation in einer abhängigen Variablen, also z. B. im<br />
Sozialsystem, Paarungssystem oder der Aktivitätsphase, in Bezug zu einer<br />
unabhängigen Variablen, wie Körpergröße, Nahrungs- oder Habitattyp, gesetzt<br />
und deren Kovariation untersucht. Auf diese Weise können sowohl<br />
diskrete als auch kontinuierliche Variablen miteinander in Beziehung gesetzt<br />
sowie deren Evolution rekonstruiert werden (Harvey u. Pagel 1991;<br />
Abb. 1.4).<br />
Die Logik des Artvergleichs beruht auf dem Konzept der Konvergenz<br />
oder Homoplasie. Solche spektakulären Ähnlichkeiten in Bau und Funk-
20 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Abb. 1.4. Phylogenetische Beziehungen zwischen vier hypothetischen Arten (A,<br />
B, C und D). Für jede Art kann die Ausprägung von interessierenden Merkmalen<br />
(0 = fehlt, 1 = vorhanden) bestimmt und verglichen werden<br />
tion zwischen nur weitläufig miteinander verwandten Taxa aufgrund ähnlicher<br />
Selektionskräfte wurden auf unterschiedlichsten Organisationsebenen<br />
in vielen Pflanzen- und Tiergruppen beschrieben. In vergleichenden Untersuchungen<br />
werden also gewissermaßen die Ergebnisse natürlicher Experimente,<br />
die von der Evolution angesetzt wurden, ausgewertet.<br />
John Crook (1964) untersuchte mit dieser Methode Unterschiede in der<br />
sozialen Organisation von Webervögeln und brachte sie in Zusammenhang<br />
mit deren Ökologie. In seiner Arbeit über „Die Evolution der sozialen Organisation<br />
und visuellen Kommunikation bei Webervögeln“ hat er erstmals<br />
systematisch nach Korrelationen zwischen ökologischen Faktoren und Variabilität<br />
in der sozialen Organisation von über 90 Arten gesucht, eine Fragestellung,<br />
die der damals dominierenden klassischen Ethologie eher<br />
fremd war.<br />
Crooks Analysen zeigten, dass sich die Vielfalt der sozialen Organisation<br />
in zwei Klassen einteilen lässt (Abb. 1.5), die durch ökologische Variablen<br />
definiert sind: 1. Waldlebende Arten sind meist solitär, bauen versteckte<br />
Nester, ernähren sich von Insekten, sind territorial, monogam und<br />
weisen keinen Sexualdimorphismus auf. 2. Arten, die in Savannen leben,<br />
gehen dagegen in Gruppen auf Nahrungssuche, bauen Nester in großen<br />
Kolonien, ernähren sich von Samen und haben auffällig gefärbte Männchen.<br />
Crook argumentierte, dass unterschiedliche Nahrung und Räuberdruck,<br />
also ökologische Faktoren, für diese Unterschiede im Sozial- und<br />
Paarungssystem verantwortlich sind. Diese Analyse war so beeindruckend,<br />
dass sie später auch auf andere Taxa, wie Primaten und Paarhufer, angewandt<br />
wurde (Crook u. Gartlan 1966, Jarman 1974).
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 21<br />
Abb. 1.5. Webervögel sind entweder solitäre, territoriale, monogame, kryptisch<br />
gefärbte, insektivore Waldbewohner (links) oder koloniale, polygame, auffällig<br />
gefärbte, Samen fressende Savannenbewohner (rechts). Der Sakalava-Weber (Ploceus<br />
sakalava) gehört zur zweiten Kategorie<br />
Dieser vergleichende Ansatz hat zu vielen Ideen und Aktivitäten inspiriert,<br />
aber er hat auch potentielle Schwachpunkte. So sind zum Beispiel<br />
viele der Interpretationen plausibel, aber es gibt manchmal auch alternative<br />
oder widersprüchliche Erklärungen. Alternative Erklärungen sind besonders<br />
dann wahrscheinlich, wenn es sich ursprünglich nur um eine im<br />
Nachhinein entwickelte adaptive Geschichte handelt, d. h. eine logische<br />
Hypothese über einen Zusammenhang ungeprüft als Erklärung akzeptiert<br />
wird. Dieses Problem wird besonders bei widersprüchlichen Erklärungen<br />
deutlich: Bei Webervögeln sollen z. B. geklumpte Nahrungsressourcen die<br />
Bildung von Gruppen fördern, wohingegen sie bei Antilopen zu einer solitären<br />
Organisation führen sollen.<br />
Es ist daher für diesen Ansatz besonders wichtig, die Grundregel des<br />
quantitativen wissenschaftlichen Arbeitens zu beherzigen, nämlich überprüfbare<br />
Vorhersagen vor der Datenerhebung zu formulieren (Abb. 1.6).<br />
Dabei steht eine Frage am Anfang einer Untersuchung. In der Regel gibt es<br />
aufgrund theoretischer Überlegungen und/oder empirischer Befunde mehrere<br />
plausible Antworten auf diese Frage: die Hypothesen. Aus diesen Hypothesen<br />
müssen sich mit quantitativen Daten und statistischen Verfahren<br />
überprüfbare Vorhersagen formulieren und überprüfen lassen. Nur wenn<br />
solche logisch entwickelten Vorhersagen getestet werden, wird die Gefahr<br />
vermieden, im Nachhinein eine plausible, aber ungeprüfte Erklärung für<br />
beobachtete Zusammenhänge entwickeln zu müssen.<br />
Ein zweites grundsätzliches Problem mit diesem Ansatz besteht darin,<br />
dass Ursache und Wirkung mit dieser korrelativen Methode des Ver-
22 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Abb. 1.6. Schematische Übersicht der einzelnen Schritte des wissenschaftlichen<br />
Arbeitens. Ausgangspunkt ist immer eine Frage<br />
gleichs nicht eindeutig bestimmt werden können. Bei den Webervögeln<br />
hieß es, dass die Nahrungsverteilung in Savannen die Bildung von Gruppen<br />
fördert. Es könnte aber auch sein, dass Räuberdruck für die Gruppenbildung<br />
verantwortlich ist und dass diese Arten dann gezwungen sind,<br />
Nahrung zu wählen, die in Flecken (patches) vorkommt, die für diese<br />
Gruppen groß genug sind. Aus einem Artvergleich kann also keine Kausalität<br />
abgeleitet werden, da immer nur die Art und die Richtung der<br />
Veränderung der Beziehung zwischen zwei Variablen über evolutionäre<br />
Zeiträume beschrieben werden. Kausalität lässt sich daher nur durch gezielte<br />
und kontrollierte Experimente nachweisen.<br />
Ein weiteres Problem der vergleichenden Methode, wie aller Korrelationen,<br />
besteht darin, dass manche Korrelationen durch den Effekt einer<br />
dritten Variablen, der Störvariablen, zustande kommen. So hat z. B. Körpermasse<br />
über Stoffwechselrate und Energiebedarf einen wichtigen Einfluss<br />
auf die Nahrungswahl und kann daher bestimmten Korrelationen<br />
zwischen Nahrung und Verhalten zugrunde liegen. Diese Störvariablen<br />
können aber mit geeigneten Verfahren statistisch kontrolliert werden. In<br />
der Mehrzahl solcher Untersuchungen ist es daher üblich, den Effekt unterschiedlicher<br />
Körpergrößen auf den interessierenden Zusammenhang<br />
durch Regressionsverfahren zu kontrollieren. Dazu wird eine interessierende<br />
Variable, wie Trächtigkeitsdauer oder Gehirnmasse, gegen die Körpermasse<br />
aufgetragen und der durchschnittliche Effekt der Größe in Form<br />
einer linearen Regression beschrieben. Indem man nur die Residuen für
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 23<br />
Abb. 1.7. Durch die Berechnung von Residuen mit Regressionsverfahren wird der<br />
Einfluss der unabhängigen Variablen (X) auf eine abhängige Variable (Y) statistisch<br />
kontrolliert. Die Residuen können dann beispielsweise zwischen Gruppen<br />
von Arten verglichen werden<br />
den eigentlichen Vergleich benutzt, ist automatisch dafür korrigiert, dass<br />
z. B. Elefanten längere Tragzeiten und größere Gehirne haben als Mäuse<br />
(Abb. 1.7).<br />
Schließlich ist es auch nicht zwingend notwendig, dass alle beobachteten<br />
Unterschiede zwischen Arten auf Anpassungen zurückzuführen sind.<br />
So haben die Männchen mancher Paarhufer Hörner oder Geweihe, die in<br />
Kämpfen mit Artgenossen eingesetzt werden. Hörner entspringen der Haut<br />
und wachsen kontinuierlich, wohingegen Geweihe aus Knochen bestehen<br />
und regelmäßig abgeworfen werden. Beide erfüllen aber dieselbe Funktion,<br />
so dass es sich eigentlich um ein schönes Beispiel für konvergente<br />
Evolution handelt. Da aber alle Schafe Hörner und alle Hirsche Geweihe<br />
haben, gibt es offensichtlich auch Merkmalsursachen, die keine spezifische<br />
Anpassung darstellen. Solche gemeinsamen Merkmale nahverwandter Arten<br />
werden auch als phylogenetischer Ballast (phylogenetic inertia) oder<br />
Homologien bezeichnet.<br />
Ähnlichkeiten in qualitativen und quantitativen Merkmalen zwischen<br />
nahverwandten Arten, die auf deren gemeinsame Abstammung zurückzuführen<br />
sind, stellen auch ein Problem bei der statistischen Auswertung<br />
dar. Die betreffenden Datenpunkte sind nicht voneinander unabhängig,<br />
wodurch eine Grundvoraussetzung aller statistischer Tests verletzt wird.<br />
Für dieses Problem wurde die Methode der unabhängigen Kontraste<br />
(Abb. 1.8) entwickelt.<br />
Diese Methode geht davon aus, dass Unterschiede zwischen Schwesterarten,<br />
die sich seit der Trennung vom letzten gemeinsamen Vorfahren ent-
24 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Abb. 1.8. Unabhängige Kontraste. Die Unterschiede in den kontinuierlichen Variablen<br />
X und Y zwischen den Arten A und B, C und D sowie zwischen den gemeinsamen<br />
Vorfahren von (AB) und (CD) sind unabhängig voneinander. Für die<br />
Vorfahren wird angenommen, dass sie die durchschnittliche Merkmalsausprägung<br />
ihrer Tochtertaxa hatten<br />
wickelt haben, unabhängig voneinander entstanden sind. Das heißt, der<br />
Unterschied in einem Merkmal zwischen den Arten A und B ist unabhängig<br />
vom Unterschied zwischen den Arten C und D. Diese beiden Kontraste<br />
können also für konkrete Vergleiche verwendet werden. Wenn diese Kon-<br />
Abb. 1.9. Regression durch den Ursprung zeigt, ob die evolutionären Änderungen<br />
in den kontinuierlichen Merkmalen X und Y (berechnet als unabhängige Kontraste)<br />
über evolutionäre Zeiträume korreliert sind. In diesem Beispiel existiert<br />
eine positive Korrelation
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 25<br />
traste für alle Paare von Arten in einem Stammbaum für zwei Variablen<br />
bestimmt wurden, können diese miteinander korreliert werden, um zu überprüfen,<br />
ob sie sich unabhängig voneinander entwickelt haben (Abb. 1.9).<br />
Um die Stichprobe zu erhöhen, gibt es auch einige Verfahren, mit denen<br />
man die Werte für die jeweiligen Vorfahren rekonstruieren kann. Es ist<br />
möglich, diese Kontraste bis an die Wurzel des Stammbaums zu berechnen.<br />
Die Entwicklung und Anwendung dieser Methode der unabhängigen<br />
Kontraste, die für viele evolutionäre Fragestellungen, nicht nur aus dem<br />
Bereich der Verhaltensbiologie, relevant ist, war eine der wichtigsten<br />
Entwicklungen der Evolutionsbiologie der letzten Jahre (Harvey u. Pagel<br />
1991).<br />
(2) Kosten-Nutzen-Analysen. Ein anderer konzeptioneller Ansatz der<br />
Verhaltensökologie fokussiert auf die Individuen einer Art bzw. auf Verhaltensunterschiede<br />
zwischen diesen Individuen. Im Hinblick auf die ultimate<br />
Funktion von Verhaltensweisen werden dabei die potentiellen Kosten<br />
und Nutzen einer Verhaltensweise gemessen und verglichen. Diese Kosten<br />
und Nutzen werden allgemein zunächst hinsichtlich ihrer Konsequenzen<br />
für die individuelle Gesamtfitness analysiert. Welche Überlebens- oder<br />
Fortpflanzungsvorteile hat ein Individuum, das sich so oder so verhält,<br />
bzw. welche Nachteile bringt dies mit sich? Da sich im Laufe der Evolution<br />
nur Verhaltensweisen durchgesetzt haben, die eine positive Nutzen-<br />
Kosten-Bilanz haben, geht es bei diesem Ansatz nicht darum, zu zeigen,<br />
dass der unmittelbare Nutzen größer ist als die Kosten. Vielmehr bietet<br />
dieser Ansatz die Möglichkeit, zunächst einzelne Faktoren zu identifizieren,<br />
welche die Bilanz in der einen oder anderen Weise beeinflussen. Diese<br />
Variablen können dann experimentell manipuliert werden, und so können<br />
vorhersagbare Effekte auf das Verhalten von Individuen überprüft werden.<br />
Dieser Ansatz wurde von Nikolaas Tinbergen eingeführt, und seine<br />
klassischen Versuche liefern ein anschauliches Beispiel für die Möglichkeiten<br />
und Limitationen dieses Ansatzes. Bei seinen Untersuchungen an<br />
Lachmöwen (Larus ridibundus, Tinbergen 1953) fiel ihm beispielsweise<br />
auf, dass die Eltern die innen weißen Eischalen ihrer geschlüpften Jungen<br />
vom Nest mit den getarnten Jungen und anderen Eiern wegtragen. Tinbergen<br />
nahm an, dass dadurch das Entdecken des Nests durch Räuber erschwert<br />
wird. Dieses Verhalten, das nur wenige Minuten in Anspruch<br />
nimmt und daher geringe Kosten hat, könnte andererseits den gesamten reproduktiven<br />
Aufwand einer Saison retten; es hat also einen sehr hohen potentiellen<br />
Nutzen. Tinbergen testete diese Hypothese, indem er Hühnereier<br />
mit einer ähnlichen Tarnfärbung versah und in der Brutkolonie verteilte.<br />
Neben manche dieser künstlichen Gelege platzierte er eine zerbrochene<br />
Eierschale, neben andere nicht. Bei der späteren Kontrolle der künstlichen
26 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Gelege stellte sich heraus, dass die Präsenz der Eierschalen das Risiko,<br />
dass ein Gelege zerstört wurde, signifikant erhöhte. Solche Kosten-Nutzen-<br />
Analysen ermöglichen also funktionale Interpretationen des Verhaltens,<br />
aber auf diesem Niveau machen sie nur qualitative und damit schwer zu<br />
testende Vorhersagen.<br />
(3) Optimalitätsmodelle. Durch aus der Ökonomie übernommene Optimalitätsmodelle<br />
wurden einfache Kosten-Nutzen-Analysen konsequent<br />
weiterentwickelt und halfen der jungen Verhaltensökologie zum Durchbruch<br />
(MacArthur u. Pianka 1966). Ein Optimalitätsmodell versucht vorherzusagen,<br />
bei welchem Verhältnis von Kosten und Nutzen der Nettogewinn<br />
einer Verhaltensweise für das betreffende Individuum maximiert<br />
wird. Es macht damit exakte, quantitative Vorhersagen, die durch Daten<br />
aus Verhaltensbeobachtungen oder experimenteller Manipulation überprüft<br />
werden können. Bei der Anwendung von Optimalitätsmodellen geht es<br />
nicht darum zu zeigen, dass Tiere perfekt an jedes Problem angepasst sind.<br />
Stattdessen geht es darum zu testen, ob man die wichtigsten Faktoren, die<br />
ein bestimmtes Verhalten beeinflussen, erkannt und richtig bewertet hat.<br />
Das Prinzip der Optimalitätsmodelle lässt sich gut am Beispiel der optimalen<br />
Territoriumsgröße erläutern (Abb. 1.10; Kap 5.5). Viele Tiere<br />
verteidigen ihren exklusiven Zugang zu Nahrung oder anderen für sie<br />
wichtigen Ressourcen gegen Artgenossen. Damit erfahren sie die Vorteile<br />
des Ressourcenzugangs, müssen dafür aber erhöhten Energieverbrauch<br />
sowie möglicherweise ein erhöhtes Mortalitätsrisiko (Kosten der Verteidigung,<br />
erhöhte Auffälligkeit gegenüber Räubern) in Kauf nehmen. Die Fra-<br />
Abb. 1.10. Optimale Territoriumsgröße als ein Beispiel von Optimalitätsmodellen.<br />
Kosten und Nutzen werden zueinander in Beziehung gesetzt und deren Differenz<br />
ermittelt. Bei der größten positiven Differenz wird eine Variable optimiert. Minimale<br />
und maximale Werte können analog ermittelt werden
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 27<br />
Abb. 1.11. Das Grenzertragstheorem stellt eine Methode dar, die optimale investierte<br />
Zeit (I opt) graphisch zu ermitteln. An dem Punkt, an dem der Fitnessgewinn<br />
unter die maximale Gewinnrate fällt, sollte eine Ressource aufgegeben und eine<br />
neue aufgesucht werden<br />
ge ist nun, wie groß ein Revier sein sollte. Dazu kann man sich prinzipiell<br />
überlegen, dass die Kosten der Territoriumsverteidigung mit steigender<br />
Territoriumsgröße zunehmen und dass die sich daraus ergebenden Vorteile<br />
zunächst zunehmen, dann aber rasch nachlassen, weil eine zusätzliche Territoriumsvergrößerung<br />
keinen zusätzlichen Gewinn mehr erbringt. Wenn<br />
man die Differenz zwischen Nutzen und Kosten bildet, findet man eine<br />
Reviergröße, bei welcher der maximale Nettogewinn realisiert wird; das ist<br />
die optimale Territoriumsgröße. Man sieht außerdem, dass ein Territorium<br />
nur in einem bestimmten Bereich ökonomisch verteidigbar ist, d. h. wenn<br />
die Nutzen größer sind als die Kosten. Wenn man die richtige „Währung“<br />
zur Messung von Kosten und Nutzen gefunden hat, lässt sich so konkret<br />
vorhersagen, zwischen welchen Größenbereichen man Territorien finden<br />
sollte und welche Größe am häufigsten sein sollte. Dies ist z. B. bei Nektarvögeln<br />
(Nectarinia reichenowi) eindrucksvoll im Einzelnen durchgerechnet<br />
worden (Gill u. Wolf 1975; Kap. 5.3).<br />
In vielen dieser Untersuchungen spielt das Grenzertragstheorem eine<br />
zentrale Rolle bei der Bewertung der Kosten und Nutzen einer Verhaltensweise<br />
(Abb. 1.11). Es wurde unabhängig von Charnov (1976) sowie<br />
von Parker u. Stuart (1976) entwickelt. Das Grenzertragstheorem beschäftigt<br />
sich mit dem grundlegenden Problem, dass eine Ressource mit zunehmender<br />
Dauer der Ausbeutung in ihrem Wert sinkt und sich für das betreffende<br />
Individuum die Frage nach der optimalen Verweildauer stellt. Diese<br />
hängt von der Verteilung und Dichte der konkreten Ressourceneinheiten
28 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
(patches) ab. Wenn der Aufwand zum Auffinden und/oder Aufsuchen des<br />
nächsten patch groß ist, lohnt es sich, länger zu bleiben und die Ressource<br />
gründlicher auszubeuten, weil der zu erwartende Nutzen pro Zeiteinheit<br />
mit zunehmender Transitzeit geringer wird ( Kap. 3.2).<br />
Man muss also die Kosten und Nutzen von „Bleiben“ und „Weiterziehen“<br />
zueinander in Beziehung setzen. Die Kosten für die Ausbeutung der<br />
Ressource ist in diesem Fall die investierte Zeit (I). In dieser Zeit wird ein<br />
absoluter Fitnessgewinn (G) gemacht, der sich kumulativ gegen I auftragen<br />
lässt, dabei rasch zunimmt und dann aber zunehmend geringer wird.<br />
Die Frage ist nun, zu welchem Zeitpunkt ein Tier die Ressource verlassen<br />
sollte oder wann die zu erwartende Fitness ( Kap. 1.5) bei weiterem<br />
Investment am momentanen Ort kleiner wird als die zu erwartende Fitness<br />
an einem anderen Ort unter Berücksichtigung der dafür notwendigen Suchund<br />
Transitkosten. Wenn die Suchkosten mit einbezogen werden, ergibt<br />
sich die maximale Gewinnrate als die Tangente der Gewinnfunktion, die<br />
auf der x-Achse von der Suchzeit ausgeht. Dort, wo die Tangente die Fitnesskurve<br />
berührt, befindet sich der optimale Zeitpunkt zum Ortswechsel,<br />
weil dann der Grenzertrag erreicht ist, also der Punkt, an dem der lokale<br />
Fitnessgewinn dem Durchschnitt im Habitat entspricht und das Tier im<br />
Durchschnitt damit rechnen kann, anderswo einen höheren Ertrag zu erzielen.<br />
Wie man sich auch intuitiv gut vorstellen kann, verkürzt sich die optimale<br />
Verweildauer mit kürzeren Suchdauern und umgekehrt. Natürlich hat<br />
auch die Qualität der Ressource einen Einfluss auf die optimale Verweildauer.<br />
Bei einer gegebenen Suchzeit sollte man entsprechend weniger Zeit<br />
an ergiebigen Ressourcen verbringen bzw. länger an schlechten Ressourcen<br />
bleiben.<br />
Dieser Optimalitätsansatz hat also den Vorteil, dass man mit denselben<br />
Grundprinzipien unterschiedlichste Entscheidungen analysieren kann. Diese<br />
Modelle machen eindeutige, quantitative Vorhersagen. Sie erlauben, die<br />
für die Tiere wichtigen Variablen zu identifizieren, sowohl im Hinblick<br />
darauf, was sie zu maximieren suchen, als auch in Bezug auf die Faktoren,<br />
die sie dabei einschränken. Zudem müssen eindeutige Annahmen gemacht<br />
werden, die oft auf Beobachtungen und Messungen (z. B. Suchzeiten) beruhen,<br />
so dass die Identität und Beziehungen der Variablen in einem Optimalitätsmodell<br />
klar definiert sind.<br />
Wenn sich keine (gute) Übereinstimmung zwischen vorhergesagtem<br />
und beobachtetem Verhalten findet, kann es sein, dass entweder die Variable,<br />
die vom Tier maximiert wird, falsch eingeschätzt wurde oder dass<br />
nicht alle Zwänge und Störvariablen identifiziert wurden. In diesem Fall<br />
kann man nur durch Versuch und Irrtum mit weiteren Abschätzungen ans<br />
Ziel gelangen.
1.4 Methoden und Konzepte der Verhaltensbiologie 29<br />
(4) Verhaltensstrategien. Oftmals gibt es keine unabhängige optimale<br />
Lösung eines Problems oder es gibt mehrere gleichwertige Lösungen, die<br />
manchmal davon abhängen, was die anderen Mitglieder einer Population<br />
machen. Tiere, die unterschiedliche adaptive Mechanismen zur Lösung bestimmter<br />
Probleme einsetzen, verwenden unterschiedliche Strategien. Eine<br />
Verhaltensstrategie besteht also aus einem Satz an Verhaltensregeln mit<br />
einer eigenständigen genetischen Grundlage. Im Unterschied zum sonst<br />
üblichen Gebrauch impliziert der Ausdruck Strategie keine Rolle des Bewusstseins;<br />
es handelt sich lediglich um einen genetisch basierten, koordinierten<br />
Anpassungsmechanismus, der das betreffende Individuum in Bezug<br />
auf eine bestimmte Problemlösung festlegt (Gross 1996). Wenn es<br />
unterschiedliche, im Durchschnitt gleichwertige Lösungen gibt, handelt es<br />
sich um alternative Strategien. Es gibt auch weniger starre Strategien, die<br />
unter verschiedenen Bedingungen unterschiedliche Reaktionen ermöglichen.<br />
Solche konditionalen Strategien beinhalten also zwei oder mehr<br />
Taktiken, die in ihrer Ausprägung von Umwelteinflüssen und individuellen<br />
Lernerfahrungen abhängen. Viele Beispiele für Strategien und Taktiken<br />
stammen aus dem Bereich des Fortpflanzungsverhaltens ( Kap. 8.7).<br />
In der Literatur wird die Unterscheidung zwischen Strategien und Taktiken<br />
leider nicht immer streng beachtet.<br />
Welche Strategien sich im Laufe der Evolution durchsetzen, hängt oft<br />
davon ab, was die anderen Mitglieder der Population tun, d. h. sie sind<br />
frequenzabhängig. Wenn eine Strategie, die von den meisten Mitgliedern<br />
einer Population eingesetzt wird, so erfolgreich ist, dass sie von keiner anderen<br />
mehr verdrängt werden kann, handelt es sich um eine evolutionär<br />
stabile Strategie (ESS). Individuen, die eine ESS einsetzen, haben also im<br />
Durchschnitt den höchsten Überlebens- und/oder Fortpflanzungserfolg.<br />
Dieser Ansatz lässt sich mit einer spieltheoretischen Vorgabe verdeutlichen<br />
und modellieren (Abb. 1.12). Zum Beispiel kann es bei der Konkurrenz<br />
um Ressourcen zwei Strategien geben: So genannte Falken greifen<br />
immer an und eskalieren einen Kampf bis zum Sieg, wohingegen Tauben<br />
nur drohen, aber niemals kämpfen. Je nachdem ob zwei Falken, zwei Tauben<br />
oder je ein Falke und eine Taube aufeinander treffen, variieren die<br />
Kosten und Nutzen für die Beteiligten. Diese Kosten und Nutzen können<br />
in einem spieltheoretischen Ansatz in Punkten ausgedrückt werden. Bei einer<br />
Auseinandersetzung soll der Gewinner 50 und der Verlierer 0 Punkte<br />
bekommen. In den eskalierenden Kämpfen zwischen zwei Falken soll sich<br />
der Verlierer verletzen und bekommt dafür minus 100 Punkte; wenn zwei<br />
Tauben sich androhen, bekommen sie wegen Zeitverschwendung minus 10<br />
Punkte.<br />
Wenn also zwei Falken aufeinander treffen, hat jeder eine 50%ige<br />
Chance zu gewinnen oder sich zu verletzen, d. h. im Durchschnitt ergeben
30 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Abb. 1.12. Spieltheoretischer Ansatz zur Untersuchung evolutionär stabiler Strategien.<br />
Falken und Tauben repräsentieren Individuen derselben Art mit unterschiedlichen<br />
Konkurrenzstrategien; Zahlen repräsentieren hypothetische Punkte,<br />
welche die Vor- und Nachteile der Strategien in allen möglichen Situationen ausdrücken<br />
sich für einen Falken in dieser Situation 25 Minuspunkte. Wenn dagegen<br />
ein Falke auf eine Taube trifft, gewinnt er 50 Punkte, wohingegen die Taube<br />
nichts bekommt. Wenn zwei Tauben aufeinander treffen, hat jede eine<br />
50%ige Chance zu gewinnen oder zu verlieren, wobei die Kosten des Drohens<br />
in jedem Fall anfallen, so dass im Durchschnitt für jede 15 Punkte übrig<br />
bleiben. Welche Strategie setzt sich in diesem Fall durch? Wenn es nur<br />
Tauben gäbe, würde sich eine Falken-Mutante rasch ausbreiten, da sie<br />
mehr als dreimal so viel gewinnt wie die Tauben. Umgekehrt, wenn es nur<br />
Falken gäbe, würden sich Tauben ausbreiten können, weil sie im Durchschnitt<br />
mehr Punkte (weniger Minuspunkte) ansammeln würden. Diese<br />
beiden reinen Strategien sind also keine ESS, weil sie von einer anderen<br />
Strategie zumindest teilweise verdrängt werden könnten.<br />
In diesem Fall gibt es aber eine stabile Mischung von Falken und Tauben,<br />
nämlich dann, wenn der durchschnittliche Gewinn für beide gleich ist.<br />
Diese Situation ist aber eindeutig von der relativen Häufigkeit der beiden<br />
Strategien abhängig. In diesem Fall lässt sich berechnen, dass dies bei einem<br />
Verhältnis von 7 Falken zu 5 Tauben der Fall wäre. Der durchschnittliche<br />
Gewinn in diesem Fall beträgt nur 6,25, also weniger als wenn alle<br />
Taube spielen würden. Da „alle Taube“ keine ESS darstellt, kann Evolution<br />
daher auch zu suboptimalen Lösungen führen, die aber stabil sind. Da<br />
sich die exakten Kosten und Nutzen nur in den seltensten Fällen bestimmen<br />
lassen, besteht der praktische Wert des spieltheoretischen Ansatzes<br />
vor allem darin, die bedeutsamen Variablen und ihr Verhältnis zueinander<br />
zu klären.
1.5 Verhalten und Fitness: die vier Probleme 31<br />
1.5 Verhalten und Fitness: die vier Probleme<br />
Durch die enge Integration des Verhaltens im Evolutionsgeschehen liefert<br />
die moderne Evolutionstheorie einen klaren theoretischen Rahmen für die<br />
Analyse einzelner Verhaltensweisen. Wenn wir in diesem Rahmen die<br />
Konsequenzen des Verhaltens für die individuelle Fitness untersuchen<br />
wollen, ist es zunächst notwendig, Fitness zu definieren und die evolutionären<br />
Mechanismen, die sie beeinflussen, näher zu charakterisieren.<br />
Die Fitness eines Individuums beschreibt dessen Gesamtfortpflanzungserfolg<br />
(Tabelle 1.3). Eine Grundannahme der Darwin’schen Evolutionstheorie<br />
besteht darin, dass die individuelle Fitness zwei Komponenten<br />
hat: eine Überlebens- und eine Fortpflanzungskomponente. Das heißt, ein<br />
Individuum muss zunächst bis zur Geschlechtsreife überleben, um überhaupt<br />
mit der Fortpflanzung beginnen zu können. Danach ist erfolgreiches<br />
Überleben weiterhin Voraussetzung für Fortpflanzung; nur wer länger<br />
(über-)lebt, kann sich häufiger fortpflanzen. Die Fortpflanzungskomponente<br />
hat zwei Bestandteile: die direkte Fitness, die durch eigene Fortpflanzung<br />
erreicht wird, und die indirekte Fitness, die durch die Fortpflanzung<br />
von Verwandten zustande kommt, da diese ebenfalls abstammungsgleiche<br />
Allele in die nächste Generation weitergeben.<br />
Diese Differenzierung zeigt, dass Gene und nicht deren kurzlebige Träger<br />
die entscheidende Zielebene natürlicher Selektion darstellen. Dies wird<br />
deutlich, wenn man sich die Grundprinzipien der natürlichen Selektion<br />
vergegenwärtigt: die Mitglieder einer Art unterscheiden sich in Aspekten<br />
ihrer Morphologie, Physiologie und ihres Verhaltens, wobei ein Teil dieser<br />
Variabilität eine genetische Grundlage hat. Die meisten Gene existieren<br />
daher in zwei oder mehr unterschiedlichen Allelen, die leicht unterschiedliche<br />
Formen desselben Proteins codieren. Jedes Allel kommt in einer Population<br />
mit einer bestimmten Häufigkeit vor und konkurriert mit den anderen<br />
Allelen um einen Platz auf dem jeweiligen Chromosom.<br />
Tabelle 1.3. Die Hauptkomponenten der individuellen Fitness<br />
Fitness: Gesamtfortpflanzungserfolg<br />
• Überlebenskomponente<br />
• Fortpflanzungskomponente<br />
o Direkte Fitness<br />
o Indirekte Fitness (durch Verwandte)
32 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Da von den Individuen einer Art zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr<br />
viel mehr Nachkommen produziert werden als schließlich zur Fortpflanzung<br />
kommen, muss es zwischen ihnen Konkurrenz um diejenigen Ressourcen<br />
geben, die das Überleben und die Fortpflanzung begrenzen. Als<br />
Folge dieser Konkurrenz werden Individuen mit bestimmten Eigenschaften,<br />
denen teilweise unterschiedliche Allele zugrunde liegen, besser und<br />
länger überleben und mehr Nachkommen hinterlassen als Individuen mit<br />
anderen Merkmalskombinationen. Diese Nachkommen erben die genetischen<br />
Grundlagen dieser Vorteile von ihren Eltern und geben sie ebenfalls<br />
häufiger an die nächste Generation weiter. So kommt es durch natürliche<br />
Selektion zur differenziellen Weitergabe und somit zur relativen Zunahme<br />
von den Allelen, die unter den jeweiligen Bedingungen die besten Selektionseigenschaften<br />
besitzen. Diesen Prozess nennt man Anpassung.<br />
Wenn sich bestimmte Allele in einer Population ausbreiten, bedeutet<br />
dies notwendigerweise, dass manche Individuen dasselbe Allel eines Gens<br />
besitzen. Individuen, die abstammungsgleiche Allele teilen, sind miteinan<br />
der verwandt. Bei diploiden Organismen hat jedes Allel eine 50%ige<br />
Wahrscheinlichkeit, die Kopie des entsprechenden Allels der Mutter oder<br />
des Vaters zu sein. Diese Wahrscheinlichkeit wird durch den Verwandtschaftskoeffizienten<br />
(r) ausgedrückt. Zwischen Eltern und Kindern beträgt<br />
er 0,5 und nimmt mit jeder weiteren Generation um die Hälfte ab.<br />
Verwandtenselektion ist ein Evolutionsmechanismus, der die Weitergabe<br />
von abstammungsgleichen Allelen in verwandten Tieren fördert. Dadurch<br />
wird ein zusätzlicher Sektor der Fitness definiert, nämlich die indirekte<br />
Fitness, die durch die Weitergabe abstammungsgleicher Allele durch<br />
Verwandte (außer den eigenen Nachkommen) definiert ist. Die indirekte<br />
Fitness trägt damit, zusammen mit der direkten Fitness, zur Gesamtfitness<br />
oder inklusiven Fitness eines Individuums bei. Demnach geht in die Bestimmung<br />
der individuellen Gesamtfitness nicht nur die Anzahl der Allele<br />
ein, die ein Individuum selbst in die nächste Generation bringt, sondern<br />
auch die Kopien, die durch Verwandte, mit denen sie mit einer berechenbaren<br />
Wahrscheinlichkeit geteilt werden, weitergegeben werden.<br />
Aus der Sicht der Verhaltensbiologie lassen sich vier evolutionäre<br />
Probleme identifizieren, die jedes Individuum erfolgreich lösen muss, um<br />
seine Gesamtfitness zu maximieren (Tabelle 1.4). Das erste Problem besteht<br />
darin, in jedem Lebensabschnitt genügend Nahrung zu finden bzw.<br />
erfolgreich darum zu konkurrieren, um die alters- und größenspezifischen<br />
energetischen Bedürfnisse von Erhaltungsfunktionen, Wachstum und Fortpflanzung<br />
zu befriedigen ( Kap. 2 u. 3). Diese Grundvoraussetzung lässt<br />
sich auch auf andere essentielle Aspekte des Überlebens ausdehnen, also<br />
die Wahl eines geeigneten Habitats mit entsprechenden Fress-, Schutz- und<br />
Brutmöglichkeiten ( Kap. 5), sowie die erfolgreiche Orientierung in
1.5 Verhalten und Fitness: die vier Probleme 33<br />
Tabelle 1.4. Die wichtigsten fitnessrelevanten Verhaltenskontexte<br />
„Die vier Probleme“<br />
• Ressourcenzugang<br />
o Nahrung, Habitatwahl, Orientierung<br />
• Räubervermeidung<br />
o Diverse Mechanismen, Parasitenabwehr<br />
• Fortpflanzung<br />
o Partnersuche, Auswahl, Geschlechterkonflikt<br />
• Jungenaufzucht<br />
o Brutpflege<br />
Raum und Zeit ( Kap. 4). Damit wird mit Hilfe von Verhaltensweisen,<br />
die zwischen Arten und Individuen variabel ausgeprägt sind und flexibel<br />
eingesetzt werden, eine notwendige Voraussetzung für das Überleben geschaffen<br />
und somit die Überlebenskomponente der Fitness beeinflusst.<br />
Neben dem Problem, genügend Nahrung zu finden, muss jedes Individuum<br />
auch dafür sorgen, selbst nicht gefressen zu werden. Eine Vielzahl<br />
von Anpassungen zur Räubervermeidung sind dabei im Laufe der Evolution<br />
entstanden, von denen viele mit dem Verhalten entweder der Räuber<br />
oder der Beute zu tun haben ( Kap. 6). Natürlich gibt es auch noch andere<br />
Schutzmechanismen wie Panzer, Stacheln oder Gifte, die nicht unmittelbar<br />
mit dem Verhalten zu tun haben. Viele Arten sind auch gleichzeitig<br />
Räuber und Beute und müssen daher zum Teil gegenläufige Anpassungen<br />
miteinander vereinbaren. In diesem Zusammenhang stellt auch die erfolgreiche<br />
Abwehr von Parasiten und anderen Krankheitserregern einen weiteren<br />
wichtigen Teil der Überlebensstrategien dar. Auch hier ist oft das<br />
Verhalten von Wirt und Parasit für den Ausgang dieses evolutionären<br />
Wettrennens entscheidend.<br />
Nur Individuen, die all diese Probleme erfolgreich gelöst haben, können<br />
damit beginnen, die Fortpflanzungskomponente ihrer Fitness zu erhöhen.<br />
Wenn ein geeignetes Mitglied der eigenen Art gefunden und als solches<br />
identifiziert wurde, besteht das nächste Problem darin, unter mehreren potentiellen<br />
Paarungspartnern einen bestimmten auszuwählen, Konkurrenten<br />
von der erfolgreichen Fortpflanzung auszuschließen sowie Konflikte mit<br />
dem Paarungspartner zur Durchsetzung der eigenen Fortpflanzungsinteressen<br />
auszutragen ( Kap. 8 u. 9).
34 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
Selbst wer sich erfolgreich verpaart hat, insbesondere als Männchen, hat<br />
noch lange keinen Fortpflanzungserfolg erzielt. Da das Überleben und die<br />
erfolgreiche Fortpflanzung des eigenen Nachwuchses das letztendlich entscheidende<br />
Kriterium für die Bewertung des eigenen Fortpflanzungserfolgs<br />
darstellen, stellt sich für jeden Elter die Frage, ob er sich an der<br />
Brutpflege und Aufzucht der Jungen beteiligt oder nicht. Die Antwort auf<br />
diese Frage hat weitreichende Konsequenzen für die Beziehungen zwischen<br />
den Geschlechtern sowie für ihre jeweiligen Fortpflanzungsstrategien<br />
( Kap. 10). Für manche Tiere stellt sich in diesem Zusammenhang<br />
auch die Frage, ob sie Verwandten bei der Jungenaufzucht helfen und dabei<br />
möglicherweise auf eigene Fortpflanzung verzichten. Manche Arten<br />
vermeiden die Kosten, aber nicht die Vorteile der Brutpflege, indem sie<br />
andere Arten mit ihrem Nachwuchs parasitieren. Auch hier werden die<br />
meisten fitnessrelevanten Entscheidungen auf der Verhaltensebene getroffen.<br />
Diese grobe Übersicht soll verdeutlichen, welche entscheidende Rolle<br />
dem Verhalten in der Evolution zukommt. Diese vier Fragen bilden daher<br />
auch das Gerüst für den Großteil dieses Buches, um letztendlich die Evolution<br />
verschiedener Sozialsysteme zu verstehen ( Kap. 11).<br />
1.6 Zusammenfassung<br />
Verhalten kann definiert werden als die Kontrolle und Ausübung von<br />
Bewegungen oder Signalen, mit denen ein Organismus mit Artgenossen<br />
oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten<br />
Umwelt interagiert. Verhalten ist ein wichtiger Mechanismus bei den<br />
Anpassungen eines Organismus an seine Umwelt; Erkenntnisse über<br />
Kontrolle und Funktion von Verhalten sind daher für ein Verständnis<br />
von Evolution notwendig. Außerdem liefert die Verhaltensbiologie<br />
wichtige Erkenntnisse über Grundprinzipien menschlichen Verhaltens<br />
sowie notwendige Grundlagen zur erfolgreichen Nutzung und Kontrolle<br />
von Tieren. Für erfolgreiche Natur- und Artenschutzprogramme<br />
sind Informationen über Verhaltensansprüche unverzichtbar. Durch<br />
praktische Anwendungen der Verhaltensbiologie werden schließlich<br />
auch wichtige Interessensbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten<br />
bedient.<br />
Verhaltensbiologie ist heute eine methodisch und konzeptionell diverse<br />
Disziplin, die ihre wissenschaftlichen Wurzeln in den Arbeiten
1.6 Zusammenfassung 35<br />
von Charles Darwin hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden bereits<br />
physiologische Grundlagen des Verhaltens (Verhaltensphysiologie),<br />
Mechanismen des Lernens bei im Labor gehaltenen Wirbeltieren<br />
(Behaviorismus) sowie das Repertoire, die Entwicklung und Phylogenie<br />
des Verhaltens freilebender Tiere (klassische Ethologie) untersucht.<br />
Aus dem Behaviorismus ging in Nordamerika die vergleichende<br />
Psychologie hervor, die nach dem 2. Weltkrieg mit der klassischen<br />
Ethologie teilweise verschmolz. Die europäische Ethologie entwickelte<br />
auch experimentell bearbeitbare Fragen nach dem Anpassungswert<br />
von Verhaltensweisen und bereitete damit den Boden für die Entwicklung<br />
der Verhaltensökologie, in deren Rahmen seit den 1970er Jahren<br />
die Beziehung zwischen Verhalten und ökologischen Rahmenbedingungen<br />
untersucht wird. Seit Beginn der 1960er Jahre wird in der Soziobiologie<br />
intensiv nach dem Anpassungswert von Sozialverhalten<br />
bei Mensch und Tier geforscht.<br />
Um Verhalten zu untersuchen, werden zumeist seine Konsequenzen<br />
bestimmt und quantifiziert. Von jeder definierten Verhaltenskategorie<br />
kann prinzipiell deren Dauer, Häufigkeit, Intensität sowie die<br />
Latenz zu anderen Ereignissen gemessen werden. Mit Hilfe geeigneter<br />
Aufnahme- und Aufzeichnungsregeln kann das Verhalten im<br />
Rahmen von Beobachtungen oder Experimenten im Freiland oder unter<br />
kontrollierten Bedingungen quantifiziert werden. In der modernen<br />
Verhaltensbiologie kommen zunehmend Methoden aus anderen biologischen<br />
Disziplinen zum Einsatz, so dass Verhaltensforscher methodisch<br />
und konzeptionell flexibel und breit ausgebildet sein müssen.<br />
Viele Fragestellungen der aktuellen Verhaltensbiologie versuchen,<br />
Grundprinzipien des Verhaltens durch quantitative Artvergleiche zu<br />
ermitteln oder mit Hilfe von Kosten-Nutzen-Analysen die Identität<br />
und relative Bedeutung verschiedener Selektionsfaktoren zu bestimmen.<br />
Bei einer konsequent evolutionsbiologischen Betrachtung können<br />
vier Grundprobleme der Fitnessmaximierung identifiziert werden, bei<br />
deren Lösung das Verhalten eine zentrale Rolle darstellt: Fressen,<br />
Überleben, Fortpflanzung und Jungenaufzucht.
36 1 Verhaltensbiologie: Inhalte und Geschichte<br />
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2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
2.1 Diversität der Life histories und ihre Ursachen<br />
2.2 Evolution von Life histories<br />
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale<br />
2.3.1 Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung<br />
2.3.2 Anzahl und Größe der Nachkommen<br />
2.3.3 Fortpflanzungsstrategien und Lebensdauer<br />
2.4 Zusammenfassung<br />
Wie sollten Sie Ihren Lebensfortpflanzungserfolg maximieren? Stellen Sie<br />
sich vor, Sie sind eine flexible Zygote, die das zukünftige Leben uneingeschränkt<br />
planen kann. Werden Sie nur ein paar Millimeter groß oder mehrere<br />
hundert Kilogramm schwer? Wie lange wollen Sie wachsen, bevor Sie<br />
mit welchem Alter und bei welcher Größe anfangen, sich fortzupflanzen?<br />
Fangen Sie relativ früh an sich fortzupflanzen und leben dafür kürzer oder<br />
investieren Sie weniger und später in die Fortpflanzung und leben dafür<br />
länger? Setzen Sie alles auf ein Fortpflanzungsereignis oder reproduzieren<br />
Sie sich mehrmals? Wie viel der verfügbaren Energie stecken Sie dann in<br />
die Fortpflanzung, wie viel in die Aufrechterhaltung Ihrer Lebensfunktionen<br />
und wie viel in weiteres Wachstum? Produzieren Sie wenige große<br />
Nachkommen von hoher Qualität oder besser viele kleine, die aber nicht so<br />
gut überleben? Produzieren Sie gleich viele Söhne und Töchter oder machen<br />
Sie diese Entscheidung von ökologischen oder sozialen Bedingungen<br />
abhängig? Das sind nur einige der Life history- (oder Lebenslaufstrategie-)<br />
Entscheidungen, für die jeder Organismus eine evolutionäre Antwort gefunden<br />
hat.<br />
Die Theorie der Life history-Evolution sucht Erklärungen für die Vielfalt<br />
an Lebenslaufstrategien. Sie ist damit das integrative Konzept der organismischen<br />
Biologie und damit auch der Verhaltensbiologie. Die Life<br />
history beschreibt die Lebenszyklen verschiedener Organismen in Bezug<br />
auf Variabilität in den Merkmalen, welche die Wahrscheinlichkeiten des<br />
Überlebens und der erfolgreichen Fortpflanzung direkt beeinflussen. Die<br />
wichtigsten dieser Merkmale sind Größe bei der Geburt, Dauer und Ge-
40 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Life history<br />
Körpergröße<br />
Wachstum<br />
Alter bei der Geschlechtsreife<br />
Semelparie - Iteroparie<br />
Erhaltung - Wachstum - Reproduktion<br />
Größe und Anzahl Nachkommen<br />
Geschlechterverhältnis<br />
Ökologie<br />
Verhalten<br />
Abb. 2.1. Die grundlegenden Life history-Entscheidungen, denen jeder Organismus<br />
gegenübersteht, betreffen Merkmale der Entwicklung, der Fortpflanzung und<br />
des Erhalts der Grundfunktionen. Variabilität in diesen Merkmalen stellt Anpassungen<br />
an ökologische Rahmenbedingungen dar und hat auch weitreichende Konsequenzen<br />
für das Verhalten<br />
schwindigkeit des Wachstums, Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung,<br />
Anzahl und Größe der Nachkommen, Häufigkeit von Fortpflanzungsereignissen<br />
sowie die Dauer der Lebensspanne (Abb. 2.1; Stearns<br />
1976). Diese Merkmale unterscheiden sich vor allem zwischen Arten und<br />
höheren Taxa, aber es gibt auch eine gewisse Flexibilität zwischen Populationen<br />
und Individuen einer Art, die eng mit der Ökologie und dem Verhalten<br />
der betroffenen Tiere verknüpft sind.<br />
Ich möchte in diesem Kapitel die wichtigsten dieser Life history-Entscheidungen<br />
näher beleuchten und dabei deren Verbindungen mit dem<br />
Verhalten der Tiere betonen. Dieser umfassende Ansatz ist notwendig, um<br />
zu verstehen, wie eng einzelne Verhaltensmerkmale im Lauf des Lebens<br />
eines Individuums mit anderen Aspekten der Physiologie, Anatomie und<br />
Ökologie eines Organismus verzahnt und mit diesen funktionell verknüpft<br />
sind. Ausgezeichnete ausführlichere Darstellungen der hier vorgestellten<br />
Konzepte finden sich unter anderem bei Clutton-Brock (1991), Stearns<br />
(1992) und Roff (2001).
2.1 Diversität der Life histories und ihre Ursachen 41<br />
2.1 Diversität der Life histories und ihre Ursachen<br />
Alle Tiere mit sexueller Fortpflanzung beginnen ihr Leben als Zygote und<br />
sterben irgendwann danach. Dazwischen liegt die faszinierende Diversität<br />
von Life history-Strategien, mit denen Individuen versuchen, ihren Überlebens-<br />
und Fortpflanzungserfolg zu maximieren. Da es im Tierreich eine<br />
unüberschaubare Anzahl von Kombinationen von Life history-Merkmalen<br />
gibt, scheint es keine oder zumindest nicht nur eine optimale Life history-<br />
Strategie zu geben. Warum es die eine optimale Strategie gar nicht geben<br />
kann, wird deutlich, wenn man sich die theoretisch optimale Strategie<br />
ausmalt.<br />
Um die maximale Fitness zu erzielen, sollte ein idealer Organismus, den<br />
man als Darwin’schen Dämon bezeichnen könnte, sofort nach der eigenen<br />
Geburt beginnen, für ewige Zeiten unendlich viele Nachkommen zu<br />
produzieren (Leimar 2001). Einen solchen (weiblichen) Organismus gibt<br />
es bekanntlich aber nicht, weil er aufgrund der Konservierung von Masse<br />
pro Fortpflanzungsereignis nicht mehr als seine eigene Masse an Nachwuchs<br />
produzieren kann und weil er wie alle Lebewesen sterblich ist. Zudem<br />
sind die für das Überleben und die Fortpflanzung notwendigen Ressourcen<br />
begrenzt, so dass sich jeder Organismus mit dem Problem<br />
konfrontiert sieht, die verfügbaren Ressourcen optimal zwischen Wachstum,<br />
Fortpflanzung und Erhalt der basalen Grundfunktionen aufzuteilen<br />
(Abb. 2.2). Es existiert also ein fundamentales Allokationsproblem, für<br />
das jedes Individuum eine Lösung finden muss.<br />
Neben diesem Grundproblem komplizieren verschiedene Zwänge und<br />
negative Verknüpfungen (Trade-offs) zwischen Merkmalen in faszinierender<br />
Weise die Ausprägung verschiedener Life history-Strategien (Stearns<br />
1989a). Ein Trade-off existiert immer dann, wenn ein Vorteil, der durch<br />
Abb. 2.2. Für limitiert zur Verfügung stehende Energie gibt es für jeden Organismus<br />
ein fundamentales Allokationsproblem. Diese Entscheidung, Energie in<br />
Wachstum, Fortpflanzung oder den Erhalt der Grundfunktionen zu investieren, beschreibt<br />
den allgemeinsten Trade-off, dem sich Organismen gegenüber sehen
42 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
die Veränderung eines Merkmals entsteht, automatisch mit einem Nachteil<br />
durch die Änderung eines anderen Merkmals verbunden ist. Der allgemeinste<br />
Trade-off besteht zwischen den Grundfunktionen (Zera u. Harshman<br />
2001). Wenn zum Beispiel die Grundversorgung an Energie für die<br />
Erhaltung der basalen Lebensfunktionen zugunsten der Fortpflanzung eingeschränkt<br />
wird, ist der erhöhte reproduktive Erfolg mit einem erhöhten<br />
Mortalitätsrisiko und damit einer Verkürzung der Lebensspanne erkauft.<br />
Männliche Dickhornschafe (Ovis canadensis) sehen sich beispielsweise<br />
im Lauf ihrer Entwicklung mit diesem Trade-off konfrontiert, wenn sich<br />
bei wechselnder Ressourcenverfügbarkeit die Frage stellt, ob Energie aus<br />
limitierter Nahrung besser in das Wachstum ihrer Körper oder ihrer Hörner<br />
investiert werden soll (Festa-Bianchet et al. 2004; Abb. 2.3). Bei Letzterem<br />
handelt es sich um eine indirekte Investition in den Fortpflanzungserfolg,<br />
da die Hörner eine wichtige Rolle bei der Konkurrenz zwischen Männchen<br />
um Zugang zu Weibchen spielen ( Kap. 8.2). Je nach Alter und Körperkondition<br />
der Dickhornschafe wird bei hoher oder geringer Ressourcenverfügbarkeit<br />
unterschiedlich viel Energie in das Körper- bzw. Hornwachstum<br />
investiert. Bei Nahrungsknappheit investieren junge Männchen zum Beispiel<br />
mehr in das Körperwachstum, um das kurzfristige Überleben zu garantieren,<br />
und nehmen dafür möglicherweise Einbußen im langfristigen<br />
Fortpflanzungserfolg in Kauf.<br />
Trade-offs existieren auch zwischen Life history und Verhaltensmerkmalen,<br />
bzw. Verhaltensweisen vermitteln die Trade-offs zwischen Life<br />
history-Merkmalen. Männliche Singvögel müssen zum Beispiel die Vorund<br />
Nachteile ihres Gesangs gegeneinander abwägen. Männchen, die jeden<br />
Tag viel Zeit mit Singen verbringen, locken damit im Durchschnitt zwar<br />
mehr Weibchen an und halten Rivalen effektiver aus ihrem Territorium<br />
fern, aber gleichzeitig verbleibt ihnen dadurch weniger Zeit für die<br />
Abb. 2.3. Männliche Dickhornschafe<br />
(Widder) unterscheiden<br />
sich in der Größe ihrer<br />
Hörner, da sie alters- und<br />
konditionsabhängig unterschiedlich<br />
viel Energie in<br />
deren Wachstum investieren.<br />
Die Hörner spielen eine wichtige<br />
Rolle bei den Kämpfen<br />
der Widder und können bis zu<br />
14 kg schwer werden
2.1 Diversität der Life histories und ihre Ursachen 43<br />
Box 2.1<br />
Trade-off zwischen Erhalt der Grundfunktionen und Investition in die<br />
Fortpflanzung<br />
• Frage: Hat die Häufigkeit des Singens bei Vögeln (hier Rotkehlchen,<br />
Erithacus rubecula) einen Einfluss auf die körperliche Verfassung?<br />
• Hintergrund: Zeit ist limitiert. Wenn es deswegen einen Trade-off zwischen<br />
Singen und Fressen gibt, sollte es einen negativen Zusammenhang<br />
zwischen der Zeit, die für Singen aufgewendet wird, und der Gewichtszunahme<br />
geben.<br />
• Methode: Vergleich der Beziehung zwischen diesen beiden Variablen<br />
aufgrund von Messungen des natürlichen Verhaltens in Kombination mit<br />
einem Playback-Experiment, bei dem durch das Abspielen von fremdem<br />
Gesang eine Erhöhung der Gesangsrate ausgelöst wurde.<br />
Gewichtsänderung (g/h)<br />
1.4<br />
1.2<br />
1.0<br />
.8<br />
.6<br />
.4<br />
.2<br />
-.0<br />
-.2<br />
-.4<br />
-.6<br />
0 10 20 30 40 50<br />
Gesangsrate (min/h)<br />
• Ergebnis: Gesangsrate und Gewichtszunahme männlicher Rotkehlchen<br />
sind negativ korreliert (•). Nach playbacks () erhöht sich die Gesangsrate<br />
und die Gewichtszunahme ist signifikant reduziert*.<br />
• Schlussfolgerung: Singen ist mit Kosten verbunden und unterliegt dem<br />
vorhergesagten Trade-off.<br />
Thomas et al. 2003<br />
* Gewichtsveränderung als Funktion der Gesangsrate vor und nach playback<br />
Nahrungsaufnahme. In diesem Fall kann man den Gesang als eine Investition<br />
in die Fortpflanzung interpretieren, die zu Lasten der Grundfunktionen<br />
geht. Männchen, die jeden Tag sehr lange singen, haben also möglicherweise<br />
einen kurzfristigen Vorteil (erhöhten Fortpflanzungserfolg), der sich<br />
langfristig aber in einen Nachteil (verringerte Überlebenswahrscheinlichkeit)<br />
verkehren kann (Box 2.1).
44 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
2.2 Evolution von Life histories<br />
Eine Grundannahme der Evolutionsbiologie besteht darin, dass die Life<br />
histories verschiedener Organismen durch Selektion so geformt wurden,<br />
dass für ihre jeweiligen Baupläne und Umweltbedingungen der Nettogewinn<br />
aus Vor- und Nachteilen der verschiedenen Ausprägungen ihrer Life<br />
history-Merkmale maximiert wird. Demnach werden die im Genotyp eines<br />
Individuums enthaltenen Informationen in einen Phänotyp mit einem bestimmten<br />
Bauplan umgesetzt (Abb. 2.4). Der Phänotyp muss sich in seiner<br />
Umwelt bewähren, wobei ökologische Faktoren einen Einfluss auf den individuellen<br />
Überlebens- und Fortpflanzungserfolg haben. Über den Mechanismus<br />
der Dichteabhängigkeit gibt es auch eine Rückkoppelung zwischen<br />
der Populationsstruktur und der Umwelt (z. B. Räuber- oder Ressour<br />
cendichte; Kap. 6.1). Unterschiedlicher Erfolg einzelner Individuen<br />
schlägt sich letztendlich in der Demographie der betreffenden Population<br />
nieder. Die unterschiedliche Fitness einzelner Phänotypen wird also von<br />
natürlicher Selektion bewertet, welche dadurch die Zusammensetzung des<br />
Genpools der nächsten Generation bestimmt. Interaktionen zwischen verschiedenen<br />
Bauplänen und der Vielfalt an Lebensräumen, in denen Organismen<br />
mit identischen Bauplänen leben, erklären daher einen Großteil der<br />
Diversität an Life history-Strategien.<br />
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Evolution von Life history-<br />
Merkmalen im Einzelfall mit Informationen aus vier Bereichen erklären<br />
(Abb. 2.5).<br />
Abb. 2.4. Schematische Darstellung wichtiger Aspekte bei der Evolution von Life<br />
history-Merkmalen. Der differentielle Erfolg von Phänotypen wird von natürlicher<br />
Selektion in der jeweiligen Umwelt bewertet, so dass eine Anpassung an lokale<br />
Bedingungen erfolgt (Ricklefs u. Wikelski 2002)
2.2 Evolution von Life histories 45<br />
Abb. 2.5. Die Diversität von Life history-Strategien kann durch die Betrachtung<br />
von vier Faktoren erklärt werden. Die meiste Variation findet sich dabei zwischen<br />
Arten und höheren Taxa<br />
1. Durch altersspezifische Krankheiten oder größenspezifische Prädation<br />
können zum Beispiel die Mortalitätsraten für eine bestimmte Klasse von<br />
Individuen erhöht werden. Da jetzt alle Individuen eine geringere Wahrscheinlichkeit<br />
haben, diese Alters- oder Größenklasse zu überleben,<br />
werden Individuen dieser Klassen einen geringeren Beitrag zu ihrer jeweiligen<br />
Gesamtfitness erbringen. Natürliche Selektion wird daher dazu<br />
führen, dass der Fortpflanzungsaufwand in früheren Alters- oder Größenklassen<br />
erhöht wird, da Individuen mit diesem Merkmal im Durchschnitt<br />
einen größeren Fortpflanzungserfolg aufweisen. Demographie<br />
reflektiert also die Stärke der natürlichen Selektion, indem sie altersund<br />
größenabhängige Variation in Überlebensraten sowie in der Fruchtbarkeit<br />
dokumentiert.<br />
2. Life history-Merkmale haben auch eine genetische Basis, so dass deren<br />
quantitative Genetik mitberücksichtigt werden muss. Von Bedeutung ist<br />
dabei vor allem die additive genetische Varianz, also derjenige Anteil<br />
der genetischen Variation eines Merkmals, der dessen Reaktion auf<br />
Selektion in messbarer Weise beeinflusst. Viele Life history-Merkmale<br />
weisen eine phänotypische Plastizität auf, die innerhalb einer bestimmten<br />
Reaktionsnorm ausgeprägt ist (Stearns 1989b). Derjenige Anteil der<br />
phänotypischen Variation, der durch additive genetische Variation beigesteuert<br />
wird, wird als Heritabilität bezeichnet. Die Heritabilität der<br />
meisten untersuchten Life history-Merkmale liegt zwischen 0,05 und<br />
0,4; wenn die Heritabilität 1,0 beträgt, hat ein Merkmal genau dieselbe<br />
Ausprägung wie bei den Eltern des betreffenden Individuums, wenn sie<br />
gleich 0 ist, kann das Merkmal nicht auf Selektion reagieren.<br />
3. Life history-Merkmale sind untereinander durch Trade-offs verbunden.<br />
Trade-offs haben eine genetische und eine physiologische Komponente.
46 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Die erste Komponente beschreibt die genetische Korrelation zwischen<br />
zwei Merkmalen, die positiv oder negativ – in Bezug auf die gemeinsame<br />
Änderung – sein können. Die physiologische Komponente beschreibt<br />
dagegen die tatsächlichen Kosten. Diese können je nach Umweltbedingungen,<br />
Entwicklungsgeschichte und individueller genetischer<br />
Ausstattung zwischen Individuen variieren (Zera u. Harshman 2001).<br />
Außerdem können physiologische Zwänge die Variationsmöglichkeiten<br />
von Life history-Merkmalen erheblich einschränken (Ricklefs u. Wikelski<br />
2002).<br />
4. Life history-Merkmale haben auch eine phylogenetische Geschichte,<br />
die eng mit dem Bauplan einer Art bzw. ihrer höheren taxonomischen<br />
Gruppe verknüpft sind. Diese phylogenetischen Faktoren wirken zumeist<br />
als Zwänge, indem sie die Reaktionsnormen der Merkmale scharf<br />
eingrenzen (Blomberg u. Garland 2002). Aufgrund der phylogenetischen<br />
Wurzel des Menschen im Stammbaum der Menschenaffen oder<br />
Altweltaffen können wir zum Beispiel nicht nach 4 Monaten Schwangerschaft<br />
einen Wurf von 10 kleinen, wenig entwickelten Nachkommen<br />
produzieren.<br />
Bei der Erklärung der Life history einer Art müssen diese Faktoren als<br />
wichtige Grundlagen berücksichtigt werden. Durch entsprechende Vergleiche<br />
oder Experimente kann die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren<br />
ermittelt werden. So kann man die relative Bedeutung von genetischen<br />
Faktoren dadurch bestimmen, dass man genetisch ähnliche oder<br />
nahezu identische Individuen unter verschiedenen Umweltbedingungen<br />
aufwachsen lässt. Die Bedeutung demographischer Faktoren kann durch<br />
experimentelle Manipulation der Populationsstruktur oder des Räuberdrucks<br />
untersucht werden, und durch Vergleiche von nahverwandten Arten<br />
kann man die Einschränkungen, die durch den Grundbauplan gegeben<br />
sind, identifizieren.<br />
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale<br />
Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden die wichtigsten Life<br />
history-Merkmale, also diejenigen mit der größten und direktesten Wirkung<br />
auf die Fitness, im Einzelnen besprechen. Dabei möchte ich insbesondere<br />
darauf eingehen, wie eng Variationen in diesen Merkmalen mit<br />
unterschiedlichen Verhaltensanpassungen verknüpft sind.
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 47<br />
2.3.1 Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung<br />
Die erste Fortpflanzung ist das prägnanteste Life history-Merkmal. Sie<br />
teilt das Leben in zwei Abschnitte: die Zeit des Wachstums und der Entwicklung<br />
bis zur ersten Fortpflanzung sowie die anschließende Phase der<br />
Reproduktion (Abb. 2.6). Das Alter bei der ersten Fortpflanzung hat daher<br />
einen besonders großen Einfluss auf den Gesamtfortpflanzungserfolg eines<br />
Individuums. Für jeden Organismus stellt sich daher, evolutionär gesprochen,<br />
die Frage, wie lange und bis zu welcher Größe er wachsen soll, bevor<br />
er mit der Fortpflanzung beginnt. Da sowohl eine relativ frühe, als<br />
auch eine relativ verzögerte erste Fortpflanzung mit jeweils entgegengesetzten<br />
Vor- und Nachteilen verbunden sind, ist die Frage nach dem optimalen<br />
Zeitpunkt der ersten Fortpflanzung nicht trivial.<br />
(1) Evolution der ersten Fortpflanzung. Der wichtigste Vorteil der frühen<br />
Fortpflanzung liegt in der verkürzten Generationsdauer. Durch einen<br />
relativ frühen Beginn der Fortpflanzung wird die Juvenilphase verkürzt,<br />
d. h. der Organismus verbringt weniger Zeit als kleines, von Räubern und<br />
Konkurrenten bedrohtes Individuum und hat damit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit,<br />
den Beginn der Fortpflanzung überhaupt zu erleben. Dieser<br />
Vorteil wird aber unter Umständen durch erhöhte Mortalitätsraten der<br />
kleineren Nachkommen aufgehoben. Die verzögerte Fortpflanzung hat<br />
ebenfalls eine Reihe von Vorteilen, die gleichzeitig Kosten der frühen<br />
Fortpflanzung darstellen. Erstens ist bei der Mehrzahl der Organismen die<br />
potentielle Fortpflanzungskapazität (Fekundität) positiv mit der Größe<br />
Abb. 2.6. Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung teilen einen Lebenszyklus<br />
in die Phasen des Wachstums und der Fortpflanzung. Frühe und verzögerte Geschlechtsreife<br />
haben gegenläufige Vor- und Nachteile, welche Generationsdauer,<br />
Fekundität, Überlebenswahrscheinlichkeit und Nachwuchsqualität beeinflussen
48 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
korreliert, d. h. große Weibchen können mehr und/oder größere Eier oder<br />
Junge produzieren. Die Größe als geschlechtsreifes Individuum ist aber<br />
zumeist direkt von der Dauer des Wachstums abhängig. Daraus folgt, dass<br />
Individuen mit verzögerter erster Fortpflanzung mit erhöhter Fekundität<br />
belohnt werden. Zweitens kann verzögerte Fortpflanzung mit einer erhöhten<br />
Qualität des Nachwuchs (d. h. weniger, aber größere Eier oder Junge)<br />
und intensiverer Brutpflege einhergehen ( Kap. 10.1), so dass die Mortalitätsrate<br />
der Jungen vergleichsweise geringer ist. Aufgrund der negativen<br />
Verknüpfungen zwischen den Vor- und Nachteilen früher bzw. verzögerter<br />
Fortpflanzung findet daher in vielen Fällen offensichtlich eine Anpassung<br />
an einen intermediären Wert statt.<br />
Im Vergleich zwischen Arten ist der Zeitpunkt der ersten Fortpflanzung<br />
eng mit der Körpergröße korreliert. Das ist zu erwarten, da man länger<br />
wachsen muss, um eine bestimmte Größe zu erreichen; ein Elefant braucht<br />
dafür absolut länger als eine Maus. Aber auch wenn Unterschiede in der<br />
Körpergröße statistisch kontrolliert werden (Abb. 1.7), ist das Alter der<br />
ersten Fortpflanzung negativ mit der Fekundität und positiv mit der Lebenserwartung<br />
korreliert (Abb. 2.7). Wer also später mit der Fortpflanzung<br />
beginnt, produziert weniger Nachkommen, lebt dafür aber länger. Das<br />
heißt, Unterschiede in der Körpergröße allein können Variabilität im Zeitpunkt<br />
der ersten Fortpflanzung nicht erklären. Unabhängig von der Größe<br />
gibt es also schnelle und langsame Lebenszyklen (Promislow u. Harvey<br />
1990).<br />
Abb. 2.7a–c. Korrelate und Konsequenzen unterschiedlicher Zeitpunkte der ersten<br />
Fortpflanzung. a Das Alter der ersten Fortpflanzung ist positiv mit der Körpergröße<br />
korreliert. b Das für Unterschiede in der Körpergröße korrigierte Alter der ersten<br />
Fortpflanzung ist negativ mit der Fekundität und c positiv mit der Lebensspanne<br />
korreliert
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 49<br />
Dieser Gradient der Lebenslaufgeschwindigkeiten findet sich sowohl<br />
zwischen als auch innerhalb höherer Taxa. Innerhalb der Säugetiere sind<br />
zum Beispiel Wale oder Primaten größer und haben absolut langsamere<br />
Lebenszyklen als Nager und Fledermäuse. Diese Ordnungen unterscheiden<br />
sich aber auch in ihrem Bauplan, ihrer Ökologie und ihrer evolutionären<br />
Geschichte, die zusammen phylogenetische Effekte zur jeweiligen Life<br />
history beitragen. Diese phylogenetischen Effekte sind unabhängig von<br />
Größeneffekten – Wale haben beispielsweise für ihre Größe relativ schnelle<br />
und Fledermäuse für ihre Größe relative langsame Life histories (Gaillard<br />
et al. 1997). Allerdings gibt es beim Vergleich innerhalb der Säugetiere<br />
einen zusätzlichen größenunabhängigen Effekt auf taxonspezifische<br />
Life histories, der die Anzahl und Größe der Jungen reflektiert (Bielby<br />
et al. 2007).<br />
Ein größenunabhängiges Spektrum von relativ schnellen zu relativ langsamen<br />
Life histories findet sich auch innerhalb der einzelnen Ordnungen.<br />
Im Vergleich zu allen anderen Säugetieren haben Primaten beispielsweise<br />
relativ langsame Life histories. Innerhalb der Primaten gibt es diesbezüglich<br />
aber auch eine interessante Variabilität (Abb. 2.8). So wird ein 60 g<br />
schweres Mausmaki-Weibchen (Microcebus murinus) mit ungefähr 10<br />
Monaten geschlechtsreif und produziert jedes Jahr mindestens einen Wurf<br />
von 2 bis 3 Jungen. Ein tausendmal schwereres Gorilla-Weibchen (Gorilla<br />
gorilla) beginnt dagegen erst mit 6 bis 8 Jahren mit der Fortpflanzung,<br />
Abb. 2.8. Mausmakis und Gorillas unterscheiden sich in der Geschwindigkeit ihrer<br />
Life histories, obwohl beides Primaten mit, im Vergleich zu anderen Säugetieren,<br />
langsamen Geschwindigkeiten ihrer Life histories sind
50 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
wobei die einzelnen Jungen im Abstand von mehreren Jahren geboren<br />
werden (Kappeler et al. 2003).<br />
Auch innerhalb von Arten gibt es Variabilität im Alter der ersten Fortpflanzung,<br />
welche oft entlang von Habitatgradienten orientiert ist, aber<br />
auch teilweise genetisch festgelegte Reaktionsnormen aufweist. In einem<br />
Experiment mit Wühlmäusen (Microtus agrestis) wurden diese Ursachen<br />
von Variation im Alter und der Größe beim Erreichen der Geschlechtsreife<br />
vergleichend untersucht (Ergon et al. 2001). Populationen, die nur wenige<br />
Kilometer getrennt leben, unterscheiden sich erheblich in diesen Merkmalen,<br />
wobei in diesem Fall Weibchen in wachsenden Populationen früher<br />
mit der Fortpflanzung begannen als Weibchen in schrumpfenden Populationen.<br />
Ob diese Unterschiede durch Umwelt- oder intrinsische Faktoren,<br />
also eher als Reaktion auf Interaktionen mit lokaler Nahrung, Räubern und<br />
Pathogenen oder eher durch physiologische, genetische oder demographische<br />
Variablen verursacht werden, wurde in einem Translokations-Experiment<br />
untersucht. Die umgesetzten Wühlmäuse behielten dabei nicht die<br />
Merkmale ihrer Ausgangspopulation bei, sondern passten sich an die offenbar<br />
so kleinräumig unterschiedlichen Umweltbedingungen an. Die Größe<br />
und das Alter bei der ersten Fortpflanzung können daher wie in diesem<br />
Fall innerhalb der durch Größe und Phylogenie vorgegebenen Grenzen<br />
rasch durch natürliche Selektion an lokale Bedingungen angepasst werden.<br />
Mäuse und andere Nagetiere liefern auch in anderer Hinsicht gute Beispiele<br />
für phänotypische Plastizität in der ersten Fortpflanzung. Früh im<br />
Jahr geborene Kohorten der Ährenmaus (Mus spicilegus) werden noch im<br />
Jahr der Geburt geschlechtsreif, wohingegen später geborene erst im darauf<br />
folgenden Frühjahr mit der Fortpflanzung beginnen (Gouat et al.<br />
2003).<br />
(2) Erste Fortpflanzung und Verhalten. Eine wichtige funktionale Verbindung<br />
zwischen diesem Life history-Merkmal und Aspekten des Verhaltens<br />
wird bei der Betrachtung geschlechtsspezifischer Fortpflanzungsstrategien<br />
deutlich. Bei Arten mit polgynen Paarungssystemen, bei denen<br />
Männchen untereinander direkt um den Zugang zu rezeptiven Weibchen<br />
kämpfen, sind Merkmale wie Größe, Stärke und Erfahrung wichtige Determinanten<br />
des männlichen Fortpflanzungserfolgs ( Kap. 8.2). Bei diesen<br />
Arten ist es für Männchen vorteilhaft, die erste Fortpflanzung so lange<br />
zu verzögern, bis sie ernsthaft konkurrieren können, so dass ein sexueller<br />
Bimaturismus entsteht, die Geschlechter sich also im durchschnittlichen<br />
Alter der ersten Fortpflanzung und, aufgrund des längeren Wachstums, oft<br />
auch in der Körpergröße unterscheiden (Badyaev 2002). Umgekehrt findet<br />
man in Arten, in denen Männchen aufgrund unterschiedlicher Faktoren
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 51<br />
Abb. 2.9. Sexueller Bimaturismus und Paarungssysteme. Bei Arten mit verzögerter<br />
männlicher Geschlechtsreife (blau) kommt es zu Polygynie. Promiskuität findet<br />
sich bei Arten, bei denen die Weibchen später geschlechtsreif werden (rot).<br />
Jeder Datenpunkt repräsentiert die entsprechenden Durchschnittswerte fiktiver Arten;<br />
die Gerade beschreibt den Fall, bei dem das Alter der 1. Fortpflanzung beider<br />
Geschlechter identisch ist<br />
den Zugang zu mehreren Weibchen nicht monopolisieren können (z. B.<br />
wegen externer Fertilisation, Paarbildung), dass Männchen früher geschlechtsreif<br />
werden oder die Geschlechter sich in dieser Hinsicht nicht<br />
unterscheiden (Abb. 2.9).<br />
Das Alter bei der ersten Fortpflanzung hängt eng mit der jeweiligen<br />
Wachstums- und Entwicklungsgeschwindigkeit zusammen. Da unterschiedliche<br />
Entwicklungsmuster unterschiedliche Energiezufuhr verlangen,<br />
muss sich das Nahrungsverhalten an dieses Life history-Merkmal anpassen.<br />
Rasch wachsende Individuen mit einem entsprechenden geringen<br />
Alter bei der ersten Fortpflanzung müssen dementsprechend mehr Risiken<br />
in Kauf nehmen, um ihren erhöhten Energiebedarf zu decken. Die sich da<br />
raus ergebende Vorhersage, dass diese Individuen höhere Aktivität und Risikobereitschaft<br />
zeigen, konnte unter anderem experimentell bei Forellen<br />
gezeigt werden (Box 2.2).
52 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Box 2.2<br />
Alter bei der ersten Fortpflanzung und Verhalten<br />
• Frage: Haben Tiere (hier Regenbogenforellen, Oncorhynchus mykiss) mit<br />
höheren Wachstumsraten ein höheres Mortalitätsrisiko?<br />
• Hintergrund: Bei Nutztieren wird oft auf rasches Wachstum und frühe<br />
Fortpflanzungsfähigkeit selektiert. Aufgrund des damit verbundenen erhöhten<br />
Nahrungsbedarfs sollte die Risikobereitschaft bei der Nahrungssuche<br />
und damit letztendlich die Sterbewahrscheinlichkeit erhöht sein.<br />
• Methode: Auf hohe Wachstumsraten gezüchtete Regenbogenforellen<br />
wurden zusammen mit Wildtypen in Seen ausgesetzt und regelmäßig beobachtet<br />
und gefangen. Die Präsenz von Eistauchern (Gavia immer) definierte<br />
Seen mit erhöhtem Prädationsrisiko.<br />
• Ergebnis: In Seen mit Räubern wurden tagsüber hauptsächlich gezüchtete<br />
Tiere gefangen*.<br />
• Schlussfolgerung: Individuen mit höherem Energiebedarf sind wesentlich<br />
risikofreudiger und aktiver, auch in der Präsenz von Räubern. Unter natürlichen<br />
Bedingungen gibt es durch Prädation vermittelte Selektion gegen<br />
hohe Entwicklungsraten.<br />
Biro et al. 2004<br />
* Anteil gezüchteter Forellen am Tag und am Abend, ohne (links) und mit Prädatoren (rechts)<br />
2.3.2 Anzahl und Größe der Nachkommen<br />
Manche marine Invertebraten und große Fische legen mehrere Millionen<br />
Eier auf einmal. Viele Säugetiere und manche Vögel haben dagegen immer<br />
nur ein Junges pro Fortpflanzungsereignis. Beim Blauwal hat das einzelne<br />
Neugeborene die Größe eines ausgewachsenen Elefanten, wohingegen<br />
die vielen Eier einer Muschel oder eines Störs winzig sind. Auf<br />
dieser Betrachtungsebene sind Anzahl und Größe der Nachkommen also
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 53<br />
negativ miteinander korreliert (Smith u. Fretwell 1974). Wie kommt es zu<br />
diesem Zusammenhang?<br />
(1) Evolution des Fortpflanzungsaufwandes. Die für ein bestimmtes Individuum<br />
optimale Wurf- oder Gelegegröße wird von mehreren ultimaten<br />
und proximaten Faktoren bestimmt. Bei den ultimaten Faktoren handelt es<br />
sich um durch natürliche Selektion geformte Anpassungen, die vom jeweiligen<br />
Bauplan abhängige Trade-offs sowie genetische, ökologische und<br />
demographische Rahmenbedingungen reflektieren. Die auffälligsten Unterschiede<br />
in der Größe und Anzahl der Nachkommen finden sich zwischen<br />
Arten und höheren Taxa. Auf dieser Ebene ist zum Beispiel genetisch<br />
festgelegt, ob und in welchem Ausmaß Energie für die Fortpflanzung<br />
gespeichert werden kann, ob das Wachstum zeitlich begrenzt oder unbegrenzt<br />
ist, ob die Fortpflanzung einmalig (Semelparie) oder mehrfach<br />
(Iteroparie) erfolgt, in welchem Entwicklungsstadium die Jungen geboren<br />
werden (z. B. Ovoparie oder Viviparie) und wie viele weitere Stadien<br />
sie gegebenenfalls bis zum Erreichen der Geschlechtsreife durchlaufen<br />
müssen.<br />
Innerhalb dieser Grenzen gibt es Reaktionsnormen, innerhalb derer proximate<br />
Faktoren Variabilität in der Anzahl und Größe der Jungen bestimmen<br />
können. Die bekannteste Ausprägung einer solchen Reaktionsnorm<br />
stellt geografische Variation entlang der Längengrade dar. Zwischen<br />
Äquator und den Polen ändern sich Klima und Lebensbedingungen systematisch<br />
und viele Tiere mit entsprechender Verbreitung haben ihre Fortpflanzung<br />
an die lokalen Bedingungen angepasst; die Gelegegröße vieler<br />
Vogelarten nimmt zum Beispiel mit zunehmender Entfernung vom Äquator<br />
zu (Griebeler u. Böhning-Gaese 2004). Allerdings kann es, wie zum<br />
Beispiel bei Kohlmeisen (Parus major), auch zwischen benachbarten Subpopulationen<br />
genetisch bedingte Unterschiede in der durchschnittlichen<br />
Gelegegröße geben (Postma u. van Noordwijk 2005).<br />
Innerhalb lokaler Populationen können zusätzliche proximate Faktoren<br />
Investitionen in die Fortpflanzung beeinflussen. Dazu zählen die Dichte<br />
der eigenen oder der jeweiligen Räuber- oder Beutepopulationen, aktuelle<br />
oder zukünftige Nahrungsverfügbarkeit und, bei vielen Wirbellosen und<br />
Kaltblütern, die aktuelle Umgebungstemperatur. Schließlich wird Fruchtbarkeit<br />
auch noch von Größe, Alter, individuellen genetischen Prädispositionen<br />
und aktueller Kondition (Parasitenbefall, Gesundheitsstatus, Effekte<br />
der vorangegangenen Fortpflanzung) der Mutter bestimmt. Durch die<br />
gleichzeitige Berücksichtigung aller ultimaten und proximaten Faktoren<br />
lässt sich prinzipiell erklären, warum ein Weibchen wie viele und wie große<br />
Nachkommen produziert.
54 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Abb. 2.10. Abweichungen zwischen der maximalen und beobachteten Gelegegröße<br />
können durch Berücksichtigung der Kosten der Fortpflanzung über das gesamte<br />
Leben erklärt werden. Die negativen Effekte experimenteller Gelegevergrößerung<br />
auf die Fitness der Eltern zeigen, dass Fortpflanzung mit Kosten<br />
verbunden ist. Die beobachtete Gelegegröße weicht von der theoretisch optimalen<br />
Zahl an Eiern ab, da Selektion die Gelegegröße über das gesamte Leben, und nicht<br />
nur über eine Saison, anpasst<br />
Zwei theoretische Erklärungsansätze für die beobachtete Diversität und<br />
Variabilität in der Anzahl und Größe der Nachkommen werden derzeit<br />
verfolgt (Stearns 1992). Der erste Ansatz versucht das „Allgemeine Life<br />
history-Problem“ zu lösen. Dieses Problem besteht darin, den optimalen<br />
reproduktiven Aufwand über die komplette Lebensspanne zu bestimmen.<br />
Dabei wird nicht nur die optimale Gelegegröße, die per Definition pro<br />
Fortpflanzungsereignis im Durchschnitt die meisten überlebenden und<br />
rekrutierten Jungen ergibt, betrachtet, sondern zum Beispiel auch, welche<br />
nachhaltigen Effekte sich daraus für die Überlebenswahrscheinlichkeit der<br />
Mutter (oder ggf. beider Eltern) und deren Fortpflanzungsaufwand bei nachfolgenden<br />
Fortpflanzungsereignissen ergeben. Den Kern dieses Problems<br />
stellt also letztendlich der Trade-off zwischen aktueller und zukünftiger<br />
Fortpflanzung dar (Abb. 2.10). Die Existenz dieses Trade-offs erschließt<br />
sich aus der Feststellung, dass beobachtete Wurf- oder Gelegegrößen oft<br />
unter der maximal möglichen liegen.<br />
Die Faktoren, die den Gesamtfortpflanzungserfolg über die gesamte Lebensspanne<br />
bestimmen, können aus der Analyse der maximal produktiven
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 55<br />
Gelegegröße, die nach dem englischen Ornithologen David Lack auch als<br />
Lack-clutch bezeichnet wird (Lack 1947), identifiziert werden. Bei Vögeln<br />
lässt sich die Gelegegröße leicht experimentell manipulieren. In den<br />
meisten derartigen Experimenten fand man, dass die häufigste natürliche<br />
Gelegegröße unter derjenigen experimentell vergrößerten Gelegegröße<br />
liegt, bei der die meisten überlebenden Jungen entstehen. Warum produziert<br />
ein Vogelpaar pro Fortpflanzungsereignis also weniger Junge als eigentlich<br />
möglich wären?<br />
Ein naheliegendes Experiment zur Beantwortung dieser Frage besteht<br />
darin, die Gelegegröße durch den Austausch von Eiern zu manipulieren,<br />
und den Effekt auf das Verhalten der Eltern, die zukünftige Fortpflanzungsinvestition<br />
der Eltern, sowie die Überlebenschancen der Eltern und<br />
der Jungen zu dokumentieren. Der zusätzliche elterliche Aufwand für die<br />
Versorgung eines größeren Geleges schlägt sich offenbar an anderer Stelle<br />
als fitnessreduzierend nieder. So kann zum Beispiel bei Blaumeisen (Cyanistes<br />
caeruleus) im Vergleich zu Kontrollpaaren bei Eltern mit experimentell<br />
erhöhter Gelegegröße die Zeit bis zum nächsten Gelege verlängert,<br />
die Größe des nächsten Geleges oder die Überlebenswahrscheinlichkeit der<br />
Jungen im nächsten Gelege reduziert oder das Mortalitätsrisiko der Eltern<br />
erhöht sein (Nur 1984a, b; Abb. 2.11). Offenbar hat die natürliche Selektion<br />
eine Lösung gefunden, die diese Trade-offs berücksichtigt und den<br />
Fortpflanzungserfolg über die gesamte Lebensspanne optimiert. Bei der<br />
Kolonisation von neuen Lebensräumen wird die Gelegegröße dynamisch<br />
angepasst, so dass sich durchaus Selektion für eine andere Gelegegröße<br />
nachweisen lässt (Tinbergen u. Sanz 2004).<br />
Die Manipulation von Eiern oder geschlüpften Jungen berücksichtigt<br />
aber die Investition in die Eiproduktion und das Brüten nicht. Wenn man<br />
Kohlmeisen-Weibchen (Parus major) durch die Entnahme von Eiern zum<br />
Legen zusätzlicher Eier bewegt, sie zusätzliche, fremde Eier ausbrüten<br />
lässt oder ihnen zusätzliche Jungvögel ins Nest legt, lassen sich diese Investitionen<br />
ebenfalls quantifizieren (Visser u. Lessels 2001). Mit zunehmender<br />
zusätzlicher Investition nimmt die Überlebensrate der betreffenden<br />
Weibchen ab, d. h. jede zusätzliche Investition in die aktuelle Fortpflanzung<br />
reduziert die Fähigkeit, in zukünftige Fortpflanzung zu investieren.<br />
Dass selbst die Eigröße einen zusätzlichen Effekt hat, wurde ebenfalls experimentell<br />
gezeigt. Wenn man nämlich Zebrafinken-Weibchen (Taeniopygia<br />
guttata) während der Eiproduktion mit einem Östrogen-Blocker behandelt,<br />
kann man dadurch die Größe der Eier um bis zu 8% verringern<br />
(Williams 2001). Die betroffenen Weibchen kompensieren diese Reduktion<br />
mit einer Erhöhung der Gelegegröße; im Durchschnitt legen sie zwei<br />
zusätzliche Eier. Das heißt, zwischen Eigröße und Anzahl besteht tatsächlich<br />
ein negativer Trade-off.
56 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Abb. 2.11. Blaumeisen legen relativ viele Eier pro Gelege (hier 9). An der raschen<br />
Entwicklung der Jungen wird das enorme Investment der Eltern deutlich. Die optimale<br />
Gelegegröße unterliegt daher genauer Bewertung durch natürliche Selektion<br />
Insgesamt gibt es also zahlreiche Hinweise aus Beobachtungen natürlicher<br />
Variation, aber vor allem auch aus gezielten Experimenten, die gezeigt<br />
haben, dass das Konzept des allgemeinen Life history-Problems viele<br />
Anpassungen in Life history-Merkmalen erklären und voraussagen kann.<br />
Der zweite, alternative Erklärungsansatz betrachtet die Gelegegröße als<br />
Resultat eines evolutionären, genetischen Konflikts zwischen Eltern und<br />
Nachkommen ( Kap. 10.3). Er geht davon aus, dass Eltern ein bestimmtes<br />
Maß an elterlichem Investment, das sich unter anderem in einer bestimmten<br />
Gelegegröße ausdrückt, bevorzugen, wohingegen Nachkommen<br />
ein anderes, generell größeres Maß an elterlicher Investition bevorzugen.<br />
Nachkommen sollten demnach aus ihrer egoistischen Sicht versuchen,<br />
das ihnen zuteil werdende elterliche Investment zu maximieren, was immer<br />
mit einer Reduktion der Gelegegröße, im Extremfall auf 1, verbunden<br />
ist. Einzelne Junge wären keiner Konkurrenz mit Geschwistern ausgesetzt
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 57<br />
und hätten das gesamte elterliche Investment für sich allein. Eltern können<br />
aber in den meisten Fällen mehr als ein Junges gleichzeitig aufziehen und<br />
haben mit größeren Wurf- oder Gelegegrößen einen höheren Fortpflanzungserfolg.<br />
Theoretische Analysen haben gezeigt, dass ein solcher Konflikt<br />
zwischen Eltern und Nachkommen tatsächlich existieren kann (Godfray<br />
1995), aber wer ihn gewinnt, ist von zusätzlichen Faktoren wie zum<br />
Beispiel dem durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad zwischen den Jungen<br />
abhängig und generell noch nicht gut verstanden (Mock u. Parker<br />
1998).<br />
Aufgrund des Trade-offs zwischen der Größe und Anzahl der Eier ist ein<br />
Konflikt zwischen Mutter und Nachwuchs auch über die Größe der Eier zu<br />
erwarten. Bei atlantischen Lachsen (Salmo salmar) wurde diese Frage experimentell<br />
untersucht (Einum u. Fleming 2000). Große und kleine Eier<br />
von acht Weibchen wurden von einem Männchen befruchtet und die sich<br />
daraus entwickelnden Jungfische verglichen. Aus kleinen Eiern schlüpften<br />
früher kleinere Fische, und dieser Größenunterschied war auch noch nach<br />
mehr als 100 Tagen nachweisbar. Außerdem hatten Lachse, die sich aus<br />
kleineren Eiern entwickelten, höhere Mortalitätsraten. Die Größe eines Eies<br />
hat also direkte Konsequenzen für die Fitness des sich daraus entwickelnden<br />
Nachkommen. Mütter produzieren also auch kleine Eier, obwohl<br />
dies den egoistischen Interessen der Nachkommen widerspricht.<br />
(2) Fortpflanzungsaufwand und Verhalten. Die Anzahl und Größe<br />
der Nachkommen, die ein Organismus produziert, hat vielfältige und weitreichende<br />
Konsequenzen für das Verhalten von Eltern und Jungen<br />
( Kap. 10.3). Zunächst ist das Ausmaß elterlicher Brutpflege grundsätzlich<br />
negativ mit der Anzahl der Nachkommen korreliert. Die Tausende<br />
oder sogar Millionen von Eiern, die von manchen Tieren freigesetzt werden,<br />
erfahren meist keinerlei weitere elterliche Fürsorge, wohingegen am<br />
anderen Ende des Spektrums die einzelnen Jungen großer Säugetiere über<br />
Jahre gestillt und versorgt werden. Vergleichbare Konsequenzen finden<br />
sich auch bei Fischen, Amphibien und Reptilien entlang des Gradienten<br />
von Ovoparie zur Viviparie, d. h. verschiedenen Entwicklungsstadien bei<br />
der Geburt (z. B. Shine 2003). Noch bekannter sind die entsprechenden<br />
Unterschiede zwischen Nesthockern und Nestflüchtern bei Vögeln und<br />
Säugern (Derrickson 1992). Nesthocker sind bei der Geburt nackt, blind<br />
und können noch keine Thermoregulation betreiben, wohingegen Nestflüchter<br />
vom ersten Tag an selbständig laufen oder fliegen und sich zum<br />
Teil schon selbständig warm halten und sogar ernähren können (Abb. 2.12).<br />
Da Nesthocker und Nestflüchter unterschiedliche Anforderungen an elterliche<br />
Fürsorge haben, ergeben sich aus diesem Life history-Merkmal letztendlich<br />
weitreichende Konsequenzen für geschlechtsspezifische Fortpflan-
58 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Abb. 2.12. Neugeborene Ratten (links) und Meerschweinchen repräsentieren innerhalb<br />
der Nagetiere Beispiele für Nesthocker und Nestflüchter<br />
zungsstrategien ( Kap. 7.3) und Paarungssysteme ( Kap. 11.2; Temrin<br />
u. Tullberg 1995).<br />
Unterschiede in der Größe der Nachkommen können ebenfalls Konsequenzen<br />
für deren späteres Verhalten haben. Bei Eidechsen konnte zum<br />
Beispiel durch experimentelle Reduktion der Eigröße eine reduzierte<br />
Fluchtgeschwindigkeit bei den sich daraus entwickelnden Erwachsenen<br />
induziert werden (Sinervo et al. 1992).<br />
Der Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen liefert schließlich<br />
auch ein weites Feld für zahlreiche interessante Verhaltensphänomene<br />
( Kap. 10.3). So liefert er ein theoretisches Gerüst zur Untersuchung von<br />
ansonsten schwer zu erklärenden Phänomenen wie Geschwistertötung oder<br />
die Überproduktion von Zygoten (Legge 2000). Ein weiterer, direkter<br />
Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen besteht unter akutem Prädationsrisiko.<br />
Sollten Eltern in diesem Fall versuchen, auf Kosten ihrer Jungen<br />
zu überleben, so dass sie weiterhin die Gelegenheit zur Fortpflanzung<br />
haben, oder sollten sie sich opfern, um ihre Jungen in einer solchen Situation<br />
zu retten? Zu dieser Frage macht die Theorie der Life history-<br />
Evolution klare Vorhersagen unter Berücksichtigung der altersspezifischen<br />
Überlebensraten sowie der Wurfgröße. So sollten Arten mit geringer Gelegegröße<br />
und hohen Überlebensraten von adulten Eltern gegebenenfalls<br />
ein erhöhtes Mortalitätsrisiko ihrer Jungen in Kauf nehmen, da deren Fortpflanzungswert<br />
geringer ist. Der Fortpflanzungswert bezeichnet dabei den<br />
altersabhängigen Beitrag von Individuen zur nächsten Generation. In dieser<br />
Hinsicht gibt es systematische Unterschiede zwischen Vögeln der nördlichen<br />
und südlichen Hemisphäre, die in entsprechenden Prädationsexperimenten<br />
gemäß dieser Vorhersagen reagierten (Ghalambor u. Martin
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 59<br />
2001). Unterschiede im Fortpflanzungsaufwand sind also auf vielfältiger<br />
Weise und unterschiedlichen Ebenen mit dem Verhalten der Eltern und<br />
Jungen verbunden.<br />
2.3.3 Fortpflanzungsstrategien und Lebensdauer<br />
Wenn das Alter der ersten Fortpflanzung erreicht ist, könnten sich Organismen<br />
theoretisch unendlich lange fortpflanzen. Jedoch sind bekanntlich<br />
alle Tiere mit differenziertem Soma und Gameten sterblich, wobei die<br />
Dauer der Lebensspanne von ein paar Tagen bis über 200 Jahre (manche<br />
Muscheln) reicht. Nur Organismen, bei denen die Keimbahn nicht vom<br />
Soma getrennt ist (Prokaryoten, viele Protozooen und Arten mit ungeschlechtlicher<br />
Teilung), altern nicht und sind potentiell unsterblich. Außerdem<br />
pflanzen sich Individuen mancher Arten nur ein einziges Mal im Leben<br />
fort, auch wenn sie viele Jahre alt werden (z. B. Lachse, Zikaden),<br />
wohingegen andere regelmäßig, manchmal über Jahrzehnte, Nachkommen<br />
produzieren. Was sind die evolutionären Ursachen dieser Variabilität, und<br />
welche Konsequenzen haben diese Unterschiede in Lebensdauer und Fortpflanzungsstrategien<br />
für das Verhalten?<br />
(1) Evolution von Fortpflanzungsstrategien. Lebensdauer und Fortpflanzung<br />
sind in gewisser Weise eng miteinander verbunden (Abb. 2.13).<br />
Organismen mit sehr kurzen Lebensspannen pflanzen sich in der Regel nur<br />
einmal fort; sie werden als Annuelle bezeichnet. Andere Organismen leben<br />
lange genug, um sich mehrfach zu reproduzieren (Iteroparie). Wieder andere<br />
Tiere haben allerdings für ihre Körpergröße eine relativ lange Lebensspanne<br />
von 3 bis 6 (Lachse: Oncorhynchus spp.) oder sogar 17 Jahren<br />
Abb. 2.13. Beziehung zwischen Lebensdauer und Fortpflanzungsstrategien. Iteroparie<br />
kommt bei langlebigen Organismen sehr viel häufiger vor als bei kurzlebigen
60 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
(manche Zykaden: Magicicada spp.) und pflanzen sich trotzdem nur einmal<br />
fort, obwohl sie lange genug für mehrere Paarungszeiten leben, und<br />
sterben danach. Dieser einmalige extreme Fortpflanzungsaufwand mit Todesfolge<br />
(Semelparie) weist also den größten theoretischen Erklärungsbedarf<br />
auf.<br />
Die Fortpflanzungsaktivität eines Individuums wird durch den Tod beendet,<br />
welcher zwei Ursachen haben kann. Zum einen wird Mortalität<br />
Box 2.3<br />
Die Kosten der Fortpflanzung<br />
• Frage: Haben Individuen mit erhöhter Fekundität eine reduzierte Lebenserwartung?<br />
• Hintergrund: Dieser Trade-off repräsentiert einen der grundlegendsten<br />
Trade-offs und spielt eine wichtige Rolle bei evolutionären Erklärungen<br />
des Alterns.<br />
• Methode: In einer Gefangenschaftspopulation von Ansells Graumullen<br />
(Cryptomys anselli), bei denen die Fortpflanzung von einem Paar monopolisiert<br />
wird, wurde die Lebenserwartung von züchtenden und nichtzüchtenden<br />
Männchen und Weibchen verglichen.<br />
Anteil überlebender Individuen<br />
1.0<br />
0.8<br />
0.6<br />
0.4<br />
0.2<br />
0<br />
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22<br />
Alter (Jahre)<br />
züchtende Weibchen ( n = 24)<br />
züchtende Männchen ( n = 21)<br />
nicht-züchtende Weibchen ( n = 22)<br />
nicht-züchtende Männchen ( n = 28)<br />
• Ergebnis: Reproduktiv aktive Männchen und Weibchen leben ungefähr<br />
doppelt so lange wie sich nicht reproduzierenden Tiere*.<br />
• Schlussfolgerung: Entgegen der theoretischen Vorhersagen führt hier<br />
Reproduktion zu einer Verlängerung der Lebensspanne. Dieser Effekt war<br />
bislang nur von Hymenopteren-Königinnen bekannt. Die Gründe für die<br />
Abweichungen sind in beiden Fällen unklar.<br />
Dammann u. Burda 2006<br />
* Anteil überlebender Individuen als Funktion von Alter, Geschlecht und Reproduktionsstatus
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 61<br />
durch extrinsische Faktoren verursacht, die ihren Ursprung in der Umwelt<br />
haben, also z. B. Prädation, Krankheit und extreme klimatische Bedingungen.<br />
Diese Faktoren werden nicht direkt durch Fortpflanzungsentscheidungen<br />
des Individuums beeinflusst. Zum anderen gibt es davon unabhängig<br />
intrinsische Ursachen von Mortalität, die durch den Zerfall und Verschleiß<br />
körpereigener physiologischer und biochemischer Systeme verursacht<br />
wird, wobei Zellschädigungen durch freie Radikale eine wichtige Ursache<br />
darstellen. Das intrinsische Mortalitätsrisiko ist daher auch vom bereits betriebenen<br />
Fortpflanzungsaufwand abhängig (Reznick 1985). So altern beispielsweise<br />
Rothirschkühe (Cervus elaphus), die in jungen Jahren mehr<br />
Kälber hatten, schneller als andere Individuen mit geringeren Fortpflanzungsraten<br />
(Nussey et al. 2006). Allerdings gibt es auch bislang unerklärte<br />
Ausnahmen von diesem generellen Zusammenhang (Box 2.3).<br />
Extrinsische und intrinsische Mortalität sind auch direkt aneinander gekoppelt.<br />
Wenn nämlich extrinsische Mortalitätsraten zunehmen, wird dadurch<br />
die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Alter zu erreichen, verringert.<br />
Damit wird der reproduktive Aufwand früher im Leben verstärkt und<br />
so die intrinsische Mortalitätsrate erhöht. Diese Zusammenhänge konnten<br />
in Experimenten mit Drosophila bestätigt werden (Stearns et al. 2000).<br />
Die tatsächliche Lebensdauer ergibt sich letztendlich aus der Balance<br />
zwischen extrinsischen Faktoren einerseits, die den relativen Wert der Lebensspanne<br />
für die individuelle Fitness in Abhängigkeit von altersspezifischer<br />
Mortalität bestimmen, sowie intrinsischen Trade-offs zwischen<br />
Überleben und Fekundität andererseits (Abb. 2.14). Altersspezifische Mortalität<br />
ist entscheidend dafür, wann und wie lange sich ein Organismus<br />
fortpflanzt. Wenn Adulte ein geringes extrinsisches Mortalitätsrisiko haben,<br />
wirkt natürliche Selektion dahin, die Dauer der reproduktiven Lebens-<br />
Abb. 2.14. Die Balance von extrinsischen und intrisischen Mortalitätsfaktoren bestimmt<br />
die optimale Lebensspanne. M = Mortalität; ad = adult; juv = juvenil
62 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
spanne zu verlängern, und umgekehrt. Unterschiedliche extrinsische Mortalität<br />
der Juvenilen kann ebenso die reproduktive Lebensspanne beeinflussen.<br />
Wenn es eine hohe Mortalitätsrate unter Juvenilen gibt, wird natürliche<br />
Selektion ebenfalls eine Verlängerung der Lebensspanne der<br />
Überlebenden fördern. Diese an die altersabhängige Mortalitätsrate gekoppelten<br />
Prozesse wirken also dahin, die Anzahl der Fortpflanzungsereignisse<br />
über die gesamte Lebensspanne zu maximieren. Die Bedeutung der<br />
extrinsischen Mortalität für die Lebensspanne wurde durch einen Vergleich<br />
zwischen eusozialen und solitären Insekten nachgewiesen: Königinnen<br />
von Termiten, Bienen und Ameisen, die sich in gut geschützten Nestern<br />
befinden, leben 100-mal länger als solitäre Insekten, wobei sie auch<br />
eine extrem hohe Fekundität an den Tag legen (Keller u. Genoud 1997).<br />
Eine entgegengesetzte Kraft, die sich aus der Zunahme der intrinsischen<br />
Mortalitätsursachen mit zunehmendem Alter ergibt, wirkt auf eine Verkürzung<br />
der Lebensspanne hin. Die Zunahme intrinsischer Mortalität ergibt<br />
sich dabei aus der Verknüpfung von Merkmalen, die früh und spät im Leben<br />
ausgeprägt werden. Eine wichtige Komponente sind dabei die (physiologischen)<br />
Kosten der Fortpflanzung; Fortpflanzung früh im Leben kann<br />
unter Umständen die spätere Überlebenswahrscheinlichkeit verringern. Einen<br />
ähnlichen Effekt haben antagonistische Pleiotropien von bestimmten<br />
Genen, die Life history-Merkmalen zugrunde liegen. Dabei handelt es sich<br />
um Gene, die zwei oder mehr Merkmale in entgegengesetzter Weise beeinflussen;<br />
speziell solche, die den Fortpflanzungserfolg früh im Leben auf<br />
Kosten des Überlebens später im Leben erhöhen. Zudem können sich<br />
schädliche Mutationen, die erst spät im Leben aktiviert werden, leichter<br />
anhäufen (Abb. 2.15). Mit diesen Mechanismen können auch relativ geringe<br />
Unterschiede im Beginn der einsetzenden Seneszenz erklärt werden,<br />
bei Lachsen (Oncorhynchus nerka) sogar zwischen Weibchen einer Art<br />
(Hendry et al. 2004).<br />
Das Altern beginnt mit der Fortpflanzung als Nebenprodukt schleichender<br />
Erosion physiologischer Funktionen und genetischer Nachteile,<br />
die erst spät im Leben wirksam werden; Altern an sich ist also keine Anpassung<br />
(Kirkwood u. Austad 2000). Die Lebensdauer stellt daher letztendlich<br />
ein intermediäres Optimum dar, das durch die Interaktion zwischen<br />
Selektion auf den relativen Fortpflanzungswert von Adulten sowie den<br />
Konsequenzen des intrinsischen Trade-offs zwischen Überleben und Fortpflanzung<br />
bestimmt wird. Die Effekte des Alterns sind dabei nicht nur auf<br />
langlebige Organismen beschränkt. Auch bei Insekten mit einer mittleren<br />
Lebensdauer von sechs Tagen lassen sich nachteilige Effekte des Alters<br />
auf Überlebens- und Fortpflanzungsraten feststellen (Bonduriansky u.<br />
Brassil 2002).
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 63<br />
Abb. 2.15a–c. Evolutionäre Theorien des Alterns. a Extrinsische Mortalität unter<br />
natürlichen Bedingungen (rot) ist altersabhängig und viel höher (geringere Überlebensraten)<br />
als in optimalen Gefangenschaftsbedingungen (blau); es gibt also<br />
keine Gene für das Altern. b Ein Selektionsschatten (orange) im Alter erlaubt die<br />
Anhäufung von Mutationen, die spät im Leben schädlich sind, da nur wenige Individuen<br />
von dieser Selektion betroffen sind. c Gene, die früh im Leben vorteilhaft<br />
sind, setzen sich durch, auch wenn sie spät im Leben nachteilige pleiotrope Effekte<br />
haben (nach Kirkwood u. Austad 2000)<br />
Die generellen Zusammenhänge zwischen Mortalitätsraten und dem optimalen<br />
Fortpflanzungsaufwand wurden in einem Freiland-Experiment mit<br />
Guppies (Poecilia reticulata) in Trinidad innerhalb einer Art elegant bewiesen<br />
(Reznick et al. 1990). Eine wilde Population war durch einen Wasserfall<br />
getrennt (Abb. 2.16). Eine Teil-Population lebte mit einem Räuber<br />
(Buntbarsch, Crenicichla alta), der große, geschlechtsreife Guppies bevorzugt,<br />
die andere mit einem Räuber (Riesenbachling, Rivulus hartii), der<br />
vorwiegend kleine, juvenile Guppies frisst. In der Teil-Population mit der<br />
hohen Adult-Mortalität (Crenicichla) wurden Guppies, wie vorhergesagt,<br />
früher geschlechtsreif und produzierten mehr und kleinere Junge als Guppies<br />
mit einer hohen Juvenilen-Sterblichkeit (Rivulus). Bewiesen wurde<br />
die Kausalität dieser Zusammenhänge mit einem Austausch der Guppies<br />
zwischen einem Crenicichla und einem Rivulus-Gebiet. Innerhalb von 11<br />
Jahren (30–60 Generationen) wurden die vorhergesagten Änderungen in<br />
Alter und Größe bei der ersten Fortpflanzung und der Anzahl und Größe<br />
der Jungen beobachtet. Diese Merkmalsunterschiede blieben bei isolierter<br />
Haltung im Labor stabil, was die genetische Basis dieser veränderten<br />
Merkmalsausprägung unter Beweis stellt. Allerdings wurden die vorhergesagten<br />
Unterschiede zwischen diesen Teil-Populationen für das Einsetzen<br />
des Alterns nicht bestätigt (Reznick et al. 2004), vermutlich weil andere<br />
Faktoren neben dem extrinsischen Mortalitätsrisko den Alterungsprozess<br />
beeinflussen. Diese Untersuchung liefert trotzdem einen der überzeugendsten<br />
Beweise für die Life history-Theorie, die Existenz von Evolution sowie<br />
für die Verknüpfung zwischen Life history, Verhalten und Ökologie.
64 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
Abb. 2.16. Life history-Evolution von Guppies mit unterschiedlichen Prädatoren<br />
(Reznick et al. 1990) und experimenteller Nachweis der Effekte altersspezifischer<br />
Prädation auf deren Life history<br />
(2) Fortpflanzungsstrategien und Verhalten. Unterschiede in der Lebensspanne<br />
und in der Fortpflanzungsstrategie interagieren ebenfalls in<br />
vielfältiger Weise mit dem Verhalten. Eine lange Lebensspanne ist zum<br />
Beispiel eine Voraussetzung für die Ausbildung von differenzierten Sozialbeziehungen;<br />
nur Individuen, die Jahre oder Jahrzehnte zusammenleben,<br />
können individuelle Beziehungen untereinander etablieren. Die Entwicklung<br />
von sozialer Intelligenz und anderen Aspekten kognitiven<br />
Verhaltens wird ebenfalls in diesem Zusammenhang erklärt (Dunbar 1998;<br />
Kap. 11.3). Erfahrung, Traditionen und deren kulturelle Weitergabe haben<br />
auch in Arten mit langer Lebensspanne eine viel größere Bedeutung<br />
(van Schaik u. Pradhan 2003).<br />
Extrinsische Mortalität als evolutionäre Schlüsseldeterminante der Lebensspanne<br />
wird in vielfältiger Weise durch Verhaltensmechanismen modifiziert<br />
( Kap. 6.3). Durch die Bildung von Gruppen wird beispielsweise<br />
das extrinsische Mortalitätsrisko gesenkt. Das Leben in Gruppen ermöglicht<br />
seinerseits eine Vielzahl von zusätzlichen sozialen Verhaltensweisen<br />
( Kap. 11.1). Verhalten ändert sich auch altersabhängig, und insbesondere<br />
in Bezug auf Fortpflanzungsstrategien ergeben sich für Individuen beim<br />
Einsetzen der Seneszenz interessante Probleme ( Kap. 10.5). Männliche
2.3 Die wichtigsten Life history-Merkmale 65<br />
Abb. 2.17. Die Gewöhnliche<br />
Eierfliege ist ein tropischer<br />
Edelfalter, dessen Männchen<br />
kleine Waldlichtungen verteidigen,<br />
um sich dort mit Weibchen<br />
zu verpaaren. Ältere<br />
Männchen mit einer kurzen<br />
verbleibenden Lebenserwartung<br />
zeigen bei Kämpfen um<br />
solche Lichtungen größeres<br />
Durchhaltevermögen als jüngere<br />
Männchen<br />
Eierfliegen (Hypolimnas bolina; Abb. 2.17) geben beispielsweise mit zunehmendem<br />
Alter seltener in Kämpfen um Paarungsgelegenheiten mit Rivalen<br />
auf (Kemp 2002); hier werden also aktuelle und zukünftige Fortpflanzungschancen<br />
alters- und risikoabhängig miteinander verrechnet.<br />
Die Art der Fortpflanzungstrategie hat schließlich auch Konsequenzen<br />
für die Art der Jungenfürsorge. Albatrosse (Diomedeidae) sind zum Beispiel<br />
außergewöhnlich langlebige Vögel (> 50–70 Jahre). Beim Vergleich<br />
demographischer Daten von 12 Arten zeigte sich, dass diejenigen Arten,<br />
die sich nur jedes zweite Jahr fortpflanzen, im Durchschnitt länger leben<br />
als solche, die sich jedes Jahr fortpflanzen und so vermutlich über die gesamte<br />
Lebensspanne betrachtet einen höheren Gesamtfortpflanzungserfolg<br />
aufweisen (Jouventin u. Dobson 2002). Schließlich gibt es über 300 Vogelarten,<br />
bei denen geschlechtsreife Individuen auf die eigene Fortpflanzung<br />
verzichten und Artgenossen (meist den eigenen Eltern) bei der Aufzucht<br />
von deren Jungen helfen ( Kap. 10.4). Bei diesen Arten wurde vermutet,<br />
dass, im Unterschied zu anderen Vögeln, eine geringe Mortalitätsrate in<br />
Verbindung mit einer langen Lebensdauer dazu geführt hat, dass pro Zeiteinheit<br />
wenig geeignete Brutplätze frei werden und die Möglichkeiten der<br />
nachrückenden Generationen entsprechend beschränkt werden (Arnold u.<br />
Owens 1999).<br />
Schließlich gibt es auch Hinweise dafür, dass Abwägungen zwischen<br />
aktueller und zukünftiger Fortpflanzung, die mit der altersspezifischen Lebenserwartung<br />
verbunden sind, einen Einfluss auf die Persönlichkeit von<br />
Tieren haben. In diesem Fall erwartet man, dass Unterschiede im Ausmaß<br />
zukünftiger Fitnesserwartungen sich im aktuellen Risikoverhalten widerspiegeln.<br />
Individuen mit hohen zukünftigen Fitnesserwartungen, die also<br />
viel zu verlieren haben, sollten weniger Risikobereitschaft zeigen als Indi-
66 2 Life histories, Ökologie und Verhalten<br />
viduen mit geringen Erwartungen (Wolf et al. 2007). Dieser Zusammenhang<br />
mag Variation in Merkmalen wie „Kühnheit“ (boldness) oder Aggressivität<br />
erklären. Fortpflanzungsstrategien und Lebensdauer haben also<br />
auch nachhaltige Konsequenzen für viele Aspekte des Verhaltens, sowohl<br />
für einzelne Individuen als auch für die Evolution von Artunterschieden.<br />
2.4 Zusammenfassung<br />
Individueller Fortpflanzungserfolg wird durch Life history-Merkmale<br />
bestimmt und umgesetzt. Die wichtigsten dieser Merkmale bestimmen,<br />
wie groß ein Organismus ist, wie lange er lebt und wie viele<br />
Nachkommen er produziert. Variation zwischen Individuen in diesen<br />
und anderen Life history-Merkmalen liefert die Ansatzpunkte für natürliche<br />
Selektion und damit Evolution. Durch die enge Verknüpfung<br />
mit Fortpflanzungsparametern wird durch die grundlegenden Life<br />
history-Merkmale auch die Dynamik von Populationen beeinflusst. Da<br />
jede Art mit ihrer Verbreitung und Abundanz mit anderen als Konkurrent,<br />
Räuber, Beute, Parasit, Wirt oder Symbiont interagiert, werden<br />
die Strukturen einzelner biologischer Gesellschaften mehr oder weniger<br />
direkt durch die Life histories der sie zusammensetzenden Arten<br />
mitbestimmt. Da Individuen mit ihren Fortpflanzungsentscheidungen<br />
zudem flexibel auf sich ändernde Umweltbedingungen wie Nahrungsverfügbarkeit<br />
oder Räuberdruck reagieren, sind Life histories<br />
und ihre Evolution auf mehreren Ebenen eng mit lokalen ökologischen<br />
Bedingungen verknüpft. Gleichzeitig sind unterschiedliche<br />
Life history-Strategien mit zum Teil weitreichenden und grundlegenden<br />
Konsequenzen für das Verhalten verbunden. Durch Interaktionen<br />
zwischen Individuen kann der Gang der Life history-Evolution mitbestimmt<br />
werden. Für die Analyse des Verhaltens lassen sich aus diesen<br />
Zusammenhängen vier große Fragen identifizieren, die sich mit dem<br />
Fressen und Gefressen-Werden sowie der Fortpflanzung und der Jungenaufzucht<br />
beschäftigen.
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Wolf M, van Doorn GS, Leimar O, Weissing FJ (2007) Life-history trade-offs favour<br />
the evolution of animal personalities. Nature 447:581–584<br />
Zera AJ, Harshman LG (2001) The physiology of life history trade-offs in animals.<br />
Annu Rev Ecol Syst 32:95–126
II ÜBERLEBENSSTRATEGIEN<br />
Überleben ist ein tägliches Anliegen aller Organismen. Um Überleben zu<br />
gewährleisten, haben Tiere eine Reihe von Anpassungen entwickelt, von<br />
denen viele das Verhalten mit einbeziehen oder sogar reine Verhaltensstrategien<br />
darstellen. Diese Anpassungen können unterteilt werden in solche,<br />
die mit Hilfe diverser physiologischer Mechanismen einen Erhalt der<br />
Grundfunktionen des Organismus gewährleisten, sowie andere, die dazu<br />
dienen, extrinsische Mortalitätsrisiken zu minimieren. Die wichtigsten<br />
Probleme, die sich einem Organismus im Zusammenhang mit seiner Homöostasis<br />
stellen, betreffen ausreichende Versorgung mit Energie, Nährstoffen<br />
und Wasser, Thermoregulation, die optimale Einteilung und Nutzung<br />
von Zeit und Energie sowie die Abwehr von Parasiten und<br />
Krankheitserregern. Die Fähigkeit, sich in Raum und Zeit zu orientieren,<br />
stellt eine weitere Grundvoraussetzung für das Überleben dar. Von zentraler<br />
Bedeutung beim Kampf ums Überleben sind schließlich Anpassungen,<br />
die der Vermeidung und Abwehr von Räubern dienen. Bei diesem evolutionären<br />
Wettlauf zwischen Räubern und ihrer Beute steht auf beiden Seiten<br />
das Verhalten im Mittelpunkt zahlreicher Anpassungen. Diese Faktoren,<br />
die in den nächsten vier Kapiteln im Einzelnen besprochen werden,<br />
beeinflussen zusammen die Überlebenskomponente der Gesamtfitness.
3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
3.1 Homöostasis<br />
3.1.1 Energie und Stoffwechsel<br />
3.1.2 Wasserhaushalt<br />
3.1.3 Thermoregulation<br />
3.1.4 Stress<br />
3.1.5 Parasiten und Krankheiten<br />
3.1.6 Schlaf<br />
3.2 Einteilung von Zeit und Energie<br />
3.2.1 Optimale Effizienz<br />
3.2.2 Maximierung der Energiegewinnrate<br />
3.2.3 Kontrolle von Energie: interne und externe Speicher<br />
3.3 Zusammenfassung<br />
Verhalten und Physiologie eines Organismus sind eng aufeinander abgestimmt,<br />
um ein Tier in einem regulierten Gleichgewichtszustand zu halten.<br />
Ein geregelter Energie- und Wasserhaushalt oder die Thermoregulation<br />
stellen wichtige Aspekte des Wohlergehens und der Überlebensfähigkeit<br />
dar, die einen qualitativ großen Anteil des Verhaltens eines Tieres in Anspruch<br />
nehmen können. Allerdings sind diese Verhaltensweisen selten<br />
spektakulär und werden daher bei der Diskussion der physiologischen<br />
Grundlagen in den entsprechenden Arbeiten oder Lehrbüchern oft vernachlässigt.<br />
Ähnliches gilt für Verhaltensaspekte der Stressverminderung oder<br />
Pathogenabwehr. In diesem Zusammenhang ist auf der Ebene des Organismus<br />
auch die Budgetierung von Ruhe- und Aktivitätsphasen sowie die<br />
strategische Einteilung von Zeit und Energie für bestimmte Aktivitäten relevant.<br />
Welche Rolle das Verhalten in diesen Kontexten spielt, ist in diesem<br />
Kapitel dargestellt.
74 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
3.1 Homöostasis<br />
Regulierte Gleichgewichte im Organismus, die durch koordinierte physiologische<br />
Prozesse gesteuert werden, werden als Homöostasis bezeichnet.<br />
Zur Beibehaltung des Gleichgewichts einzelner regulierter Zustände, wie<br />
Energie- und Wasserhaushalt oder Körpertemperatur, setzen viele Tiere<br />
neben physiologischen Mechanismen ihr Verhalten mit ein. Die Existenz<br />
und Bedeutung einzelner Verhaltensanpassungen in diesem Zusammenhang<br />
variieren allerdings sehr stark zwischen Tiergruppen mit unterschiedlichen<br />
Lebensräumen und ökologischen Spezialisierungen, so dass diese<br />
Anpassungen auf Verhaltensebene nur in allgemeiner Weise besprochen<br />
werden können. Eine sehr viel ausführlichere Darstellung, vor allem auch<br />
der physiologischen Mechanismen, findet sich in Heldmaier u. Neuweiler<br />
(2004).<br />
3.1.1 Energie und Stoffwechsel<br />
Alle Tiere benötigen Nahrung, um daraus Energie, Mineralien und Vitamine<br />
zu beziehen. Diese Nahrungsbestandteile verwendet der Organismus<br />
für die Aufrechterhaltung der Grundfunktionen, als Grundlage für Wachstum<br />
und Fortpflanzung, zur Abwehr von Parasiten und Krankheitserregern<br />
sowie gegebenenfalls zum Anlegen von Speicherreserven. Nahrungsquellen,<br />
die von Tieren erschlossen werden, sind in ihrer Art, Verteilung, Dichte,<br />
Verfügbarkeit und Monopolisierbarkeit fast so divers wie die verschiedenen<br />
Tierarten selbst ( Kap. 5.2). Die Reaktionen und Anpassungen<br />
von Individuen an diese Variabilität von Ressourceneigenschaften stellen<br />
per Definition einen Schwerpunkt von verhaltensökologischen Untersuchungen<br />
dar.<br />
Verhalten im funktionalen Zusammenhang des Energiestoffwechsels<br />
wird auch durch mehrere intrinsische Variablen moduliert. Die Grundstoffwechselrate,<br />
welche ihrerseits stark von der Körpermasse und Gehirngröße<br />
abhängt, definiert den absoluten Energiebedarf und damit indirekt<br />
auch, wie viel Zeit ein Tier für die Nahrungssuche aufwenden muss. Herbivore<br />
sind beispielsweise auf Gras und Blätter mit geringerem Nährwert<br />
spezialisiert als Früchtefresser und müssen daher mehr Nahrung aufnehmen<br />
sowie mehr Zeit für die Nahrungsaufnahme investieren (McNab<br />
1986). Bei poikilothermen Tieren hat auch die Umgebungstemperatur einen<br />
wichtigen Einfluss auf die Stoffwechselrate, welche von aufgenommener<br />
Energie und Sauerstoff angetrieben wird. Ein Fisch in warmen, tropischen<br />
Gewässern verbraucht beispielsweise sechsmal mehr Sauerstoff<br />
als ein Fisch derselben Größe im Polarmeer (Clarke u. Johnston 1999).
3.1 Homöostasis 75<br />
Abb. 3.1. Viele Kleinsäuger<br />
besitzen die Fähigkeit, spontan<br />
in kurzfristige Torporzustände<br />
zu verfallen und<br />
durch die dabei reduzierten<br />
Stoffwechselraten Energie zu<br />
sparen. Diese Fähigkeit findet<br />
sich auch bei madagassischen<br />
Grauen Mausmakis, Microcebus<br />
murinus<br />
Wie viel Energie ein Individuum im Ruhestoffwechsel verbraucht, hängt<br />
auch positiv mit dem maximalen Stoffumsatz während der Aktivität zusammen.<br />
Fliegende Insekten verbrauchen zum Beispiel mehr Energie als<br />
solche mit einer anderen Art der Fortbewegung, und Insektenarten, die<br />
aufwändige „Werbegesänge“ ( Kap. 8.3) produzieren, haben einen höheren<br />
Energiebedarf als nahverwandte Arten ohne dieses Verhalten (Reinhold<br />
1999).<br />
Diverse anatomische Spezialisierungen des Verdauungstrakts erhöhen<br />
andererseits die Effizienz der Energiegewinnung. Termiten können so beispielsweise<br />
mit Hilfe von Mikroorganismen in ihrem Verdauungstrakt Zellulose<br />
aufschließen (Breznak u. Brune 1994). Andere anatomische Spezialisierungen,<br />
wie die ontogenetische Veränderung der Mundwerkzeuge der<br />
verschiedenen Stadien holometaboler Insekten (Miles u. Booker 1998)<br />
oder metamorphierender Amphibien (Deban u. Marks 2002), führen dazu,<br />
dass die Art der Nahrung, die genutzt werden kann, eingeschränkt ist oder<br />
sich im Laufe des Lebens ändert. Die Raupen vieler Motten und Schmetterlinge<br />
sind beispielsweise Blattfresser, wohingegen die Adulten sich von<br />
Nektar ernähren. Schließlich gibt es vielfältige physiologische Mechanismen,<br />
wie die Fähigkeit mancher Kleinsäuger, in kurzfristigen Torpor (Kältestarre)<br />
zu verfallen (Heldmaier et al. 1999, Schmid 2001; Abb. 3.1) oder<br />
Energiespeicher für längere Winterschlafepisoden anzulegen (Humphries<br />
et al. 2003), sowie Besonderheiten der Stoffwechselrate, die verschiedenen<br />
Tierarten entweder erlaubt, lange ohne Nahrung auszukommen (z. B.<br />
Schlangen: Secor u. Diamond 2000), oder sie zwingt, ständig neue Energie<br />
aufzunehmen (z. B. Kolibris, Trochilidae: Suarez u. Gass 2002). Diese Unterschiede<br />
zwischen Arten haben starken Einfluss darauf, wie häufig verschiedene<br />
Individuen unterschiedliche Typen von Nahrung oder Nährstoffe<br />
suchen und erschließen müssen, was wiederum einen Großteil des
76 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
täglichen Aktivitätsbudgets bestimmt. Im Bereich der Energiegewinnung<br />
werden grundlegende Aspekte des Verhaltens also stark von anatomischen<br />
und physiologischen Vorgaben des Bauplans bestimmt, bzw. das Verhalten<br />
ist auf dieser Ebene funktional mit diesen Merkmalen koordiniert.<br />
3.1.2 Wasserhaushalt<br />
Alle Tiere benötigen Wasser, um ihre Stoffwechselfunktionen aufrechtzuerhalten.<br />
Wasserverlust und -zufuhr müssen sich also die Waage halten.<br />
Wasserverlust erfolgt hauptsächlich auf zwei Wegen. Bei der Exkretion<br />
von Urin und Fäzes gibt es unvermeidliche Wasserverluste, da Stoffwechselabfallprodukte<br />
den Körper verlassen müssen. Außerdem sind die Organe<br />
des Gasaustausches aufgrund der dafür notwendigen feuchten Membranen<br />
eine Quelle des Wasserverlustes durch Verdunstung. Die meisten<br />
Tiere nehmen Wasser durch Trinken auf; manche Amphibien und Insekten<br />
können es aber auch über die Haut resorbieren, andere können durch<br />
entsprechendes Aufschließen von Nahrung Wasser gewinnen.<br />
Aufgrund seiner Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen<br />
wird der Wasserhaushalt innerhalb enger Grenzen, vor allem durch<br />
Hormone, geregelt. Physiologie und Verhalten sind auch hier eng aufeinander<br />
abgestimmt, um entweder Wasserverluste zu minimieren, z. B.<br />
durch reduzierte Nahrungsaufnahme und Aktivität, oder die Aufnahme zu<br />
erhöhen. Dieser scheinbar einfache Regelkreis muss aber mit anderen<br />
grundlegenden Bedürfnissen wie Nahrungs- und Mineralbedarf sowie der<br />
Thermoregulation koordiniert werden, so dass Verhaltensweisen im Zusammenhang<br />
mit der Regulation des Wasserhaushalts nicht immer einfach<br />
zu interpretieren sind.<br />
Der Regulation des Wasserbedarfs können zum Teil recht spektakuläre<br />
Verhaltensweisen dienen. Manche Säugetiere in saisonalen Habitaten unternehmen<br />
ausgedehnte Wanderungen, um Zugang zu Wasser zu gewinnen.<br />
Manche Gruppen einer katzengroßen Lemurenart (Rotstirnmaki, Eulemur<br />
fulvus rufus) wandern während der Trockenzeit regelmäßig hunderte<br />
von Metern aus ihren angestammten Streifgebieten zu den verbleibenden<br />
Wasserlöchern, wohingegen andere Gruppen, die mehr als 2 km wandern<br />
müssten, ihr Streifgebiet während der Trockenzeit komplett in die Nähe<br />
der Wasserlöcher verlagern (Scholz u. Kappeler 2004; Abb. 3.2). Wasserverknappung<br />
mit einsetzender Trockenzeit in Kombination mit einer dramatischen<br />
Verschlechterung der Qualität des verbleibenden Wassers verursachen<br />
auch die saisonalen Wanderungen von Millionen von herbivoren<br />
Savannenbewohnern im südlichen Afrika (Bergström u. Skarpe 1999). Die<br />
Wanderungen dieser großen Säuger haben ihrerseits Auswirkungen auf die
3.1 Homöostasis 77<br />
Abb. 3.2. In Zeiten von Wasserknappheit wandern manche Tiere über beträchtliche<br />
Distanzen, um an eine Wasserquelle zu gelangen. So wird das Verhalten von<br />
Rotstirnmakis (Eulemur fulvus rufus) im madagassischen Trockenwald während<br />
der Trockenzeit maßgeblich vom Zugang zu Wasser bestimmt<br />
Aktivität ihrer Räuber, wie zum Beispiel Löwen (Panthera leo, Ogutu u.<br />
Dublin 2004). Die Notwendigkeit, limitierte Wasserquellen aufzusuchen,<br />
erhöht schließlich auch das individuelle Prädationsrisiko, da Wasserstellen<br />
für Räuber Orte vorhersagbarer Beuteansammlungen darstellen. Australische<br />
Flinkwallabys (Macropus agilis) reduzieren ihr Risiko, an Wasserstellen<br />
von Salzwasserkrokodilen erbeutet zu werden, daher dadurch, dass<br />
sie sich etliche Meter vom Wasserrand entfernt kleine Trinkgruben graben<br />
(Doody et al. 2007).<br />
3.1.3 Thermoregulation<br />
Die meisten Tiere haben eine optimale Körpertemperatur, bei der sie am<br />
effizientesten funktionieren. Bei einer niedrigeren Temperatur verringert<br />
sich die Stoffwechsel- und Muskelaktivität, so dass irgendwann eine Kältestarre<br />
einsetzt. Über der optimalen Temperatur erhöhen sich die Stoffwechselkosten<br />
und ab ca. 47 °C sind viele physiologische Prozesse gestört.<br />
Die Thermoregulation ist funktionell auch eng mit dem Wasser- und Energiehaushalt<br />
verbunden; durch eine Erhöhung der Körpertemperatur können<br />
Vögel in Wüsten beispielsweise ihren Wasserverlust reduzieren (Tieleman<br />
u. Williams 1999). Schließlich kann Thermoregulation auch dazu eingesetzt<br />
werden, durch gezielte Erhöhung der Körpertemperatur Pathogene<br />
abzuwehren. So erhöhen mit einem tödlichen Pilz infizierte Wanderheuschrecken<br />
(Locusta migratoria) durch entsprechende Ortswahl in einem
78 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Temperaturgradienten ihre Körpertemperatur und verbessern dadurch ihre<br />
Überlebenschancen (Ouedraogo et al. 2004). Die Körpertemperatur wird<br />
daher durch verschiedene Mechanismen reguliert, wobei dem Verhalten in<br />
vielen Fällen eine wichtige Funktion zukommt.<br />
Die Körpertemperatur kann auf vier Arten reduziert werden. Konduktion<br />
beschreibt den passiven Temperaturausgleich zwischen Medien unterschiedlicher<br />
Temperatur. Sie erfolgt innerhalb des Körpers, aber auch zwischen<br />
dem Körper und der Umwelt. Hitzeverlust aufgrund von Konduktion<br />
wird vor allem durch anatomische Anpassungen wie isolierende Fett-,<br />
Haar- oder Federschichten reduziert. Konduktion kann durch morphologische<br />
Anpassungen zur Thermoregulation beitragen, indem beispielsweise<br />
die Austauschoberfläche vergrößert wird (Beispiel: Elefantenohren). Das<br />
Verhalten spielt in diesem Zusammenhang bei großen poikilothermen Tieren<br />
(Krokodile, Dinosaurier) eine Rolle, wenn sie durch Ortswechsel zwischen<br />
Land und Wasser das Ausmaß der Konduktion beeinflussen können<br />
(Ruxton 2001). Durch unterschiedliche Körperhaltungen oder durch Aufplustern<br />
kann das Ausmaß der Konduktion durch zusätzliche Verhaltensmechanismen<br />
beeinflusst werden.<br />
Konvektion beschreibt den Wärmetransport in Flüssigkeiten. Bei Tieren<br />
erfolgt er dadurch, dass warme Körperflüssigkeiten an die kältere Körperoberfläche<br />
transportiert werden. Radiation beinhaltet Wärmeaustausch<br />
unabhängig vom Medium. Der Effekt der Radiation ist abhängig vom<br />
Temperaturunterschied zwischen Körper- und Außentemperatur. Durch<br />
Radiation kann Wärme sowohl zu- als auch abgeführt werden. Durch Zusammenrollen<br />
oder durch die Bildung von Schlafgruppen wird der Wärmeverlust<br />
durch Radiation über Verhaltensmechanismen verringert. Murmeltiere<br />
(Marmota marmota) verbringen den Winterschlaf zum Beispiel in<br />
kleinen Gruppen, wodurch ein energetischer Gewinn, besonders während<br />
der euthermischen Phasen, erzielt wird (Arnold 1988).<br />
Durch Verdunstung von feuchten Körperoberflächen kann die Körpertemperatur<br />
nach unten reguliert werden. Verdunstungskälte entsteht vor allem<br />
bei der Atmung und kann durch Hecheln oder Maulaufsperren (z. B.<br />
Reptilien) intensiviert werden. Manche Tiere können ihren Körper auch<br />
mit Speichel oder durch Baden befeuchten und so zusätzliche Verdunstungskälte<br />
erzeugen. Säugetiere (außer Hasen- und Nagetieren) haben zudem<br />
Schweißdrüsen, die durch Thermorezeptoren im Gehirn (nicht in der<br />
Haut) gesteuert werden.<br />
Die Wärmeerzeugung kann passiv oder aktiv sein. Tiere, die Wärme<br />
primär von externen Quellen aufnehmen, sind exotherm. Bei ihnen erfolgt<br />
die Wärmeaufnahme durch Radiation, deren Effizienz durch dunkle Körperoberflächen<br />
verbessert wird. Da exotherme Tiere vor allem durch Sonnenbaden<br />
ihre optimale Körpertemperatur erreichen, spielt bei ihnen auch
3.1 Homöostasis 79<br />
Abb. 3.3. Exotherme Tiere<br />
wie dieser Dornschwanz-<br />
Leguan (Oplurus cuvieri)<br />
regulieren ihre Körpertemperatur<br />
mit Hilfe von<br />
Sonnenbaden<br />
das Verhalten eine wichtige Funktion bei der Thermoregulation (Abb. 3.3).<br />
Bei manchen kolonielebenden Insekten, wie Termiten, wird durch entsprechende<br />
Konstruktion des Baus die Umgebungstemperatur durch die Tiere<br />
aktiv mit beeinflusst (Korb u. Linsenmair 2000).<br />
Tiere, die ihre Wärme primär durch interne Prozesse erzeugen, sind<br />
endotherm und können eine Körpertemperatur, die über der Umgebungstemperatur<br />
liegt, aufrechterhalten. Vögel und Säuger haben die thermale<br />
Homöostasis perfektioniert. Sie erzeugen Hitze durch ihre hohe Stoffwechselrate<br />
oder Muskelzittern und sind durch Federn bzw. Fell gegen<br />
Wärmeverlust isoliert. Allerdings nutzen manche Säugetiere auch Umgebungswärme,<br />
um ihre Körpertemperatur ergänzend zu erhöhen (Geiser<br />
et al. 2002). Bei Arten, die Nesthocker produzieren, sind diese Fähigkeiten<br />
zunächst nur unvollkommen entwickelt, so dass ein Teil der elterlichen<br />
Fürsorge der Thermoregulation der Jungen gilt; ein weiteres Beispiel für<br />
die Verschränkung von Life history und Verhalten.<br />
3.1.4 Stress<br />
Das physiologische und emotionale Gleichgewicht von Tieren kann durch<br />
eine Reihe interner und externer Faktoren gestört werden. Diese Faktoren<br />
heißen Stressoren und führen zu einer adaptiven Gegenreaktion des Organismus,<br />
die als Stress bezeichnet wird. Die Stressreaktion des Organismus<br />
besteht in einer Aktivierung von Teilen des autonomen Nervensystems und<br />
einer neuroendokrinologischen Kaskade, die mit der vermehrten Ausschüttung<br />
von adrenokortikotrophem Hormon (ACTH) verbunden ist (von Holst<br />
1998). Dadurch werden von der Nebennierenrinde vermehrt Kortikosteroide<br />
und vom Nebennierenmark vermehrt Adrenalin ausgeschüttet.
80 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Durch das Adrenalin wird das „Kampf- oder Flucht-Syndrom“ ausgelöst,<br />
das Tiere in einen Zustand versetzt, der eine effiziente Reaktion auf<br />
die Stressoren erlaubt. Wenn der Stressor dadurch vermieden oder eliminiert<br />
werden kann, erfolgt eine rasche Regulierung der neuronalen und<br />
endokrinen Aktivität auf das Ausgangsniveau. Der Prozess der Wiederherstellung<br />
des homöostatischen Zustandes wird als Allostasis bezeichnet<br />
(McEwen u. Wingfield 2003). Bei anhaltender Einwirkung der Stressoren<br />
kann es zu chronischem Stress mit pathologischen Konsequenzen kommen.<br />
Neben physiologischen Anpassungen kann eine Stressreaktion auch<br />
Verhaltensaspekte wie Vermeidung des Stressors beinhalten (von Holst<br />
1998). Mehrere Faktoren können als soziale Stressoren wirken. Dazu zählen<br />
die Präsenz von dominanten Tieren, instabile soziale Beziehungen mit<br />
häufigen Kämpfen, hohe Populationsdichte, die Präsenz von Räubern sowie<br />
die Trennung von Mutter und Kind. Die Präsenz von Dominanten oder<br />
Rivalen kann bei manchen Arten dramatische Stressreaktionen bis hin zum<br />
Tod auslösen (Sapolsky 2005). In weniger dramatischen Fällen erfolgt in<br />
solchen Situationen eine Reduktion oder Unterdrückung von Fortpflanzungsfunktionen<br />
unter gleichgeschlechtlichen Kontrahenten (Wingfield u.<br />
Sapolsky 2003). Eine rangniedere Position in einer Dominanzhierarchie ist<br />
aber nicht notwendigerweise mit erhöhtem Stress verbunden; dieser Effekt<br />
zeigt sich vor allem in Situationen sozialer Instabilität (Sachser et al.<br />
1998). Zudem wird die Unterdrückung der Fortpflanzungsaktivität durch<br />
Dominante bei Arten mit kooperativer Jungenaufzucht nicht durch Stress<br />
vermittelt, da die Glukokortikoid-Werte bei Dominanten häufig höher sind<br />
(Creel 2001). Bei Wölfen (Canis lupus) haben die dominanten Männchen<br />
und Weibchen die höchsten Stresswerte; erhöhte Glukokortikoid-Konzentrationen<br />
können also auch als Kosten der Dominanz betrachtet werden<br />
(Sands u. Creel 2004). Die relative allostatische Belastung (allostatic<br />
load) von Dominanten und Subordinierten muss also betrachtet werden,<br />
um deren physiologische Veränderungen zu erklären (Goymann u. Wingfield<br />
2004). Haltung von Versuchstieren unter Gefangenschaftsbedingungen<br />
in untypischen sozialen Konstellationen führt ebenfalls nicht notwendigerweise<br />
zu auffälligen Stressreaktionen (Künzl et al. 2003). In Bezug<br />
auf Fragen der artgerechten Haltung von Haustieren hat dieser Aspekt<br />
wichtige praktische Bedeutung (von Borell 2001).<br />
Die Präsenz von Räubern kann ebenfalls nachhaltige Effekte auf die<br />
Fortpflanzungsphysiologie und das Verhalten ihrer Beute ausüben. Bei<br />
Schwarzkehlchen (Saxicola torquata) in Gebieten mit einem für sie wichtigen<br />
Räuber (Fiskalwürger, Lanius collaris) wurden teils seltener zweite<br />
Brutversuche, teils Verzögerungen des Beginns der zweiten Brut registriert<br />
(Scheuerlein et al. 2001). Diese reproduktiven Einbußen können als Kon-
3.1 Homöostasis 81<br />
sequenz des durch den Räuber verursachten Stresses interpretiert werden,<br />
denn in der Präsenz dieses Räubers zeigten männliche Schwarzkehlchen<br />
außerdem erhöhte Kortikosteron-Werte und erhöhtes Alarmverhalten. Die<br />
Präsenz von Räubern interagiert außerdem mit dem Nahrungsangebot bei<br />
der Ausbildung von Stresssymptomen. Singammern (Melospiza melodia),<br />
die experimentell hohem Räuberdruck und starkem Nahrungsmangel ausgesetzt<br />
waren, zeigten die stärksten Stresssymptome im Vergleich zu Tieren,<br />
die den anderen Kombinationen dieser Faktoren ausgesetzt waren<br />
(Clinchy et al. 2004). Singammern mit viel Futter und keinen Prädatoren<br />
hatten fast doppelt so hohe Fortpflanzungsraten wie die am stärksten gestressten<br />
Tiere. Es existieren also zahlreiche enge funktionelle Verknüpfungen<br />
zwischen Verhalten und Stress sowohl in Bezug auf dessen Auslösung<br />
als auch auf seine Bewältigung.<br />
3.1.5 Parasiten und Krankheiten<br />
Infektionen durch Parasiten und andere Krankheitserreger stellen eine<br />
wichtige Störungsquelle der Homöostasis eines Organismus dar. Infektionen<br />
führen zu einer Erhöhung der physiologischen und energetischen<br />
Kosten, die der betroffene Organismus zu deren Eindämmung oder Beseitigung<br />
aufwenden muss. Infektionen stellen zudem eine wichtige Ursache<br />
extrinsischer Mortalität dar, und parasitierte oder kranke Tiere werden häufig<br />
als Paarungspartner diskriminiert ( Kap. 9.3). Parasiten und Pathogene<br />
können sogar die Life history ihrer Wirte nachhaltig beeinflussen;<br />
experimentelle Infektionen von Wasserflöhen (Daphnia magna) führte<br />
beispielsweise zu einer Beschleunigung der Fortpflanzung, da die Lebenserwartung<br />
durch die Infektion reduziert wird ( Kap. 2.3; Chadwick u.<br />
Little 2005). Es ist daher zu erwarten, dass im Laufe der Evolution effiziente<br />
Mechanismen zur Verhinderung und Beseitigung von Infektionen<br />
entstanden sind. Da Parasiten aber auch Selektion unterliegen, entstehen<br />
oft evolutionäre Wettrennen zwischen Pathogenen und ihren Wirten, bei<br />
denen neben immunphysiologischen Prozessen auch das Verhalten eine<br />
Rolle spielt. Einerseits modifizieren Wirte mit verschiedensten sozialen<br />
Mechanismen ihr Infektionsrisiko (Loehle 1995); andererseits versuchen<br />
manche Pathogene das Verhalten ihres Wirts zu beeinflussen (Dobson<br />
1988).<br />
Die primäre Abwehr von Parasiten und Infektionen erfolgt mit Hilfe des<br />
Immunsystems (Schmid-Hempel 2003). Artunterschiede in der Dichte von<br />
Pathogenen in verschiedenen Habitaten und das Risiko verletzt zu werden,<br />
haben dabei zu unterschiedlichen spezifischen Anpassungen im Immunsystem<br />
geführt (Semple et al. 2002). Das Verhalten spielt eine wichtige
82 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Abb. 3.4. Neben seiner<br />
sozialen Bedeutung hat<br />
die gegenseitige Fellpflege<br />
(grooming) wie<br />
bei diesen Sanfordmakis<br />
(Eulemur fulvus<br />
sanfordi) auch eine<br />
wichtige hygienische<br />
Funktion, da dabei<br />
Ektoparasiten entfernt<br />
werden<br />
vorbeugende Rolle bei der Vermeidung von Infektionen (Hart 1990). Verschiedene<br />
Verhaltensweisen wie Lausen (grooming, Abb. 3.4), Sand- oder<br />
Schlammbaden haben eine hygienische Funktion und tragen zur Reduktion<br />
der Parasitenbelastung bei (Mooring et al. 1996), wobei dem Lausen auch<br />
wichtige soziale Funktionen zukommen (Dunbar 1991). Die Vermeidung<br />
von offensichtlich infizierten Artgenossen oder Aspekte der Mikrohabitatwahl<br />
( Kap. 5.1), wie das regelmäßige Wechseln von Schlafplätzen,<br />
können außerdem das Infektionsrisiko mit Ektoparasiten vermindern (Reckardt<br />
u. Kerth 2007). Vergleichende Untersuchungen an mittelamerikanischen<br />
Fledermäusen haben beispielsweise gezeigt, dass sich zwischen Arten<br />
mit unterschiedlichen Schlafplätzen (Höhlen oder Kronendach) sowohl<br />
die Dichte an Ektoparasiten als auch die Häufigkeit des Lausens unterscheiden<br />
(ter Hofstede u. Brock Fenton 2005).<br />
Bei manchen Infektionen, besonders bei Geschlechtskrankheiten, ist<br />
aber eine komplette Reduktion des Übertragungsrisikos nicht möglich, da<br />
andere Selektionsfaktoren dem entgegenstehen. Individuen in Arten mit<br />
interner Fertilisation müssen dieses Risiko eingehen, um sich überhaupt<br />
fortzupflanzen. Zur Reduktion dieses Risikos sollten Mechanismen entstanden<br />
sein, die es erlauben, kranke Individuen zu erkennen und zu vermeiden<br />
( Kap. 8.3). Neben der immunologischen Abwehr gibt es zudem<br />
eine Reihe von anderen Verhaltensmechanismen, wie postkopulatorisches<br />
Genitallecken und Urinieren, die das Übertragungsrisiko von Geschlechtskrankheiten<br />
reduzieren können (Nunn 2003).<br />
Ein erhöhtes Infektionsrisiko mit Pathogenen, die durch sozialen Kontakt<br />
übertragen werden, ist zum Beispiel auch ein unvermeidliches Risiko<br />
des Gruppenlebens ( Kap. 11.1). Über viele verschiedene Taxa existiert<br />
eine positive Korrelation zwischen der Gruppengröße und der Infektionsprävalenz<br />
(Côté u. Poulin 1995). Allerdings kann die Gruppierung von
3.1 Homöostasis 83<br />
Individuen auch dazu führen, dass das individuelle Infektionsrisiko mit<br />
mobilen Ektoparasiten reduziert wird. Galapagos-Meerechsen (Amblyrhynchus<br />
cristatus), die experimentell über Nacht gruppiert wurden, hatten<br />
danach weniger mobile Zecken als Artgenossen, die alleine schliefen, vermutlich<br />
aufgrund eines Verdünnungseffekts (Wikelski 1999).<br />
3.1.6 Schlaf<br />
Schlaf ist charakterisiert durch reduzierte Aktivität und Aufmerksamkeit<br />
und kann, im Unterschied zu anderen Inaktivitätszuständen (Torpor, Winterschlaf),<br />
leicht durch externe Reize unterbrochen werden. Vergleichende<br />
Untersuchungen haben gezeigt, dass Säuger und Vögel in ähnlicher Weise<br />
schlafen (Siegel et al. 1998), aber ob und wie andere Wirbeltiere und Wirbellose<br />
schlafen, ist noch nicht umfassend untersucht (Shaw et al. 2000).<br />
Beim Schlafen schließen Tiere ihre Augen und nehmen eine typische<br />
Körperhaltung ein (Abb. 3.5). Man kann Arten danach unterscheiden, ob<br />
sie allein oder in Gruppen schlafen, unabhängig davon, wie sie während<br />
ihrer Aktivitätsphase organisiert sind; während ihrer Aktivitätsphase solitäre<br />
Tiere wie z. B. Bechstein-Fledermäuse (Myotis bechsteinii) können auch<br />
zu Schlafgruppen zusammenkommen (Abb. 3.6; Kerth et al. 2001a).<br />
Schlafgruppen, insbesondere die von Säugern, haben den Vorteil, dass<br />
energetische Kosten durch individuell reduzierte Thermoregulation verringert<br />
werden können (Arnold 1988); andererseits kann dadurch die Auffälligkeit<br />
gegenüber Räubern und die Übertragung von manchen Parasiten<br />
und Krankheitserregern erhöht werden (Beauchamp 1999).<br />
Aufgrund der beim Schlafen reduzierten Wachsamkeit ist es besonders<br />
für Tiere mit einem hohen Räuberdruck wichtig, einen sicheren Schlaf-<br />
Abb. 3.5. Beim Schlafen<br />
nehmen viele Tiere typische<br />
Körperhaltungen ein. Vögel<br />
schlafen nur mit einer Gehirnhälfte<br />
(unihemisphärischer<br />
Schlaf), wodurch ein Grundmaß<br />
an Aufmerksamkeit erhalten<br />
bleibt
84 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Abb. 3.6. Bei Bechstein-Fledermäusen<br />
bilden<br />
15–40 miteinander<br />
verwandte Weibchen<br />
stabile Schlafgruppen<br />
(Kerth et al. 2008)<br />
platz aufzusuchen. In vielen Fällen handelt es sich um geschützte Strukturen<br />
wie Baue und Höhlen, die zum Teil für diesen Zweck gebaut werden.<br />
Andere natürliche Strukturen wie hohle Bäume oder Felsspalten werden<br />
ebenfalls zum Schlafen aufgesucht (Abb. 3.7). Diese geschützten Schlafplätze<br />
werden vielmals auch zur Jungenaufzucht benutzt und haben daher<br />
eine doppelte Funktion (Kappeler 1998). Die Auswahl von Schlafplätzen<br />
kann sehr selektiv mit spezifischen Anforderungen an Isolationseigenschaften,<br />
Feuchtigkeit und Höhe sein. Der Fortpflanzungszustand kann die<br />
Anforderungen an einen Schlafplatz zusätzlich modulieren; so haben<br />
Bechstein-Fledermäuse (Myotis bechsteinii) vor und nach der Geburt ihrer<br />
Jungen unterschiedliche Präferenzen in Bezug auf die Temperatur ihrer<br />
Schlafplätze (Kerth et al. 2001b).<br />
Bei manchen Arten gibt es daher eine begrenzte Zahl an Schlafplätzen,<br />
die regelmäßig abwechselnd genutzt werden, wobei die Rotationshäufig-<br />
Abb. 3.7. Zahlreiche Tiere wie dieser<br />
Wieselmaki (Lepilemur ruficaudatus)<br />
nutzen selbst gebaute oder natürliche<br />
Höhlen oder Bauten zum Schlafen und,<br />
wie in diesem Fall, auch zur Jungenaufzucht
3.1 Homöostasis 85<br />
keit sowohl vom Prädations- als auch dem Parasitenrisiko abhängt. Nachdem<br />
ein Schlafplatz mehrere Tage hintereinander genutzt wurde, erhöhen<br />
sich theoretisch nämlich die Wahrscheinlichkeiten, dass ein Räuber darauf<br />
aufmerksam wird und dass sich vermehrt Ektoparasiten ansammeln.<br />
Männliche Raufußkäuze (Aegolius funereus), denen experimentell ein gekäfigter<br />
Mink (Mustela vision) präsentiert wurde, wechselten tatsächlich<br />
häufiger ihren Schlafplatz als Kontrollvögel (Hakkarainen et al. 2001).<br />
Fledermäuse der Art Antrozous pallidus mit hoher Parasitenbelastung<br />
wechseln ihren Schlafplatz ebenfalls häufiger als Individuen mit geringerem<br />
Befall, möglicherweise um so den Fortpflanzungszyklus derjenigen<br />
Ektoparasiten zu unterbrechen, die einen Teil dieses Zyklus auf den<br />
Schlafplatzsubstraten verbringen (Lewis 1996).<br />
Manche Vögel und Säuger schlafen nicht in Bauten, Höhlen oder Nestern,<br />
sondern suchen bestimmte Schlafbäume oder -felsen auf, die entweder<br />
besonders hoch und damit schlecht zugänglich sind oder andere strukturelle<br />
Schutzfaktoren wie dichte Belaubung aufweisen (Anderson 1998).<br />
Die Nutzung wiederholt aufgesuchter Schlafbäume weist ebenfalls häufig<br />
ein unregelmäßiges Muster auf, vermutlich um das Prädationsrisiko zu verringern.<br />
Javaneraffen (Macaca fascicularis), denen an einem Schlafbaum<br />
das Modell einer Python präsentiert wurde, vermieden diesen Baum anschließend<br />
für mehrere Tage (van Schaik u. Mitrasetia 1990). Schließlich<br />
gibt es auch Tiere wie zum Beispiel große Herbivoren, die keine spezifischen<br />
Ruheplätze aufsuchen, sondern sich zu Beginn der Ruhe- und Erholungsphase<br />
am jeweiligen Aufenthaltsort niederlassen.<br />
Aquatische Säugetiere haben Schlaf und Aktivität entkoppelt, das heißt<br />
sie schlafen, während sie sich weiter bewegen. Da diese Tiere auch im<br />
Schlaf regelmäßig zum Atmen an die Wasseroberfläche kommen müssen,<br />
schlafen sie nur mit einer Hälfte des Gehirns, wohingegen die andere Hälfte<br />
wach und aktiv bleibt (Rattenborg et al. 2000). Dieser unihemisphärische<br />
Schlaf findet sich auch bei vielen Vögeln und vermutlich sogar Reptilien,<br />
wodurch die frühzeitige Entdeckung von Räubern und anderen<br />
Gefahren im Schlaf ermöglicht wird (Lima et al. 2005).<br />
Da die nicht-aquatischen Säugetiere den unihemisphärischen Schlaf<br />
aufgegeben haben, kann man davon ausgehen, dass die Vorteile aus der<br />
gleichzeitigen Ruhe beider Gehirnhälften die Nachteile der wegfallenden<br />
Räuberentdeckung übertreffen (Rattenborg et al. 1999). Die Funktion und<br />
Bedeutung von Schlaf für das Gehirn ist allerdings zu wenig bekannt, um<br />
diese Frage abschließend zu beantworten (Siegel 2005). Eine Hypothese<br />
geht davon aus, dass mit zunehmenden sensorischen Fähigkeiten im Lauf<br />
der Evolution immer mehr Informationen aufgenommen und verarbeitet<br />
werden mussten und Schlaf als eine Gelegenheit zur Verarbeitung dieser<br />
Information bei gleichzeitiger Unterdrückung zusätzlicher Reizaufnahme
86 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Abb. 3.8. Das Schlafbedürfnis variiert<br />
nicht nur zwischen Arten,<br />
sondern auch als Funktion des<br />
Alters; junge Tiere schlafen in der<br />
Regel mehr als Adulte<br />
entstanden ist (Kavanau 1997). Auf alle Fälle stellt Schlaf für den Körper<br />
eine Ruhe- und Erholungsphase dar, die somit der Homöostasis dienen<br />
kann.<br />
Allerdings variiert die Bedeutung von Schlaf beträchtlich zwischen Taxa,<br />
da manche Arten mit sehr viel weniger Schlaf auskommen als andere.<br />
Elefanten schlafen zum Beispiel nur 2–4 h pro Tag, wohingegen Fledermäuse<br />
oder Opossums bis zu 18 h pro Tag schlafen. Außerdem variiert das<br />
Schlafbedürfnis innerhalb von Arten in Abhängigkeit von Alter oder Entwicklungszustand<br />
(Abb. 3.8). Zudem muss man noch zwischen zwei Typen<br />
von Schlaf unterscheiden, die möglicherweise in ihrer Funktion differieren.<br />
REM-Schlaf ist durch schnelle Augenbewegungen (Rapid Eye<br />
Movements), Träume und hohe Gehirnaktivität charakterisiert, wohingegen<br />
beim nicht-REM-Schlaf Gehirn- und Augenaktivität sowie vegetative<br />
Funktionen wie Herzschlag und Blutdruck reduziert sind. Bei einer gegebenen<br />
Schlafdauer unterscheiden sich auch die Anteile des REM-Schlafs<br />
zwischen Arten und Individuen, aber die Ursachen und Bedeutung dieser<br />
Unterschiede sind noch wenig verstanden (Hobson 2005).<br />
3.2 Einteilung von Zeit und Energie<br />
Alle Verhaltensweisen nehmen Zeit und Energie in Anspruch. Dies betrifft<br />
in besonderem Maße Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung der<br />
Homöostasis dienen, da es sich dabei zumeist um Zustände ( Kap. 1.4)<br />
mit einer ausgeprägten Zeitkomponente handelt. Aufgrund der Limitierung<br />
von Zeit und Energie unterliegt jede Verhaltensweise jedoch einem<br />
Trade-off mit anderen Aktivitäten. Wann sollte ein Tier zum Beispiel wie
3.2 Einteilung von Zeit und Energie 87<br />
lange fressen? Wenn es ein Energiedefizit hat? Wenn Nahrung gerade verfügbar<br />
ist? Wenn das Prädationsrisiko oder die Nahrungskonkurrenz am<br />
geringsten sind? Wenn es keine anderen wichtigen Dinge zu tun gibt? Zur<br />
analytischen Lösung solcher Probleme bieten sich Optimalitätsmodelle<br />
( Kap. 1.4) an, da sie die Kosten und Nutzen verschiedener Verhaltensweisen<br />
und Strategien mit ökonomischen Prinzipien analysieren (Cuthill u.<br />
Houston 1997).<br />
Optimalitätsmodelle zur Analyse von Zeit- und Energiebudgets versuchen<br />
die Konsequenzen von Verhaltensweisen für die individuelle Fitness<br />
zu bestimmen, da nur sie ein einheitliches Maß für alle Aktivitäten darstellt.<br />
Da die Fitnesskonsequenzen einer Verhaltensweise, wie zum Beispiel<br />
eines einzelnen Fressvorgangs, in der Regel aber schwierig abzuschätzen<br />
sind, verwendet man einfachere Einheiten, die einfach zu messen<br />
und mit der Fitness korreliert sind, so dass durch deren Maximierung auch<br />
die Gesamtfitness maximiert wird. Bei der Untersuchung von Optimalitätsstrategien<br />
wurden zwei Maximierungsprinzipien entdeckt: Entweder<br />
die Effizienz oder die Energiegewinnrate werden optimiert.<br />
3.2.1 Optimale Effizienz<br />
Ein klassisches Beispiel der Verhaltensökologie verdeutlicht, wie strategische<br />
Aspekte der Zeit- und Energieeinteilung interagieren und sowohl<br />
das unmittelbare Verhalten von Individuen als auch deren Überlebenschancen<br />
nachhaltig beeinflussen. Dieses Beispiel betrifft central place<br />
foragers, also Tiere, die gesammelte Nahrung an einen fixen Punkt wie ein<br />
Nest mit Jungen oder einen Stock mit Artgenossen transportieren. Honigbienen<br />
(Apis mellifera) sammeln bekanntlich auf ihren Flügen Nektar, den<br />
sie zum Stock zurückbringen. Mit zunehmender Beladung mit Nektar erhöhen<br />
sich ihre energetischen Kosten des Fliegens, so dass schwerer beladene<br />
Bienen einen zunehmenden Anteil des Nektars auf dem Heimflug als<br />
Energiequelle selbst verbrauchen. Als Folge davon verringert sich die Nettorate<br />
des Energieeintrags in den Stock mit zunehmender Nektaraufnahme<br />
(Abb. 3.9). Es stellt sich daher die Frage, wann Bienen zum Stock zurückfliegen<br />
sollen, um möglichst viel an gesammeltem Nektar abzuladen.<br />
Schmid-Hempel und Kollegen (Schmid-Hempel et al. 1985, Kaczelnik<br />
et al. 1986) untersuchten in eleganten Experimenten, welcher Faktor von<br />
Bienen bei der Lösung dieses Problems optimiert wird. Sie präsentierten<br />
künstliche Blüten mit einer fixen Menge an Nektar und variierten durch<br />
entsprechendes Training die Zeit, welche die Tiere zwischen einzelnen<br />
Blüten fliegen mussten. Bienen flogen dabei mit einer geringeren Nek-
88 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Abb. 3.9. Optimale Energieeffizienz beim Nektarsammeln von Honigbienen (Apis<br />
mellifera). Mit zunehmender Beladung (blau) nehmen die Flugkosten (rot) nichtlinear<br />
zu, so dass sich die Nettorate des Energieeintrags (grün) zunehmend verringert<br />
tarmenge nach Hause, wenn sie gezwungen wurden, beim Suchen mehr<br />
Energie aufzuwenden. Bienen optimieren also beim Nektarsammeln ihre<br />
Energieeffizienz, d. h. das Verhältnis von Energiegewinn und -verbrauch.<br />
Ganz ähnlich verhalten sich manche Vögel, die mit Futter zu ihrem Nest<br />
mit Jungen fliegen. Sie könnten durch Erhöhung der Fluggeschwindigkeit<br />
über eine gegebene Distanz zwar die Fütterungsrate erhöhen, aber gleichzeitig<br />
werden dadurch auch die energetischen Kosten der Fortbewegung<br />
erhöht. Dieser vermehrte Energieaufwand muss durch zusätzliche eigene<br />
Nahrungsaufnahme, die ebenfalls Zeit beansprucht, kompensiert werden,<br />
so dass die optimale Fluggeschwindigkeit letztendlich durch eine Minimierung<br />
beider Zeiten erreicht wird, wobei bei Kohl- und Blaumeisen (Parus<br />
major und Cyanistes caeruleus) auch die Dichte der Beute und die Entfernung<br />
zum Nest von Bedeutung sind (Naef-Daenzer 2000). Es wird also<br />
auch in diesem Fall die Gesamteffizienz unter Berücksichtigung anderer<br />
Faktoren optimiert. Auch bei der Bewegung zwischen einzelnen Nahrungsquellen<br />
innerhalb ihres Territoriums oder Streifgebiets scheinen Informationen<br />
über Entfernung und Ergiebigkeit der Ressourcen bei der Planung<br />
von Wanderrouten miteinbezogen zu werden (Cunningham u. Janson<br />
2007), so dass die Effizienz der Bewegungen dadurch verbessert wird.
3.2 Einteilung von Zeit und Energie 89<br />
3.2.2 Maximierung der Energiegewinnrate<br />
In anderen Fällen, in denen Zeit- und Energieeinsatz abgewogen werden<br />
müssen, wird die Rate des Netto-Energiegewinns maximiert. Bei der<br />
Analyse des Fressverhaltens kann man die Rate des Energiegewinns<br />
bestimmen, indem man die energetischen Kosten und Gewinne einzelner<br />
Verhaltenskomponenten misst oder schätzt. Turmfalken (Falco tinnunculus)<br />
jagen zum Beispiel im Flug oder von einer Warte aus, wobei die energetischen<br />
Aufwendungen für die Jagd im Flug ungefähr 9-mal höher sind.<br />
Diese Form der Jagd ist aber auch circa 10-mal ergiebiger in Hinblick auf<br />
den durchschnittlichen Energiegewinn, so dass Turmfalken die meiste Zeit<br />
tatsächlich im Flug jagen (Masman et al. 1988).<br />
Stare (Sturnus vulgaris), die ihre Jungen mit Tipuliden-Larven füttern,<br />
haben in Bezug auf ihren Fortpflanzungserfolg (nicht in Bezug auf ihre<br />
Überlebenswahrscheinlichkeit) ein vergleichbares Problem ähnlich gelöst.<br />
Da sie mehrere dieser kleinen Larven in ihrem Schnabel halten können,<br />
sich mit zunehmender Anzahl von gefangenen Larven aber das Fangen von<br />
weiteren Larven zunehmend schwieriger gestaltet, stehen sie vor dem<br />
Problem, zusätzliche Kosten in Form von Suchzeit und -aufwand gegen<br />
den Vorteil, eine weitere Larve mit ans Nest zu bringen, gegeneinander<br />
abzuwägen (Abb. 3.10). Das Verhalten eines Stars bei der Lösung dieses<br />
Problems hängt von zwei Faktoren ab: der Zeit, die er für das Zurücklegen<br />
Abb. 3.10. Bei Futtereintrag ans Nest optimieren Stare (Sturnus vulgaris) die Anzahl<br />
der Larven, die gleichzeitig gesammelt werden, als Funktion der Suchzeit und<br />
dem Abstand vom Nest. Bei größerer Entfernung zum Nest (blau) wird die Suchzeit<br />
verlängert und mehr Larven pro Rückflug mitgenommen als bei kürzeren Entfernungen<br />
(grün). Die kumulative Anzahl der gefundenen Larven (orange) nimmt<br />
mit zunehmender Suchzeit ab
90 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
der Strecke zwischen Nest und dem Ort der Nahrungssuche verbraucht und<br />
der Gewinn-Kurve, die das Verhältnis von Suchzeit zu Sucherfolg beschreibt.<br />
Aus der Kombination dieser beiden Faktoren ergibt sich die optimale<br />
Anzahl von Larven, die auf dem Rückflug mitgenommen werden<br />
sollten. Durch diese optimale Anzahl an Larven wird auch die maximale<br />
Netto-Fütterungsrate der jungen Stare erreicht.<br />
Diese Zusammenhänge wurden von Kacelnik (1984) eindrucksvoll<br />
nachgewiesen. Er trainierte Stare dazu, Mehlwürmer an einem Fressnapf<br />
aufzunehmen, wobei er die Mehlwürmer über ein langes Plastikrohr in zunehmenden<br />
Abständen vom Nest zuführte. Damit konnte er die Gewinn-<br />
Kurve für diese Tiere kontrollieren. Die bekannten und kontrollierten Gewinn-Kurven<br />
konnte er somit in unterschiedlicher Entfernung vom Nest<br />
präsentieren und damit auch die Reisezeit der Stare manipulieren. Wie<br />
vorhergesagt erhöhten die Stare mit zunehmendem Abstand vom Nest die<br />
Zahl der mitgenommenen Larven.<br />
3.2.3 Kontrolle von Energie: interne und externe Speicher<br />
Eine gewisse Befreiung von unmittelbaren Zwängen bei der Gestaltung<br />
des Zeit- und Energiebudgets kann durch das Anlegen von Energiereserven<br />
erfolgen. Diese Energiespeicher können extern oder im Körper in<br />
Form von Fettreserven angelegt werden und sind mit verschiedenen Vorund<br />
Nachteilen verbunden. Beide Formen von Energiereserven sind grundsätzlich<br />
vorteilhaft, da eine permanente Nahrungsaufnahme zur Deckung<br />
der aktuellen Bedürfnisse in der Regel nicht möglich ist. Die Größe der<br />
Reserven und die Zeit, die damit überdauert werden kann, sind aber sehr<br />
variabel und können innerhalb artspezifischer Grenzen entsprechend flexibel<br />
angelegt werden. Sie beinhalten Reserven, die das Überleben einer<br />
Nacht oder eines kompletten Winterschlafes gewährleisten. Manche dieser<br />
Bedürfnisse sind vorhersagbar, aber kurzfristige Variationen in Wetterbedingungen<br />
oder Nahrungsverfügbarkeit können den aktuellen Fresserfolg<br />
wesentlich beeinträchtigen, so dass ein ungeplantes Zurückgreifen auf Reserven<br />
notwendig und vorteilhaft ist.<br />
Für Tiere in gemäßigten Breiten stellt der Winter eine Zeit der erschwerten<br />
Nahrungsaufnahme dar. Die Tageslänge, und damit die Zeit für die<br />
Nahrungsaufnahme, ist verkürzt und gleichzeitig müssen längere Nächte<br />
überdauert werden. Bei geringeren Temperaturen erhöhen sich Stoffwechselkosten,<br />
aber gleichzeitig erhöht sich die Varianz im Erfolg der Nahrungsaufnahme<br />
(Pravosudov u. Lucas 2001). Eine kurzfristige Reaktion<br />
auf diese Umweltänderungen ist für manche Arten möglich. Durch experimentelle<br />
Änderungen der Umgebungstemperatur, der Tageslänge oder
3.2 Einteilung von Zeit und Energie 91<br />
der Dauer der Futterverfügbarkeit konnte zum Beispiel bei mehreren Singvogelarten<br />
eine Zunahme der Körpermasse mit abnehmenden Temperaturen<br />
oder zunehmender Verkürzung der Fütterungsdauer ausgelöst<br />
werden (Cuthill u. Houston 1997). Die meisten einem strengen Winter<br />
ausgesetzten Arten bereiten sich aber schon Wochen oder Monate vorher<br />
darauf vor und legen entsprechende Fettreserven an. Ihnen liefern Änderungen<br />
in der Tageslänge ( Kap. 4.2) das Signal für Änderungen des<br />
Fressverhaltens.<br />
Da Tiere im Winter am schwersten sind und vor längeren Wanderungen<br />
an Masse zunehmen (Bairlein 2002), ist die Größe von Energiereserven<br />
nicht nahrungslimitiert. Daraus ist zu schließen, dass das Speichern von<br />
Energiereserven auch mit Kosten verbunden ist, da es sonst keine solchen<br />
individuellen Variationen in der Körpermasse gäbe. Die offensichtlichsten<br />
Kosten haben mit dem Erwerb der Nahrung zu tun, da diese gesucht und<br />
bearbeitet werden muss. Zudem sind nahrungsuchende Tiere aktiver und<br />
dadurch in ihrer Aufmerksamkeit beeinträchtigt, so dass sie einem erhöhten<br />
Prädationsrisiko ausgesetzt sind. Dieses Risiko wird generell, wie zum<br />
Beispiel von fouragierenden Pavianen (Papio ursinus), bei der Habitatnutzung<br />
mit berücksichtigt (Cowlishaw 1997).<br />
Es gibt auch direkte Kosten der beiden Arten der Energiespeicherung.<br />
Wenn die Energiebedürfnisse die Speicherkapazität übersteigen, sind manche<br />
Tiere gezwungen, gefundene Nahrung in externen Speichern zu verstecken.<br />
Diese externen Energiespeicher sind aber mit dem Risiko der<br />
Plünderung behaftet (Bugnyar u. Kotrschal 2002). Es wird zusätzlich<br />
Energie benötigt, um sie aufzusuchen, es muss zusätzlich in neuronale<br />
Strukturen investiert werden, um sich an ihren Ort zu erinnern (Clayton<br />
1998), oder sie können gar nicht mehr lokalisiert werden (Pravosudov u.<br />
Clayton 2001).<br />
Die Alternative besteht in der Speicherung im Körper (Abb. 3.11), die<br />
aber mit anderen Kosten verbunden ist (Witter u. Cuthill 1993). Erhöhte<br />
Fettleibigkeit kann auch bei Tieren verschiedene pathologische Konsequenzen<br />
wie Herzkrankheiten, Gallensteine oder Arthritis nach sich ziehen.<br />
Die erhöhte Gesamtmasse führt außerdem zu erhöhten Stoffwechselkosten<br />
und insbesondere zu einer energetischen Verteuerung der Fortbewegung.<br />
Davon sind besonders Vögel betroffen, obwohl erste direkte Messungen<br />
gezeigt haben, dass diese zusätzlichen Kosten bei Langstreckenziehern effektiv<br />
kompensiert werden können (Kvist et al. 2001). Schwerere Tiere<br />
sind unter Umständen auch in ihren natürlichen Bewegungsabläufen behindert<br />
und aufgrund dieser Schwerfälligkeit einem erhöhten Prädationsrisiko<br />
ausgesetzt (Lind et al. 2002). Schwerere Rotkehlchen (Erithacus<br />
rubecula) haben beispielsweise verringerte Abflugwinkel, wenn sie von<br />
einem Greifvogel angegriffen werden, und können diesen schlechter an
92 3 Grundfunktionen und Verhalten<br />
Abb. 3.11. Zur Vorbereitung<br />
auf Zeiten mit Nahrungsknappheit,<br />
des Winterschlafs<br />
(Säuger) oder<br />
langer Wanderungen (Vögel)<br />
legen manche Tiere<br />
(wie dieses Eichhörnchen,<br />
Sciurus vulgaris) interne<br />
Energiespeicher an.<br />
den Angriffswinkel des Greifs anpassen (Lind et al. 1999). Vögel, die vor<br />
ihren Zugwanderungen Fettreserven anlegen, müssen dieses Risiko aber<br />
wohl in Kauf nehmen.<br />
Das Problem der Optimierung von Zeit- und Energiebudgets ist am Beispiel<br />
der Nahrungsaufnahme am gründlichsten untersucht. Es lässt sich<br />
aber auch auf viele andere Verhaltensweisen anwenden. Bei der genaueren<br />
Analyse wird deutlich, wie sehr Verhalten die Integration verschiedenster<br />
interner und externer Faktoren auf der Ebene des Organismus widerspiegelt<br />
und wie eng das Verhalten mit Ökologie und Physiologie verbunden<br />
ist. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Erkenntnis,<br />
dass ökonomische Ansätze zur Erklärung einer Verhaltensweise nur ultimate<br />
Faktoren identifizieren, welche die Ausprägung des Verhaltens offensichtlich<br />
beeinflussen. Damit ist aber noch nicht bewiesen, dass die Tiere<br />
eine bestimmte Variable maximieren, und eine solche Analyse sagt nichts<br />
darüber aus, mit welchen sensorischen Mechanismen ein Tier Variablen<br />
wie „Maximale Energiegewinnrate“ misst und wie es die entsprechenden<br />
Informationen verarbeitet.<br />
3.3 Zusammenfassung<br />
Der Überlebenserfolg von Tieren wird tagtäglich mit davon beeinflusst,<br />
wie erfolgreich sie ihre physiologischen Grundfunktionen innerhalb<br />
vorgesehener Gleichgewichte halten. Verhaltensmechanismen<br />
spielen dabei einerseits eine wichtige proximate Rolle bei der Versorgung<br />
des Organismus mit ausreichend Energie und Wasser, beim Er-
Literatur 93<br />
halt einer vorteilhaften Körpertemperatur sowie bei der Abwehr von<br />
Pathogenen und Stressoren. Schlaf als wichtiger Regenerationsmechanismus<br />
kann in diesem Zusammenhang als eigenständiger Verhaltenszustand<br />
betrachtet werden. Bei der Ausübung anderer Verhaltensweisen<br />
können durch Optimierung der Energieeffizienz oder des<br />
Energiegewinns entscheidende Beiträge zum stabilen Erhalt der<br />
Grundfunktionen geleistet werden. Energiebudgets können außerdem<br />
durch physiologische oder verhaltensbiologische Mechanismen der<br />
Energiespeicherung über mittelfristige Zeiträume hinweg positiv beeinflusst<br />
werden. Diese diversen und zum Teil miteinander inkompatiblen<br />
Anforderungen an die Unterstützung der Grundfunktionen des<br />
Organismus können andererseits das Verhalten von Tieren auch nachhaltig<br />
beeinflussen. Insgesamt stellen die Lösungen dieser Überlebensprobleme<br />
herausragende Beispiele dafür dar, wie sehr physiologische,<br />
ökologische und soziale Faktoren in komplexer Weise mit<br />
dem Verhalten interagieren, wobei die betreffenden Verhaltensweisen<br />
in diesem Funktionskreis größtenteils unauffällig und wenig spektakulär<br />
sind.<br />
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4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
4.1 Sinnesphysiologie<br />
4.1.1 Sehen<br />
4.1.2 Hören<br />
4.1.3 Mechanorezeption<br />
4.1.4 Chemorezeption<br />
4.1.5 Thermorezeption<br />
4.1.6 Elektro- und Magnetorezeption<br />
4.2 Orientierung in der Zeit<br />
4.2.1 Circadiane Rhythmen<br />
4.2.2 Gezeitenrhythmen<br />
4.2.3 Lunarperiodik<br />
4.2.4 Circannuale Periodik<br />
4.3 Orientierung im Raum<br />
4.3.1 Kinesen und Taxien<br />
4.3.2 Navigation<br />
4.3.3 Wanderungen<br />
4.4 Zusammenfassung<br />
Das tagtägliche Überleben von Tieren basiert zu einem wichtigen Teil auf<br />
ihrer Fähigkeit, sich mit Hilfe des Verhaltens an wechselnde soziale und<br />
ökologische Bedingungen anzupassen. Diese Verhaltenskapazitäten ergänzen<br />
relevante physiologische und anatomische Anpassungen und sind<br />
funktional eng mit diesen verbunden. Im Unterschied zu Pflanzen haben<br />
die meisten Tiere die Möglichkeit, sich zumindest in einem Lebensstadium<br />
(z. B. als Larve) aktiv in Relation zu fitnessrelevanten Faktoren wie Nahrung,<br />
Räubern oder Paarungspartnern zu bewegen. Diese Orientierung im<br />
Raum kann vielfältige Formen annehmen und reicht von Körperbewegungen<br />
in Relation zu einzelnen Sinnesreizen bis hin zu Wanderungen zwischen<br />
Arktis und Antarktis. Zudem sind die allermeisten Tiere zeitlichen<br />
Schwankungen überlebensrelevanter Aspekte ihrer Umwelt ausgesetzt. Ein<br />
Großteil der Schwankungen in dieser Dimension ist gut vorhersagbar, wie<br />
der Wechsel zwischen Tag und Nacht oder zwischen verschiedenen Jah-
100 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
reszeiten, woran viele Aspekte des Verhaltens angepasst sind. Die artspezifische<br />
Ausstattung mit unterschiedlichen Sinnesorganen ermöglicht es<br />
Tieren, Änderungen verschiedener Komponenten ihrer Umwelt wahrzunehmen<br />
und entsprechend darauf zu reagieren. Da diese sinnesphysiologischen<br />
Fähigkeiten auch in anderen Domänen eine wichtige Grundlage<br />
des Verhaltens darstellen (z. B. Nahrungssuche Kap. 5.2, Räubervermeidung<br />
Kap. 6.3, Kommunikation Kap. 11.3), ist ein fundiertes<br />
physiologisches Grundlagenwissen für ein komplettes Verständnis dieser<br />
Anpassungen notwendig. Da es dazu sehr kompetente und ausführliche<br />
Darstellungen gibt (z. B. Heldmaier u. Neuweiler 2003), möchte ich die<br />
wichtigsten Sinnessysteme im Nachfolgenden nur in ganz allgemeiner<br />
Form umreißen.<br />
4.1 Sinnesphysiologie<br />
Diese einführende Übersicht über die wichtigsten sinnesphysiologischen<br />
Grundlagen hat zwei Ziele. Zum einen soll sie ein Bewusstsein dafür<br />
schaffen, dass Tieren die unterschiedlichsten Informationen zur Verfügung<br />
stehen, die sich zum Teil unserer eigenen Wahrnehmung entziehen. Zum<br />
anderen möchte ich die Diversität artspezifischer Anpassungen betonen<br />
und verdeutlichen, dass praktisch jede Art auf den für sie relevanten Gebieten<br />
sensorische Höchstleistungen vollbringt.<br />
4.1.1 Sehen<br />
Sehen beschreibt die Fähigkeit, elektromagnetische Strahlung innerhalb<br />
eines bestimmten Wellenlängenbereichs zu perzipieren. Die dafür notwendigen<br />
Photorezeptoren finden sich bei der großen Mehrzahl der Tiere zumeist<br />
konzentriert und aufeinander abgestimmt in Form von Augen. Insgesamt<br />
sind acht verschiedene Augentypen, darunter neben einfachen<br />
Becheraugen auch zusammengesetzte Augen und Linsenaugen, mehr als<br />
40-mal unabhängig voneinander entstanden (Abb. 4.1; Fernald 2000).<br />
Trotz dieser Diversität der optischen Apparate verwenden alle dieselbe<br />
molekulare Strategie, um Photonen mit Hilfe von Opsinen einzufangen.<br />
Außer Intensität und Richtung können in Abhängigkeit vom Photorezeptortyp<br />
auch Farben wahrgenommen werden. Das für uns sichtbare Spektrum<br />
elektromagnetischer Strahlung wird von manchen Tieren in den ultravioletten<br />
bzw. infraroten Bereich ausgedehnt (Shi et al. 2001), manche<br />
nehmen sogar polarisiertes Licht wahr (Wehner 1989).
4.1 Sinnesphysiologie 101<br />
Abb. 4.1a–d. Sehen ist die wichtigste Sinnesmodalität für die Mehrzahl der Tiere.<br />
Insgesamt acht verschiedene Augentypen sind im Laufe der Evolution entstanden,<br />
wobei die einzelnen Typen sich an unterschiedliche Bedürfnisse wie Tag- oder<br />
Nachtaktivität angepasst haben (a Koboldmaki Tarsius lariang, b Chamäleon<br />
Furcifer labordi, c Schmeißfliege Calliphora vicina, d Zwergohreule Otus rutilus)<br />
Die Sehschärfe ist vom Augentyp und von der Dichte der Photorezeptoren<br />
abhängig und variiert ebenfalls stark zwischen Arten. Ein Linsenauge<br />
einer Springspinne (Salticidae) hat zum Beispiel eine 10- bis 100fach<br />
bessere Auflösung als ein vergleichbares zusammengesetztes Auge eines<br />
Insekts, wohingegen Insektenaugen aufgrund ihrer konvexen Form sehr<br />
viel größere Sehfelder ermöglichen (Wehner 1997). Bei Vögeln und Säugetieren<br />
ist die Sehschärfe positiv mit der Augen- und Körpergröße korreliert<br />
(Kiltie 2000). Fixe Verschaltungen von Photorezeptoren können bestimmte<br />
rezeptive Felder definieren, die erste Filter visueller Information<br />
darstellen und auf besondere Bewegungen ansprechen oder Mustererkennung<br />
ermöglichen. Je nach Anordnung der Augen am Körper wird außerdem<br />
ein unterschiedliches Maß an räumlichem Sehen ermöglicht.<br />
Durch verschiedene strukturelle Anpassungen können visuelle Systeme<br />
an unterschiedliche Umweltbedingungen angepasst werden, so dass sie ihre<br />
Leistungsfähigkeit auch unter erschwerten Bedingungen beibehalten.<br />
Meeresfische haben zum Beispiel mit zunehmender Tiefe ihrer Lebensräume<br />
zunehmend größere Linsen und mit reflektierenden Schichten unter-
102 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
legte Photorezeptoren, um die Lichtempfindlichkeit ihrer Augen zu steigern.<br />
Ab Tiefen von ca. 1000 m ist die Lichtausbeute dann so gering, dass<br />
Fische, die in diesen Tiefen leben, gar keine Augen mehr haben. Andere<br />
Merkmale wie die spektrale Sensitivität des Photopigments Rhodopsin<br />
bleiben dagegen unter allen Bedingungen konstant, was darauf hindeutet,<br />
dass molekulare Zwänge die Leistungsfähigkeit von Sinnen beschränken<br />
können (Wehner 1997).<br />
Das Sehen liefert Tieren die genauesten räumlichen Informationen über<br />
ihre Umwelt und spielt daher eine wichtige Rolle bei der Orientierung in<br />
Raum und Zeit. Visuelle Signale über den Stand und relativen Gang von<br />
Sonne und Mond liefern wichtige Zeitinformationen ( Kap. 4.2), und visuelle<br />
Landmarken sind bei der Orientierung auf verschiedenen räumlichen<br />
Ebenen wichtig ( Kap. 4.3).<br />
4.1.2 Hören<br />
Für die Wahrnehmung von Schall ist im Tierreich eine Vielzahl von Organen<br />
entstanden, wobei die Hörorgane der Wirbeltiere einander vergleichsweise<br />
ähnlich sind (Fay u. Popper 2000). Die meisten Hörorgane enthalten<br />
einen Mechanismus, der Schalldruck in Vibrationsbewegungen umsetzt,<br />
welche wiederum elektrische Änderungen an Mechanorezeptoren auslösen.<br />
Die Amplitude der Schallwellen enthält Information über die Lautstärke.<br />
Die Frequenz der von verschiedenen Tieren wahrnehmbaren<br />
Schallwellen reicht vom Ultraschall bis in den Infraschallbereich, wobei<br />
Wirbellose generell viel engere Frequenzbereiche besitzen, in denen sie<br />
Frequenzen unterscheiden können, als die meisten Wirbeltiere. Durch die<br />
paarige Anordnung der Hörorgane wird zudem richtungsabhängiges Hören<br />
ermöglicht (z. B. Gilbert u. Elsner 2000).<br />
Manche Tiere, die im Wasser leben oder nachtaktiv sind, haben akustische<br />
Orientierungssysteme entwickelt, da das Sehen unter diesen Bedingungen<br />
nur über sehr kurze Distanzen effektiv ist. Die Auswertung von<br />
akustischen Signalen spielt bei der räumlichen Orientierung mancher Tiere<br />
wie der Fledermäuse und Zahnwale eine herausragende Rolle. Delfine<br />
(Tursiops truncatus) können mit ihrem Sonarsystem unter anderem die<br />
Form und Größe von Gegenständen erfassen (Harley et al. 2003) und passen<br />
die Amplitude ihrer Echoortungssignale an die Entfernung zum Ziel an<br />
(Au u. Benoit-Bird 2003). Andere Zahnwale können mit akustischen Signalen<br />
über große Entfernungen miteinander kommunizieren; Pottwal-Weibchen<br />
(Physeter macrocephalus) lassen beispielsweise ihre abhängigen Jungen<br />
während ihrer ausgedehnten Nahrungstauchgänge an der Oberfläche<br />
zurück, treffen aber mehrere Kilometer entfernt beim Auftauchen wieder
4.1 Sinnesphysiologie 103<br />
Abb. 4.2. Fledermäuse<br />
(Microchiroptera) benutzen<br />
ein Echoortungssystem,<br />
um sich im Raum zu<br />
orientieren und um Beute<br />
zu detektieren. Sie verarbeiten<br />
dazu das Echo von<br />
hochfrequenten Schallimpulsen,<br />
die sie selbst<br />
erzeugen<br />
mit ihnen zusammen (André u. Kamminga 2000). Bei manchen Zugvögeln<br />
scheint Infraschall eine Rolle bei der Langstrecken-Orientierung zu spielen;<br />
Brieftauben (Columba livia), die während Wettflügen vom Infraschall<br />
von Concorde-Flugzeugen desorientiert wurden, lieferten den Hinweis auf<br />
die Existenz und Bedeutung dieses Reiztyps (Hagstrum 2000).<br />
Fledermäuse benutzen ein Echoortungssystem, um sich im Raum zu orientieren<br />
und um damit ihre Beute zu lokalisieren (Abb. 4.2). Vergleichende<br />
Untersuchungen an den Sonarsystemen von Fledermäusen, die möglicherweise<br />
zweimal unabhängig voneinander entstanden sind (Teeling et al.<br />
2000), haben in eindrucksvoller Weise gezeigt, wie die physikalischen<br />
Eigenschaften dieser Systeme durch ökologische Faktoren beeinflusst werden<br />
(Jones u. Holderied 2007). Fledermausarten, die hoch über der Baumkrone<br />
jagen, verwenden nämlich relativ nieder-frequente Signale mit großer<br />
Reichweite aber geringer Auflösung, wohingegen Arten, die in den<br />
dreidimensionalen Straten der Wälder jagen, relativ höher-frequente Signale<br />
einsetzen und so eine bessere strukturelle Auflösung ihrer Umwelt bewerkstelligen<br />
(Neuweiler 1990). Selbst innerhalb von Gilden, also Gruppen<br />
von Tieren von morphologisch ähnlichen Arten, die in derselben Nische<br />
nach Nahrung suchen, finden sich strukturelle Unterschiede in den Echolauten,<br />
welche zu Spezialisierungen auf unterschiedliche Beutetypen beitragen<br />
(Siemers u. Schnitzler 2004). Zusätzliche artspezifische Anpassungen<br />
finden sich in Bezug auf die Intensität der Laute, die je nach<br />
Nahrungstyp um das Zehnfache variieren kann, um einen frequenzabhängigen<br />
einheitlichen Bereich zu erzeugen, in dem die jeweiligen Beutetiere<br />
wahrgenommen werden können (Surlykke u. Kalko 2008).
104 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
4.1.3 Mechanorezeption<br />
Für die Wahrnehmung von taktilen Reizen werden Mechanorezeptoren benutzt,<br />
die auf direkte mechanische Reizung, welche oft durch Tasthaare<br />
oder ähnliche Strukturen verstärkt wird, reagieren. Neben der Intensität eines<br />
mechanischen Reizes kann über die entsprechende Anordnung der Rezeptoren<br />
am Körper auch Richtungsinformation gewonnen werden. Das<br />
am weitesten verbreitete Mechanorezeptororgan stellt das Seitenlinienorgan<br />
der Knochenfische (Osteichthyes) dar. Mit ihm werden unter anderem<br />
Beutetiere lokalisiert, der Abstand zu Schwarmgenossen reguliert und<br />
Strömungen gemessen (Engelmann et al. 2002). Die Vibrissen in der<br />
Schnauzenregion der meisten Säugetiere stellen ein weiteres Beispiel für<br />
die konzentrierte Wahrnehmung von mechanischen Reizen dar. Seehunde<br />
(Phoca vitulina) können damit sogar in der Dunkelheit Turbulenzen, die<br />
durch Fische oder andere schwimmende Objekte verursacht werden, detektieren<br />
(Dehnhardt et al. 2001). Für die betreffenden Tiergruppen stellen<br />
diese Mechanorezeptoren einen wichtigen Mechanismus bei der Kurzstrecken-Orientierung<br />
und der Koordination des Abstands zu Artgenossen<br />
dar. Eine zweite wichtige Klasse von Mechanorezeptoren ist für die Wahrnehmung<br />
von Schwerkraft und Beschleunigungskräften zuständig. Bei höheren<br />
Wirbeltieren sind diese Rezeptoren zu einem Organ in Innenohr zusammengefasst<br />
und steuern wichtige Informationen über die räumliche<br />
Lage des Individuums bei, die für die Orientierung des Körpers wichtig<br />
sind (Rinkwitz et al. 2001).<br />
4.1.4 Chemorezeption<br />
Die Identität und Konzentration von chemischen Substanzen wird durch<br />
Chemorezeptoren festgestellt, an deren Zellmembran bestimmte Moleküle<br />
binden und dadurch elektrische Signale auslösen. Die Wahrnehmung von<br />
chemischen Signalen in der Umwelt wird durch die Organsysteme des<br />
Riechens und Schmeckens vermittelt. Beim Riechen werden relativ geringe<br />
Konzentrationen chemischer Signale in der Luft detektiert, wohingegen<br />
beim Schmecken direkter Kontakt relativ hoher Konzentrationen der Reizmoleküle<br />
mit den Rezeptoren notwendig ist. Bei aquatischen Tieren ist<br />
diese Unterscheidung allerdings nicht immer einfach bzw. nur über die Betrachtung<br />
der nervösen Verbindungen mit verschiedenen Gehirnregionen<br />
möglich. Chemische Signale können sowohl bei Wirbellosen (Mondor u.<br />
Roitberg 2003) als auch bei Wirbeltieren (Kristensen u. Closs 2004) als<br />
Schreckstoffe eingesetzt werden und so die Überlebenschancen von dadurch<br />
gewarnten Artgenossen verbessern ( Kap. 6.3). Sie dienen aber
4.1 Sinnesphysiologie 105<br />
auch der Orientierung über unterschiedliche Distanzen und Medien; beispielsweise<br />
bei aquatischen Krebsen (Keller et al. 2003), bei Säugetieren,<br />
die Urin und Drüsensekrete zur Markierung ihrer Lebensräume einsetzen,<br />
oder bei Zugvögeln, die olfaktorische Informationen zur Navigation heranziehen<br />
(Able 1996). Die überragende Rolle für das Verhalten haben chemische<br />
Signale als Pheromone in der innerartlichen Kommunikation<br />
(Wyatt 2003), zum Beispiel bei der Erkennung von (individuellen) Artgenossen<br />
(Ozaki et al. 2005).<br />
4.1.5 Thermorezeption<br />
Die Rezeptoren zur Wahrnehmung der Außentemperatur bestehen zumeist<br />
aus freien Nervenendigungen mit einer entsprechenden Sensitivität. Manche<br />
Schlangen (Grubenottern, Crotalidae) haben einen Teil ihrer Thermorezeptoren<br />
gebündelt und können über die Wahrnehmung der Infrarotstrahlung<br />
Informationen über ihre Beutetiere wahrnehmen (Shine u. Sun 2003).<br />
Wenn kalifornische Ziesel (Spermophilus beecheyi) einer Klapperschlange<br />
(Crotalus) gegenüber stehen, können sie einem visuellen Signal in Form<br />
von Schwanzwedeln auf noch nicht verstandene Art und Weise ein Infrarotsignal<br />
beigeben, welches die Ziesel offenbar größer erscheinen lässt und<br />
den Räuber einschüchtert (Rundus et al. 2007). Die meisten anderen Tiere<br />
haben dagegen ihre Thermorezeptoren am ganzen Körper verteilt; nur bei<br />
Vögeln sind sie auf die Zunge und den Schnabel konzentriert. Informationen<br />
über die lokale Außentemperatur können auch die Orientierung im<br />
Habitat mit beeinflussen, da viele Tiere eine bestimmte, relativ enge Temperaturpräferenz<br />
haben ( Kap. 5.1).<br />
4.1.6 Elektro- und Magnetorezeption<br />
Manche Rezeptoren sind darauf spezialisiert, elektrische Felder wahrzunehmen.<br />
Aufgrund der Leitungseigenschaften von elektrischem Strom sind<br />
Ausdifferenzierungen entsprechender Organe auf aquatisch lebende Tiere<br />
beschränkt. Solche paarigen Organe an den weit auseinander liegenden<br />
Kopfenden erlauben es zum Beispiel Hammerhaien (Sphyrna mokarran),<br />
die elektrischen Reize, die durch die Aktivität der Kiemenmuskeln von im<br />
Sand versteckten Plattfischen ausgelöst werden, zu detektieren und so ihre<br />
Beute zu lokalisieren. Solche passiven Elektrorezeptionsfähigkeiten finden<br />
sich aber auch bei zahlreichen anderen aquatischen Wirbeltieren (Collin u.<br />
Whitehead 2004). Elektrische Fische (Familie Gymnotidae und Mormyridae)<br />
bauen dagegen selber ein elektrisches Feld auf, dessen Störungen<br />
durch entsprechende Rezeptororgane wahrgenommen und zur Orientierung
106 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
in trüben Gewässern benutzt werden. Damit können elektrische Fische die<br />
Entfernung von Objekten unterschiedlicher Größe und Form genau bestimmen<br />
(von der Emde et al. 1998). Außerdem werden die elektrischen Sig-<br />
Box 4.1<br />
Wahrnehmung des Magnetfelds bei Rotkehlchen<br />
• Frage: Ist die Wahrnehmung des Magnetfelds auf ein Auge beschränkt?<br />
• Hintergrund: Die Wahrnehmung des Magnetfelds ist lichtabhängig.<br />
Brieftauben, die nur das rechte Auge zur Verfügung hatten, orientierten<br />
sich bei bewölktem Himmel besser als Tauben, die nur das linke Auge<br />
benutzten.<br />
• Methode: Gemessen wurde die Vorzugsrichtung von Rotkehlchen (Erithacus<br />
rubecula) in einem Rundkäfig. Den Tieren wurde nacheinander<br />
das linke, das rechte oder kein Auge abgedeckt.<br />
• Ergebnis: Die durchschnittliche Vorzugsrichtung* unterscheidet sich<br />
nicht, wenn die Tiere beide Augen (a) oder nur das rechte Auge (b) zur<br />
Verfügung haben. Wenn nur das linke Auge (c) benutzt wird, gibt es dagegen<br />
keine einheitliche Vorzugsrichtung.<br />
• Schlussfolgerung: Die Wahrnehmung von Magnetfeldern für die Kompassorientierung<br />
ist eng an das visuelle System gekoppelt und stark lateralisiert<br />
(rechtes Auge/linke Gehirnhälfte).<br />
Wiltschko et al. 2002<br />
* Pfeil beschreibt die mittlere Richtung und die Übereinstimmung der einzelnen Vögel<br />
()
4.2 Orientierung in der Zeit 107<br />
nale zur innerartlichen Kommunikation, unter anderem im Kontext des<br />
Fortpflanzungsverhaltens, eingesetzt (Bratton u. Kramer 1989).<br />
Das Magnetfeld der Erde ist ein Vektorfeld, dessen Feldlinien die<br />
Erde am nördlichen Magnetpol verlassen, um die Erde herum laufen und<br />
am südlichen Magnetpol wieder in die Erde eintreten. Prinzipiell stehen<br />
also die Richtung (Polarität) und Neigung (Inklination) der Feldlinien<br />
als Informationen zur Verfügung. Da die Inklination mehr oder weniger<br />
der geographischen Breite entspricht, enthält dieser Aspekt des Magnetfeldes<br />
Ortsinformation, die bei ausgedehnten Wanderungen benutzt wird<br />
( Kap. 4.3). Magnetische Felder werden von Vögeln zum Teil über Photorezeptoren<br />
(Wiltschko u. Wiltschko 2002), aber auch in einem zweiten,<br />
unabhängigen System über eisenhaltige Rezeptoren im Bereich des oberen<br />
Schnabels wahrgenommen (Stapput et al. 2008). Im Auge erfolgt die<br />
Magnetperzeption über Photopigmente, die durch Lichtabsorption angeregt<br />
werden und in Abhängigkeit der Ausrichtung der Moleküle relativ zur<br />
Richtung des Magnetfelds in einen weiteren angeregten Zustand übergehen<br />
können. Damit könnte die Magnetfeldrichtung wahrgenommen und für<br />
einen Kompass genutzt werden. Interessanterweise wird bei Rotkehlchen<br />
(Erithacus rubecula) die magnetische Richtungsinformation ausschließlich<br />
über das rechte Auge wahrgenommen (Wiltschko et al. 2002). Wie diese<br />
für uns nicht wahrnehmbare Modalität mit einfachen Verhaltensexperimenten<br />
untersucht werden kann, ist in Box 4.1 dargestellt.<br />
4.2 Orientierung in der Zeit<br />
Mit wenigen Ausnahmen, wie in der Tiefsee oder in Höhlen, sind Tiere<br />
mehreren, einander überlagerten zyklischen Änderungen ihrer Umwelt<br />
ausgesetzt. Die ökologisch wichtigsten exogenen Rhythmen, an die Tiere<br />
ihr Verhalten angepasst haben, betreffen den Wechsel zwischen Tag und<br />
Nacht, zwischen Ebbe und Flut, zwischen verschiedenen Mondphasen sowie<br />
unterschiedlichen Jahreszeiten mit ihren Schwankungen in Temperatur<br />
und Nahrungsverfügbarkeit. Anpassungen an diese sich verändernden<br />
Umgebungsbedingungen erfolgen entweder als direkte Reaktion auf Reize<br />
der Umwelt und/oder sie basieren auf endogenen Rhythmen, die das Verhalten<br />
von Tieren mit periodischen Umweltänderungen synchronisieren.<br />
Die durch die Erddrehung verursachte periodische Änderung des Sonnenstandes<br />
und der Sonneneinstrahlung bzw. die damit verbundenen Helligkeitsänderungen<br />
sind die wichtigsten externen Zeitgeber, die Tieren das<br />
Kalibrieren ihrer inneren Uhren und das Messen von Zeit erlauben.
108 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
4.2.1 Circadiane Rhythmen<br />
Seit Beginn des Lebens gab es circa 10 15 Sonnenauf- und -untergänge.<br />
Dieser tägliche Wechsel zwischen Tag und Nacht stellt für die meisten<br />
Tiere aufgrund der unterschiedlichen Lichtintensitäten eine große ökologische<br />
Herausforderung an das Überleben dar. Aufgrund der unterschiedlichen<br />
Anforderungen an optimal an unterschiedliche Lichtintensitäten<br />
angepasste visuelle Systeme sind die meisten Tiere mehr oder weniger<br />
strikt tag- oder nachtaktiv. Bei Tagaktivität sind Fähigkeiten wie Sehschärfe,<br />
Farbensehen und Entfernungseinschätzung wichtig und mit erhöhter<br />
Lichtempfindlichkeit, die bei Nacht vorteilhaft ist, nicht vereinbar, da sich<br />
zum Beispiel auf der begrenzten Fläche einer Retina nur eine begrenzte<br />
Anzahl von Stäbchen und/oder Zapfen unterbringen lässt. Tiere, bei denen<br />
das visuelle System eine dominierende Rolle bei der Nahrungssuche<br />
und/oder der Räubervermeidung spielt, sind daher zumeist tagaktiv. Nachtaktive<br />
Tiere verlassen sich dagegen eher auf akustische und olfaktorische<br />
Reize, um Nahrung zu finden oder Räubern auszuweichen.<br />
Man unterscheidet vier Aktivitäts-Typen: strikte Tag- oder Nachtaktivität,<br />
Kathemeralität und Dämmerungsaktivität (Abb. 4.3). Diese Aktivitäts-<br />
Abb. 4.3. Vier Typen circadianer Aktivität können unterschieden werden. Sie sind<br />
hier schematisch über einen Zeitraum von 24 h dargestellt
[%]<br />
Tage<br />
4.2 Orientierung in der Zeit 109<br />
Box 4.2<br />
Circadiane Aktivität bei Lemuren<br />
• Frage: Wie unterscheiden sich Aktivitätsmuster von kathemeralen und<br />
tagaktiven Lemuren im Freiland?<br />
• Hintergrund: Sympatrische Arten haben unterschiedliche Aktivitätsmuster.<br />
Direkte Verhaltensbeobachtungen sind über 24 h nicht möglich.<br />
• Methode: Die Aktivität von Rotstirnmakis (Eulemur fulvus rufus) und<br />
Verreaux’s Sifakas (Propithecus verreauxi) wurde kontinuierlich mit Hilfe<br />
eines Aktimeters aufgezeichnet.<br />
[%] Tage<br />
1<br />
10<br />
20<br />
30<br />
40<br />
50<br />
1,0<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,4<br />
0,2<br />
0,0<br />
1,0<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,4<br />
0,2<br />
0,0<br />
0 6 12 18 0 6 12 18 0 0 6 12 18 0 6 12 18 0<br />
Tageszeit<br />
120<br />
130<br />
140<br />
150<br />
160<br />
170<br />
Tageszeit<br />
Rotstirnmaki<br />
Verreaux's Sifaka<br />
• Ergebnis: Die über 5-Minuten-Zeiträume summierte Aktivität ist im oberen<br />
Diagramm gegen die Zeit aufgetragen; jede Zeile zeigt die Werte von<br />
zwei aufeinander folgenden Tagen. Im unteren Diagramm wurde die Aktivität<br />
über 60 Tage summiert und als prozentualer Anteil der durchschnittlichen<br />
täglichen Gesamtaktivität dargestellt. Rotstirnmakis (links)<br />
haben Aktivitätsspitzen am frühen Morgen und Abend, aber auch mitten<br />
in der Nacht. Sifakas (rechts) sind über den ganzen Tag, aber nicht bei<br />
Nacht aktiv.<br />
• Schlussfolgerung: Aktivitätsmuster von ökologisch ähnlichen, sympatrischen<br />
Arten können sich grundlegend unterscheiden.<br />
Kappeler u. Erkert 2003 und Erkert u. Kappeler 2004
110 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
formen entstehen dadurch, dass die Tiere ihre wichtigsten Verhaltensweisen<br />
wie Nahrungssuche und -aufnahme in einer täglichen Routine ausprägen,<br />
die den Überlebenswert maximiert. Bei kathemeraler Aktivität sind<br />
Ruhe- und Aktivitätsphasen ungleichmäßig über den ganzen 24-Stunden-<br />
Tag verteilt (Box 4.2).<br />
Tagesperiodische Aktivität wird von zwei Faktoren kontrolliert: der inneren<br />
Uhr und äußeren Einflüssen (Maskierungseffekten). Zur proximaten<br />
Steuerung von Aktivitäts- und Ruhephasen sowie zur internen Koordination<br />
der zahlreichen physiologischen Tagesrhythmen des Organismus oder<br />
auch von manchen Entwicklungsvorgängen (Schultz u. Kay 2003) haben<br />
alle Tiere eine innere Uhr entwickelt. Als circadian bezeichnet man<br />
endogene Rhythmen, die eine ungefähr 24-stündige Periodenlänge haben.<br />
Die Existenz einer circadianen Uhr lässt sich unter konstanten Laborbedingungen<br />
nachweisen; bei der Taufliege Drosophila melanogaster wurde<br />
dies beispielsweise in einem Experiment über 600 Generationen gemacht<br />
(Sheeba et al. 2002). Durch Haltung und Fortpflanzung von Tieren unter<br />
konstanten Bedingungen über viele Generationen sowie durch Kreuzungsversuche<br />
von Mutanten mit unterschiedlicher Periodik konnte außerdem<br />
gezeigt werden, dass die circadiane Uhr angeboren ist (Aschoff 1960). Eine<br />
natürliche Mutation eines Gens aus diesem funktionalen Komplex breitet<br />
sich derzeit in europäischen Drosophila-Populationen aus und führt zu<br />
Änderungen im Zeitpunkt der Diapause, so dass es über diesen Mechanismus<br />
zu lokalen Anpassungen in Life history-Strategien kommen kann<br />
(Tauber et al. 2007).<br />
Unter konstanten Laborbedingungen laufen die meisten circadianen<br />
Rhythmen mit einer Periodenlänge von circa, aber nicht genau 24 h weiter,<br />
Abb. 4.4. Phasenverschiebung. Wenn ein circadianer Rhythmus eine Periodenlänge<br />
< 24 h hat, verschiebt sich unter konstanten Lichtbedingungen im Experiment<br />
die Aktivitätsphase (rot) im Laufe der Zeit nach vorne (Phasenverkürzung). Untereinander<br />
stehende Zeilen repräsentieren aufeinander folgende Tage
4.2 Orientierung in der Zeit 111<br />
so dass es über längere Zeiträume zu einer immer stärkeren Phasenverschiebung<br />
gegenüber dem äußeren Solartag kommt (Abb. 4.4). Diese freilaufenden<br />
Zyklen mit einer Periodenlänge von beispielsweise 23 oder 25 h<br />
bewirken, dass die Aktivitäts- und Ruhephasen der Tiere schon nach wenigen<br />
Wochen unter konstanten Experimentalbedingungen gegenüber der<br />
äußeren Normalzeit um viele Stunden früher oder später auftreten. Die innere<br />
Uhr muss daher mit Hilfe bestimmter externer Zeitgeber mit den lokalen<br />
Bedingungen synchronisiert werden. Der Tag-/Nachtwechsel bzw.<br />
die starken Beleuchtungsänderungen in der Morgen- und Abenddämmerung<br />
sind dabei der wichtigste Zeitgeber für die circadiane Rhythmik.<br />
Wenn bei arktischen Rentieren (Rangifer tarandus) während der Mitternachtssonne<br />
dieser Zeitgeber wegfällt, verlieren sie die Rhythmizität ihrer<br />
Aktivität (van Oort et al. 2005).<br />
Bei verschiedenen Tiergruppen konnte der Sitz der inneren Uhr im Nervensystem<br />
lokalisiert und deren genetische Kontrolle entschlüsselt werden.<br />
Der Schrittmacher (pacemaker) der circadianen Uhr befindet sich bei den<br />
meisten Insekten in einem Bereich der optischen Loben; er besteht also aus<br />
einer bilateral symmetrischen funktionellen Einheit (Tomioka u. Abdelsalam<br />
2004). Bei anderen Insekten befinden sich circadiane Schrittmacher<br />
(auch) im zentralen Nervensystem (Helfrich-Förster et al. 1998), wo unabhängige,<br />
aber funktional gekoppelte Oszillatoren die Aktivität steuern<br />
(Stoleru et al. 2004).<br />
Bei Säugetieren befindet sich der Schrittmacher der circadianen Uhr in<br />
einem paarigen Kerngebiet des vorderen Hypothalamus, den suprachiasmatischen<br />
Nuclei (Hofman 2004). Diese innervieren unter anderem die<br />
Epiphyse, wo in Abhängigkeit vom nervösen Input die Sekretion von<br />
Melatonin induziert wird. Dieses Hormon scheint seinerseits an der Regulation<br />
der circadianen Rhythmen verschiedener anderer physiologischer<br />
Subsysteme beteiligt zu sein und beeinflusst auch die Aktivität des Hypothalamus.<br />
Es gibt also eine Art Zentraluhr, welche die Rhythmen der verschiedenen<br />
Funktionen hauptsächlich steuert (Reppert u. Weaver 2002;<br />
Abb. 4.5). Bei Vögeln scheint das circadiane Schrittmacher-System aus<br />
mindestens drei autonomen Teilen zu bestehen: Retina, Pinealorgan und<br />
einem Teil des Hypothalamus (Gwinner u. Brandstätter 2001). Die rhythmische<br />
Aktivierung durch zeitverzögerte Feedback-Hemmung einiger weniger<br />
Gene (PER, period genes) stellt den molekularen Schrittmacher der<br />
inneren Uhren dar (Albrecht 2002). Verhaltensgenetische Untersuchungen<br />
bei Drosophila und Mäusen haben diese genetische Kontrolle eindeutig<br />
gezeigt. So ist beispielsweise die Tageszeit, zu der sich Taufliegen verpaaren,<br />
genetisch festgelegt (Sakai u. Ishida 2001).<br />
Die Effekte der circadianen Uhr können durch verschiedene ökologische<br />
oder soziale Faktoren überlagert werden; es kommt zu Maskierungseffek-
112 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
Abb. 4.5. Schematische Darstellung der Kontrolle circadianer Aktivität. Der Tag-/<br />
Nachtwechsel und andere äußere Reize wirken auf die innere Uhr mit einem genetischen<br />
Schrittmacher, welche verschiedene physiologische Rhythmen steuert. Details<br />
s. Text<br />
ten. Bei Drosophila melanogaster kann zum Beispiel die Präsenz von Artgenossen<br />
zu einer Verschiebung von zeitlichen Aktivitätsmustern führen<br />
(Levine et al. 2002). Bei manchen Kleinsäugern führt die Notwendigkeit,<br />
in kurzen Abständen Nahrung aufzunehmen, zu polyphasischer kathemeraler<br />
Aktivität, d. h. sie sind alle paar Stunden aktiv, um zu fressen (Halle u.<br />
Stenseth 1994). Aspekte der Thermoregulation können ebenfalls einen<br />
dominierenden Einfluss auf Aktivitätsmuster ausüben; so sind vor allem<br />
ektotherme Tiere in ihrer Aktivität an die Verfügbarkeit von Sonnenenergie<br />
angepasst (Winne u. Keck 2004). Die Intensität der Aktivität kann auch<br />
durch Lichtverfügbarkeit moduliert werden. Viele nachtaktive Säugetiere<br />
verringern oder erhöhen je nach vorherrschender Beleuchtungsstärke ihre<br />
Aktivität in Voll- und Neumondnächten. Andere externe Faktoren wie<br />
Feuchtigkeit und Nahrungsverfügbarkeit können den circadianen Aktivitätsverlauf<br />
ebenfalls erheblich beeinflussen (Körtner u. Geiser 2000).<br />
4.2.2 Gezeitenrhythmen<br />
Durch Änderungen der kombinierten Anziehungskraft von Sonne und<br />
Mond auf die Wassermassen der Weltmeere kommt es zum Gezeiten-
4.2 Orientierung in der Zeit 113<br />
rhythmus. Die Anziehungskraft von Mond und Erde sowie die Fliehkraft<br />
der Erde bewegen das Meerwasser, wobei auf der mondnahen Seite der<br />
Erde die Anziehungskraft des Mondes stärker als die Fliehkraft der Erde<br />
ist. Dadurch wird auf dieser Seite der Erde das Meerwasser zum Mond<br />
hingezogen und es entsteht Flut. Auf der vom Mond abgekehrten Seite der<br />
Erde ist aber die Fliehkraft der Erde größer als die Anziehungskraft des<br />
Mondes, wodurch dort auch eine Flut entsteht. In den dazwischen liegenden<br />
Gebieten herrscht Ebbe, da das Wasser fortfließt. Wenn Sonne, Mond<br />
und Erde in einer Linie stehen, addieren sich die Anziehungskräfte und es<br />
kommt zu besonders hohen Springfluten. Umgekehrt fällt die Flut als<br />
Nippflut geringer aus, wenn Sonne, Mond und Erde in einem rechten Winkel<br />
zueinander stehen, da die Anziehungskräfte von Sonne und Mond in<br />
unterschiedliche Richtungen wirken. Dieser Wechsel im Gang zwischen<br />
Ebbe und Flut wiederholt sich alle 12,4 Stunden.<br />
Für in der Gezeitenzone lebende Tiere ändern sich daher die Mikrohabitatsbedingungen<br />
in grundsätzlicher, aber vorhersagbarer Weise. Mit Überflutung<br />
und Trockenfallen ändern sich dort auch Temperatur, Druck, Salzgehalt<br />
und Nahrungsverfügbarkeit zweimal am Tag. Bewohner dieses<br />
Bereichs besitzen daher Anpassungen ihrer Physiologie und des Verhaltens<br />
an diese Rhythmen (Abb. 4.6). Die Aktivität von Bewohnern der Gezeitenzone<br />
kann entweder durch proximate Faktoren wie Salinität oder Turbulenz<br />
oder durch eine endogene Gezeitenuhr (circatidale Uhr) gesteuert<br />
werden (Welch u. Forward 2001). So zeigen Krebse, die unter konstanten<br />
Laborbedingungen gehalten werden, weiterhin einen ungefähren Gezeitenrhythmus<br />
(Saigusa u. Kawagoye 1997). Allerdings ist dieser Rhythmus<br />
bei manchen Arten auch lichtsensitiv, so dass eine Verbindung zur circadianen<br />
Uhr und/oder zu einer Monduhr (Periodenlänge ca. 24,8 h) postuliert<br />
wurde (Palmer 2000). Pelagische Larven von sympatrischen Krabbenarten<br />
Abb. 4.6. Strand- und<br />
Mangrovenbewohner wie diese<br />
Schlammspringer (Periophthalmus<br />
spp.) sind dem<br />
regelmäßigen Wechsel von Ebbe<br />
und Flut ausgesetzt, die ihre<br />
Aktivität maßgeblich bestimmen
114 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
unterscheiden sich beispielsweise in ihrem vertikalen Wanderungsverhalten<br />
in Abhängigkeit der Lichtintensität und experimentell veränderter Periodizität<br />
des Gezeitenrhythmus, was auf diese unterschiedliche Kontrolle<br />
des Rhythmus hindeutet (Morgan u. Anastasia 2008).<br />
4.2.3 Lunarperiodik<br />
Die periodische Abschattung der Mondoberfläche im Durchlauf der verschiedenen<br />
„Mondphasen“ alle 29,5 Tage hat bei einer Reihe von Tieren<br />
zu spezifischen Anpassungen an diese Lunarperiodik geführt. Bei manchen<br />
Arten gibt es auch Hinweise auf die Existenz einer semilunaren Periodik<br />
(14,8 Tage), d. h. die Synchronisation von bestimmten Verhaltensweisen<br />
mit Voll- und Neumond. Der markanteste Aspekt der Lunarperiodik besteht<br />
in der Variabilität der nächtlichen Lichtverfügbarkeit zwischen Neumondbedingungen<br />
mit rund 0,0005 lx und Vollmond mit rund 0,3 lx bei<br />
klarem Nachthimmel. Da der Mond zudem täglich 50 Minuten später aufgeht,<br />
ändern sich die Lichtverhältnisse im Lauf der Nacht ebenfalls von<br />
Tag zu Tag. Damit verändern sich die visuellen Bedingungen bei der Fortbewegung,<br />
Nahrungssuche und Räubervermeidung nachtaktiver Tiere innerhalb<br />
eines Mondzyklus beträchtlich.<br />
Circalunare Uhren sind noch vergleichsweise wenig untersucht. Die<br />
deutlichsten Hinweise auf die Existenz einer endogenen Monduhr stammen<br />
von Beobachtungen an einem marinen Polychäten, dem Palolowurm<br />
(Eunice viridis), dessen Individuen bei der Kombination einer bestimmten<br />
Mond- (letztes Viertel) und Tidenphase (Springflut) zu einer bestimmten<br />
Jahreszeit (Oktober/November) ihre Gameten (zusammen mit ihrer vorderen<br />
Körperhälfte) freisetzen und sich auf diese Weise mit anderen Individuen<br />
synchronisieren und gleichzeitig Räuber dieser Gametenpakete übersättigen.<br />
Es handelt sich hierbei um ein Beispiel der Überlagerung von<br />
mehreren Rhythmen (Yamahira 2004). Bei einigen anderen meeresbewohnenden<br />
Wirbellosen sind Mondphasen-abhängige Schwankungen von Aktivität,<br />
Fortpflanzungsverhalten oder Häutungsvorgängen beschrieben, die<br />
aber zum Teil ebenfalls durch anderen Rhythmen überlagert sind (Naylor<br />
2001).<br />
Auch die Aktivität von nachtaktiven Wirbeltieren hängt häufig von der<br />
Mondphase bzw. der Lichtverfügbarkeit ab. Hinweise auf eine Steuerung<br />
dieses Verhaltens durch eine Monduhr gibt es aber nicht. Vielmehr scheint<br />
eine direkte Beeinflussung der Aktivität durch die jeweilige Helligkeit<br />
(Luminosität) zu erfolgen, wobei verschiedene Arten unterschiedliche<br />
Muster ausbilden. So jagen nachtaktive Ziegenmelker (Caprimulgidae) ihre<br />
Insektenbeute vorwiegend in der Abenddämmerung; die Jagdaktivität
4.2 Orientierung in der Zeit 115<br />
später in der Nacht ist positiv mit der verfügbaren Lichtmenge korreliert<br />
(Jetz et al. 2003). Viele Fledermäuse reduzieren dagegen in hellen Mondnächten<br />
ihre Flugaktivität oder verlagern sie in den Schatten von Büschen<br />
und Bäumen (Erkert 2002). Buschschwanzratten (Neotoma cinerea) sind<br />
dagegen bei intermediären Lichtverhältnissen am aktivsten (Topping et al.<br />
1999). Manche nachtaktiven Primaten sind in hellen Mondnächten aktiver<br />
als bei Neumond (Gursky 2003). Die während einer Mondfinsternis beobachtete<br />
abrupte Einstellung der Aktivität durch Rotstirnmakis (Donati et al.<br />
2001) und sprunghafte Aktivitätszunahme verschiedener Fledermausarten<br />
(Usman et al. 1980) haben bislang am deutlichsten gezeigt, dass die proximate<br />
Kontrolle der Aktivität hier tatsächlich rein exogen durch die Beleuchtungsstärke<br />
erfolgt.<br />
4.2.4 Circannuale Periodik<br />
Jahreszeitliche Schwankungen in den Umweltbedingungen nehmen vom<br />
Äquator zu den Polen hin in ihrer Intensität zu und manifestieren sich in<br />
unterschiedlichen Jahreszeiten. Aber auch in Äquatornähe gibt es in vielen<br />
Gebieten jahreszeitlich vorhersagbare Wechsel zwischen Regen- und<br />
Trockenzeiten. Solche sich grundlegend verändernden Umweltbedingungen<br />
haben für die betroffenen Tiere vor allem Konsequenzen für die Nahrungsverfügbarkeit,<br />
aber auch für die Thermoregulation.<br />
Aufgrund der Vorhersagbarkeit jahreszeitlicher Veränderungen der<br />
Umweltbedingungen verlassen sich davon betroffene Tiere auf eine endogene<br />
circannuale Uhr, die entsprechende verhaltens- und stoffwechselphysiologische<br />
Mechanismen steuert. Die Existenz dieser Uhr lässt sich<br />
unter konstanten Laborbedingungen oder durch experimentelle Änderung<br />
der Photoperiode (Verhältnis Tag zu Nacht) nachweisen. So zeigen unter<br />
konstanten Bedingungen gehaltene Zugvögel alljährlich zwei Phasen erhöhter<br />
lokomotorischer Aktivität, die in Intensität und Dauer der Zeit und<br />
der Strecke der Wanderung zwischen Winter- und Sommerquartier entspricht,<br />
oder sie zeigen anhaltende Zyklen von Körpermasse, Gonadenaktivierung<br />
und Mauser (Gwinner 1996). Zahlreiche Vögel (Bairlein 2002)<br />
und Säuger (Pereira et al. 1999) behalten auch unter konstanten Bedingungen<br />
über mehrere Jahre circannuale Schwankungen ihrer Körpermasse bei.<br />
Die Lage und Mechanismen der endogenen Jahresuhr sind noch nicht<br />
im Detail bekannt. Aktuelle Hypothesen gehen davon aus, dass Änderungen<br />
der Photoperiode im Jahresverlauf von der circadianen Uhr gemessen<br />
und verarbeitet werden. Von den suprachiasmatischen Nuclei aus synchronisiert<br />
diese Uhr dann vermutlich über modulierte Melatoninausschüttung
116 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
die circannuale Uhr, welche die endogenen Jahresrhythmen steuert (Oster<br />
et al. 2002).<br />
Die mit der Änderung der Jahreszeiten verbundenen ökologischen<br />
Herausforderungen haben zu einer Reihe von Anpassungen geführt, die<br />
den Überlebens- und Fortpflanzungserfolg unter diesen wechselnden Bedingungen<br />
gewährleisten. Manche Tiere können Zeiten widriger Umgebungsbedingungen<br />
„aussitzen“, indem sie in ausgedehnte Inaktivität verfallen.<br />
Dies kann sowohl bei hohen (Ästivation) als auch niederen<br />
Außentemperaturen geschehen (z. B. durch Winterschlaf bei Säugern,<br />
Winterstarre bei Amphibien und Reptilien oder Diapause bei Insekten).<br />
Kürzere Inaktivitätszeiten werden bei den endothermen Vögeln und Säugern<br />
als Torpor bezeichnet. Physiologische Anpassungen in diesem Zusammenhang<br />
umfassen Absenkungen der Stoffwechselaktivität und der<br />
Körpertemperatur. Das Verhalten spielt bei der Vorbereitung dieser Inaktivitätszustände<br />
eine wichtige Rolle, zum Beispiel beim Anlegen interner<br />
oder externer Energiespeicher ( Kap. 3.2) oder der Suche und Präparation<br />
geeigneter Schutzräume.<br />
Eine weitere Möglichkeit, saisonalen Änderungen der Umweltbedingungen<br />
auszuweichen, besteht darin, Wanderungen zu unternehmen und<br />
so ungünstige Zeiten aktiv zu überbrücken, indem man das Gebiet verlässt.<br />
Bei manchen Arten, wie Wanderheuschrecken, erfolgen diese Wanderungen<br />
als direkte Reaktion auf lokale Bedingungen; bei anderen, wie bei vielen<br />
Zugvögeln und einigen Fledermäusen, sind sie über eine circannuale<br />
Uhr endogen verankert ( Kap. 4.3).<br />
Schließlich haben jahresperiodische Schwankungen der Lebensbedingungen<br />
auch zur Entwicklung saisonaler Fortpflanzungsmuster geführt,<br />
selbst bei tropischen Vögeln (Hau 2001) oder Primaten (Di Bitetti u. Janson<br />
2000). Unabhängig von der jeweiligen Dauer der prä- und postnatalen<br />
Entwicklung bei verschiedenen Taxa sind deren Fortpflanzungsmuster<br />
zeitlich oft so eingestellt, dass die Jungen zu Zeiten ausreichender oder<br />
größter Nahrungsverfügbarkeit geboren oder selbständig werden und damit<br />
die größten Überlebenschancen besitzen.<br />
4.3 Orientierung im Raum<br />
Tiere mit einem wie auch immer differenzierten Bewegungsapparat können<br />
ihren Körper durch aktives Ausrichten in Bezug auf eine strukturierte<br />
Umwelt räumlich so orientieren, dass sie die für sie möglichst optimalen<br />
Lebensbedingungen aufsuchen. Optimale Lebensbedingungen können in<br />
diesem Zusammenhang durch hohe Nahrungsverfügbarkeit ( Kap. 5.2),
4.3 Orientierung im Raum 117<br />
geringes Räuberrisiko ( Kap. 6.3), Verfügbarkeit von Paarungspartnern<br />
( Kap. 9.3) oder die Homöostasis der basalen Grundfunktionen<br />
( Kap. 3.1) charakterisiert sein. Vertrautheit mit einem Gebiet scheint in<br />
diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu spielen, da sehr viele<br />
Tiere eine gewisse Ortstreue aufweisen und immer wieder zu bestimmten<br />
Fress-, Brut- oder Ruheplätzen zurückkehren. Bei manchen Arten mit intensiver<br />
Jungen- oder Brutfürsorge, wie nesthockenden Vögeln oder Honigbienen,<br />
wird der Fortpflanzungserfolg auch dadurch beeinflusst, wie erfolgreich<br />
sie von verschiedenen Punkten ihres Streifgebiets mit Nahrung<br />
zu ihrem Nest zurückfinden.<br />
Diese Orientierungsleistungen sind proximat als Regelkreise vorstellbar,<br />
bei denen von einem Sinnesorgan ein bestimmter Reiz wahrgenommen<br />
und an das zentrale Nervensystem weitergeleitet wird, wo er dann mit einem<br />
Sollwert verglichen wird und dadurch entsprechende Kommandos an<br />
das Bewegungssystem ausgelöst werden. Die wichtigsten Reize, die Tiere<br />
als Grundlage ihrer Orientierungsleistungen verwenden, sind Licht, Laute,<br />
Gerüche, Strömungen, Schwerkraft, elektrische und magnetische Felder,<br />
Temperatur, Luft- und Wasserdruck, Winkel- und Linearbeschleunigung<br />
sowie die Stellung von Körperteilen zueinander. Artspezifische Orientierungsleistungen<br />
sind von der jeweiligen Ausstattung mit Sinnesorganen<br />
und der ökologischen Notwendigkeit bestimmt. Bei der Beschreibung und<br />
Analyse der Vielfalt der räumlichen Orientierungsbewegungen lassen sich<br />
drei große Klassen von Leistungen unterscheiden: Kinesen, Taxien und<br />
Navigation.<br />
4.3.1 Kinesen und Taxien<br />
Für verschiedene Formen nicht zufälliger Bewegungen, die in Kinesen und<br />
Taxien unterschieden werden können, hat sich eine eigene Nomenklatur<br />
entwickelt (Tabelle 4.1). Eine Kinese wird grundsätzlich durch Stärkeänderungen<br />
eines Reizes ausgelöst. Die Bewegungsrichtung oder -reaktion<br />
des Tieres bezieht sich dabei aber nicht auf den Reiz, sondern ist ungerichtet.<br />
Bei einer Orthokinese beeinflusst der Reiz die Bewegungsgeschwindigkeit.<br />
Kellerasseln (Porcellio spp.) laufen z. B. bei trockener Umgebung<br />
schnell und ungerichtet umher und werden bei zunehmender Feuchtigkeit<br />
langsamer, wenn sie für sie vorteilhafte Umgebungsbedingungen gefunden<br />
haben. Orthokinesen sind daher ein wichtiger Mechanismus der Mikrohabitatwahl<br />
( Kap. 5.1), insbesondere bei einzelligen und kleinen Tieren.<br />
Ameisen der Art Decamorium decem finden auf diese Weise feuchte Stellen<br />
in der Laubstreu, an denen sie nach Nahrung suchen (Durou et al.<br />
2001). Bei einer Klinokinese bestimmt der Reiz die Zahl oder Stärke der
118 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
Tabelle 4.1. Taxonomie nicht-zufälliger Bewegungen<br />
Präfix Suffix Definition<br />
• Anemo-<br />
• Chemo-<br />
• Geo-<br />
• Klino-<br />
• Magneto-<br />
• Meno-<br />
• Mnemo-<br />
• Phono-<br />
• Photo-<br />
• Rheo-<br />
• Telo-<br />
• Tropho-<br />
• Tropo-<br />
• -kinese<br />
• -taxis<br />
• ungerichtete Bewegung infolge der<br />
Stärkeänderung eines Reizes<br />
• gerichtete Bewegung in Bezug auf<br />
einen spezifischen Reiz<br />
• Wind<br />
• Chemikalie<br />
• Erde; Anziehungskraft<br />
• Steigung; Gradient<br />
• Magnetismus<br />
• Winkel; Monate<br />
• Erinnerung<br />
• Geräusch<br />
• Licht<br />
• Strömung<br />
• Ziel<br />
• Futter<br />
• Hinwendung<br />
Wendungen. Bei schwarmbildenden Mücken orientieren sich die Individuen<br />
zum Beispiel an einer aufsteigenden Luftsäule und können durch entsprechende<br />
Wendungen den Zusammenhalt des Schwarmes gewährleisten.<br />
Große pelagische Fischschwärme können sich in ähnlicher Weise in Wassersäulen<br />
präferierter Temperaturen kristallisieren (Humston et al. 2000;<br />
Abb. 4.7). Manche Trematoden und andere Parasiten finden mit Hilfe dieses<br />
Mechanismus ihre Wirte (Sukhedo u. Sukhedo 2004).<br />
Eine Taxis beschreibt eine gerichtete Orientierung in Bezug auf einen<br />
spezifischen Reiz. Eine Klinotaxis ist eine gerichtete Orientierung in einem<br />
Reizgradienten, bei der durch vergleichende Messungen an verschiedenen<br />
Orten eine grobe Richtung beibehalten wird. Diese Form der Orientierung<br />
findet sich zum Beispiel bei Ameisen, die sich entlang einer<br />
olfaktorisch markierten Ameisenstraße bewegen. Mit diesem Mechanismus<br />
finden auch winzige aquatische Copepoden (Temora longicornis) ihre<br />
Paarungspartner, die Tausende von Körperlängen entfernt chemische Signale<br />
abgeben (Weissburg et al. 1998). Bei einer Tropotaxis erfolgt die Bewegung<br />
geradlinig in Bezug auf einen Reiz durch Beibehaltung eines Erregungsgleichgewichts<br />
von paarigen Sinnesorganen. Eine Ausrichtung des<br />
Körpers entlang der Achse, aus welcher der Reiz einwirkt, führt bei
4.3 Orientierung im Raum 119<br />
Abb. 4.7. Manche Fischschwärme<br />
nehmen durch<br />
klinokinetische Bewegungen<br />
eine charakteristische<br />
Gestalt an<br />
Beibehaltung des Reizgleichgewichts zu einer Zuwendung zur Reizquelle.<br />
Verschiedene Crustaceen orientieren sich so in aquatischen Duftwolken<br />
(Vickers 2000).<br />
Wenn ein Reiz Gestaltcharakteristika besitzt und eine Wendereaktion<br />
auslöst, bei der das Tier sich in Richtung des Zielobjekts bewegt und dieses<br />
auf einer Fixierstelle des Rezeptororgans festhält, handelt es sich um<br />
eine Telotaxis. Amphibien oder Chamäleons, die ein Beuteinsekt entdeckt<br />
haben, bedienen sich zum Beispiel dieses Mechanismus bei der Jagd. Bei<br />
einer Menotaxis orientiert ein Tier sich in eine nicht-symmetrische Richtung<br />
zum Reiz und kann sich damit in einem schiefen Winkel zur Reizquelle<br />
geradlinig fortbewegen. Wichtige Mechanismen der menotaktischen<br />
Orientierung sind der Sonnen-, Sternen- und Magnetkompass (siehe 4.3.2).<br />
Idiothetische Orientierung ist dadurch gekennzeichnet, dass ebenfalls<br />
eine bestimmte Richtung beibehalten werden kann; die Information zur<br />
Orientierung stammt aber aus der Integration von vorhergehenden Körperbewegungen<br />
bzw. den von diesen ausgelösten propriozeptiven Signalen.<br />
Tausendfüßler (Myriapoda) oder Spinnen (Araneae), die durch ein Hindernis<br />
zu einem Umweg gezwungen werden, können hinter dem Hindernis die<br />
ursprüngliche Richtung wieder aufnehmen (Seyfarth et al. 1982). Winkerkrabben<br />
(Uca spp.) bestimmen ebenfalls über Propriorezeptoren, wie viele<br />
Schritte sie in welche Richtung gemacht haben, und können bei Gefahr<br />
direkt in ihre Höhle zurückkehren (Layne et al. 2003). Solche lokalen Bewegungen<br />
von Winkerkrabben können im Feld schwer von einer Mnemotaxis<br />
unterschieden werden, bei der die Orientierungsleistung auf individuellen<br />
Erfahrungen über lokale Landmarken basiert.<br />
Durch Erinnerung und Zusammenfügen markanter Landmarken können<br />
manche Tiere sich allein anhand einer Karte orientieren; sie pilotieren.<br />
Bienen benutzen optische Landmarken, um an ihren Stock zurückzu-
120 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
kehren (Warrant et al. 2004), Brieftauben benutzen Landmarken bei der<br />
Heimorientierung (Burt et al. 1997) und Kiefernhäher (Nucifraga columbiana)<br />
finden von ihnen angelegte Nahrungsvorräte mit Hilfe von Landmarken<br />
(Kamil u. Cheng 2001). Allerdings besitzen diese Vögel auch<br />
mindestens einen Kompass ( Kap. 4.3.2: Sonnenkompass), mit dem sie<br />
navigieren können, so dass nicht klar ist, ob die Landmarken unabhängig<br />
benutzt werden (Holland 2003). Die Schlupfwespe Hyposoter horticola,<br />
die ihre Eier in Schmetterlingseier ablegt, findet dagegen allein mit Hilfe<br />
von optischen Landmarken über mehrere Wochen hinweg zu allen Wirtseiern<br />
in ihrem Aktionsraum (van Nouhuys u. Kaartinen 2008).<br />
Ob sich Tiere diese räumlichen Informationen zu einer kognitiven<br />
Karte zusammenfügen, ist teilweise umstritten (Bennett 1996), aber zahlreiche<br />
Experimente sprechen dafür, dass Informationen über Landmarken<br />
eine Art Karte bilden. So können blinde Höhlenfische (Astyanax fasciatus)<br />
die Reihenfolge von verschiedenen Landmarken lernen (Burt de Perrera<br />
2004). Wüstenameisen (Cataglyphis fortis) können getrennt gelernte Landmarken<br />
sinnvoll kombinieren (Bisch-Knaden u. Wehner 2003). Honigbienen<br />
(Apis mellifera) speichern Erinnerungen an Landmarken in lockerer<br />
Assoziation ab (Fry u. Wehner 2002) und können diese Information nach<br />
Verfrachtungen einsetzen, da sie in diesem Fall von jedem Punkt in ihrem<br />
vertrauten Gebiet zu einem gewählten Ziel fliegen (Menzel et al. 2005).<br />
Verschiedene Primatenarten nutzen Ressourcen in ihrem Streifgebiet so<br />
ökonomisch, dass sie ebenfalls auf eine mentale Repräsentation zurückzugreifen<br />
scheinen (Janson 2007). Der Einsatz kognitiver Karten ist aufgrund<br />
der unterschiedlichen Baupläne dieser Tiere nicht von den absoluten kognitiven<br />
Fähigkeiten abhängig ( Kap. 11.3).<br />
4.3.2 Navigation<br />
Navigation beschreibt eine besondere Orientierungsfähigkeit, nämlich die<br />
eigene Position in Bezug zu einem Zielpunkt mit Hilfe unterschiedlicher<br />
Reize bestimmen zu können und dieses Ziel von überall ansteuern zu können,<br />
ohne dabei auf Landmarken zu vertrauen. Um navigieren zu können,<br />
benötigen Tiere eine Karte und einen Kompass. Aus welchen Informationen<br />
sich Tiere eine Karte ihres Lebensraumes zurechtlegen, ist nicht<br />
bekannt.<br />
Offensichtlich müssen wichtige Aspekte einer Karte zunächst gelernt<br />
werden. Stare (Sturnus vulgaris) aus dem Ostseeraum, die in Nord-<br />
Frankreich und Süd-England überwintern, wurden in Holland gefangen<br />
und in die Schweiz verfrachtet. Von dort aus flogen adulte Stare in die eigentlichen<br />
Überwinterungsgebiete, wohingegen die juvenilen Stare in Süd-
4.3 Orientierung im Raum 121<br />
Frankreich und Nord-Spanien wieder gefangen wurden (Perdeck 1958).<br />
Die jungen Stare haben bei der ersten Wanderung also nur Informationen<br />
über die Richtung und Entfernung des Zuges, aber noch keine Karte, mit<br />
der sie wie ihre älteren Artgenossen wirklich navigieren können. Analoge<br />
Experimente mit jungen Trauerschnäppern (Ficedula hypoleuca) haben<br />
gezeigt, dass sie ebenfalls beim ersten Zug Verfrachtungen nicht kompensieren<br />
und daher wohl nur mit einem Kompass und einer inneren Uhr, aber<br />
ohne Karte ziehen (Mouritsen u. Larsen 1998).<br />
Mit einem Kompass kann unabhängig vom jeweiligen Standort eine bestimmte<br />
Richtung gewählt und ohne Bezug zu Landmarken beibehalten<br />
werden. Natürliche Selektion sollte dafür Bezugssysteme ausgewählt haben,<br />
die überall verfügbar sind und Information über Richtung und Geografie<br />
enthalten. Je nach Tageszeit steht Tieren aus dem Stand von Sonne,<br />
Mond, Sternen und dem Muster polarisierten Lichts Richtungsinformation<br />
zur Verfügung, die aufgrund ihrer ubiquitären Verfügbarkeit zusammen<br />
mit dem Erdmagnetfeld die Grundlagen der Kompasse im Tierreich darstellen.<br />
(1) Sonnenkompass. Der Sonnenkompass ist dabei am weitesten bei Wirbellosen<br />
und Wirbeltieren verbreitet. Er wird vor allem bei der Orientierung<br />
im Nahbereich eingesetzt, da sich bei großen Ortsveränderungen der<br />
Sonnenstand zu stark ändert. Die Tiere orientieren sich dabei am Azi-<br />
Abb. 4.8. Grundlagen des Sonnenkompasses. Der Azimutstand der Sonne, also<br />
deren senkrechte Projektion auf den Horizont, gibt die Richtungsinformation für<br />
den Kompass (hier: Winkel zum Baum), die circadiane Uhr die korrespondierende<br />
Zeitinformation
122 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
mutstand der Sonne, also an deren senkrechter Projektion auf den Horizont<br />
(Abb. 4.8). Da sich die Position der Sonne im Lauf des Tages um 15° pro<br />
Stunde ändert, ist der Besitz einer circadianen Uhr notwendig, um zu einer<br />
bestimmten Tageszeit einen bestimmten Winkel zur Sonne einzuschlagen.<br />
Die Beziehung zwischen Tageszeit, Sonnenstand und Richtung, auf welcher<br />
der Sonnenkompass beruht, wird während einer sensiblen Phase individuell<br />
erlernt und damit an die jeweilige geografische Breite angepasst<br />
(Dyer u. Dickinson 1996).<br />
Diese Verknüpfung mit der inneren Uhr wurde in eleganter Weise eingesetzt,<br />
um die Existenz des Sonnenkompasses experimentell zu beweisen.<br />
Brieftauben, denen die circadiane Uhr um sechs Stunden verstellt wurde,<br />
zeigten eine Abweichung in der Orientierungsrichtung von 90° (Schmidt-<br />
Koenig 1960; Abb. 4.9). Ähnliche Experimente, bei denen die innere Uhr<br />
verstellt wurde, haben gezeigt, dass Nacktschnabelhäher (Gymnorhinus<br />
cyanocephalus) und andere Rabenvögel (Corvidae), die versteckte Nahrungsspeicher<br />
anlegen ( Kap. 3.2), ebenfalls einen Sonnenkompass benutzen,<br />
um diese Verstecke wiederzufinden (Wiltschko et al. 1999).<br />
Abb. 4.9. Experiment zum Nachweis der Koppelung des Sonnenkompasses an die<br />
circadiane Uhr (Schmidt-Koenig 1960). Die Richtungswahl von Brieftauben in einem<br />
Rundkäfig ist in ein Kreisdiagramm eingetragen; ein roter Punkt entspricht<br />
einer Taube. Tauben, deren innere Uhr experimentell um 6 h vor (links),<br />
6 h nach (rechts) oder 12 h (Mitte) in Bezug auf mitteleuropäische Zeit (CET) verstellt<br />
wurde, änderten ihre Heimflugrichtung im Durchschnitt um 15° pro Stunde<br />
Zeitumstellung in die vorhergesagte Richtung. Untere Abbildungen: unbehandelte<br />
Kontrolltauben (grüne Punkte)
4.3 Orientierung im Raum 123<br />
(2) Sonnenkompass und Bienentanz. Der Sonnenkompass wurde zuerst<br />
bei Honigbienen (Apis mellifera) entdeckt, wo er Bestandteil eines der am<br />
besten untersuchten Orientierungs- und Kommunikationssysteme ist: des<br />
Bienentanzes. Karl von Frisch (1967) beobachtete, dass Bienen, die eine<br />
ergiebige Nahrungsquelle entdeckt haben, zum Stock zurückkehren und<br />
mit Hilfe von verschiedenen Tänzen die Entfernung und/oder Richtung der<br />
Nahrungsquelle an ihre Stockgenossinnen kommunizieren. Der Rundtanz<br />
enthält keine Richtungsinformation und wird bei Futterquellen in kurzer<br />
Entfernung (< 70 m) eingesetzt. Mit steigendem Abstand zwischen Stock<br />
und Futterplatz geht der Rundtanz über Mischformen der Tanzbewegung<br />
in den Schwänzeltanz über. Im Schwänzeltanz wird die Angabe der im<br />
Flug als Winkel zur Sonne gemessenen Richtung zur Futterstelle auf der<br />
senkrechten Wabe als Richtung der Schwänzelphase zur Schwerkraft wiedergegeben<br />
(Abb. 4.10).<br />
Wenn Honigbienen in der Umgebung des Stocks nach Nahrung suchen,<br />
bestimmen sie die Richtungen und Entfernungen, die sie fliegen müssen,<br />
per Pfadintegration (siehe unten), benutzen dabei den Sonnenkompass, um<br />
gewählte Richtungen einzuhalten, und verwenden zusätzlich vertraute<br />
Landmarken sowie Informationen über deren Relation zueinander (Menzel<br />
et al. 2000). Bevor junge Bienen beginnen, als Arbeiterinnen Nahrung zu<br />
suchen, machen sie eine Reihe von Erkundungsflügen in jeweils unterschiedliche<br />
Sektoren der Umgebung des Stocks; vermutlich, um so graduell<br />
eine Karte der Umgebung zu lernen (Capaldi et al. 2000).<br />
Abb. 4.10. Der Schwänzeltanz der Honigbienen stellt eine der komplexesten Orientierungs-<br />
und Kommunikationsleistungen im Tierreich dar. Damit werden Richtungs-<br />
und Entfernungsinformation an Artgenossinnen übertragen
124 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
Wenn eine Arbeiterin eine Nahrungsquelle gefunden hat, deren Existenz<br />
sie Stockgenossinnen mitteilen möchte, stellt sich die Frage, mit welchem<br />
Mechanismus die Entfernungsmessung bewerkstelligt wird. Zur Untersuchung<br />
dieser Frage wurden Bienen trainiert, am Eingang eines 6 m langen<br />
schmalen Tunnels Futter zu finden. Wenn dieser Tunnel 35 m vom Stock<br />
entfernt aufgestellt wurde, tanzten die allermeisten heimkehrenden Arbeiterinnen<br />
einen Rundtanz. Wenn die Futterquelle ans Ende des Tunnels, der<br />
innen mit einem Zufallsmuster dekoriert war, verschoben wurde, tanzten<br />
90% der heimkehrenden Arbeiterinnen einen Schwänzeltanz und zwar mit<br />
einer Intensität, die eine Entfernung von mehreren hundert Metern anzeigte!<br />
Srinivasan und Kollegen (2000) konnten zeigen, dass der Flug durch<br />
den engen Tunnel einen erhöhten optischen Fluss von Bildern über die<br />
Augen auslöste, der einen viel längeren Flug unter natürlichen Bedingungen<br />
(d. h. mit viel größerem Abstand der Augen zu den sich vorbei bewegenden<br />
Bildern) simuliert. Der „Tacho“ der Bienen wird also mit visueller<br />
Information versorgt. Die Empfänger dieser Schwänzeltänze flogen übrigens<br />
nicht in den Tunnel, sondern suchten zwar in der richtigen Richtung,<br />
aber in viel weiterer Entfernung nach der angepriesenen Nahrung (Esch<br />
et al. 2001). Wurden Sammelbienen im Freiland darauf dressiert, über<br />
große Wasserflächen zu fliegen, zeigte sich an deren Tänzen, dass der Kilometerzähler<br />
beim Flug über das unstrukturierte Wasser erwartungsgemäß<br />
extrem langsam lief oder gar stillstand (Tautz et al. 2004).<br />
Für den eigentlichen Austausch der Information zwischen Tänzerin und<br />
Nachtänzerinnen im dunklen Stock spielen mechanische Reize die überragende<br />
Rolle: Feinste Wabenvibrationen bringen die Tanzpartner zusammen<br />
(Tautz u. Rohrseitz 1998), im Ballett werden dann antennale taktile<br />
Bewegungsmuster bedeutungsvoll (Rohrseitz u. Tautz 1999). Die Verfolgung<br />
rekrutierter Arbeiterinnen hat gezeigt, dass diese insgesamt effektiv<br />
in das Zielgebiet gelangen, dort aber oft noch mehrere Minuten nach der<br />
Futterquelle suchen (Riley et al. 2005). Um neu rekrutierte Bienen zu Futterstellen<br />
zu bringen, spielen neben der Tanzsprache auch Interaktionen<br />
der Bienen im Feld eine wichtige Rolle (Tautz u. Sandeman 2003). Die<br />
Ziele werden von den erfahrenen Bienen durch auffallende Brauseflüge<br />
gekennzeichnet, die den Neulingen das Auffinden der im Tanz angezeigten<br />
Ziele erleichtern*. Insgesamt handelt es sich bei der Rekrutierung zu Zielen<br />
im Feld (Futterplatz, Nistplatz, Wasserstellen) um einen Kommunikationskomplex,<br />
über den wir erst langsam ein klares Bild bekommen (Tautz<br />
2007).<br />
* http://www.bienenforschung.biozentrum.uni-wuerz-burg.de/wir_ueber_uns/<br />
publikationen/populaere_publikationen/phaenomen_honigbiene_-_das_buch/<br />
zusatzinformationen/kapitel_4/
4.3 Orientierung im Raum 125<br />
Der evolutionäre Ursprung des Bienentanzes ist vermutlich älter als die<br />
Bienen selbst. Bei den nah mit Bienen verwandten Hummeln (Bombus terrestris)<br />
finden sich Vorläufer des Bienentanzes. Hummel-Arbeiterinnen,<br />
die eine Nahrungsquelle entdeckt haben, laufen hektisch im Nest umher<br />
und verteilen den Geruch der Nahrungsquelle an ihre Nestgenossinnen; sie<br />
vermitteln aber keine Richtungs- oder Entfernungsinformation (Dornhaus<br />
u. Chittka 1999). Zusätzliche vergleichende Studien an weiteren sozialen<br />
Insekten können also theoretisch dazu beitragen, die einzelnen Bestandteile<br />
der Evolution des Bienentanzes zu rekonstruieren.<br />
(3) Sternenkompass. Nachtziehende Zugvögel (von denen viele ansonsten<br />
tagaktiv sind) sowie möglicherweise andere nachtaktive Tiere besitzen einen<br />
Sternenkompass. Den Fixpunkt stellt dabei der Polarstern dar, um den<br />
sich alle anderen Sterne von der Erde aus betrachtet scheinbar drehen; sein<br />
Azimut weist nach Norden. Wenn nachtaktive Zugvögel in einem nur nach<br />
oben offenen Trichterkäfig gehalten und sie damit in ein Planetarium gebracht<br />
werden, kann man durch experimentelle Veränderung des Sternenhimmels<br />
vorhersagbare Änderungen in der Zugrichtung auslösen (Mouritsen<br />
u. Larsen 2001). Der Sternenkompass scheint aber beim Zug von<br />
untergeordneter Bedeutung zu sein (Able u. Able 1996).<br />
(4) Mondkompass. Experimentelle Hinweise für die Existenz eines angeborenen<br />
Mondkompasses gibt es nur für Strandflohkrebse (Talitrus spp.).<br />
Diese im Strandbereich lebenden Tiere benutzen sowohl die Sonne als<br />
auch den Mond, um bei Tag und Nacht im Strandbereich Zonen mit für sie<br />
optimalen Feuchtigkeitsbedingungen aufzusuchen. Naive, d. h. im Labor<br />
geborene Krebse, die zum ersten Mal den Mond sehen, können sich damit<br />
orientieren. Da die Ausrichtung des Strandes für Tiere aus verschiedenen<br />
Gegenden unterschiedlich ist, schlagen sie unterschiedliche Richtungen<br />
ein, wenn sie sich zum Meer bzw. zum Land orientieren. Wie Kreuzungsexperimente<br />
gezeigt haben, ist die eingeschlagene Richtung ebenfalls angeboren<br />
(Ugolini et al. 2003). Der Besitz eines Mondkompasses ist bislang<br />
bei keiner anderen Tiergruppe nachgewiesen.<br />
(5) Magnetkompass. Dass manche Vögel magnetische Informationen zur<br />
Orientierung verwenden, ist schon lange bekannt (Wiltschko u. Wiltschko<br />
1972). Sie benutzen dabei die Neigung des axialen Verlaufs der magnetischen<br />
Feldlinien im Raum und besitzen daher, wie manche Amphibien<br />
und Reptilien, einen Inklinationskompass. Dieser Kompass unterscheidet<br />
nicht zwischen Nord und Süd, sondern aufgrund der unterschiedlichen<br />
Neigung der Feldlinien zwischen polwärts und äquatorwärts. Manche
126 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
Krebse, Insekten und Säugetiere besitzen dagegen einen Polaritätskompass,<br />
der auf der Richtungsinformation des Magnetfelds basiert.<br />
Der Besitz eines Magnetkompasses und dessen Einsatz zur Navigation<br />
wurde bislang nur bei einer wirbellosen Art nachgewiesen. Stachelhummer<br />
(Panulirus argus), die 12–37 km von ihrem Fangort weg verfrachtet wurden,<br />
orientierten sich danach zum Fangort hin. In künstlichen Magnetfeldern,<br />
die diese Verfrachtung simulierten, orientierten sich die Hummer<br />
in gleicher Weise, was darauf hindeutet, dass ihre Orientierungsreaktion<br />
auf dem Magnetsinn beruht (Boles u. Lohmann 2003). Möglicherweise<br />
nutzen auch manche Ameisen das Magnetfeld bei ihren ausgedehnten<br />
Wanderungen (Acosta-Avalos et al. 2001) und Hummeln auf ganz kurzen<br />
Ausflügen in völliger Dunkelheit (Chittka et al. 1999), aber ein definitiver<br />
Nachweis steht noch aus. Auch Meeresschildkröten (Caretta caretta) können<br />
die Magnetfelder unterschiedlicher geografischer Breiten detektieren,<br />
unterscheiden und zur Navigation einsetzen (Lohmann et al. 2004).<br />
Die Verwendung eines Magnetkompasses ist inzwischen bei circa 20<br />
Vogelarten nachgewiesen; die meisten davon Nachtzieher. In einem Feldexperiment<br />
wurden bei Nacht ziehende Amseln (Turdus merula) gefangen<br />
und für kurze Zeit in der Dämmerung einem künstlichen, um 90° verdrehten<br />
Magnetfeld ausgesetzt. Das künstliche Magnetfeld wies im Unterschied<br />
zum natürlichen Magnetfeld nicht nach Norden, sondern nach Osten.<br />
Die freigelassenen Tiere wurden anschließend über mehrere Nächte<br />
verfolgt. In der ersten Nacht flogen die Amseln nicht weiter nach Norden,<br />
sondern nach Westen. An den darauf folgenden Tagen flogen sie aber wieder<br />
in die ursprüngliche nördliche Richtung. In der ersten Nacht behielten<br />
sie die falsche Richtung bei, obwohl der Sternenhimmel als weiterer möglicher<br />
Kompass zur Verfügung stand. Daraus lässt sich schließen, dass diese<br />
Zugvögel einen Magnetkompass als primäres Navigationssystem benutzen<br />
und dass ihr Kompass nicht fix ist, sondern jeden Abend in der<br />
Dämmerung in Relation zum Polarisationsmuster des Sonnenazimut kalibriert<br />
wird. Grasammern (Passerculus sandwichensis) benutzen ebenfalls<br />
das Himmelspolarisationsmuster am Morgen und am Abend, um ihren<br />
Magnetkompass zu rekalibrieren (Muheim et al. 2006). Damit wird auch<br />
erklärbar, wie Langstreckenzieher über den magnetischen Äquator ziehen<br />
können und dabei orientiert bleiben (Cochran et al. 2004).<br />
Experimentelle Untersuchungen an Ansells Graumullen (Fukomys anselli)<br />
ergaben erste Hinweise auf die Existenz und Verwendung eines<br />
Magnetkompasses bei Säugetieren. Diese in selbst gegrabenen unterirdischen<br />
Gängen lebenden Nagetiere verwenden offensichtlich einen Polaritätskompass,<br />
um sich in ihren Gängen zu orientieren (Marhold et al. 1997).<br />
Neuere Experimente haben gezeigt, dass der Magnetkompass von anderen<br />
subterranen Nagetieren, wie z. B. Blindmäusen (Spalax ehrenbergi), bei
4.3 Orientierung im Raum 127<br />
der Pfadintegration (siehe unten) innerhalb des Tunnelsystems zur Orientierung<br />
eingesetzt wird (Kimchi et al. 2004). Sibirische Hamster (Phodopus<br />
sungorus) benutzen im Labor magnetische Information, um den Ort,<br />
an dem sie ihr Nest bauen, auszuwählen (Deutschlander et al. 2003). Über<br />
solche kurzen Entfernungen ist die mit einem Polaritätskompass mögliche<br />
Richtungswahrnehmung offenbar für die Bedürfnisse dieser Kleinsäuger<br />
ausreichend.<br />
(6) Himmelskompass. Manche Insekten können das Polarisationsmuster<br />
des Himmels zur Orientierung verwenden; sie besitzen einen Kompass, mit<br />
dem sie das Polarisationsmuster des Himmels erkennen können. Es entsteht<br />
dadurch, dass von der Sonne eintreffendes Licht auf Moleküle stößt<br />
und dabei gestreut wird. Die Schwingungsrichtung des polarisierten Lichts<br />
bildet ein konzentrisch um die Sonne angeordnetes Muster, das von Tieren<br />
mit den entsprechenden sensorischen Fähigkeiten zur Justierung des Himmelskompasses<br />
genutzt wird. Wasseroberflächen stellen zusätzliche Quellen<br />
polarisierten Lichtes dar. Die Wahrnehmung von polarisiertem Licht<br />
erfolgt bei verschiedenen Tieren mit ähnlichen Rezeptoren, aber die genaue<br />
Information, die sie daraus extrahieren und wie sie diese verarbeiten,<br />
unterscheidet sich vermutlich zwischen ihnen (Wehner 2001).<br />
Bei Wüstenameisen (Cataglyphis fortis) haben beeindruckende Experimente<br />
gezeigt, wie fouragierende Individuen, nachdem sie eine Futterquelle<br />
gefunden hatten, mit Hilfe dieses Kompasses auf direktem Weg zu<br />
ihrem Nest zurückkehren (z. B. Akesson u. Wehner 2002). Ein afrikanischer<br />
Mistkäfer (Scarabaeus zambesianus) kann sogar das millionenfach<br />
schwächere Polarisationsmuster des Mondes zur Orientierung nutzen (Dacke<br />
et al. 2003). Bei Wirbeltieren wurde die Fähigkeit der Wahrnehmung<br />
polarisierten Lichts vornehmlich bei Fischen untersucht; diese verwenden<br />
es nicht zur Orientierung, sondern können wie Regenbogenforellen (Oncorhynchus<br />
mykiss) damit ihre Beute besser detektieren (Flamarique u.<br />
Browman 2001).<br />
(7) Pfadintegration. Ein im Tierreich weit verbreiteter Mechanismus, mit<br />
dem Tiere navigieren, ist die Pfadintegration. Diese besteht darin, dass ein<br />
Tier ständig seine Position aus den vorangegangenen Bewegungen bestimmt<br />
und dann gezielt zu einem Punkt, meist dem Ausgangspunkt, zurückkehrt<br />
(Abb. 4.11). Auf dem Rückweg dient ein Kompass dazu, die<br />
gewählte Richtung beizubehalten. Pfadintegration wird vornehmlich in unbekanntem<br />
Terrain eingesetzt; in vertrautem Gebiet verlassen sich die<br />
meisten Insekten auf das Pilotieren anhand von Landmarken (Collett u.<br />
Collett 2000a).
128 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
Abb. 4.11. Pfadintegration. Ein Tier bewegt sich dabei von einem Ausgangspunkt<br />
(Kreuz) über mehrere andere Punkte fort und kehrt dann gezielt zum Ausgangspunkt<br />
zurück (grüner Pfeil)<br />
Dieses Navigationssystem wurde an Wüstenameisen (Cataglyphis fortis)<br />
besonders gründlich untersucht, da sich in ihrem Lebensraum kaum Landmarken<br />
befinden (Müller u. Wehner 1988). Diese Ameisen verlassen ihr<br />
gemeinsames Nest, um nach Nahrung zu suchen. Dabei bewegen sie sich<br />
mäandrisch bis zu 50 m vom Nest weg; wenn sie Nahrung gefunden haben,<br />
kehren sie auf direktem Weg zum Nesteingang zurück. Diese Integrationsleistung<br />
vollbringen die Ameisen sogar, wenn sie experimentell zu<br />
Bewegungen im dreidimensionalen Raum gezwungen werden; in diesem<br />
Fall entspricht die Rückkehrdistanz allerdings nicht der tatsächlich zurückgelegten<br />
Strecke, sondern der Summe der horizontalen Projektionen<br />
(Wohlgemuth et al. 2001). Auch Mäuse (Mus domesticus) sind zu dreidimensionaler<br />
Pfadintegration befähigt (Bardunias u. Jander 2000). Die<br />
sensorischen und zentralnervösen Mechanismen, auf denen eine solche<br />
Pfadintegration beruht, sind noch nicht genau bekannt (Collett u. Collett<br />
2000b). Optische Information, die durch die Bewegung von Bildern über<br />
die Retina (optic flow) extrahiert werden kann, findet sich bei manchen In<br />
sekten, nicht aber bei Wüstenameisen, die stattdessen propriozeptive Reize<br />
verwenden (Box 4.3; Wittlinger et al. 2006).
4.3 Orientierung im Raum 129<br />
Box 4.3<br />
Pfadintegration bei Wüstenameisen: wie messen sie die Entfernung?<br />
• Frage: Wie messen Wüstenameisen die von ihnen zurückgelegte Entfernung<br />
vom Nest?<br />
• Hintergrund: Mit Hilfe von Pfadintegration finden Wüstenameisen von<br />
jedem Punkt direkt zu ihrem Nest zurück. Zur Bestimmung der Richtung<br />
benutzen sie einen Himmelskompass. Unklar ist, wie sie die notwendige<br />
Entfernungsinformation gewinnen. Hier wird die Hypothese getestet, dass<br />
idiothetische Reize Daten über zurückgelegte Entfernungen liefern.<br />
• Methode: Ameisen wurden dazu trainiert, von ihrem Nest über eine 10 m<br />
lange Rinne zu einer Futterstelle zu gehen. Gemessen wurde die Strecke,<br />
die sie auf ihrem Rückweg bis zum Beginn des Nestsuchverhaltens zurücklegten.<br />
Verglichen wurden Ameisen mit zwischen Hin- und Rückweg<br />
experimentell verkürzten, durch Ankleben von Schweineborsten verlängerten<br />
oder normal langen Beinen.<br />
Startpunkt<br />
Entfernung zum Nest<br />
0 2 mm<br />
Stummel<br />
korreliert<br />
vorhergesagt<br />
beobachtet<br />
Stelzen<br />
Stelzen<br />
normal<br />
normal<br />
Stummel<br />
0 5 10 15 20<br />
Rückweg zum Nest [m]<br />
• Ergebnis: Tiere mit normal langen Beinen legten im Durchschnitt 10,2 m<br />
zurück, wohingegen diejenigen mit verkürzten Beinen zu kurz (5,8 m) und<br />
diejenigen mit Stelzen zu weit (15,3 m) gingen.<br />
• Schlussfolgerung: Durch Veränderung der Beinlänge wurde die Schrittlänge<br />
manipuliert. Dementsprechend unter- oder überschätzten Individuen<br />
mit verkürzten bzw. verlängerten Beinen die tatsächlich zurückgelegte<br />
Entfernung. Der „Tachometer“ basiert also auf der Integration idiothetischer<br />
Reize.<br />
Wittlinger et al. 2006
130 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
4.3.3 Wanderungen<br />
Die an der Navigation beteiligten Mechanismen sind zwar an Honigbienen<br />
und Brieftauben am besten untersucht, spielen aber in der freien Natur vor<br />
allem bei Tieren eine Rolle, die ausgedehnte Wanderungen unternehmen<br />
(Alerstam 2006). Die bekanntesten und spektakulärsten Wanderungen<br />
werden von Zugvögeln unternommen. Die Mehrzahl der circa 10 000<br />
Vogelarten begibt sich jedes Jahr auf Wanderungen, wobei sie teilweise<br />
schwierigen Navigationsproblemen wie magnetischen Anomalien oder reduzierter<br />
Verlässlichkeit des Sonnenkompasses ausgesetzt sind (Alerstam<br />
et al. 2001). Die bei uns ansässigen Zugvögel verlassen ihre Sommerquartiere<br />
auf der nördlichen Halbkugel im Herbst und verbringen den Winter<br />
auf der Südhalbkugel oder in gemäßigten nördlichen Breiten (Abb. 4.12).<br />
Bei diesen Wanderungen werden zum Teil erstaunliche Flugleistungen<br />
erbracht. Die Küstenseeschwalbe (Sterna paradisea) brütet in der Arktis<br />
und überwintert in der Antarktis und legt dafür pro Jahr bis zu 50 000 km<br />
zurück. Da sie im Durchschnitt weit mehr als 20 Jahre alt werden kann,<br />
kommt sie im Lauf ihres Lebens auf mehr als 1 Million Flugkilometer!<br />
Aber auch andere Arten wie Rauchschwalben (Hirundo rustica) legen im<br />
Jahr 20 000 bis 30 000 km zurück. Auch die Dauerflugleistungen sind beachtlich:<br />
manche Schnepfenvögel (Scolopacidae) fliegen ohne Zwischenpause<br />
in circa 100 Stunden von Nordsibirien nach Tasmanien, und Wanderalbatrosse<br />
(Diomedea exulans) umkreisen in 6 Wochen die Antarktis<br />
weiträumig (Croxall et al. 2005). Viele europäische Kleinvögel überqueren<br />
die Sahara mit wenigen Unterbrechungen (Schmaljohann et al. 2007), und<br />
der winzige (5 g) amerikanische Rubinkehlkolibri (Archilochus colubris)<br />
überfliegt den 1 000 km breiten Golf von Mexiko sogar ohne Unterbrechung<br />
(Berthold 2000).<br />
Abb. 4.12. Kraniche ziehen in<br />
kleinen Verbänden über Tausende<br />
von Kilometern
4.3 Orientierung im Raum 131<br />
(1) Die Evolution des Vogelzugs. Wie lässt sich die Evolution des Vogelzugs<br />
erklären? Solche langen Migrationen bergen ein erhöhtes Mortalitätsrisiko,<br />
da schlechtes Wetter, Meeresüberquerungen und Zwischenlandungen<br />
in unbekannten Gebieten zusätzliche Gefahren darstellen, mit denen<br />
sich Standvögel nicht auseinandersetzen müssen. Die für den Zug notwendigen<br />
Energiereserven müssen gesammelt und mit herumgetragen werden.<br />
Zudem stellen die langen Wanderstrecken selbst eine zusätzliche energetische<br />
Belastung dar. Die tatsächlichen energetischen Kosten wurden<br />
erstmals direkt an nordamerikanischen Amseln gemessen (Wikelski et al.<br />
2003). Dabei wurde überraschenderweise gefunden, dass in einer kühlen<br />
Nacht nicht-ziehende Vögel ungefähr so viel Energie verbrauchen wie andere,<br />
die zwei bis drei Stunden geflogen sind. Bei einer Reise von mehreren<br />
tausend Kilometern werden daher für den eigentlichen Flug nur ca.<br />
30% der gesamten Energie verbraucht; der Rest wird während den Zwischenlandungen<br />
aufgebraucht. Der Großteil der Energie für die Wanderungen<br />
wird aus Fetten bezogen (Landys et al. 2005).<br />
Diese Kosten werden offensichtlich durch eine Reihe von Vorteilen<br />
mehr als wettgemacht. So können durch entsprechende Routenwahl die Risiken<br />
und Kosten der Reise reduziert werden. Dementsprechend fliegen die<br />
meisten europäischen Zugvögel über Gibraltar oder den Bosporus nach Afrika,<br />
um so den Anteil des Fluges über Wasser zu reduzieren. Für manche<br />
nordamerikanischen Arten ist aber offensichtlich der Umweg ein größeres<br />
Problem als die Meeresüberquerung, da sie entweder von Kanada über das<br />
offene Meer nach Venezuela ziehen oder den Golf von Mexiko überqueren,<br />
anstatt dem Landweg über Mittelamerika zu folgen. Bei Rotaugenvireos<br />
(Vireo olivaceus) entscheiden Individuen konditionsabhängig, welche<br />
Route sie wählen (Sandberg u. Moore 1996).<br />
Auf der ultimaten Ebene bieten sich durch das Ausweichen auf gemäßigte<br />
oder tropische Winterquartiere dadurch Vorteile, dass das ganze<br />
Jahr über moderate Temperaturen herrschen und ausreichend Nahrung zur<br />
Verfügung steht. Die große Menge an Insekten, die im Sommer auf der<br />
Nordhalbkugel als Nahrung zur Verfügung steht, spielte möglicherweise<br />
bei der Evolution des Vogelzugs seit der letzten Eiszeit eine wichtige Rolle.<br />
Theoretisch könnte nämlich sowohl der saisonale Nahrungsmangel auf<br />
der Nordhalbkugel ein Grund für den Wegzug als auch ein saisonal üppiges<br />
Nahrungsangebot auf der Südhalbkugel ein Grund für den Zug dorthin<br />
sein. Da Kurzstreckenwanderungen auch bei tropischen Vögeln verbreitet<br />
sind, geht man heute davon aus, dass Zugvögel ursprünglich aus<br />
(sub-)tropischen Breiten kommen und temporär nach Norden gezogen<br />
sind, um sich in den längeren Tagen des Nordsommers fortzupflanzen<br />
(Alerstam et al. 2003).
132 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
(2) Proximate Kontrolle von Wanderungen. Der Beginn der Migration<br />
wird photoperiodisch ausgelöst und von einer Jahresuhr gesteuert. Schon<br />
im Vorfeld der Migration beginnen Zugvögel je nach Bedarf Fettreserven<br />
anzulegen, wobei neben der Photoperiode auch magnetische Information<br />
über den Aufenthaltsort diese Vorbereitung beeinflussen (Kullberg et al.<br />
2003). Sie zeigen außerdem eine motorische Hyperaktivität, die Zugunruhe,<br />
die durch anhaltendes Hüpfen, Flattern und Flügelschlagen im Sitzen<br />
charakterisiert ist. Diese einer circannualen Rhythmik unterliegenden<br />
verhaltensphysiologischen Prozesse deuten darauf hin, dass wesentliche<br />
Aspekte des Vogelzugs direkt genetisch gesteuert sind. In einer eindrucksvollen<br />
Serie von Kreuzungs- und Verhaltensexperimenten hat Peter Berthold<br />
die faszinierenden genetischen Grundlagen des Vogelzugs entschlüsselt<br />
(Zusammenfassung in Berthold 2000).<br />
Als geeignete Versuchstiere wählte er Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla),<br />
Garten- und Hausrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus bzw. P.<br />
ochruros), deren zahlreiche eurasischen Populationen sich als Standvögel,<br />
Teilzieher oder reine Zugvögel verhalten, wobei letztere unterschiedliche<br />
Zugstrecken und -richtungen aufweisen (Abb. 4.13). In Käfigen mit beweglichen<br />
Sitzstangen lässt sich über entsprechend angebrachte Mikroschalter<br />
die Zugunruhe elegant und genau quantifizieren. Informationen<br />
über die Zugwege und Brut- und Überwinterungsgebiete stammen vor allem<br />
von Beringungsstudien. In großen Schwärmen ziehende Arten lassen<br />
sich auch mit Radar verfolgen. An Vögel, die groß genug sind, können<br />
auch Telemetrie-Sender angebracht werden, die mit Satelliten verfolgt<br />
werden.<br />
Bei Messungen an Tausenden von Individuen konnte Berthold (2000)<br />
zeigen, dass Beginn, Dauer und Richtung der Zugunruhe art- und populationsspezifisch<br />
sind und eine genetische Basis haben. Die genetische In-<br />
Abb. 4.13. An Mönchsgrasmücken<br />
(Sylvia<br />
atricapilla) wurde die<br />
genetische Kontrolle<br />
des Vogelzugs erforscht
4.3 Orientierung im Raum 133<br />
Abb. 4.14. Genetische Kontrolle des Vogelzugs. Kreuzungsexperimente mit Teil-<br />
Populationen von Mönchsgrasmücken mit unterschiedlichem Zugverhalten ergaben,<br />
dass die F1-Generation intermediäre Zugaktivität hat<br />
formation wird dabei in einen Vektor übertragen, der ein Zeitprogramm<br />
und Richtungsinformationen, inklusive positionsabhängige Richtungsänderungen,<br />
enthält. Beide Komponenten dieses Vektors werden quantitativ<br />
vererbt. Das heißt, aus der Kreuzung von ziehenden und nicht-ziehenden<br />
Mönchsgrasmücken gehen Hybriden mit intermediärer Zugaktivität hervor.<br />
Genauso haben Hybriden aus Populationen mit unterschiedlichen<br />
Zugrichtungen eine intermediäre mittlere Zugrichtung (Abb. 4.14).<br />
Durch Selektionsexperimente an Teilziehern konnten auch wichtige<br />
Einblicke in die evolutionären Mechanismen des Vogelzugs erlangt werden.<br />
Bei Teilziehern wandert jährlich nur ein Teil der Population weg,<br />
während der andere Teil im Brutgebiet verbleibt. Durch direktionale Selektionsexperimente<br />
an teilziehenden Mönchsgrasmücken konnte nach nur<br />
drei Generationen eine ausschließlich zugaktive und nach sechs Generationen<br />
eine nicht mehr zugaktive Teil-Population gezüchtet werden.<br />
Da sich bei assortativen Verpaarungen (also z. B. Zieher mit Zieher)<br />
nicht nur der Anteil an Ziehern unter den Jungen, sondern auch (in diesem<br />
Fall) die Menge der Zugaktivität erhöht, handelt es sich um ein polygenes,<br />
quantitatives Merkmal, dessen Erblichkeit bei etwa 0,4 liegt (Pulido et al.<br />
2001). Aufgrund dieser beachtlichen Erblichkeit und der phänotypischen<br />
Variation der beteiligten Merkmale existiert ein hohes Selektionspotential,<br />
das über evolutionäre Zeiträume rasche Anpassungen an sich verändernde<br />
Umweltbedingungen möglich macht. In diesem Zusammenhang sind auch<br />
aktuelle Ausweitungen der Verbreitungsgebiete mancher afrikanischer Arten<br />
wie Bienenfresser nach Mitteleuropa im Rahmen der globalen Erwärmung<br />
erklärbar. Dieses große Selektionspotential haben Mönchsgrasmücken<br />
auch unter natürlichen Bedingungen gezeigt. Seit knapp 40 Jahren<br />
überwintert ein Teil der mitteleuropäischen Mönchsgrasmücken nicht<br />
mehr im Mittelmeerraum, sondern auf den Britischen Inseln (Bearhop<br />
et al. 2005). Kreuzungsexperimente zeigten, dass diese neue Zugrichtung
134 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
ebenfalls vererbt wird (Berthold et al. 1992). Wie entsprechende Untersuchungen<br />
an Rauchschwalben (Hirundo rustica) gezeigt haben, wird auch<br />
der Zeitpunkt der Wanderungen genetisch kontrolliert (Møller 2001).<br />
(3) Wanderungen bei anderen Taxa. Auch unter Säugetieren gibt es eine<br />
Reihe von beachtlichen Beispielen für Wanderungen. Manche Fledermausarten<br />
ziehen genauso weit wie manche Zugvögel, um den Winter in<br />
wärmeren Gefilden oder besonders geeigneten Winterquartieren zu verbringen<br />
(Holland 2007). Auch bei terrestrischen Säugetierarten gibt es ausgedehnte<br />
Wanderungen, obwohl sie sich natürlich nicht so leicht und weit<br />
fortbewegen können wie Vögel und Fledermäuse. Sowohl arktische Karibus<br />
als auch Gnus, Zebras und verschiedene Gazellen der Serengeti wandern<br />
regelmäßig mehrere hundert Kilometer zwischen saisonal verfügbaren<br />
Weidegründen. Auch unter Walen sind lange saisonale Wanderungen<br />
weit verbreitet, wobei sie warme Gewässer aufsuchen, um ihre Jungen zu<br />
gebären.<br />
Unter den Reptilien sind vor allem die langen Wanderungen der Meeresschildkröten<br />
gut untersucht. Wanderungen bei Amphibien sind weniger<br />
spektakulär, aber bei den jährlichen „Krötenwanderungen“ kehren diese<br />
über mehrere Kilometer an das Gewässer zur Paarung zurück, an dem sie<br />
selbst geschlüpft sind. Bei Fischen sind am besten die Wanderungen der<br />
pazifischen Lachse (Oncorhynchus spp.) untersucht, die sich nach 2–3 Jahren<br />
im offenen Meer vermutlich per Sonnenkompass Richtung Küste orientieren<br />
und dann am Geruch den Fluss und Bach identifizieren, aus dem<br />
sie stammen und in dem sie selber ablaichen, bevor sie sterben. Auch die<br />
in europäischen und nordamerikanischen Flüssen heimischen Aale (Anguilla<br />
rostrata) wandern jedes Jahr zur Paarung in die Sargasso-See im westlichen<br />
Atlantik.<br />
Manche Insekten wandern ebenfalls, zumeist in riesigen Schwärmen,<br />
über größere Entfernungen (Holland et al. 2006). Eine der faszinierendsten<br />
Wanderleistungen überhaupt findet sich schließlich beim Monarchfalter<br />
(Danaus plexippus). Ein Großteil der nordamerikanischen Population<br />
dieser Schmetterlinge überwintert in einem wenige Hektar großen Waldgebiet<br />
in Mexiko, wo sie mehrere Monate in einer Ruhestarre verbringen<br />
(Abb. 4.15). Sie verpaaren sich kurz vor der Rückreise und durchlaufen<br />
während eines Sommers drei bis fünf Generationen. Die letzte Generation<br />
eines Jahres, also völlig naive Individuen, bewältigt dann wieder die Wanderung<br />
nach Mexiko. Da Monarchfalter unter allen Wetterbedingungen<br />
gerichtet ziehen, haben sie wahrscheinlich einen Sonnen- und einen Magnetkompass.<br />
Das heißt, sämtliche Mechanismen für eine erfolgreiche Wanderung,<br />
aber auch alle Informationen über das Zielgebiet müssen in ihrem<br />
vergleichsweise einfachen Nervensystem genetisch verankert sein. Andere
4.4 Zusammenfassung 135<br />
Abb. 4.15. Überwinternde Monarchfalter (Danaus plexippus)<br />
Insekten werden dagegen zumeist nur passiv vom Wind über größere Entfernungen<br />
verfrachtet; Wanderheuschrecken (Schistocerca gregaria) werden<br />
sogar gelegentlich von Nordafrika bis in die Karibik und nach Südamerika<br />
verfrachtet (Rosenberg u. Burt 1999)!<br />
4.4 Zusammenfassung<br />
Erfolgreiches tagtägliches Überleben basiert zu einem Großteil darauf,<br />
dass sich Tiere in ihrem Lebensraum zeitlich und räumlich orientieren.<br />
Praktisch alle bekannten Sinnesmodalitäten werden dazu<br />
eingesetzt, entsprechende Informationen aus der Umwelt aufzunehmen.<br />
Das Studium der Orientierungsleistungen hat daher eine starke<br />
sinnesphysiologische Komponente und ist größtenteils auf proximate<br />
Fragen konzentriert. Zur Orientierung in der Zeit besitzen sehr viele<br />
Tiere eine innere circadiane Uhr, die wichtige tagesrhythmische Körperfunktionen<br />
koordiniert sowie die Aktivität des betreffenden Organismus<br />
in Bezug auf den Wechsel zwischen Tag und Nacht steuert.<br />
Bei Tieren, die den Regelmäßigkeiten des Gezeitenwechsels, der<br />
Mondphasen oder der Jahreszeiten ausgesetzt sind, finden sich zusätzliche<br />
innere Uhren mit entsprechender Periodenlänge. Die proximaten<br />
Grundlagen dieser Uhren bis hin zur genetischen Basis sind teilweise<br />
erforscht. Für die Orientierung im Raum existieren zahlreiche Mechanismen,<br />
die sich mit Hilfe einfacher Regelkreise direkt an einem Reiz
136 4 Orientierung in Zeit und Raum<br />
ausrichten. Dabei werden eine Reihe von Kinesen und Taxien unterschieden,<br />
die vor allem bei der Nahorientierung bedeutsam sind. Für<br />
räumliche Orientierung über größere Distanzen ist die Fähigkeit, mit<br />
Hilfe einer Karte und eines Kompasses zu navigieren, notwendig. Der<br />
Sonnenkompass ist dabei am weitesten verbreitet; es kommen aber<br />
auch regelmäßig Magnet- und Sternenkompass zum Einsatz. Sie liefern<br />
die Grundlage für den Erfolg der Wanderungen, zum Teil über<br />
Tausende von Kilometern, die von Zugvögeln, aber auch vielen anderen<br />
Wirbeltieren und manchen Wirbellosen, durchgeführt werden.<br />
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5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
5.1 Habitatwahl und Einnischung<br />
5.1.1 Bedeutung der Habitatwahl<br />
5.1.2 Mechanismen der Habitatwahl<br />
5.2 Nahrungssuche<br />
5.2.1 Determinanten des Fressverhaltens<br />
5.2.2 Mechanismen der Nahrungssuche<br />
5.3 Nahrungswahl<br />
5.3.1 Optimale Nahrungswahl<br />
5.3.2 Nahrungsqualität<br />
5.4 Nahrungskonkurrenz<br />
5.4.1 Ultimate Aspekte<br />
5.4.2 Formen und Ursachen von Nahrungskonkurrenz<br />
5.4.3 Ideal freie Verteilung<br />
5.5 Territorialität<br />
5.5.1 Ursachen von Territorialität<br />
5.5.2 Ökonomie von Territorialität<br />
5.5.3 Mechanismen der Territorialität<br />
5.6 Tier-Pflanze Interaktionen<br />
5.6.1 Evolution von Herbivorie<br />
5.6.2 Tier-Pflanze Mutualismus<br />
5.7 Zusammenfassung<br />
Jedes Tier muss regelmäßig Nahrung zu sich nehmen, um die energetischen<br />
Grundlagen für Wachstum, Aufrechterhaltung der Grundfunktionen<br />
und Reproduktion zu gewährleisten. Daher kommt der Suche, Auswahl,<br />
Verteidigung und Aufnahme von Nahrung im Verhaltensrepertoire<br />
der meisten Arten eine wichtige Funktion beim tagtäglichen Überleben zu.<br />
Dabei muss ein Individuum zunächst ein geeignetes Habitat wählen und<br />
darin nach Futter suchen. Bei der Wahl des Futterplatzes muss dabei das<br />
Prädationsrisiko einerseits und die Intensität der Nahrungskonkurrenz<br />
durch Artgenossen andererseits berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang<br />
muss ein Tier auch entscheiden, ob es seine Nahrungsressourcen
146 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
gegebenenfalls gegen Konkurrenten verteidigt. Wenn ein geeigneter Futterplatz<br />
gefunden ist, stellt sich die Frage, wie lange dieser genutzt werden<br />
sollte, bevor ein neuer gesucht wird. Beim Fressen an einer Stelle muss ein<br />
Tier außerdem entscheiden, welche der verfügbaren Nahrungseinheiten es<br />
auswählt und tatsächlich nutzt. In diesem Zusammenhang kommt es zu<br />
zahlreichen Interaktionen zwischen Tieren und Pflanzen, mit weit reichenden<br />
evolutiven Konsequenzen. Ob eine Art selbst als Räuber und/oder<br />
Beute in der Nahrungspyramide agiert, hat zudem eine Vielzahl von Konsequenzen<br />
für ihr jeweiliges Sozialverhalten ( Kap. 6.3).<br />
5.1 Habitatwahl und Einnischung<br />
Individuen verschiedener Arten sind nicht gleichmäßig oder zufällig über<br />
die verfügbaren Lebensräume verteilt. Nur die wenigsten Arten haben eine<br />
globale Verbreitung; die allermeisten Arten besitzen ein umschriebenes<br />
Verbreitungsgebiet mit einem dominierenden Habitattyp (Tundra, Savanne,<br />
Regenwald etc.). Innerhalb des Verbreitungsgebietes einer Art kann es<br />
auch auf kleinem räumlichen Maßstab Heterogenität in Bezug auf Vegeta-<br />
Abb. 5.1. Auf mehreren hierarchischen Ebenen gibt es Heterogenität in potentiellen<br />
Lebensräumen. Jede Art muss sich in diesem Mosaik ein für sie geeignetes<br />
Habitat auswählen
5.1 Habitatwahl und Einnischung 147<br />
tionstyp (z. B. Laub- oder Nadelwald, Wiese), Nahrungsverfügbarkeit,<br />
Feuchtigkeit und Temperatur sowie Anzahl und Qualität von Schutz- und<br />
Nistplätzen, welche die Wahl des Lebensraums von Tieren beeinflussen<br />
(Abb. 5.1). Die Einnischung in ein bestimmtes dieser multidimensionalen<br />
Habitate kann sehr eng oder sehr breit sein, je nachdem wie speziell die<br />
artspezifischen Anforderungen an Überleben oder Fortpflanzung sind. In<br />
Bezug auf Habitatpräferenzen gibt es daher ein weites Spektrum von<br />
engen Spezialisten bis hin zu breiten Generalisten.<br />
Spezifische Habitatansprüche werden im alltäglichen Leben immer<br />
dann deutlich, wenn bestimmte Habitate zerstört werden und die daran angepassten<br />
Arten (lokal) aussterben. Wenn zum Beispiel Feuchtgebiete<br />
trockengelegt werden, haben auf den so erzeugten Agrarflächen diejenigen<br />
Arten keine Lebensgrundlage mehr, die in Bezug auf Nahrung oder Fortpflanzung<br />
auf Feuchtgebiete angewiesenen sind. Habitatverlust hat weitreichende<br />
ökologische und genetische Konsequenzen (Sih et al. 2000).<br />
Selbst wenn Habitate „nur“ fragmentiert werden, hat dies nachhaltige Konsequenzen<br />
für die lokale Diversität (Lens et al. 2002), da durch den Wegfall<br />
einzelner Arten über die Störung ihrer Beziehungen mit anderen Arten<br />
in ihrer Funktion als Räuber, Beute oder Wirt die gesamte Gemeinschaft<br />
destabilisiert werden kann (Schneider 2001, McCallum u. Dobson 2002).<br />
Untersuchungen verschiedener Aspekte der Habitatwahl haben daher auch<br />
im angewandten Bereich der Naturschutzplanung und -biologie eine wichtige<br />
praktische Bedeutung.<br />
5.1.1 Bedeutung der Habitatwahl<br />
Die Wahl eines bestimmten Habitats hat Konsequenzen für den Überlebens-<br />
und Fortpflanzungserfolg der betreffenden Individuen, die zu lokalen<br />
Unterschieden in der Genhäufigkeit führen können. Die Wahl eines<br />
bestimmten Habitats wirkt sich in Form von phänotypischer Plastizität auf<br />
die Ausprägung verschiedener Life history-Variablen aus ( Kap. 2.3). Individuen,<br />
die in qualitativ besseren Habitaten innerhalb des Verbreitungsgebietes<br />
vorkommen, können zum Beispiel schneller wachsen und früher<br />
geschlechtsreif werden sowie mehr oder häufiger Nachwuchs produzieren<br />
und so zur relativen Zunahme bestimmter Gene beitragen (Smith u. Skulason<br />
1996). Habitatwahl kann daher sogar ein Faktor bei der Artbildung<br />
werden, wie z. B. bei Finken auf Galapagos (Certhidea olivacea und C.<br />
fusca: Tonnis et al. 2005) oder adriatischen Mauereidechsen (Podarcis<br />
melisellensis: Herrel et al. 2008). Über evolutionäre Zeiträume beeinflusst<br />
diese Variabilität auch die Interaktionen zwischen Arten und letztendlich<br />
die Struktur ihrer Gemeinschaften (Agrawal 2001).
148 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Abb. 5.2. Qualitätsunterschiede in verfügbaren Habitatsbereichen einer Art führen<br />
dazu, dass in guten Bereichen das Populationswachstum (Rekrutierung) größer ist<br />
als die Mortalitätsraten; in schlechten Habitaten ist es umgekehrt. Dadurch kommt<br />
es zu einer Netto-Zunahme bzw. Abnahme der Populationsgröße. Wenn zwischen<br />
guten und schlechten Habitaten ein Austausch von Individuen stattfindet, fungiert<br />
das gute Habitat als source und das schlechte als sink<br />
Diese funktionale Verknüpfung zwischen Ökologie und Life history äußert<br />
sich bei stark ausgeprägter Heterogenität zwischen Lebensräumen in<br />
der Unterscheidung zwischen source- und sink-Habitaten (Dias 1996).<br />
Manche Habitate bieten dabei für eine Art sehr viel bessere Bedingungen<br />
für erfolgreiches Überleben und Reproduzieren, so dass sie eine Quelle<br />
(source) für die Besiedelung qualitativ schlechterer Gebiete (sink) darstellen,<br />
in denen entweder kein Populationswachstum stattfindet oder es sogar<br />
zum lokalen Aussterben der betroffenen Art kommt (Abb. 5.2; Kirkpatrick<br />
u. Barton 1997). Pfeifhasen (Ochotona princeps), die an der Schneegrenze<br />
in den Rocky Mountains leben, haben beispielsweise in Populationen auf<br />
tiefer gelegenen alpinen Wiesen höhere Geburts- und geringere Sterberaten<br />
als im Bereich der höher gelegenen Schneewiesen. Dementsprechend findet<br />
ein Netto-Austausch von Individuen vom produktiveren Wiesenhabitat<br />
in höhere Regionen statt (Kreuzer u. Huntly 2003).<br />
5.1.2 Mechanismen der Habitatwahl<br />
Die Wahl eines Habitats wird durch mehrere Mechanismen bewerkstelligt.<br />
Die Existenz von Habitatpräferenzen lässt sich oft nur schwierig oder indirekt<br />
nachweisen, da es in einem Gebiet in der Regel mehrere (oft nahverwandte)<br />
Arten mit ähnlichen Habitatansprüchen gibt. Manche Arten kön-
5.1 Habitatwahl und Einnischung 149<br />
nen daher durch zwischenartliche Konkurrenz aus dem von ihnen eigentlich<br />
bevorzugten Habitat verdrängt werden. Neben Konkurrenten um Nahrung<br />
oder andere wichtige Ressourcen können auch Räuber oder Parasiten<br />
zu einer Abweichung der Verbreitung einer Art im Vergleich zu ihrer eigentlichen<br />
Habitatpräferenz führen.<br />
Ein grundlegendes Paradigma der Ökologie besagt, dass sympatrische<br />
Arten mit identischen Habitatansprüchen nicht koexistieren können und<br />
es daher aufgrund der Konkurrenz zwischen Arten zu einer ökologischen<br />
Segregation in Bezug auf mindestens eine Habitatdimension kommt<br />
(Abb. 5.3). Ob diese Prozesse auf Ökosystemebene stochastisch oder deterministisch<br />
ablaufen und ob daher die lokale Artenzusammensetzung stabil<br />
ist oder immer nur eine zufällige Momentaufnahme darstellt, ist eine der<br />
zentralen Fragen der aktuellen Ökosystem- und Biodiversitätsforschung<br />
(Loreau et al. 2001). Neben der Heterogenität der Umwelt (Rainey u. Travisano<br />
1998) ist auch die Konkurrenz zwischen Arten eine treibende evolutionäre<br />
Kraft bei der Ausbildung von adaptiven Radiationen und den damit<br />
assoziierten Spezialisierungen (Schluter 2000). Bekanntestes Beispiel sind<br />
die Darwin-Finken auf Galapagos, denen die Modifikation ihrer Schnäbel<br />
eine feine Nischentrennung ermöglicht hat (Grant u. Grant 2002).<br />
Korrelative Untersuchungen zwischen Habitatvariablen und Besiedlungsdichte<br />
in freier Natur sowie Wahl- oder Präferenztests unter kontrollierten<br />
Bedingungen können Habitatpräferenzen und Nischentrennung nur<br />
bedingt nachweisen, da immer die Möglichkeit besteht, dass eine entscheidende<br />
Variable nicht berücksichtigt wurde oder dass sie sich im Labor<br />
nicht replizieren lässt. Wenn einfache Gemeinschaften betrachtet werden,<br />
Abb. 5.3a–c. Koexistenz und Konkurrenz zwischen Arten. Experimente mit<br />
Diatomen (Tilman et al. 1981) haben ein Paradigma der Ökologie demonstriert:<br />
a Wenn eine Art (rot) in einem Medium heranwächst, erreicht sie nach einer bestimmten<br />
Zeit eine stabile Dichte; b dasselbe gilt für eine zweite Art (blau).<br />
c Wenn allerdings beide Arten zusammen gehalten werden und um dieselben<br />
Nährstoffe konkurrieren, setzt sich eine Art (in diesem Fall rot) durch und verdrängt<br />
den Konkurrenten
150 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
wie zum Beispiel relativ wenige sympatrische Primatenarten (Ganzhorn<br />
1989), übersichtliche Gemeinschaften von Finkenvögeln (Grant u. Grant<br />
2002) oder experimentelle Bakteriengemeinschaften (Travisano u. Rainey<br />
2000), ist dies allerdings meist einfacher und Erfolg versprechender als<br />
wenn Hunderte von ökologisch ähnlichen Insektenarten auf einem einzigen<br />
Baum verglichen werden (z. B. Floren u. Linsenmair 1998).<br />
Auch innerartliche Konkurrenz kann zur Besetzung unterschiedlicher<br />
Nischen führen. Drosophila melanogaster mit unterschiedlichen experimentell<br />
manipulierten Wettbewerbsfähigkeiten weichen beispielsweise unter<br />
starker innerartlicher Konkurrenz auf eine neue Ressource aus, wodurch<br />
ihre Nische insgesamt vergrößert wird (Bolnick 2001). Dieser<br />
Verdrängungseffekt lässt sich auch bei Zugvögeln beobachten, die nach<br />
und nach aus ihrem Überwinterungsgebiet zurückkehren und zuerst die<br />
besten Territorien besetzen, wobei es zwischen und innerhalb von Arten zu<br />
Konkurrenz kommt (Bourski u. Forstmeier 2000). In einem heterogenen<br />
Habitat werden die für eine Art optimalen Bereiche häufig zuerst besiedelt;<br />
wenn diese Bereiche gesättigt sind, weichen andere Individuen auf suboptimale<br />
Bereiche aus (Abb. 5.4). Mönchsgrasmücken (Sylvia atricapilla)<br />
haben beispielsweise eine Präferenz für wassernahe Laubwälder, finden<br />
sich aber auch in benachbarten Mischwäldern ohne Gewässer. In beiden<br />
Abb. 5.4. Habitatqualität und innerartliche Konkurrenz. Wenn es Heterogenität in<br />
der Habitatqualität gibt (hier seien „gelbe“ Habitate besser als „orange“ und diese<br />
wiederum besser als „grüne“), können Tiere, die durch innerartliche Konkurrenz<br />
verdrängt werden, ihren Zugang zu einer bestimmten Menge an Ressourcen dadurch<br />
konstant halten, dass sie die Größe ihrer Territorien mit abnehmender Habitatqualität<br />
vergrößern. Im „grünen“ Habitat sind Territorien (Rechtecke) dementsprechend<br />
größer als in den beiden besseren Habitaten
5.1 Habitatwahl und Einnischung 151<br />
Habitaten haben diese Vögel aber denselben durchschnittlichen Fortpflanzungserfolg,<br />
offenbar weil in den Laubwäldern ihre Dichte ungefähr viermal<br />
höher ist (Weidinger 2000).<br />
Neben direkter Konkurrenz kann Information über die Habitatqualität in<br />
Bezug auf die Anzahl von zu erwartenden Konkurrenten (Doligez et al.<br />
2002) die Entscheidung für ein bestimmtes Mikrohabitat genauso beeinflussen<br />
wie der durchschnittliche Verwandtschaftsgrad zwischen Konkurrenten<br />
(Morris et al. 2001). Die der Habitatwahl zugrunde liegende<br />
Entscheidung lässt sich unter Berücksichtigung dieser Faktoren mit spieltheoretischen<br />
Ansätzen modellieren, da die Entscheidung eines Individuums<br />
auch vom Verhalten seiner Artgenossen abhängt (Kokko 1999).<br />
Ein dritter wichtiger ökologischer Mechanismus der Habitatwahl stellt<br />
die Reaktion auf das wahrgenommenen Prädationsrisiko dar (Lima u.<br />
Dill 1990). Die Diversität und Dichte potentieller Räuber wird von Beutetieren<br />
offenbar mit der Nahrungsverfügbarkeit oder der Qualität anderer<br />
wichtiger Ressourcen in einem Gebiet verrechnet. So suchen sich Unglückshäher<br />
(Perisoreus infaustus), denen in der Nähe ihrer Nester regelmäßig<br />
Vokalisationen ihrer Nesträuber (Krähen, Corvus) vorgespielt wurden,<br />
neue, besser geschützte Nistplätze (Eggers et al. 2006). Wenn man<br />
umgekehrt Räuber experimentell aus einem Gebiet entfernt oder fernhält,<br />
verändert sich die Mikrohabitatnutzung ihrer Beute (Strauß et al. 2008).<br />
Selektion auf die Wahl eines möglichst optimalen Habitats ist offensichtlich<br />
so stark, dass sich im Laufe der Evolution Lern- und Prägungs-<br />
Abb. 5.5. Angeborene und erlernte Habitatpräferenzen. Aus der freien Wildbahn<br />
in entsprechende Volieren verfrachtete Schwirrammern haben eine klare Präferenz<br />
für Kiefernzweige. Naive, d. h. in leeren Volieren von Hand aufgezogene Tiere<br />
haben im Alter von zwei Monaten ebenfalls eine spontane Präferenz für Kiefern.<br />
Diese Präferenz kann durch Aufzucht in einer reinen „Eichen-Umwelt“ aber teilweise<br />
modifiziert werden (Klopfer 1963)
152 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
muster ( Kap. 10.5) entwickelt haben, die das Finden von und die Anpassung<br />
an bestimmte Habitattypen auf der proximaten Ebene erleichtern<br />
(Partridge 1981). Dadurch, dass Individuen in einem optimalen Habitat<br />
eine größere Fitness erzielen, werden existierende erbliche Grundlagen ihrer<br />
Habitatpräferenz positiv selektiert und die zugrunde liegenden Verhaltensmechanismen<br />
der Habitatwahl genetisch verankert. Schwirrammern<br />
(Spizella passerina) kommen zum Beispiel in nordamerikanischen Kiefernwäldern<br />
vor und verbringen in Volieren mit Kiefern- und Eichenästen<br />
Box 5.1<br />
Erfahrung und Habitatwahl<br />
• Frage: Haben abwandernde Pinselmäuse (Peromyscus boylii) eine Präferenz<br />
für den Typ des Habitats, in dem sie aufgewachsen sind?<br />
• Hintergrund: Wenn das Habitat, in dem Jungtiere aufwachsen, einen Einfluss<br />
auf den Habitattyp hat, in dem sie sich nach der Abwanderung aus ihrem<br />
Geburtsgebiet ( Kap. 11.1) niederlassen, sollte dieser Habitattyp<br />
überzufällig gewählt werden. Voraussetzung ist natürlich, dass verschiedene<br />
Habitattypen zur Auswahl stehen.<br />
• Methode: 18 junge Pinselmäuse wurden vor der Abwanderung in ihrem<br />
Geburtsgebiet gefangen, besendert und verfolgt, bis sie sich im neuen Gebiet<br />
niedergelassen hatten. Für jedes Tier wurde der Anteil von Busch-<br />
(weiß) bzw. Waldhabitat (grau) in ihrem Geburtsgebiet bestimmt.<br />
• Ergebnis: Tiere ließen sich signifikant häufiger in dem Habitattyp nieder,<br />
der ihrem Geburtshabitat ähnlich war, als dies aufgrund der jeweiligen<br />
Habitatverfügbarkeit zu erwarten wäre*.<br />
• Schlussfolgerung: Die Erfahrung früh im Leben beeinflusst individuelle<br />
Habitatpräferenzen maßgeblich.<br />
Mabry u. Stamps 2008<br />
* In einer logistischen Regression wurde die Wahl des natalen Habitattyps jedes Individuums<br />
mit „1“, die des nicht-natalen Habitattyps mit „0“ (rechte Ordinate) bewertet
5.2 Nahrungssuche 153<br />
deutlich mehr Zeit auf den Kiefern (Klopfer 1963). In leeren Käfigen von<br />
Hand aufgezogene Junge haben nach zwei Monaten eine ähnlich starke<br />
Präferenz für Kiefernzweige, was auf eine genetische Grundlage dieser<br />
Präferenz hinweist. Bei Jungtieren, die in Käfigen aufwuchsen, die nur mit<br />
Eichenzweigen ausgestattet waren, war im Alter von zwei Monaten keine<br />
klare Präferenz zu erkennen (Abb. 5.5). Die genetisch angelegte Grundpräferenz<br />
für ein Habitat kann daher durch frühe Erfahrung modifiziert werden<br />
(Davis u. Stamps 2004; Box 5.1). Inwieweit diese Mechanismen den<br />
Erfolg von Wiederauswilderungsprogrammen von in Gefangenschaft aufgezogenen<br />
bedrohten Arten beschränken, bleibt abzuwarten (Wallace<br />
2000).<br />
5.2 Nahrungssuche<br />
Wenn ein Individuum ein Habitat ausgewählt hat, muss es geeignete Nahrung<br />
suchen, auswählen, bearbeiten und schließlich fressen. Sollte es dann<br />
im selben Gebiet noch weiter Nahrung suchen oder ist es besser, damit an<br />
anderer Stelle fortzufahren? Wie lange und mit welcher Strategie soll es an<br />
verschiedenen Orten suchen? Da alle diese Schritte und Entscheidungen<br />
mit Investitionen an Zeit und Energie verbunden sind, sollten Tiere im<br />
Laufe der Evolution Strategien entwickelt haben, die es ihnen erlauben,<br />
möglichst effizient an die von ihnen benötigte Nahrung zu gelangen. Welche<br />
Faktoren dabei maximiert werden, wird von der Optimal-foraging-<br />
Theorie beschrieben.<br />
Die Optimal-foraging-Theorie basiert auf einer Reihe von Annahmen<br />
über (1) verschiedene Zwänge, denen ein Nahrung suchendes Tier unterliegt,<br />
(2) Entscheidungen, die ein Tier treffen kann, (3) Variablen, die dabei<br />
optimiert werden, und (4) die Kontrolle der entsprechenden Verhaltensweisen<br />
(Charnov 1976; Perry u. Pianka 1997). So geht diese Theorie<br />
unter anderem davon aus, dass ein Tier über komplette Information über<br />
seine Nahrungsverteilung verfügt, dass die Nahrungswahl durch keine anderen<br />
Faktoren eingeschränkt ist und dass alle an der Nahrungssuche und<br />
-auswahl beteiligten Verhaltensweisen angeboren sind und unabhängig<br />
evoluieren. Da manche dieser Annahmen nie überprüft wurden, unrealistisch<br />
sind oder grundsätzlich in Frage gestellt wurden (Pierce u. Ollason<br />
1987), hat sich dieser Ansatz zur Erklärung des Fouragier- und Fressverhaltens<br />
nie vollständig durchgesetzt, obwohl zahlreiche theoretische und<br />
empirische Arbeiten dazu angefertigt wurden (Pyke 1984). Andererseits<br />
hat dieser Ansatz Erklärungsprinzipien für zahlreiche Phänomene auch außerhalb<br />
des Fressverhaltens geliefert ( Kap. 1.4).
154 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
5.2.1 Determinanten des Fressverhaltens<br />
Um zu verstehen, wer warum was frisst, kann das Verhalten von Tieren<br />
auf mehreren Ebenen analysiert werden. Das ökologische Konzept der<br />
Nahrungspyramide erklärt dabei die beobachtete Diversität in der Nahrung<br />
von Tieren in den allergröbsten Zügen. Da bei jedem Transfer von<br />
Energie zwischen trophischen Ebenen Energie verloren geht (2. Gesetz der<br />
Thermodynamik), gibt es in einer Nahrungspyramide nur wenige Ebenen.<br />
Beim ersten Transfer von Lichtenergie in Zucker gehen bei der Photosynthese<br />
bereits 98% der ursprünglichen Energie verloren. Die in Pflanzen gespeicherte<br />
Energie, bei deren Verwertung wieder ca. 90% der Energie verloren<br />
geht, wird von Herbivoren genutzt, welche die große Mehrzahl der<br />
Tierarten darstellen. An der Spitze der Nahrungspyramide befinden sich<br />
Karnivoren, die andere Tiere erbeuten und dabei auch nur ca. 15% der verfügbaren<br />
Energie ausnutzen. Die restliche Energie geht als Wärme verloren<br />
oder wird von Bakterien und Pilzen umgesetzt. Aufgrund dieser übergeordneten<br />
Zusammenhänge sind die meisten Tierarten Herbivoren; das<br />
Fressen von tierischer Nahrung ist dagegen einer Minderheit vorbehalten.<br />
Die Stabilität der resultierenden Nahrungsnetze hängt vor allem von der<br />
Anzahl und Stärke der Beziehungen zwischen trophisch benachbarten<br />
Arten ab (Neutel et al. 2002).<br />
Innerhalb dieser Kategorien gibt es große Variabilität zwischen Arten,<br />
aber zum Teil auch zwischen Individuen einer Art, in Bezug auf die Diversität<br />
und Determinanten der Nahrungszusammensetzung. Diese Variabilität<br />
ist auf eine Vielzahl externer, interner und historischer Faktoren<br />
zurückzuführen. So beeinflussen Nahrungsverfügbarkeit sowie ihre Bearbeitungszeit,<br />
Prädationsdruck, Nahrungskonkurrenz und Aspekte der Habitatstruktur<br />
(z. B. Verfügbarkeit von Warten für Ansitzjäger), wer wo nach<br />
Nahrung sucht. Was dort tatsächlich gefressen wird, hängt vom aktuellen<br />
Hungerzustand, von individuellen Erfahrungen und Vorlieben, Geschlecht<br />
und Fortpflanzungszustand sowie vom Nährwert und anderen Inhaltsstoffen<br />
der Nahrung ab. Schließlich gibt es übergeordnete Zwänge des<br />
Bauplans, wie sensorische Ausstattung, morphologische Spezialisierungen<br />
oder physiologische Beschränkungen (z. B. maximale Jagdgeschwindigkeit),<br />
die den Speiseplan eines Individuums mitbestimmen.<br />
Je nach Art der Nahrungszusammensetzung kann man ein Tier in zweierlei<br />
Hinsicht charakterisieren. Basierend darauf, was es frisst, kann man<br />
Herbivoren, Karnivoren und Omnivoren unterscheiden. Je nachdem,<br />
wie viele verschiedene Typen innerhalb einer Nahrungsklasse gefressen<br />
werden, kann man Nahrungsspezialisten und -generalisten unterscheiden.<br />
Nahrungsspezialisten sind auf wenige oder im Extremfall nur eine Art<br />
von Nahrung fixiert und angewiesen. Viele herbivore Insekten haben zum
5.2 Nahrungssuche 155<br />
Beispiel nur eine Wirtspflanzenart. So ernähren sich Raupen des Monarchfalters<br />
(Danaus plexippus) ausschließlich von Blättern von Wolfsmilchgewächsen<br />
(Asclepias spp., Mattila u. Otis 2003). Ein potentieller Vorteil hoher<br />
Spezialisierung besteht darin, dass Nahrungsquellen mehr oder<br />
weniger exklusiv genutzt werden können. Spezialisten könnten, im Vergleich<br />
zu Generalisten, die dieselbe Ressource nutzen, auch einen Vorteil<br />
aus effizienterer Nutzung beziehen. In einem Experiment, bei dem spezialisierten<br />
Falterfischen (Chaetodon spp.) bevorzugte und nicht bevorzugte<br />
Korallen als Nahrung angeboten wurden, zeigten sich aber keine Unterschiede<br />
in der Effizienz der Nahrungsnutzung (Berumen u. Pratchett<br />
2008).<br />
Andere Tiere nutzen dagegen ein sehr viel breiteres Spektrum an Nahrungsbestandteilen<br />
und werden als Nahrungsgeneralisten bezeichnet. Ihre<br />
Flexibilität ist in saisonalen Habitaten mit wechselndem Nahrungsangebot<br />
vorteilhaft, wo sie sich zu verschiedenen Jahreszeiten auf die jeweils häufigste<br />
oder profitable Nahrung konzentrieren können (Deus u. Petrere-<br />
Junior 2003). Dabei leben Generalisten mit einem höheren Risiko, bei unbekanntem<br />
Futter auf Nahrung mit giftigen Inhaltsstoffen zu stoßen (Noble<br />
et al. 2001). Auf der ökologischen Ebene ist die Häufigkeit von Generalisten<br />
umgekehrt mit der Produktivität eines Habitats korreliert; wenn es generell<br />
weniger zu fressen gibt, ist es offenbar vorteilhaft, alle möglichen<br />
Nahrungen mit in den Speiseplan aufzunehmen. So haben Vögel auf Inseln,<br />
wo es aufgrund der begrenzten Fläche ein reduziertes Nahrungsangebot<br />
gibt, eine breitere Nahrungsnische als ihre Artgenossen auf dem<br />
Festland (Scott et al. 2003). Allerdings ist dabei unklar, ob die Diversität<br />
oder Quantität des Nahrungsangebots oder gar die fehlenden Konkurrenten<br />
für dieses Muster verantwortlich sind.<br />
5.2.2 Mechanismen der Nahrungssuche<br />
Der erste Schritt bei der Nahrungsaufnahme besteht bei den meisten Tieren<br />
in der Suche bzw. dem Finden von geeigneter Nahrung. Hierbei spielen<br />
auf der proximaten Ebene artspezifische sensorische Fähigkeiten eine<br />
herausragende Rolle ( Kap. 4.1). Viele Wirbellose, Amphibien, Reptilien,<br />
Vögel und Säugetiere lokalisieren und identifizieren ihre wichtigsten<br />
Nahrungsbestandteile visuell. Manche jagende Tiere, wie Eulen, Fledermäuse,<br />
Delfine sowie einige Primaten, verlassen sich dagegen hauptsächlich<br />
auf ihren akustischen Sinn (Goerlitz u. Siemers 2007). Der olfaktorische<br />
Sinn stellt für viele Wasser bewohnende und nachtaktive Tiere die<br />
wichtigste Sinnesmodalität bei der Nahrungssuche dar. Schließlich gibt es<br />
auch noch spezielle Anpassungen, wie die Lorenzinischen Ampullen der<br />
Haie zur Detektion von elektrischen Potentialen, die Infrarot-Detektoren
156 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
von manchen Schlangen oder den kombinierten Tast- und Geschmacksapparat<br />
der Sternmulle (Condylura cristata, Catania u. Remple 2005), die<br />
zeigen, dass im Tierreich fast alle Sinne zur Nahrungssuche eingesetzt<br />
werden können (Dusenbery 1992).<br />
(1) Kognitive Aspekte. Wenn sich eine Nahrungsquelle erneuert und ein<br />
Individuum verlässlich Zugang zu ihr hat, d. h. es keine oder wenig<br />
zwischenzeitliche Nutzung durch andere gibt, können diese Orte mit Hilfe<br />
von Gedächtnisleistungen wiederholt aufgesucht werden. In diesem Fall<br />
stellt sich die Frage nach der optimalen Wiederkehrzeit, also wie schnell<br />
ein Individuum wieder an eine bestimmte Nahrungsquelle zurückkehren<br />
sollte. Auch Blüten besuchende Insekten sehen sich einem vergleichbaren<br />
Problem gegenüber. Sie konzentrieren sich unter den Blüten unterschiedlicher<br />
Größe und Verfügbarkeit meist auf die häufigste und ergiebigste<br />
Art. Sie sollten aber unter Optimalitätsgesichtspunkten weiterhin sporadisch<br />
Alternativen explorieren. Diese Explorationen finden bei Hummeln<br />
tatsächlich statt (Abb. 5.6) und basieren auf Langzeit-Gedächtnisleistungen<br />
bezüglich der jeweiligen Ergiebigkeit (Keasar et al. 2002).<br />
Manche Tiere ernähren sich ganz oder teilweise von tierischer Beute. Auf<br />
Beutetieren lastet daher ein starker Selektionsdruck, der Detektion durch<br />
Räuber zu entgehen; sie sind daher oft kryptisch gefärbt ( Kap. 6.3). Im<br />
Gegenzug dieses evolutionären Wettrennens wird das Finden von Beute auf<br />
proximater Ebene bei manchen Räubern durch spezifische Suchmuster<br />
erleichtert. Dabei handelt es sich um neuronale Schaltkreise (templates), die<br />
auf spezifische Reizkombinationen ansprechen und die Aufmerksamkeit<br />
des Räubers auf Merkmale lenken, die eine Unterscheidung vom Hintergrund<br />
erleichtern (Reid u. Shettleworth 1992). Der Besitz eines Suchmus-<br />
Abb. 5.6. Trade-off zwischen<br />
Ausbeutung von effizienten<br />
Nahrungsquellen und der Exploration<br />
von Alternativen.<br />
Hummeln (Bombus terrestris)<br />
spezialisieren sich temporär<br />
auf einen Blütentyp und besuchen<br />
sporadisch andere Typen
5.2 Nahrungssuche 157<br />
ters kann einerseits den Vorteil haben, dass gut getarnte Beute oder seltene<br />
Nahrung häufiger gefunden wird. Andererseits gibt es Hinweise darauf,<br />
dass andere potentielle Nahrung schlechter wahrgenommen wird, wenn<br />
mit einem spezifischen Suchmuster gesucht wird. Durch die Effekte von<br />
Suchmustern können also manche Nahrungs- oder Beutetypen häufiger<br />
oder seltener aufgenommen werden, als aufgrund ihrer Dichte oder Verfügbarkeit<br />
eigentlich zu erwarten wäre.<br />
Solche Suchmuster können relativ rasch erlernt werden, wie Wahlversuche<br />
mit Blaubuschhähern (Cyanocitta cristata) gezeigt haben. Diese<br />
wurden in einem operanten Konditionierungsversuch (in dem eine Assoziation<br />
zwischen einem Verhalten und einer Konsequenz, in der Regel eine<br />
Belohnung, hergestellt wird Kap. 10.5) darauf trainiert, für eine Futterbelohnung<br />
auf einen Bildschirm zu picken, auf dem eine gut getarnte Motte<br />
abgebildet war (Pietrewicz u. Kamil 1979). Als Kontrolle wurde nur der<br />
Hintergrund ohne Motte gezeigt. Wenn immer dieselbe Motte gezeigt<br />
wurde, verbesserte sich die Anzahl der richtigen Wahlen der Häher. Wenn<br />
aber zwei verschiedene Motten in zufälliger Reihenfolge präsentiert wurden,<br />
gab es keinen Lernerfolg; vermutlich weil die Häher kein Suchbild<br />
entwickeln konnten. Weiterführende Versuche mit polymorphen digitalen<br />
Motten haben bestätigt, dass seltene Morphe der Motten weniger häufig<br />
gejagt werden, dass dadurch (künstliche) Selektion hin zu immer schwieriger<br />
zu entdeckenden Morphen stattfindet und dass dabei die Suchmuster<br />
des Räubers den entscheidenden Mechanismus darstellen (Bond u. Kamil<br />
2002).<br />
Der Erfolg bei der Nahrungssuche kann auch durch die angewandte<br />
Suchstrategie beeinflusst werden. Die Wege, die ein Nahrung suchendes<br />
Tier einschlägt, könnten theoretisch rein zufällig sein. Das wäre aber aufgrund<br />
der in der Regel langsamen Erneuerungsraten der Futterquellen in<br />
den meisten Fällen wenig effizient. Die tatsächlichen Suchwege und -geschwindigkeiten<br />
hängen stark von der bei der Suche beteiligten Sensorik<br />
(Spaethe et al. 2001) und vor allem von der Verteilung der Nahrung ab.<br />
Auf ein bestimmtes Teilgebiet beschränktes Suchen, bei dem die aktuelle<br />
Erfahrung mit einbezogen wird, scheint aber ebenso wie wiederholte Besuche<br />
derselben Ressourcen in einer vorhersagbaren Reihenfolge (trapline<br />
foraging) weit verbreitet zu sein (Ohashi et al. 2007).<br />
Schließlich legen manche Tiere Nahrungsvorräte an, um Zeiten von<br />
Nahrungsknappheit zu überstehen ( Kap. 3.2). Für sie stellt sich das<br />
Problem, diese Speicher so zu verstecken, dass sie von anderen nicht entdeckt<br />
werden, sie von den Individuen, die sie angelegt haben, aber trotzdem<br />
wieder gefunden werden. Dazu sind neben Orientierungsleistungen<br />
( Kap. 4.3) auch Gedächtnisleistungen notwendig. Diese betreffen sowohl<br />
die Erinnerung der Verstecke als auch die Erinnerung daran, wann
158 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
welche Verstecke zuletzt besucht wurden und was diese noch enthalten<br />
( Kap. 11.3). Selbst wenn man lokale Landmarken entfernt, werden die<br />
Verstecke sicher gefunden (Devenport et al. 2000), und unter unvorhersagbaren<br />
Nahrungsbedingungen verringert sich die Anzahl der Fehler, die<br />
beim Suchen gemacht werden (Pravosudov u. Clayton 2001).<br />
(2) Soziale Aspekte. Das Finden von Nahrung kann auch durch Kommunikation<br />
mit erfolgreichen Artgenossen erheblich erleichtert werden. Das<br />
bekannteste Beispiel dafür ist der Bienentanz, mit dem Arbeiterinnen ihren<br />
Stockgenossinnen Richtung, Entfernung, Art und Ergiebigkeit von Nahrungsquellen<br />
signalisieren ( Kap. 4.3). In ähnlicher Weise setzen die<br />
meisten Ameisen Duftstoffe ein, um den Rückweg zwischen einer Nahrungsquelle<br />
und ihrem Stock zu markieren. Die rekrutierten Schwestern<br />
finden dann mit Hilfe dieser Ameisenstraße rasch und genau ans Ziel<br />
(Hölldobler et al. 2004). Aktive Rekrutierung zu einer Futterquelle ist bei<br />
Wirbeltieren dagegen selten. Es wurde gleichwohl beschrieben, dass beispielsweise<br />
Raben (Corvus corax: Heinrich u. Marzluff 1991), Hühner<br />
(Gallus gallus: Evans u. Evans 1999), Delfine (Tursiops truncatus: Janik<br />
2000) oder Schimpansen (Pan troglodytes: Hauser et al. 1993), die etwas<br />
Fressbares gefunden haben, ihre Artgenossen mit Futterrufen anlocken.<br />
Die Vorteile dieses Rufens sind, im Gegensatz zu den entsprechenden Signalen<br />
der sozialen Insekten, aber nicht offensichtlich, da dabei das Risiko<br />
besteht, gefundene Nahrung an nicht-verwandte Konkurrenten zu verlieren<br />
(Stevens u. Gilby 2004).<br />
Es gibt auch einige Hinweise darauf, dass Ansammlungen von Tieren<br />
als Informationszentren fungieren können, von denen aus bei der Nahrungssuche<br />
weniger erfolgreiche Tiere anderen Artgenossen zu einer Nahrungsquelle<br />
folgen. Dieses Phänomen wurde vor allem an Vogelarten untersucht,<br />
die in Kolonien brüten. In einem Experiment mit Rabenkrähen<br />
(Corvus corone) wurden mehrere Tiere gefangen und für einige Tage in<br />
einer Voliere gehalten. Die Hälfte von ihnen wurde abends in der Nähe<br />
von Schlafbäumen von Rabenkrähen freigelassen, die gerade eine ergiebige<br />
Futterquelle (einen toten Elch) entdeckt hatten. Sie folgten alle ihren<br />
Schlafgenossen am nächsten Morgen zu dieser Futterquelle. Im Unterschied<br />
dazu fanden nur etwa 1/4 der anderen Rabenkrähen, die bei einer<br />
anderen Schlafgruppe freigelassen wurden, von alleine eine Futterquelle<br />
(Marzluff et al. 1996). Daraus kann geschlossen werden, dass in der<br />
Schlafgruppe Informationen über Nahrungssucherfolg ausgetauscht wurden;<br />
über die dabei beteiligten Mechanismen gibt es allerdings noch keine<br />
Klarheit (Dall 2002).
5.2 Nahrungssuche 159<br />
(3) Ökologische Aspekte. Außer dem aktuellen Hungerzustand beeinflusst<br />
bei vielen Tieren vor allem das Prädationsrisiko, wo und wie lange sie<br />
nach Nahrung suchen ( Kap. 6.1). Wenn es ein Prädationsrisiko gibt, sehen<br />
sich die betroffenen Individuen einem Trade-off zwischen fressen und<br />
gefressen werden gegenüber (Searle et al. 2008). In diesem Fall müssen sie<br />
Wachsamkeit und Nahrungssuche gegeneinander abwägen, wobei die Art<br />
der Nahrung und die Gruppengröße neben dem akuten Hungerzustand<br />
Box 5.2<br />
Prädationsrisiko und Fressverhalten<br />
• Frage: Beeinflusst das (wahrgenommene) Prädationsrisiko das Fressverhalten?<br />
• Hintergrund: Die Nahrungsaufnahme muss mit dem Prädationsrisiko<br />
abgewogen werden, da die Aufmerksamkeit nicht gleichzeitig auf die<br />
Nahrung und mögliche Gefahren gerichtet werden kann. Stichlinge (Gasterosteus<br />
aculeatus), die Wasserflöhe in unterschiedlichen Dichten (Verwirrungseffekt<br />
bei höheren Dichten Kap. 6.3) jagen, sind unterschiedlich<br />
aufmerksam.<br />
• Methode: Stichlinge wurden einzeln in ein Aquarium gegeben, in dem<br />
sich fünf Kompartimente mit unterschiedlichen Dichten an Wasserflöhen<br />
befanden. Gemessen wurde der Aufenthaltsort der Stichlinge sowie die<br />
Anzahl der gefressenen Wasserflöhe. Bei der Hälfte der Versuche wurde<br />
die Silhouette eines Eisvogels über das Aquarium geflogen.<br />
• Ergebnis: Stichlinge hielten sich häufiger in Kompartimenten mit höheren<br />
Dichten an Wasserflöhen auf (grün), wo sie auch höhere Fressraten<br />
hatten. Nach Präsentation der Räuberattrappe wurden Kompartimente mit<br />
geringerer Dichte bevorzugt (blau) und weniger gefressen.<br />
• Schlussfolgerung: Das subjektiv wahrgenommene Risiko, einem Räuber<br />
ausgesetzt zu sein, führt zu Verhaltensreaktionen, die bessere Aufmerksamkeit<br />
ermöglichen, aber die Nahrungsaufnahme kompromittieren.<br />
Milinski u. Heller 1978
160 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
einen modulierenden Einfluss auf diese Entscheidung ausüben (Barbosa<br />
2002; Box 5.2). Bei chronischem Räuberrisiko können die Konsequenzen<br />
der Bedrohung weit über das aktuelle Nahrungsverhalten hinausgehen und<br />
sogar Aspekte der Life history beeinflussen. So verbrachten Kaulquappen,<br />
die mit räuberischen Libellenlarven zusammen aufwuchsen, im Vergleich<br />
mit Kontrolltieren unabhängig von ihrem Hungerzustand weniger Zeit an<br />
Orten mit Nahrung (Horat u. Semlitsch 1994) und zeigten verzögertes<br />
Wachstum und spätere Metamorphose (van Buskirk u. McCollum 2000).<br />
Für manche Tiere stellt das Finden von Nahrung in der Regel aufgrund<br />
ihrer Lebensweise dagegen kein Problem dar. Sessile Tiere filtern ihre<br />
Nahrung aus dem Wasser und sind dabei lediglich auf eine Stelle mit günstigen<br />
Strömungsverhältnissen angewiesen, die eine gute Nahrungsversorgung<br />
gewährleisten. Bodenlebende Detritusfresser ernähren sich ebenfalls<br />
wenig selektiv von dem sie umgebenden Substrat. Am anderen Ende der<br />
Größenskala finden sich ebenfalls Tiere, die meistens mit geringem Suchaufwand<br />
zu einer Mahlzeit kommen. Dazu zählen unter anderem filtrierende<br />
Bartenwale, die nur mit geöffnetem Maul schwimmen müssen, und terrestrische<br />
Megaherbivoren, die praktisch überall ihre Grasnahrung finden.<br />
Pilot- und Putzerfische sowie Madenhacker haben die Nahrungssuche im<br />
Rahmen einer symbiotischen Beziehung mit ihren Wirten weitestgehend<br />
reduziert; sie warten an festen Plätzen, und die mit Parasiten beladene<br />
Kundschaft kommt zu ihnen (Bshary u. Schäffer 2002)!<br />
5.3 Nahrungswahl<br />
Wenn ein Tier eine geeignete Beute oder einen geeigneten Futterplatz<br />
(feeding patch) gefunden hat, stellt sich die strategische Frage, ob diese<br />
Nahrung gefressen werden soll oder nicht (Abb. 5.7). Dem offensichtlichen<br />
Vorteil des energetischen Gewinns stehen mehrere potentielle Kosten<br />
gegenüber, die damit verrechnet werden sollten. Zu diesen Kosten zählt<br />
der mögliche Bearbeitungsaufwand (handling time), der mögliche Gehalt<br />
an schädlichen Inhaltsstoffen sowie mögliche Risiken durch die Wehrhaftigkeit<br />
der Beute, ein erhöhtes eigenes Risiko, aufgrund der verminderten<br />
Aufmerksamkeit selbst gefressen zu werden, sowie Risiken, die sich<br />
durch Konkurrenz mit Artgenossen um diese Nahrung ergeben (Brown<br />
1988). Diese unbewussten Abwägungen sind zwar von den genannten internen<br />
und externen Faktoren abhängig, aber andererseits haben sich im<br />
Laufe der Evolution durch vielfache Auswertungen dieser und sehr ähnlicher<br />
Situationen auch artspezifische Entscheidungsregeln für eine optimale<br />
Nahrungswahl etabliert.
5.3 Nahrungswahl 161<br />
Abb. 5.7. Vor- und Nachteile, die bei der Nahrungswahl berücksichtigt werden.<br />
Optimal-foraging-Theorie beschäftigt sich mit möglichen Lösungen dieser Abwägung<br />
5.3.1 Optimale Nahrungswahl<br />
Für räuberisch lebende Tiere stellt sich oft die Frage, welche Beuteart oder<br />
-größe aus ihrem Spektrum sie wählen sollen. Bei relativ kleiner Beute ist<br />
möglicherweise der Energiegewinn in Relation zum Aufwand sehr klein;<br />
bei wehrhaften oder großen Beutetieren kann dagegen die Bearbeitung so<br />
aufwändig sein, dass die Energieaufnahmerate geringer ist als bei mittelgroßer<br />
Beute. Diese Variabilität zwischen verschiedenen Beutetypen kann<br />
als unterschiedliche Profitabilität, welche als Netto-Nährwert (Energiegehalt<br />
minus Bearbeitungs- und Verdauungskosten) pro Bearbeitungszeit<br />
ausgedrückt wird, verglichen werden. Auf diese Art und Weise lässt sich<br />
möglicherweise ein optimaler Beutetyp recht gut charakterisieren, aber in<br />
Wirklichkeit nutzen Räuber natürlich auch Beute aus benachbarten Größenklassen<br />
oder von anderen Arten. Die optimale Nahrungswahl wird also<br />
auch von einigen anderen Faktoren beeinflusst.<br />
Der wichtigste Faktor in diesem Zusammenhang ist die Suchzeit für die<br />
optimale Beute, die in Einzelfällen nur wenige Millisekunden dauern kann<br />
(Catania u. Remple 2005). Wenn ein Räuber lange nach dem optimalen<br />
Beutetyp suchen muss, ist es irgendwann profitabler, auch nicht-optimale<br />
Beute zu fressen. Es ist intuitiv einsichtig, dass ein Räuber sich auf den<br />
profitabelsten Beutetyp konzentrieren sollte, solange dieser häufig genug<br />
ist. Die Verfügbarkeit des weniger profitablen Beutetyps ist dabei nicht
162 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
von Belang. Umgekehrt hängt die Nutzung des weniger profitablen Beutetyps<br />
aber von der Häufigkeit des präferierten Beutetyps bzw. von der entsprechenden<br />
Suchzeit ab. Man erwartet daher eine sprunghafte (und keine<br />
graduelle) Änderung der Fressstrategie, wenn die Suchkosten für die profitablere<br />
Beute größer werden als die Profitabilität der eigentlich nicht bevorzugten<br />
Beute.<br />
Einige spezifische Vorhersagen dieses Modells der optimalen Nahrungswahl<br />
wurden durch empirische Beobachtungen oder gezielte Experimente<br />
überprüft. Dieses Modell betrifft dabei sowohl die Zusammensetzung des<br />
„Gesamtspeiseplans“ als auch die Wahl (zumeist nach der Größe) innerhalb<br />
spezifischer Beutetypen. Aus der Kombination von Suchzeit, Bearbeitungszeit<br />
und Verfügbarkeit von Beute unterschiedlicher Größe ergibt sich<br />
daher eine Reihe von grundlegenden Vorhersagen (Tabelle 5.1).<br />
Erstens sollten Räuber mit im Vergleich zur Suchzeit kurzer Bearbeitungszeit<br />
wenig wählerisch, d. h. Nahrungsgeneralisten sein, da sie während<br />
der kurzen Bearbeitungszeit eine sehr geringe Chance hätten, eine andere<br />
Beute zu finden. Dieser Strategie scheinen beispielsweise insektivore<br />
Vögel zu folgen, für welche die Suche nach einem Beuteinsekt relativ<br />
aufwändig sein kann, wohingegen der Bearbeitungsaufwand vernachlässigbar<br />
ist. Ein Vogel hat daher nichts zu verlieren, wenn er ein einmal<br />
gefundenes Beutetier auch frisst; dementsprechend werden unterschiedliche<br />
Beutetiere im Verhältnis ihrer Verfügbarkeit gefressen (Naef-Daenzer<br />
et al. 2000). Durch diese unselektive Nahrungswahl wird die Profitabilität<br />
der Nahrungsaufnahme dieser Räuber maximiert.<br />
Zweitens, wenn dagegen die Suchzeit unerheblich, aber die Bearbeitungszeit<br />
beträchtlich ist, sollte ein Räuber sich auf die profitabelste Beute<br />
spezialisieren (Krivan u. Sikder 1999). Diese Situation trifft z. B. auf<br />
Raubtiere zu, die inmitten ihrer potentiellen Beute leben und selektiv leicht<br />
zu überwältigende Arten bzw. junge, kranke oder alte Individuen angreifen<br />
Tabelle 5.1. Vorhersagen darüber, ob Tiere in Abhängigkeit von Suchzeit, Bearbeitungszeit<br />
und Verfügbarkeit sich eher als Generalisten oder Spezialisten verhalten<br />
sollen. Beispiele sind im Text erläutert<br />
Suchzeit Bearbeitungszeit Verfügbarkeit Vorhersage<br />
lang kurz gering Generalist<br />
kurz lang hoch Spezialist
5.3 Nahrungswahl 163<br />
Box 5.3<br />
Nahrungswahl: gelernt oder angeboren?<br />
• Frage: Spielt individuelles Lernen bei der Auswahl spezifischer Nahrungselemente<br />
eine Rolle?<br />
• Hintergrund: Samen stellen einen wichtigen Nahrungsbestandteil vieler<br />
Nagetiere dar. Bislang war nur bekannt, dass es offenbar angeborene Präferenzen<br />
für Samen bestimmter Pflanzenarten gibt. Es war aber nicht bekannt,<br />
ob bei der Nahrungswahl auch erlernte Informationen einfließen.<br />
Wenn dem so ist, sollten sich naive und erfahrene Tiere in ihrer Nahrungswahl<br />
unterscheiden.<br />
• Methode: Algerischen Hausmäusen (Mus spretus) wurden Eicheln angeboten,<br />
die teilweise von Rüsselkäferlarven befallen waren. Erfahrene, im<br />
Freiland gefangene Mäuse verschmähten die befallenen Eicheln; naive, in<br />
Gefangenschaft aufgewachsene Mäuse unterschieden zunächst nicht zwischen<br />
den beiden Typen von Eicheln. Nachdem sie 15 Tage lang infestierte<br />
und intakte Eicheln zu fressen bekamen, wurden naive Mäuse erneut<br />
getestet.<br />
Häufigkeit<br />
Wildfänge<br />
naiv ohne<br />
Erfahrung<br />
naiv mit<br />
Erfahrung<br />
• Ergebnis: Wildfänge (links) präferierten intakte (schwarz) Eicheln und<br />
solche, die noch Larven enthielten (dunkelgrau) über leere Eicheln (hellgrau),<br />
die bereits von den Larven verlassen wurden; Eicheln, denen experimentell<br />
ein kleines Loch verpasst wurde (weiß) wurden ebenfalls häufig<br />
gefressen. Naive Mäuse diskriminierten spontan nicht zwischen den verschiedenen<br />
Typen von Eicheln (Mitte); nach einer zweiwöchigen Lernphase<br />
zeigten sie aber dasselbe Muster wie erfahrene Mäuse (rechts).<br />
• Schlussfolgerung: Individuell erworbene Erfahrung mit Eicheln unterschiedlicher<br />
Qualität beeinflusst die Nahrungswahl dieser Mäuse. Wenn<br />
sich Nahrung zwischen Jahren oder Bäumen in ihrer Qualität unterscheidet,<br />
haben Tiere mit dieser Lernfähigkeit einen Vorteil bei der effizienten<br />
Nahrungswahl.<br />
Muñoz u. Bonal 2008
164 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
(Pole et al. 2004). Auch bei anderen Räubern unterscheiden sich Beutetiere<br />
im Aufwand, mit dem sie zu überwältigen sind. So konzentrieren sich<br />
Bergpieper (Anthus spinoletta) auf Arthropoden, die leicht zu fangen sind,<br />
wobei langsam fliegende Insekten gegenüber schnell fliegenden bevorzugt<br />
werden (Brodman u. Reyer 1999).<br />
Drittens sollten Räuber in Gebieten oder Situationen mit geringer Beutedichte<br />
weniger selektiv sein und auch suboptimale Beute nehmen, da die<br />
Suchzeiten für alle Beutetypen erhöht sind. Kohlmeisen (Parus major),<br />
denen Mehlwürmer in unterschiedlicher Größe und Dichte präsentiert<br />
wurden, verhielten sich weitestgehend entsprechend dieser Vorhersage<br />
(Krebs et al. 1977). Ähnliches wurde an Bären (Ursus arctos und U. americanus)<br />
in Alaska beobachtet, die sich bei hoher Verfügbarkeit von<br />
Lachsen auf deren energiereichen Ovarien und Gehirne spezialisierten, bei<br />
reduziertem Angebot aber die ganzen Fische fraßen (Gende et al. 2001).<br />
Umgekehrt sollten bei mäßigen oder hohen Gesamtdichten eines Beutetyps<br />
Individuen aus der Beuteklasse mit der geringsten Profitabilität aus dem<br />
Nahrungsspektrum weggelassen werden, egal wie häufig sie sind. Bei<br />
Fütterungsexperimenten ignorierten Blaukiemen-Sonnenbarsche (Lepomis<br />
macrochirus), denen Daphnien unterschiedlicher Größe in unterschiedlichen<br />
Verhältnissen und Dichten angeboten wurden, die kleinsten Beutetiere<br />
in allen Situationen tatsächlich weitestgehend (Werner u. Hall 1974).<br />
Dass trotzdem in all diesen Situationen aus Sicht des theoretischen Modells<br />
Fehler gemacht werden, deutet darauf hin, dass die Räuber zum einen<br />
offensichtlich immer wieder das verfügbare Spektrum erfassen oder dass<br />
zum anderen die Wahl auch nach Kriterien wie Nährstoffgehalt oder Geschmack<br />
erfolgen kann. Individuelles Lernen von Qualitätsunterschieden<br />
zwischen Nahrungsbestandteilen kann dabei eine wichtige proximate Rolle<br />
spielen, wie Experimente mit Mäusen gezeigt haben, denen Eicheln unterschiedlicher<br />
Qualität angeboten wurden (Muñoz u. Bonal 2008; Box 5.3).<br />
Man sollte schließlich auch nicht außer Acht lassen, dass diese Modelle<br />
nicht implizieren, dass sich alle Tiere zu jeder Zeit optimal verhalten.<br />
Vielmehr geht es darum, dass diejenigen Individuen, die sich weitestgehend<br />
an eine dieser Strategien halten, im Durchschnitt die größte Fitness<br />
haben.<br />
5.3.2 Nahrungsqualität<br />
Untersuchungen der Nahrungswahl von Herbivoren haben weitere wichtige<br />
Kriterien bei der Nahrungswahl ans Licht gebracht. Herbivore haben<br />
zwar in der Regel weniger Probleme als Räuber, potentielle Nahrung zu<br />
finden, müssen diese aber sorgsam auswählen, da nur so eine Versorgung
5.3 Nahrungswahl 165<br />
Menge an Wasserpflanzen<br />
Energieminimum<br />
Magenkapazität<br />
Nährstoffminimum<br />
Menge an Landpflanzen<br />
Abb. 5.8. Zusammensetzung der Nahrung eines Herbivoren (Beispiel Elch). Landpflanzen<br />
haben mehr Energie, Wasserpflanzen mehr wichtige Nährstoffe. Durch<br />
die Zwänge des notwendigen Energieminimums (rot), Nährstoffminimums (blau)<br />
und der begrenzenden Magenkapazität (grün) ist nur eine eingeschränkte Kombination<br />
an Verhältnissen möglich (gelbes Dreieck). Die tatsächlich gefressene<br />
Kombination befindet sich am oberen Ende des Dreiecks<br />
mit wichtigen Nährstoffen und eine Vermeidung schädlicher Pflanzeninhaltsstoffe<br />
gewährleistet wird ( Kap. 5. 6).<br />
Ein klassisches Beispiel, an dem diese Problematik deutlich wurde, betrifft<br />
die Nahrungswahl von Elchen (Alces alces). Sie fressen in manchen<br />
Gegenden eine Mischung aus energiereichen Landpflanzen und nährstoffreichen<br />
Wasserpflanzen. In welchem Verhältnis sollten diese beiden essentiellen<br />
Nahrungsbestandteile zueinander stehen (Abb. 5.8)? Der maximale<br />
Energiegehalt einer bestimmten Mischdiät ergibt sich aus dem Verhältnis<br />
der beiden Bestandteile. Der Mindestbedarf an Nährstoffen, in diesem<br />
Fall Natrium, definiert eine Mindestmenge an Wasserpflanzen, die täglich<br />
aufgenommen werden muss. Die zusätzliche Aufnahme von Landpflanzen<br />
wird aber durch das Magenvolumen begrenzt, so dass es in Wirklichkeit<br />
nur einen geringen Spielraum für mögliche Kombinationen gibt. Die tatsächliche<br />
Zusammensetzung der Nahrung von Elchen befand sich in der<br />
Tat in diesem Bereich, wobei innerhalb der existierenden Zwänge die<br />
Energieaufnahme maximiert wurde (Belovsky 1978).<br />
Analysen von Pflanzeninhaltsstoffen haben in anderen Studien auch<br />
gezeigt, dass die Wahl einzelner Nahrungsbestandteile sehr selektiv stattfindet.<br />
Manche Primaten sind in dieser Hinsicht sehr gut untersucht. Viele<br />
folivore und folivor-frugivore Primaten haben in ihren Lebensräumen eine<br />
Vielzahl von potentiellen Nahrungspflanzen, die sich auch im Jahresver-
166 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
lauf in ihrer Qualität und Zusammensetzung unterscheiden. Dementsprechend<br />
fressen sie von unterschiedlichen Baumarten und nutzen dabei zum<br />
Teil zu verschiedenen Jahreszeiten nur einzelne Teile (Blüten, Knospen,<br />
Blätter, Früchte) mit unterschiedlichem Nährwert. Die hochselektive Aufnahme<br />
bzw. Verwerfung ausgewählter Pflanzenteile beruht proximat auf<br />
olfaktorischer und gustatorischer Inspektion (Laska et al. 2003). Analysen<br />
der Inhaltstoffe der gefressenen Pflanzenteile ergaben, dass die meisten folivoren<br />
Primaten sich tatsächlich selektiv ernähren und zum Beispiel Blätter<br />
mit höherem Protein- und geringerem Zellulosegehalt als verschmähte<br />
Blätter wählen (Ganzhorn 1992). Eine Studie an Koalas (Phascolarctus<br />
cinereus) zeigte, dass diese spezialisierten Blattfresser sogar zwischen einzelnen<br />
Eukalyptus-Bäumen mit unterschiedlichem Gehalt an sekundären<br />
Pflanzeninhaltsstoffen diskriminieren (Moore u. Foley 2005). Diese generellen<br />
Aspekte der Nahrungswahl können in vielen Fällen auch noch in<br />
Bezug auf interindividuelle Variabilität differenziert werden, da Individuen<br />
in verschiedenen Alters-, Geschlechts- oder Fortpflanzungsklassen unterschiedliche<br />
Bedürfnisse an Nahrungsart und -menge haben (Hemingway<br />
1999).<br />
Es gibt schließlich auch einige Hinweise darauf, dass manche Tiere bestimmte<br />
Pflanzeninhaltsstoffe zur Selbstmedikation einsetzen können und<br />
ihre Nahrungswahl entsprechend modifizieren. Schimpansen (Pan troglodytes)<br />
und Gorillas (Gorilla gorilla), die unter Darmparasiten leiden, fressen<br />
selektiv Pflanzen mit bekannter einschlägiger Heilwirkung (Huffman<br />
2001). Der gelegentlichen Aufnahme von Lehm und Kohle wird eine ähnliche<br />
Funktion bei der Bekämpfung von Infektionen und Parasiten zugeschrieben.<br />
Zudem gibt es erste Hinweise darauf, dass auch Aspekte der<br />
Fortpflanzung durch entsprechende Nahrungswahl moduliert werden können.<br />
Durch eine erhöhte Aufnahme von Tanninen könnten zum Beispiel<br />
Trächtigkeiten stabilisiert, Blutverluste bei der Geburt reduziert und die<br />
Milchproduktion verstärkt werden (Carrai et al. 2003).<br />
5.4 Nahrungskonkurrenz<br />
Wenn Mitglieder derselben Art in einem Gebiet nach Nahrung suchen,<br />
kann es zwischen ihnen zu Nahrungskonkurrenz kommen. Je nach Verteilung<br />
der Nahrung in Raum und Zeit kann es dabei zu unterschiedlichen<br />
Formen der Konkurrenz kommen, welche wiederum weit reichende Konsequenzen<br />
für das Sozialverhalten haben ( Kap. 11).
5.4 Nahrungskonkurrenz 167<br />
5.4.1 Ultimate Aspekte<br />
Zwei ultimate Aspekte der Nahrungskonkurrenz sind von genereller Bedeutung.<br />
Erstens sollten Konkurrenzstrategien evoluiert sein. Eine<br />
Grundannahme der Evolutionstheorie besteht darin, dass es aufgrund der<br />
Limitierung von fitnessrelevanten Ressourcen zu Konkurrenz zwischen<br />
Individuen um diese Ressourcen kommt. Nur ein Bruchteil der Jungtiere<br />
einer Generation erlebt das Alter der ersten Fortpflanzung und kann die<br />
genetischen Grundlagen seines Erfolgs in die nächste Generation weitergeben.<br />
Dabei ist es naheliegend, dass die erfolgreichen Individuen teilweise<br />
aufgrund ihrer überlegenen Konkurrenzfähigkeit diesen Vorteil haben.<br />
Neben körperlichen Merkmalen wie Größe und Stärke sollten auch bestimmte<br />
Verhaltensstrategien zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Es ist<br />
also zu erwarten, dass im Laufe der Evolution Konkurrenzstrategien entstanden<br />
sind, da sie in einer gegebenen Situation den sie ausführenden Individuen<br />
im Durchschnitt größeren Nutzen erbracht haben als andere Strategien.<br />
Diese Strategien können mit spieltheoretischen Ansätzen analysiert<br />
und vorhergesagt werden (Sirot 2000).<br />
Zweitens gibt es einen Geschlechtsunterschied in der evolutionären<br />
Bedeutung der Nahrungskonkurrenz. Da Weibchen in den meisten Arten<br />
mehr Energie in die Fortpflanzung investieren als Männchen oder ihre potentiellen<br />
Fortpflanzungsraten energetisch limitiert sind ( Kap. 7.2), ist<br />
Zugang zu Nahrung für sie der fitnesslimitierende Faktor. Weibchen sollten<br />
daher häufiger oder intensiver um Nahrung konkurrieren als Männchen.<br />
Geschlechtsunterschiede im Fressverhalten wurden tatsächlich in<br />
zahlreichen Arten dokumentiert. Allerdings können bei Arten mit Sexualdimorphismus<br />
( Kap. 8.2) Männchen mehr fressen, da bei ihnen Männchen<br />
in der Regel größer als Weibchen sind und daher einen höheren<br />
Energiebedarf haben (Beispiel Elefanten: Stokke u. du Toit 2000). Die<br />
Konsequenzen geschlechtsspezifischer Aspekte der Nahrungskonkurrenz<br />
für das Sozialverhalten wurden bislang vor allem bei Primaten untersucht<br />
(siehe unten).<br />
5.4.2 Formen und Ursachen der Nahrungskonkurrenz<br />
Infolge von Konkurrenz mit Artgenossen reduziert sich die Nahrungsaufnahmerate<br />
eines Individuums. Die möglichen Formen der zugrunde liegenden<br />
Konkurrenz sind entlang eines Kontinuums vorstellbar, wobei<br />
sich die relativen Anteile indirekter und direkter Konkurrenz verändern<br />
(Nicholson 1954). Das jeweils vorherrschende kompetitive Regime wird<br />
von der Größe, der räumlichen und zeitlichen Verteilung sowie der Vertei-
168 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Tabelle 5.2. Charakteristika von Ressourcen und deren Konsequenzen für Verteidigbarkeit<br />
und Konkurrenz. Bei Größe, räumlicher und zeitlicher Verteilung handelt<br />
es sich um kontinuierliche Variablen, die aus heuristischen Gründen kategorisiert<br />
werden<br />
Größe<br />
Verteilung<br />
im Raum<br />
Verteilung in<br />
der Zeit<br />
verteidigbar?<br />
Konkurrenz<br />
klein zerstreut geklumpt nein Ausbeutung<br />
mittel geklumpt gleichmäßig ja Interferenz<br />
groß zerstreut geklumpt nein Ausbeutung<br />
digbarkeit der Nahrungsressource bestimmt (Tabelle 5.2). Diese Faktoren<br />
müssen natürlich immer in Relation zur Körpergröße der betreffenden<br />
Tierart betrachtet werden. Außerdem ist es in diesem Zusammenhang von<br />
entscheidender Bedeutung, ob Tiere alleine oder in Gruppen Nahrung aufnehmen<br />
(Giraldeau 2008).<br />
Wenn Nahrungsquellen von intermediärer Größe sind, räumlich geklumpt<br />
und zeitlich gleichmäßig verteilt vorkommen, kommt es zur direkten<br />
Interferenzkonkurrenz (contest competition). Diese Konkurrenzform<br />
liegt immer dann vor, wenn manche Individuen Artgenossen mit Hilfe von<br />
Aggression von Nahrungsquellen ausschließen können. Bei Nahrungsressourcen,<br />
die andere Kombinationen dieser Merkmale aufweisen (Tabelle<br />
5.2), kommt es zur Ausbeutungskonkurrenz (scramble competition).<br />
Diese Form der Konkurrenz ist dadurch charakterisiert, dass manche Individuen<br />
Zugang zu Nahrungsressourcen verlieren, weil andere Tiere diese<br />
bereits gefunden oder aufgebraucht haben; es findet aber kein direkter<br />
Wettbewerb statt.<br />
Solange Ressourcen so verteilt und gestaltet sind, dass es nur zu Ausbeutungskonkurrenz<br />
kommt, kann jedes Individuum unabhängig entscheiden,<br />
ob und wie lange es eine Ressource nutzen will (Parker 2000). Einbußen<br />
kommen nur dadurch zustande, dass von Konkurrenten verbrauchte<br />
Ressourcen einem Individuum nicht mehr zur Verfügung stehen. Die<br />
betreffenden Ressourcen können auch problemlos geteilt und von mehreren<br />
Individuen genutzt werden. Lediglich bei in Gruppen fouragierenden<br />
Tieren nimmt die Intensität der indirekten Konkurrenz mit der Gruppengröße<br />
zu und kann sogar zur Auftrennungen innerhalb einer sozialen Einheit<br />
führen, wie beispielsweise die räumliche Trennung zwischen den Ge-
5.4 Nahrungskonkurrenz 169<br />
schlechtern bei vielen Huftieren (Ungulata: Focardi et al. 2003). Diese<br />
Form der Nahrungskonkurrenz dominiert zum Beispiel bei sessilen Filtrierern,<br />
Megaherbivoren (Mishra et al. 2004) oder Blätter fressenden Primaten<br />
(Steenbeck u. van Schaik 2001). Ausbeutungskonkurrenz findet auch<br />
zwischen Arten statt. Eine Möglichkeit, die Effekte dieser Konkurrenz zu<br />
verringern, besteht darin, die eigene Nische entsprechend zu ändern. So<br />
passen Impalas (Aepyceros melampus) und Kudus (Tragelaphus spp.) in<br />
der Trockenzeit ihre zeitliche Einnischung zur Nutzung der Ressource<br />
„Wasser“ an die Präsenz von Elefanten an, die ihnen normalerweise den<br />
Zugang zu Wasserlöchern erschweren (Valeix et al. 2007).<br />
Wenn eine Nahrungsressource dagegen aufgrund ihrer Größe, räumlichen<br />
Klumpung oder zeitlichen Gleichmäßigkeit von einem Individuum<br />
monopolisiert werden kann, kommt es zur Interferenzkonkurrenz. Die Verteidigung<br />
solcher Ressourcen ist aber theoretisch nur dann zu erwarten,<br />
wenn die sich daraus ergebenden Vorteile größer sind als die damit verbundenen<br />
Kosten, d. h. wenn die Ressource ökonomisch zu verteidigen ist.<br />
Die Kosten der Konkurrenz setzen sich dabei im Wesentlichen aus dem<br />
energetischen Aufwand der Verteidigung und dem Verletzungsrisiko beim<br />
Konkurrenzkampf zusammen (Calsbeek u. Sinervo 2002). In paarweisen<br />
Auseinandersetzungen, wie sie bei theoretischen Modellierungen üblicherweise<br />
angenommen werden, kann der relative Erfolg verschiedener Strategien<br />
von Individuen mit unterschiedlicher Ressourcenverteidigungskraft<br />
miteinander verglichen werden (Switzer et al. 2001).<br />
Innerhalb von sozialen Verbänden, in denen es zu regelmäßigen Interaktionen<br />
zwischen denselben Individuen kommt, haben interindividuelle<br />
Unterschiede in der Größe, Stärke, Ausdauer, Schnelligkeit, Erfahrung<br />
oder Motivation einen Einfluss auf die Intensität und potentiellen Kosten<br />
der Interferenzkonkurrenz (Dubois et al. 2003). Aufgrund dieser Unterschiede<br />
können sich Dominanzbeziehungen bilden, die Asymmetrien<br />
zwischen Kontrahenten formalisieren und es erlauben, die Kosten der<br />
Konkurrenz zu reduzieren, wenn damit verbundene Regeln und Signale<br />
beachtet werden (Smith et al. 2001). Dabei kann man zusätzlich unterscheiden,<br />
ob die Konkurrenz vornehmlich innerhalb einer Gruppe oder<br />
zwischen benachbarten Gruppen stattfindet.<br />
Die Art und Intensität der Nahrungskonkurrenz ist eng mit Variabilität<br />
in den Sozialbeziehungen verbunden (Abb. 5.9); dies ist die Kernannahme<br />
der Sozioökologie ( Kap. 11.3). Dabei wird die Intensität der Ausbeutungskonkurrenz<br />
innerhalb einer Gruppe durch deren Größe bestimmt; je<br />
größer die Gruppe, umso intensiver wird diese Form der Konkurrenz<br />
(Steenbeck u. van Schaik 2001). Das Ausmaß an Interferenzkonkurrenz<br />
reflektiert dagegen die Effekte von Dominanzstrukturen innerhalb der<br />
Gruppe; die Intensität der Konkurrenz ist mit der Steilheit der Dominanz-
170 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Abb. 5.9. Die wichtigsten Determinanten von Ausbeutung- und Interferenzkonkurrenz<br />
um Nahrung innerhalb und zwischen Gruppen<br />
hierarchie korreliert. Dominante Dachse (Meles meles) kontrollieren beispielsweise<br />
den Zugang zu Gebieten mit ihrer wichtigsten Nahrungsressource<br />
(Kaninchen: Revilla u. Palomares 2001). Ausbeutungskonkurrenz<br />
zwischen Gruppen gibt es nur, wenn diese überlappende Streifgebiete haben<br />
und die Populationsdichte hoch ist. Interferenzkonkurrenz zwischen<br />
Gruppen ist von der Populationsdichte in Relation zur Nahrungsverteilung<br />
abhängig. Bei entsprechender Ressourcenverteilung kann es demnach vorteilhaft<br />
sein, Nahrung zusammen mit anderen Artgenossen zu nutzen und<br />
zu verteidigen (Johnson et al. 2002).<br />
5.4.3 Ideal freie Verteilung<br />
Wenn Ressourcen zwischen konkurrierenden Tieren prinzipiell geteilt<br />
werden können, ist zu erwarten, dass sich Individuen dabei so im Raum<br />
verteilen, dass jedes Tier seine Nahrungsaufnahme maximiert. Wenn sich<br />
Individuen dabei ohne Einschränkungen bewegen können, kommt es zu<br />
einer ideal freien Verteilung (Fretwell u. Lucas 1970). Sie kommt dadurch<br />
zustande, dass die Qualität einer Nahrungsquelle mit zunehmender<br />
Anzahl von Konkurrenten abnimmt (Abb. 5.10).<br />
Wenn es eine heterogene Verteilung von Nahrungsquellen unterschiedlicher<br />
Qualität gibt, ist zu erwarten, dass das erste Nahrung suchende Individuum<br />
sich an die beste Nahrungsquelle begibt. Wenn n weitere Individuen<br />
dasselbe tun, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem sich der<br />
durchschnittliche Ertrag soweit reduziert hat, dass es für das n+1te Individuum<br />
besser ist, die zweitbeste Nahrungsquelle zu nutzen usw. Die Zahl<br />
der gleichzeitig fressenden Tiere sollte sich also zwischen den verschiedenen<br />
Nahrungsquellen in Abhängigkeit von deren Qualität einpendeln, so<br />
dass eine Situation entsteht, in der kein Individuum einen Vorteil aus<br />
einem Wechsel an eine andere Nahrungsquelle gewinnen kann. Diese<br />
Gleichgewichtssituation wird als ideal freie Verteilung bezeichnet.
5.4 Nahrungskonkurrenz 171<br />
Abb. 5.10. Ideal freie Verteilung. Die Qualität einer Ressource nimmt mit zunehmender<br />
Anzahl der sie nutzenden Individuen ab. Wenn es Qualitätsunterschiede<br />
zwischen Habitaten (oder feeding patches) gibt („gutes“ bzw. „schlechtes“ Habitat),<br />
ergeben sich Äquivalenzen zwischen diesen. In diesem hypothetischen Beispiel<br />
findet das dritte Individuum als dritter Nutzer des guten Habitats genauso<br />
gute Bedingungen vor wie als alleiniger Nutzer des schlechten Habitats<br />
Gibt es Hinweise dafür, dass sich Tiere entsprechend diesen theoretischen<br />
Vorhersagen bei der Konkurrenz um Nahrung in einer entsprechenden<br />
Situation verhalten? Im einfachsten Fall erwartet man, dass alle<br />
Konkurrenten identische Nahrungsaufnahmeraten haben. Eine wichtige<br />
Annahme besteht daher darin, dass alle Nahrungsquellen einen kontinuierlichen<br />
Input an Ressourcen haben. Eine solche Situation findet sich zum<br />
Beispiel in Fließgewässern, in denen Fische mit der Strömung angeschwemmte<br />
Nahrung aufnehmen (Hughes u. Grand 2000).<br />
Diese Situation hat Manfred Milinski (1979) in einem einfachen, aber<br />
genialen Experiment simuliert, um zu überprüfen, ob sich Stichlinge entsprechend<br />
den Vorhersagen ideal frei zwischen zwei Ressourcen verteilen.<br />
Er tropfte in Aquarien mit sechs Stichlingen (Gasterosteus aculeatus) an<br />
den beiden Enden Wasserflöhe in unterschiedlichen Raten ins Becken.<br />
Wenn an einem Ende doppelt so viele Wasserflöhe eingegeben wurden wie<br />
am anderen, verteilten sich die Fische entsprechend der Profitabilität der<br />
beiden Futterstellen: also vier am Ende mit der höheren Eingaberate und<br />
zwei auf der anderen Seite. Bei jeder anderen Verteilung der Fische<br />
täte mindestens ein Individuum besser daran, die Seite zu wechseln. Wenn<br />
die Eingaberaten der beiden Seiten getauscht wurden, änderten die Stichlinge<br />
auch innerhalb weniger Minuten ihre Verteilung. Das heißt, die nu-
172 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
merische Verteilung der Fische folgte tatsächlich den Vorhersagen der ideal<br />
freien Verteilung. Auch Blattläuse (Flaxman u. deRoos 2007), Lachse<br />
(Grand 1997), Enten (Harper 1982; Box 5.4) und Kraniche (Bautista et al.<br />
Box 5.4<br />
„Ideal freie Enten“<br />
• Frage: Wie verteilen sich Stockenten (Anas platyrhynchos) zwischen<br />
zwei Futterstellen mit unterschiedlicher Profitabilität?<br />
• Hintergrund: Das Modell der ideal freien Verteilung macht Vorhersagen<br />
über die Verteilung von Individuen zwischen Ressourcen unterschiedlicher<br />
Qualität. Wenn keine anderen Faktoren wirksam sind, sollten sich<br />
Individuen so zwischen Ressourcen verteilen, dass jedes Individuum denselben<br />
Gewinn erzielt.<br />
• Methode: 33 Stockenten auf einem Teich wurden an zwei 20 m voneinander<br />
entfernten Stellen mit kleinen Brotstückchen gefüttert. Die Profitabilität<br />
der beiden Futterstellen wurde durch unterschiedliche Fütterungsraten<br />
kontrolliert und die Zahl der Enten an beiden Stellen über 5 Minuten<br />
gezählt.<br />
Anzahl Enten an Ort A<br />
18<br />
12<br />
6<br />
0<br />
1 2 3 4 5<br />
Zeit nach Versuchsbeginn [min]<br />
• Ergebnis: Wenn die Profitabilität beider Stellen identisch war, wurden im<br />
Durchschnitt 16,5 Enten an jeder Fütterungsstelle erwartet (horizontale<br />
Linie). Innerhalb der ersten 2 Minuten hatten sich die Enten entsprechend<br />
dem vorhergesagten Verhältnis zwischen den beiden Fütterungsstellen<br />
verteilt.<br />
• Schlussfolgerung: Die Verteilung von Enten zwischen verschiedenen<br />
Ressourcen lässt sich mit dem Konzept der ideal freien Verteilung vorhersagen.<br />
Allerdings variiert in diesem Fall die individuelle Fressrate aufgrund<br />
von Dominanzbeziehungen, so dass die tatsächlichen Gewinne<br />
nicht exakt identisch sind.<br />
Harper 1982
5.5 Territorialität 173<br />
1995) verteilten sich in Fütterungsexperimenten weitestgehend entsprechend<br />
einer idealen freien Verteilung.<br />
Das Verhalten von Tieren in freier Natur wird in dieser Hinsicht aber<br />
durch mindestens drei Faktoren kompliziert. Erstens sind nicht alle Individuen<br />
gleich starke Konkurrenten; es gibt individuelle Unterschiede in der<br />
Wettbewerbsfähigkeit. Größere, stärkere oder dominante Tiere können<br />
unter Umständen eine Nahrungsquelle ganz oder teilweise für sich monopolisieren<br />
und andere Artgenossen in schlechtere Gebiete abdrängen. Die<br />
individuellen Nahrungsaufnahmeraten, also zum Beispiel die Zahl der tatsächlich<br />
gefressenen Wasserflöhe pro Stichling, variierte in Milinskis Experiment<br />
stark zwischen Individuen und war auch zwischen einzelnen<br />
Durchgängen konstant. Zweitens verschlechtern sich viele natürliche Ressourcen<br />
mit zunehmender Nutzung in ihrer Qualität und werden nicht<br />
schnell genug erneuert, als dass die Annahme des kontinuierlichen Inputs<br />
gewährleistet wäre. Realistische Modelle müssen also auch die Erneuerungsrate<br />
der Ressource mit berücksichtigen. Schließlich können sich<br />
unterschiedliche Habitate oder Nahrungsquellen auch in ihrem Prädationsrisiko<br />
für Nahrung suchende Individuen unterscheiden, so dass sie<br />
möglicherweise gezwungen werden, beide Faktoren gegeneinander abzuwägen<br />
(Moody et al. 1996). Es gibt bereits theoretische Modelle, die alle<br />
drei Faktoren gleichzeitig berücksichtigen (Grand u. Dill 1999), aber viele<br />
ihrer Vorhersagen sind noch nicht überprüft. Das Grundkonzept der ideal<br />
freien Verteilung ist aber so weit bestätigt, dass es sich auch erfolgreich<br />
auf Situationen in anderen Kontexten wie Habitatwahl (Pöysä 2001) und<br />
Fortpflanzungskonkurrenz (Widemo 1998) anwenden lässt.<br />
5.5 Territorialität<br />
Territorialität existiert immer dann, wenn Individuen oder soziale Einheiten<br />
einer Art weiter voneinander im Raum verteilt sind, als dies durch Zufall<br />
zu erwarten wäre (Davies 1978). Diese breite Definition impliziert,<br />
dass dieser Verteilung aktive Verhaltensmechanismen zugrunde liegen.<br />
Als Konsequenz kommt es zu einer Überlappung und Verteidigung von<br />
benachbarten Territorien. Wenn ein Tier zwar nur ein umschriebenes Gebiet<br />
nutzt, dieses aber nicht verteidigt und von Nachbarn teilweise mitgenutzt<br />
wird, spricht man von Streifgebieten (home range) (Maher u. Lott<br />
1995). Territorialität wird oft als charakterisierendes Merkmal einer Art<br />
angeführt. Diese Einschätzung kommt aber nur dadurch zustande, dass die<br />
Mehrzahl der Individuen über den größten Bereich des Verbreitungsgebiets<br />
einer Art Bedingungen vorfindet, unter denen territoriales Verhalten
174 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Abb. 5.11. Schematische Darstellung der Beziehungen zwischen Ressourcenqualität,<br />
Konkurrenzregime und räumlicher Verteilung von Individuen. IFV = ideal<br />
freie Verteilung<br />
vorteilhaft ist. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass dem viele Einzelentscheidungen<br />
zugrunde liegen und dass durch ökologische Variation<br />
oder entsprechende Fütterungsexperimente territoriales Verhalten hervorgerufen<br />
oder unterdrückt werden kann (z. B. Pusenius u. Schmidt 2002).<br />
Ob und in welcher Form territoriales Verhalten existiert, hängt vor allem<br />
von der Art und Intensität der vorherrschenden Nahrungskonkurrenz ab,<br />
welche wiederum von Eigenschaften der betreffenden Ressourcen abhängig<br />
sind (Abb. 5.11), wobei nicht vergessen werden darf, dass Territorien<br />
auch aus anderen Gründen, z. B. zur Verteidigung von Paarungspartnern,<br />
etabliert werden. Wenn Nahrungsressourcen aufgrund ihrer Größe, räumlichen<br />
oder zeitlichen Verteilung mit Konkurrenten geteilt werden können,<br />
stellt die ideal freie Verteilung einen Regulationsmechanismus dar, der die<br />
Interaktionen und Verteilung von Individuen erklärt. Wenn es dagegen<br />
monopolisierbare Ressourcen gibt, kann es entweder zur temporären Verteidigung<br />
einzelner Nahrungsquellen kommen oder ein ganzes Gebiet wird<br />
exklusiv gegen Konkurrenten verteidigt, d. h. es kommt zu Territorialität.<br />
Unter welchen Bedingungen ist nun welche Entscheidung zu erwarten und<br />
welche Mechanismen werden dabei eingesetzt?
5.5 Territorialität 175<br />
5.5.1 Ursachen von Territorialität<br />
Ob und in welcher Form Nahrungsressourcen verteidigt werden, wird von<br />
Verhaltensökologen als Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung analysiert,<br />
bei der vier Eigenschaften der Ressource eine wichtige Rolle spielen.<br />
Erstens ist die Qualität der Ressource bedeutsam. Qualität ist unter anderem<br />
durch Energiegehalt und Inhaltsstoffe charakterisiert. Zum Beispiel<br />
sind sowohl Gras als auch Sträucher mit nahrhaften Blättern in Teilen Afrikas<br />
weiträumig und ungleichmäßig verteilt, aber nur Antilopen verteidigen<br />
die Sträucher, wohingegen die Gras fressenden Gnus weit umherziehen<br />
(Jarman 1974).<br />
Zweitens variieren Nahrungsressourcen auch in ihrer Quantität: entweder<br />
durch Unterschiede in ihrer Größe oder Menge. Wenn die Ressourcenquantität<br />
zunimmt, wird deren Verteidigbarkeit immer geringer. Karnivoren<br />
oder Aasfresser können beispielsweise eine kleine Beute oder ein<br />
kleines Aas für sich monopolisieren, wohingegen es bei größeren Nahrungsquellen<br />
zunehmend schwieriger wird, Mitesser fern zu halten (Donazar<br />
et al. 1999). Ressourcengröße lässt sich bei manchen Arten leicht experimentell<br />
manipulieren und löst beispielsweise bei Haussperlingen (Passer<br />
domesticus) die vorhergesagten Effekte aus (Johnson et al. 2004). Quantität<br />
und Qualität einer Nahrungsquelle sind natürlich nicht immer unabhängig<br />
voneinander, so dass sie manchmal gemeinsam betrachtet werden.<br />
Drittens ist die Verteilung einer Nahrungsquelle im Raum bei der Erklärung<br />
ihrer Verteidigbarkeit bedeutsam. Bei räumlicher Ressourcenverteilung<br />
wird grundsätzlich zwischen gleichmäßiger, zufälliger oder geklumpter<br />
Verteilung unterschieden. Eine gegebene Nahrungsmenge kann von<br />
einem Individuum verteidigbar sein, wenn sie sich geklumpt an einem Ort<br />
befindet. Sobald dieselbe Menge aber über eine größere Fläche in mehrere<br />
kleine Einheiten verteilt wird, ist sie nicht mehr zu verteidigen. Wenn man<br />
in einem Experiment Fische immer an derselben Stelle füttert, verteidigen<br />
manche Individuen ein Territorium, welches die Futterstelle beinhaltet.<br />
Wenn der Futterplatz dagegen zufällig variiert, sind fehlendes territoriales<br />
Verhalten und reduzierte Aggressionsraten zu beobachten (Castro u. Santiago<br />
1998).<br />
Schließlich ist viertens auch die zeitliche Verteilung der Nahrungsquellen<br />
von Bedeutung für deren Verteidigbarkeit. Grundsätzlich kann die<br />
zeitliche Verteilung einer Ressource gleichmäßig oder geklumpt sein.<br />
Wenn es sich um Variabilität auf der Ebene eines Jahres handelt, spricht<br />
man von Saisonalität, aber natürlich kann für unterschiedliche Tiergruppen<br />
zeitliche Variabilität auf anderen Skalen (Tage, Monate) von Bedeutung<br />
sein. Wenn eine bestimmte Nahrungsquelle gleichmäßig über einen bestimmten<br />
Zeitraum verfügbar wird, so ist sie theoretisch von einem Indivi-
176 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
duum leichter zu verteidigen, als wenn dieselbe Menge an Ressource zu<br />
einem Zeitpunkt gehäuft verfügbar wird. Die zeitliche Vorhersagbarkeit<br />
von Ressourcen hat ebenfalls Konsequenzen für das Verhalten der Konkurrenten;<br />
in einem Experiment mit Küstentauben (Zenaida aurita) erhöhten<br />
sich die Aggressionsraten mit zunehmender Vorhersagbarkeit von Nahrung<br />
(Goldberg et al. 2001). Die Effekte von zeitlicher Verteilung und<br />
Ressourcenquantität lassen sich im Fall einer Klumpung allerdings nicht<br />
mehr klar trennen.<br />
5.5.2 Ökonomie der Territorialität<br />
Eine konkrete ökonomische Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt,<br />
ist die nach der optimalen Größe eines Territoriums (Abb. 5.12,<br />
Kap. 1.4). Einerseits nehmen die Kosten der Verteidigung mit zunehmender<br />
Größe stetig zu. Andererseits nimmt der Gewinn aus dem exklusiven<br />
Zugang zu einem Gebiet zunächst rasch zu; die relativen Vorteile einer<br />
weiteren Vergrößerung werden aber immer geringer, da die maximale<br />
Nahrungsmenge, die ein Tier pro Tag aufnehmen kann, limitiert ist. Das<br />
Optimalitätsmodell liefert in diesem Fall Vorhersagen über die minimale,<br />
maximale und optimale Größe eines Territoriums (Adams 2001). Erst bei<br />
einer Mindestgröße enthält ein Territorium so viele Ressourcen, dass deren<br />
Energie die Aufwandskosten der Verteidigung wettmachen. Umgekehrt<br />
Abb. 5.12. Theorie der optimalen Territoriumsgröße. Durch das Verhältnis von<br />
sich mit der Territoriumsgröße verändernden Kosten und Nutzen lassen sich die<br />
minimale, maximale und optimale Größe eines Territoriums vorhersagen
5.5 Territorialität 177<br />
gibt es einen Punkt, an dem keine weiteren Vorteile aus zusätzlichen Ressourcen<br />
gezogen werden können und die Kosten der Verteidigung zu groß<br />
werden, so dass eine ökonomische Verteidigung nicht mehr möglich ist.<br />
Dazwischen liegt die optimale Territoriumsgröße, bei der die Differenz<br />
aus Energiegewinn durch exklusiven Ressourcenzugang und energetischen<br />
(und anderen) Kosten durch Territoriumsverteidigung maximal ist.<br />
Beobachtungen und Experimente mit Kolibris (Abb. 5.13) und Nektarvögeln<br />
haben die deutlichsten Hinweise darauf ergeben, dass die Territoriumsgröße<br />
tatsächlich von ökonomischen Gesichtspunkten beeinflusst wird.<br />
Bei diesen Vögeln können sowohl die Zahl der Blüten sowie die darin enthaltene<br />
Nektarmenge und deren Energiegehalt vergleichsweise einfach<br />
quantifiziert werden (Suarez u. Gass 2002). Außerdem wurden im Labor<br />
die energetischen Kosten verschiedener Aktivitäten wie Sitzen, Nahrungssuche<br />
und Kämpfen gemessen. Somit können Kosten und Nutzen (beide in<br />
Kalorien!) sowohl miteinander als auch zwischen verschiedenen Nah-<br />
Abb. 5.13. Die Familie<br />
der Kolibris (Trochilidae)<br />
enthält über 300<br />
Arten, die sich in der<br />
Neuen Welt von Nektar<br />
ernähren und zumeist<br />
territorial sind. Ernst<br />
Haeckels Bild zeigt eine<br />
Auswahl von besonders<br />
farbenprächtigen Arten<br />
(aus „Kunstformen der<br />
Natur“ 1899)
178 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
rungsbedingungen verglichen werden (Gill u. Wolf 1975). Dabei wurde<br />
gefunden, dass sich der durchschnittliche Nektargehalt einer Blüte aufgrund<br />
der Verteidigung eines Territoriums von 1 auf 2 Mikroliter erhöht,<br />
und sich dadurch die Zeit, die täglich für die Nahrungsaufnahme aufgewendet<br />
werden muss, halbiert. Da „Nahrungssuche“ energetisch sehr viel<br />
teurer ist als „Sitzen“, können territoriale Individuen durch Revierverteidigung<br />
unter dem Strich erstaunlich viel Energie einsparen.<br />
Das Nahrungsangebot von Kolibris und Nektarvögeln kann stark in<br />
Raum und Zeit variieren. Man sollte daher erwarten, dass diese Vögel flexibel<br />
auf räumliche und zeitliche Schwankung ihrer Nahrung reagieren.<br />
Bei gleichmäßiger Verteilung der Nahrungspflanzen wurde tatsächlich eine<br />
negative Beziehung zwischen der Anzahl verteidigter Blüten und der<br />
Territoriumsgröße gefunden (Kodric-Brown u. Brown 1978). Wenn die<br />
räumliche Verteilung der Ressourcen heterogen ist, sollte dagegen die Territoriumsgröße<br />
an die Verteilung der Blüten angepasst sein. Dafür spricht<br />
die indirekte Beobachtung, dass die Territorien von Tieren derselben Population<br />
sich um das mehr als Hundertfache in der Größe, aber nur um das<br />
Zwei- bis Dreifache in der Zahl der Blüten unterscheiden (Gill u. Wolf<br />
1975). Es gibt schließlich auch Hinweise darauf, dass diese Vögel flexibel<br />
auf zeitliche Änderungen im Nahrungsangebot reagieren. Wenn zum Beispiel<br />
eine Pflanze mit besonders viel Nektar verfügbar ist, wird die Territoriumsgröße<br />
schnell reduziert. Neben dem Vorteil aus der exklusiven Nutzung<br />
von Blüten können Nektar fressende Vögel noch zusätzliche Vorteile<br />
daraus ziehen, dass sie den Blüten genügend Zeit zur Regeneration geben<br />
und damit ihre Suchwege optimieren können ( Kap. 5.2).<br />
5.5.3 Mechanismen der Territorialität<br />
Bei der Entschlüsselung der Mechanismen und Regeln der Territoriumsverteidigung<br />
können Entfernungsexperimente, bei denen ein Individuum<br />
für eine bestimmte Zeit aus seinem Territorium entfernt wird, wichtige<br />
Aufschlüsse geben. Interessanterweise wird sein Platz in vielen Fällen in<br />
kürzester Zeit von einem anderen Tier eingenommen, das entweder aus einem<br />
schlechteren Gebiet „umzieht“ oder bislang als nicht-territorialer Vagabund<br />
(floater) unterwegs war (Bruinzeel u. van de Pol 2004). Die teilweise<br />
faszinierende Geschwindigkeit dieser Wiederbesetzungen zeigt, dass<br />
viele Territoriumsinhaber ständig mit der Verteidigung ihres Gebietes beschäftigt<br />
sein müssen.<br />
Bei diesem Experiment sind zwei Ansätze möglich. Erstens kann man<br />
während der Abwesenheit des Territoriumsinhabers versuchen, seine kontinuierliche<br />
Präsenz vorzutäuschen. Wenn man aus einem solchen Territo-
5.5 Territorialität 179<br />
rium heraus die Rufe eines Inhabers während seiner Abwesenheit über einen<br />
Lautsprecher abspielt (Playback-Experiment), kann damit das Territorium<br />
länger freigehalten werden, als wenn Kontrollrufe abgespielt werden.<br />
Einzelne Rufe oder Lautkombinationen können dabei eine unterschiedliche<br />
Effektivität haben, so dass man mit diesem Experiment die territoriale<br />
Funktion einzelner Laute nachweisen und vergleichen kann (Krams 2000).<br />
Ähnliches ist prinzipiell mit Attrappen in anderen Modalitäten möglich.<br />
Zweitens kann man den Revierinhaber nach unterschiedlichen Zeiträumen<br />
wieder freilassen und mit seinem Nachfolger konfrontieren. In einem<br />
solchen Experiment hat Nick Davies (1978) an einem kleinen Schmetterling,<br />
dem Waldbrettspiel (Pararge aegeria), untersucht, welche Faktoren<br />
in dieser Situation das Territorialverhalten bestimmen. Bei diesen Tagfaltern<br />
verteidigen die Männchen sonnige Flecken in Mischwäldern, um sich<br />
dort mit vorbeikommenden Weibchen zu verpaaren. Wenn ein Vagabund<br />
auf ein besetztes Territorium stößt, gibt es einen kleinen Schaukampf, der<br />
immer vom Revierinhaber gewonnen wird. Da die Ressource „Lichtfleck“<br />
so zahlreich ist, lohnt es sich offenbar nicht, dafür eine eskalierende Auseinandersetzung<br />
einzugehen. Vielmehr wird hier eine arbiträre Konvention<br />
(„der Resident gewinnt immer“) eingesetzt, um die Kosten der Verteidigung<br />
gering zu halten. Eine alternative proximate Erklärung für den<br />
Ausgang dieser Kämpfe besteht darin, dass die Residenten sich im Lichtfleck<br />
aufwärmen und daher aus physiologischen Gründen größere Ausdauer<br />
bei den Auseinandersetzungen haben (Stutt u. Willmer 1998).<br />
Wenn nun ein Revierbesitzer für einige Zeit gefangen gehalten wird und<br />
ein anderes Männchen in der Zwischenzeit sein Revier besetzt, kommt es<br />
nach dem Freilassen des ursprünglichen Revierinhabers zu einem (für<br />
Schmetterlingverhältnisse!) eskalierenden Kampf, da beide sich offensichtlich<br />
als berechtigte Territoriumsinhaber fühlen. Ähnliche Experimente haben<br />
gezeigt, dass die Zeit, die der neue Revierinhaber ein Gebiet besetzt<br />
hat (Krebs 1982; Box 5.5), sowie individuelle Qualitätsunterschiede (Pryke<br />
u. Andersson 2003) dafür entscheidend sind, wie intensiv gekämpft wird<br />
und wie groß die Chance ist, dass der neue Territoriumsinhaber sein Revier<br />
erfolgreich verteidigen kann.<br />
Eine weitere Konvention bei der Territorialverteidigung wurde bei Eidechsen<br />
und Vögeln entdeckt: der „Lieber-Feind“-Effekt (dear enemy<br />
phenomenon). Es wurde dabei beobachtet, dass territoriale Auseinandersetzungen<br />
zwischen Nachbarn weniger intensiv sind und seltener eskalieren,<br />
als wenn ein fremder Eindringling gestellt wird. Dadurch profitieren<br />
alle Territoriumsinhaber, da die Kosten für die Verteidigung eines Territoriums<br />
nach dessen Etablierung auf diese Weise gesenkt werden. Umgekehrt<br />
erhöht sich für den Inhaber nach dieser Grundinvestition der Wert<br />
eines Territoriums (aufgrund der reduzierten Unterhaltskosten), so dass
180 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Box 5.5<br />
Territorialverteidigung bei Kohlmeisen<br />
• Frage: Hängt der Ausgang von Kämpfen zwischen Territoriumsbesitzern<br />
und Eindringlingen – hier bei Kohlmeisen (Parus major) – davon ab, wer<br />
das Territorium besitzt?<br />
• Hintergrund: Territoriumsinhaber können Eindringlinge in der Regel<br />
abwehren. Das könnte daran liegen, dass Residente (1) ein höheres Ressourcenverteidigungspotential<br />
haben, also z. B. stärker sind, (2) mehr zu<br />
gewinnen haben oder dass es (3) eine arbiträre Konvention gibt, die Residente<br />
bevorzugt.<br />
• Methode: In einer Serie von Entfernungsexperimenten wurden Kohlmeisen-Paare<br />
von ihrem Territorium gefangen und nach 1–6 Tagen dort wieder<br />
freigelassen. Gemessen wurde die Geschwindigkeit der Besetzung des<br />
freien Territoriums durch ein anderes Paar, sowie die Kämpfe zwischen<br />
beiden Paaren.<br />
• Ergebnis: Kämpfe zwischen Residenten und den „Nachrückern“ waren<br />
länger und intensiver als deren Auseinandersetzungen mit etablierten<br />
Nachbarn oder normalen Eindringlingen. Die Zeit, welche die Nachrücker<br />
schon auf dem Territorium verbracht hatten, beeinflusste sowohl die Intensität<br />
der Kämpfe als auch die Wahrscheinlichkeit, die früheren Residenten<br />
zu besiegen*.<br />
• Schlussfolgerung: Territoriale Residenten gewinnen gegen Eindringlinge<br />
nicht, weil sie stärker sind oder es eine entsprechende Konvention gibt<br />
(siehe Schmetterlingsbeispiel), sondern weil sie mehr zu gewinnen haben.<br />
Als etablierte Residenten profitieren sie nämlich von geringeren Verteidigungskosten<br />
gegen etablierte Nachbarn.<br />
Krebs 1982<br />
* Wahrscheinlichkeit von Residenten, das Territorium zu verlieren, als Funktion der<br />
(log) Dauer seit der Wiederbesetzung durch Nachrücker.
5.5 Territorialität 181<br />
diese erhöhte Motivation zum Ressourcenverteidigungspotential des Inhabers<br />
beiträgt. Dieser Effekt tritt nicht nur bei Individuen (z. B. Whiting<br />
1999) und Paaren (Box 5.5), sondern auch zwischen benachbarten Gruppen<br />
oder Kolonien auf (Langen et al. 2000). Wenn Konkurrenz zwischen<br />
Nachbarn sehr hoch ist, wie z. B. zwischen benachbarten Gruppen von<br />
Zebramangusten (Mungos mungo), können aggressive Reaktionen gegen<br />
Nachbarn intensiver sein als gegen Fremde (Müller u. Manser 2007).<br />
Die Verteidigung eines Territoriums kann mit unterschiedlichen Verhaltensmechanismen<br />
erfolgen. Direkte Aggression in Begegnungen zwischen<br />
Konkurrenten an einer Ressource oder an einer Territoriumsgrenze ist dabei<br />
der am häufigsten eingesetzte Mechanismus. Bei diesen Auseinandersetzungen<br />
sind physische Merkmale zumeist für den Erfolg ausschlaggebend.<br />
Da diese Interaktionen immer mit einem Verletzungsrisiko<br />
behaftet sind, haben sich im Laufe der Evolution auch ritualisierte Kommunikationssignale<br />
(displays) entwickelt, die in diesem Kontext eingesetzt<br />
werden und Artgenossen auf existierende Territoriumsgrenzen hinweisen<br />
(Ord u. Blumstein 2002).<br />
Diese displays können prinzipiell in mehreren Modalitäten ihre Nachricht<br />
übermitteln. Territoriale Singvögel setzen ihren Gesang in dieser<br />
Funktion ein (Naguib et al. 2001). Duftmarken, Urin oder Latrinen enthalten<br />
chemische Signale, die sogar in der Abwesenheit des Senders anzeigen,<br />
dass ein Territorium besetzt ist; das ist eine Form der Revierverteidigung,<br />
die bei Säugetieren weit verbreitet ist (z. B. Allen et al. 1999), aber auch<br />
bei Ameisen nachgewiesen wurde (Robinson et al. 2005). Wenn diese abschreckenden<br />
Signale ihre Funktion nicht erfüllen, kommt es bei Sichtkontakt<br />
zwischen Konkurrenten zumeist zu visuellen displays. Dabei kann<br />
man durch Aufplustern, Haareaufstellen, Verfärbungen oder entsprechende<br />
Bewegungsabläufe den Gegenüber einschüchtern (Ord et al. 2002). Nur<br />
wenn dieser Austausch von Signalen keine Entscheidung herbeigeführt<br />
hat, kommt es zu eskalierenden Kämpfen.<br />
Die Bereitschaft zur Ausführung, Häufigkeit und Intensität von aggressivem<br />
Verhalten wird proximat durch Unterschiede im Testosterongehalt<br />
mit beeinflusst. Vor allen Dingen wenn Männchen territorial sind, können<br />
damit viele Aspekte ihres Verhaltens erklärt werden. Experimentelle Erhöhung<br />
des Testosterontiters bei Eidechsen hat beispielsweise gezeigt, dass<br />
die betreffenden Männchen mehr patrouillieren, häufiger visuelle displays<br />
vollführen und weniger fressen als Kontrollmännchen (Marler u. Moore<br />
1989). Da die manipulierten Männchen auch eine deutlich erhöhte Sterblichkeitsrate<br />
hatten, zeigte dieser Versuch auch, dass Territorialität mit erheblichen<br />
intrinsischen Kosten verbunden sein kann. Wie Untersuchungen<br />
an Schneehühnern (Lagopus lagopus) ergeben haben, kann temporär erhöhte<br />
Aggressivität zwischen Reviernachbarn aufgrund experimenteller
182 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Erhöhung ihrer Testosterontiter sich sogar negativ auf das Wachstum der<br />
gesamten Population niederschlagen (Mougeot et al. 2003).<br />
Details des territorialen Verhaltens können schließlich in interessanter<br />
Weise mit der sozialen Organisation interagieren. Territorialität findet<br />
sich bei solitären, aber auch bei paar- oder gruppenlebenden Arten. Ökonomische<br />
Analysen sind für Individuen leicht nachvollziehbar, auch wenn<br />
sie in der Praxis oft schwierig durchzuführen sind. Wenn aber zwei oder<br />
mehr Individuen zusammenleben, müssen sowohl ihre individuellen Vorund<br />
Nachteile als auch die Effekte ihres Zusammenlebens bei der Analyse<br />
von Territorialität berücksichtigt werden (Schradin 2004). Benötigen zum<br />
Beispiel zwei Tiere ein doppelt so großes Territorium wie ein einzelnes<br />
Individuum und lässt sich ein gemeinsames Territorium mit weniger individuellem<br />
Aufwand verteidigen? Nicht selten finden sich Geschlechtsunterschiede<br />
im territorialen Verhalten; selbst in Paaren oder Gruppen kann<br />
nur ein Geschlecht für die Verteidigung zuständig sein (Boydston et al.<br />
2001). In größeren Gruppen gibt es zudem die Gefahr, dass manche Individuen<br />
andere die Kosten der Verteidigung allein tragen lassen, aber trotzdem<br />
die Vorteile des Ressourcenzugangs für sich in Anspruch nehmen; es<br />
entsteht ein Kollektivhandlungsproblem (collective action problem)<br />
(Nunn u. Deaner 2004).<br />
5.6 Tier-Pflanze-Interaktionen<br />
Da die große Mehrzahl der Tierarten sich ganz oder teilweise von pflanzlicher<br />
Nahrung ernährt, kam es im Laufe der Evolution zu Wettrennen oder<br />
wechselseitigen Anpassungen zwischen Tieren und Pflanzen. Zwei Aspek-<br />
Abb. 5.14. Herbivorie, Bestäubung und Samenausbreitung sind die evolutionär<br />
bedeutsamsten Aspekte von Tier-Pflanze Interaktionen. Blätter fressende Giraffen<br />
(Giraffa camelopardalis rothschildi), Blüten besuchende Insekten sowie Früchte<br />
fressende Amseln (Turdus merula) liefern Beispiele für diese Interaktionen
5.6 Tier-Pflanze-Interaktionen 183<br />
te sind in diesem Zusammenhang von besonderer evolutionärer Bedeutung:<br />
die Herbivorie sowie die Instrumentalisierung von Tieren bei der<br />
Fortpflanzung von Pflanzen (Abb. 5.14). In beiden Bereichen findet eine<br />
intensive Kommunikation zwischen Pflanzen und ihren Besuchern statt<br />
(Schaefer et al. 2004).<br />
5.6.1 Evolution von Herbivorie<br />
Zwischen Pflanzen und herbivoren Tieren gibt es einen fundamentalen Interessenskonflikt,<br />
der seit Jahrmillionen ein evolutionäres Wettrennen<br />
antreibt. Herbivore beziehen ihre Energie und Nährstoffe ganz oder teilweise<br />
aus pflanzlichem Material. Dazu fressen sie Teile von Wirtspflanzen<br />
oder zerstören sie sogar ganz. Viele Pflanzen müssen sich in diesem Zusammenhang<br />
nicht nur mit einer, sondern mit einer Vielzahl von Tierarten<br />
auseinandersetzen, die ihre Wurzeln, Stämme, Blätter, Blüten oder Samen<br />
beschädigen. Die betroffenen Pflanzen erfahren dadurch zum Teil massive<br />
Fitnesseinbußen, da durch diese Zerstörung ihre Fähigkeit zu überleben, zu<br />
wachsen und sich fortzupflanzen erheblich eingeschränkt werden kann<br />
(Agrawal 1998). Es ist daher nicht verwunderlich, dass natürliche Selektion<br />
eine Reihe von Abwehrmechanismen bei Pflanzen hervorgebracht hat,<br />
mit denen sie sich gegen Herbivoren zur Wehr setzen. Dabei kann es sich<br />
prinzipiell um mechanische oder chemische Anpassungen handeln (Strauss<br />
u. Agrawal 1999).<br />
Wichtige mechanische Abwehrmechanismen von Pflanzen beinhalten<br />
die Ausbildung von Stacheln, Dornen oder Nesseln, Verdickungen und<br />
Verhärtungen der Epidermis oder einen bestimmten Habitus, bei dem zum<br />
Beispiel die Fortpflanzungsorgane unter die Erde verlagert werden oder<br />
die Blätter nur außerhalb der Reichweite terrestrischer Herbivoren angelegt<br />
sind. Die chemische Abwehr von Pflanzen beruht auf der Produktion von<br />
unverträglichen oder giftigen Inhaltsstoffen (Mello u. Silva-Filho 2002).<br />
Diese Inhaltsstoffe werden zumeist vom sekundären Stoffwechsel der<br />
Pflanzen selbst produziert, d. h. Metaboliten aus der Atmung oder Photosynthese<br />
werden dazu umgebaut. Die resultierenden Abwehrstoffe werden<br />
dabei als Stickstoff- oder Kohlenstoff-basiert klassifiziert. Die wichtigsten<br />
Stoffklassen in diesem Zusammenhang sind die ca. 10 000 Alkaloide, die<br />
von Aminosäuren abgeleitet sind und eine hohe Affinität für tierische Neurotransmitterrezeptoren<br />
besitzen und daher meist eine (dosisabhängige) toxische<br />
Wirkung haben. Aufgrund ihres bitteren Geschmacks induzieren sie<br />
eine abstoßende Wirkung gegenüber potentiellen Herbivoren. Die zweite<br />
funktionell wichtige Gruppe toxischer Pflanzeninhaltsstoffe sind die Terpenoide,<br />
von denen über 20 000 bekannt sind.
184 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
Da Alkaloide stickstoffhaltig sind, bedeutet deren Abfluss aus den primären,<br />
häufig Stickstoff-limitierten Stoffwechselprozessen zusammen mit<br />
dem Verbrauch an energiehaltigen Co-Faktoren (ATP usw.), dass die chemische<br />
Abwehr mit energetischen Kosten verbunden ist. Viele Pflanzen<br />
sehen sich daher mit einem Trade-off zwischen Wachstum und Verteidigung<br />
konfrontiert. Vermutlich sind daher nicht alle Pflanzenteile gleichermaßen<br />
giftig oder geschützt oder manche Arten haben eine bestimmte Toleranz<br />
gegen Herbivoren entwickelt (Mauricio 2000). So sind Früchte<br />
häufig genießbar, da Pflanzen auf deren Verbreitung durch Tiere angewiesen<br />
sind (s. unten), wohingegen die Samen innerhalb der Früchte chemisch<br />
geschützt sind. Die Schutzstoffe sind bei manchen Pflanzen auf Harze und<br />
Säfte beschränkt, die bei mechanischer Beschädigung austreten. Manche<br />
Inhaltsstoffe werden nur zu bestimmten Zeiten, also wenn das Risiko am<br />
größten ist, oder bei Bedarf, also durch Herbivorie induziert, produziert.<br />
Manche Pflanzen schützen sich schließlich dadurch, dass sie bei Befraß<br />
flüchtige Substanzen freisetzen, die Parasiten oder Räuber des Herbivoren<br />
anlocken (Arimura et al. 2000).<br />
Auf der Seite der Herbivoren gibt es entsprechende Gegenselektion auf<br />
Fähigkeiten, diese pflanzlichen Abwehrmechanismen zu umgehen oder<br />
unschädlich zu machen. So gibt es mechanische Gegen-Anpassungen im<br />
Bereich der Entwicklung von Kauwerkzeugen, die auch mit besonders harten,<br />
zähen oder mechanisch geschützten Strukturen erfolgreich umgehen<br />
können. Gegen manche pflanzliche Inhaltsstoffe sind auch physiologische<br />
Detoxifikationsmechanismen entstanden, die ihrerseits wiederum für die<br />
betreffenden Tiere mit hohen energetischen Investitionen verbunden sein<br />
können. Wenn ein solcher Mechanismus entwickelt wird, kann er aber den<br />
alleinigen Zugang zu einer Pflanzenart ermöglichen. Die Raupen des Monarchfalters<br />
(Danaus plexippus) können nicht nur die Herzglykoside der<br />
Wolfsmilchgewächse erfolgreich detoxifizieren, sondern sie können diese<br />
zum eigenen Schutz vor räuberischen Vögeln umwandeln und einsetzen<br />
(Zalucki u. Malcolm 1999). Bei Flohkäfern (Longitarsus spp.) und vermutlich<br />
bei vielen anderen Gruppen ist der chemische Schutz mit Hilfe giftiger<br />
Pflanzeninhaltstoffe mehrfach unabhängig entstanden (Dobler 2001). Aufgrund<br />
der Ähnlichkeit der Pflanzeninhaltstoffe konzentrieren sich die<br />
meisten herbivoren Insekten auf einige wenige, nah miteinander verwandte<br />
Wirtspflanzen (Novotny et al. 2002).<br />
5.6.2 Tier-Pflanze-Mutualismus<br />
Ein zweiter, aus evolutionärer Sicht wichtiger Aspekt der Interaktion zwischen<br />
Tieren und Pflanzen betrifft deren mutualistische Beziehungen im
5.6 Tier-Pflanze-Interaktionen 185<br />
Kontext der Fortpflanzung der Pflanzen. Dieser Mutualismus, also eine<br />
Interaktion, die für beide Beteiligte vorteilhaft ist, tritt bei der Bestäubung<br />
von Samenpflanzen sowie der Ausbreitung ihrer Samen auf. Bei der Bestäubung<br />
ihrer Blüten sind zahlreiche Pflanzen auf Insekten, Vögel oder<br />
Säugetiere angewiesen, wobei die Bestäuber ihrerseits jeweils zahlreiche<br />
Wirte besuchen (Memmott 1999). Manche Artenpaare von Pflanzen und<br />
Tieren haben sich aber auch in Bezug auf die Bestäubung aufeinander spezialisiert,<br />
wie zahlreiche Feigen und Feigenwespen (Cook u. Rasplus<br />
2003). Um Bestäuber anzulocken, signalisieren manche Pflanzen mit auffälligen<br />
Blüten oder anderen Strukturen (z. B. Blütenständen) sowie durch<br />
Düfte ihre Präsenz (Schaefer et al. 2004). Viele Blüten sind in ihrer Struktur<br />
an bestimmte Bestäuber angepasst (von Helversen u. von Helversen<br />
2003). Bienen und Hummeln leben teilweise direkt von pflanzlichem Pollen;<br />
für andere, wie Schmetterlinge oder Kolibris, wird der Blütenbesuch<br />
durch Nektarien lohnend gemacht, die neben Zucker auch Aminosäuren<br />
bereitstellen (Gardener u. Gillman 2002). Die Übertragung von Pollen<br />
zwischen verschiedenen Pflanzen ist daher aus Sicht der Bestäuber oft nur<br />
ein unvermeidliches Nebenprodukt der Nahrungssuche.<br />
Der Reproduktionserfolg hängt bei vielen Pflanzen von der Samenausbreitung<br />
ab. Ihre Samen müssen an einen Ort gelangen, der für die Keimung<br />
und Entwicklung der jungen Pflanze optimale Voraussetzungen in<br />
Bezug auf Nährstoffe, Licht und Feuchtigkeit bietet und in der Regel von<br />
der Mutterpflanze entfernt sein sollte, da diese identische Ansprüche hat<br />
und daher mit ihrem Nachwuchs konkurriert (Nathan u. Muller-Landau<br />
2000). Manche Pflanzen, wie z. B. Löwenzahn oder Ahorn, verbreiten ihre<br />
Samen mit dem Wind (Anemochorie), in der Hoffnung, dass bei dieser<br />
Zufallsverteilung manche Samen an einen geeigneten Ort kommen. Bei der<br />
Verbreitung anderer Samen spielen Tiere die entscheidende Rolle (Zoochorie).<br />
In diesem Zusammenhang sind ebenfalls zahlreiche Anpassungen<br />
bei Pflanzen entstanden, welche die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung<br />
ihrer Samen erhöhen (Levin et al. 2003). Dazu zählen mechanische Strukturen<br />
wie Widerhaken, die sich am Körper von größeren Tieren verfangen<br />
können, sowie Belohnungen in Form von energiereichen Verpackungen<br />
der Samen in Früchten oder Beeren, die frugivoren Tieren als Nahrung<br />
dienen. Zudem können Pflanzen mit anderen Inhaltsstoffen das Schicksal<br />
ihrer Früchte und Samen über deren Einfluss auf die Frugivoren mitgestalten<br />
(Cipollini u. Levey 1997).<br />
In den meisten Fällen werden die Samen beim Fressen nicht beschädigt<br />
und fern vom Mutterbaum mit Dünger versehen abgesetzt. Aus Sicht des<br />
Tieres besteht der Vorteil dieses Arrangements darin, dass die Frucht, der<br />
Fettkörper an den Samen (Elaiosomen) oder die Samen selbst (Nüsse)<br />
Energiequellen darstellen. Für die Pflanze besteht der Vorteil darin, dass
186 5 Habitat- und Nahrungswahl<br />
die Samen von der Mutterpflanze weg transportiert werden und damit<br />
möglicherweise neue Gebiete kolonisiert werden können und dass dadurch<br />
Konkurrenz mit dem eigenen Nachwuchs um dieselben Ressourcen vermieden<br />
wird. Samenausbreitung durch Tiere ist daher auch ein wichtiger<br />
Mechanismus zur Erhaltung von Biodiversität, wie am Beispiel der Verbreitung<br />
von Früchten tropischer Bäume durch Vögel (Bleher u. Böhning-<br />
Gaese 2001), Fledermäuse (Giannini u. Kalko 2004) und Primaten (Ganzhorn<br />
et al. 1999) besonders deutlich wird. Auch in Wäldern gemäßigter<br />
Breiten haben Baumarten, deren Samen durch Tiere ausgebreitet werden,<br />
eine geringere Aussterbewahrscheinlichkeit als windverbreitete Arten<br />
(Montoya et al. 2008).<br />
5.7 Zusammenfassung<br />
Die ausreichende Versorgung eines Organismus mit Energie und<br />
Nährstoffen ist unabdingbare Voraussetzung für dessen Wachstum,<br />
Überleben und Fortpflanzung. Um Zugang zu für sie erschließbaren<br />
Nahrungsquellen zu erhalten, haben Tiere Anpassungen und Präferenzen<br />
für bestimmte Habitattypen entwickelt. Innerhalb dieser generellen<br />
Präferenzen gibt es Variabilität in der Habitatnutzung auf kleineren<br />
räumlichen Skalen, die als Unterscheidung von Generalisten und<br />
Spezialisten dichotomisiert werden kann. Bei der Suche und Auswahl<br />
von geeigneter Nahrung in einem gewählten Habitat spielen neben<br />
sensorischen Fähigkeiten auch ökonomische Kosten-Nutzen-<br />
Abwägungen eine Rolle. Zahlreiche Überprüfungen einfacher Vorhersagen<br />
der Optimal-foraging-Theorie haben nahegelegt, dass Individuen<br />
bei der Nahrungswahl durch Abwägung mehrerer Merkmale<br />
versuchen, die Profitabilität der Nahrungsaufnahme zu maximieren.<br />
Aufgrund nahezu identischer Nahrungsbedürfnisse von Artgenossen<br />
ist Nahrungskonkurrenz unvermeidlich. Deren Form und Intensität<br />
wird wesentlich durch die räumliche und zeitliche Verteilung der Ressourcen<br />
bestimmt. Nahrungskonkurrenz kann sowohl zu einer ideal<br />
freien Verteilung von Individuen zwischen benachbarten Nahrungsquellen<br />
als auch zu deren Monopolisierung, unter anderem in Form<br />
von Territorialität, führen. Da aufgrund der Nahrungspyramide die<br />
Mehrzahl der Tierarten hauptsächlich pflanzliche Nahrung nutzt, sind<br />
im Laufe der Evolution zahlreiche Interaktionen zwischen Tieren und<br />
Pflanzen im Kontext von Herbivorie, Bestäubung und Samenausbreitung<br />
entstanden.
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6 Prädation<br />
6.1 Evolutionäre Wettrennen<br />
6.2 Räuberstrategien<br />
6.2.1 Ansitz- vs. Suchjäger<br />
6.2.2 Solitäre vs. Gruppenjäger<br />
6.2.3 Giftige Räuber<br />
6.3 Beutestrategien<br />
6.3.1 Krypsis<br />
6.3.2 Aposematismus<br />
6.3.3 Mimikry<br />
6.3.4 Wehrhaftigkeit<br />
6.3.5 Wachsamkeit<br />
6.3.6 Alarmsignale<br />
6.3.7 Gruppenbildung<br />
6.4 Zusammenfassung<br />
Fressen und Gefressen-Werden sind eng miteinander verbunden. Im vorangehenden<br />
Kapitel wurde deutlich, dass Überleben entscheidend vom Zugang<br />
zu Nahrung abhängt. Da sich zahlreiche Tiere aber ganz oder teilweise<br />
von tierischer Nahrung ernähren, hat deren Fressverhalten drastische<br />
negative Konsequenzen für die Fitness der betroffenen Beute. Prädation<br />
und deren Vermeidung sind daher zentrale Aspekte der Überlebensstrategien<br />
aller Tiere. Das aus diesem Konflikt zwischen Räuber und Beute entspringende<br />
evolutionäre Wettrennen hat neben der sexuellen Selektion zu<br />
den vielfältigsten und spektakulärsten Anpassungen geführt, bei denen es<br />
sich in vielen Fällen um Verhaltensmerkmale handelt. In diesem Kapitel<br />
zeige ich auf, mit welchen Strategien Räuber und Beute versuchen, in diesem<br />
Wettrennen die Oberhand zu gewinnen.
198 6 Prädation<br />
6.1 Evolutionäre Wettrennen<br />
Viele Tiere ernähren sich teilweise oder vollständig von tierischer Beute,<br />
und praktisch alle Arten sind zumindest in einem Lebensstadium davon<br />
bedroht, gefressen zu werden. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Prädation<br />
für die Fitness von Räubern und Beutetieren liegt auf allen Anpassungen,<br />
die Individuen in dieser Hinsicht einen Vorteil verschaffen, ein<br />
enormer Selektionsdruck. Dabei werden sowohl die Fähigkeiten von Räubern,<br />
ihre Beute effizient zu suchen, diese eindeutig zu erkennen und sie<br />
mit möglichst wenig Aufwand zu überwältigen, als auch die Fähigkeiten<br />
der Beute, sich der Entdeckung zu entziehen und einem Räuber zu entkommen,<br />
von natürlicher Selektion belohnt, wann immer sie auch nur einen<br />
kleinen Vorteil mit sich bringen und eine genetische Basis haben<br />
(Abb. 6.1). Damit sind die Grundlagen für ein evolutionäres Wettrennen<br />
geschaffen, bei dem ein Vorteil durch eine Anpassung der Beute früher<br />
oder später durch eine Gegenanpassung der Räuber wettgemacht wird und<br />
umgekehrt (Abrams 2000).<br />
Gibt es bei einem solchen evolutionären Wettrennen jemals einen Sieger?<br />
Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen legen<br />
nahe, dass diese Wettrennen in stabilen Systemen meist endlos weitergehen;<br />
hauptsächlich weil die Beute einen kleinen Vorsprung hat. Zum<br />
einen haben die meisten Beutetiere im Durchschnitt schnellere Life histories<br />
und können ihre Merkmale daher schneller anpassen als die Räuber<br />
( Kap. 2.3). Zudem ist der Selektionsdruck auf Räuber und Beute<br />
Abb. 6.1. Evolutionäres Wettrennen zwischen Räuber und Beute. Verschiedene<br />
Verhaltensmechanismen und daran angepasste morphologische Merkmale vermitteln<br />
Strategien und Gegenstrategien der Beteiligten
6.1 Evolutionäre Wettrennen 199<br />
unterschiedlich stark. Für ein Beutetier geht es bei einer Interaktion mit<br />
einem Räuber immer um Leben oder Tod, wohingegen es für den Räuber<br />
immer nur um die nächste Mahlzeit geht. Ein Beutetier darf sich keinen<br />
Fehler erlauben und wenn er doch passiert, kann es sich nicht mehr fortpflanzen.<br />
Räuber stehen hingegen nicht unter diesem immensen Erfolgsund<br />
Selektionsdruck, da sie auch weiter leben und sich weiter fortpflanzen<br />
können, wenn sie eine Beute einmal nicht zur Strecke bringen.<br />
Die Bilanz der Kosten und Nutzen von Anpassungen und Gegenanpassungen<br />
kann auch zu Gunsten der Beute verschoben sein und so zu einer<br />
Stabilisierung des Systems beitragen. Eine Ciliatenart (Euplotes octocarinatus)<br />
kann beispielsweise in der Präsenz einer räuberischen Art (Lembadion<br />
bullinum) laterale Anhänge ausbilden, die ihr „Verschlucken“ durch<br />
den Räuber verhindern. Als Gegenmaßnahme kann der Räuber allerdings<br />
seine Körper- und Mundgröße soweit ausdehnen, dass er Euplotes doch<br />
fressen kann, wobei allerdings die größten Beute-Individuen verschont<br />
bleiben. Die Vorteile der Vergrößerung in Bezug auf einen verbesserten<br />
Fresserfolg des Räubers sind aber gerade so groß wie die zusätzlichen<br />
Kosten durch die Vergrößerung des Körpers, so dass unter dem Strich die<br />
Beute durch diese induzierte Verteidigung (siehe unten) einen leichten<br />
Vorteil erfährt (Kopp u. Tollrian 2003).<br />
Schließlich gibt es auch ökologische Gründe, die sich aus der Populationsdynamik<br />
von Räuber und Beute ergeben, die dafür sprechen, dass es<br />
nicht zum Aussterben des einen oder anderen Teils eines Räuber-Beute-<br />
Systems kommt (Abrams 2000). Wenn nämlich die Räuber überhand nehmen,<br />
wird die Dichte der Beuteart irgendwann so weit reduziert sein, dass<br />
die Räuber auf eine andere Beuteart wechseln müssen und damit der entsprechende<br />
Selektionsdruck von der ersten Beuteart genommen wird. Umgekehrt,<br />
wenn eine Räuberart selten wird, weil die Beute sich immer besser<br />
an sie angepasst hat, werden die Räuber deswegen selten ausgerottet,<br />
da der Selektionsdruck auf die Beute, sich weiter zu verbessern, mit abnehmender<br />
Dichte des Räubers abnimmt. Das Ergebnis ist, zumindest theoretisch,<br />
eine gekoppelte Oszillation der Dichten von Räuber und Beute.<br />
In Wirklichkeit gibt es aber selten so einfache und isolierte Systeme, da die<br />
Dichte der Beute auch von deren Nahrungsverfügbarkeit abhängt (Friman<br />
et al. 2008) oder sie von mehr als einem Räuber gejagt wird bzw. ein Räuber<br />
praktisch nie auf eine einzige Beuteart spezialisiert ist. Unter diesen<br />
Bedingungen kann es aber zu synchronisierten Oszillationen der Populationen<br />
mehrerer Beutearten kommen (Korpimäki et al. 2005).<br />
Das bekannteste Beispiel für ein solches simples Räuber-Beute-System<br />
liefern Luchs (Lynx lynx) und Schneeschuh-Hase (Lepus americanus) in<br />
Nordamerika. Ihre Populationsdichten sind eng aneinander gekoppelt und
200 6 Prädation<br />
Abb. 6.2. Populationszyklus eines Räuber-Beute-Systems. Die Populationsgrößen<br />
von Schneeschuh-Hasen und Luchsen oszillieren über Jahrzehnte leicht versetzt<br />
zueinander<br />
schwanken in einem Zyklus von 9–11 Jahren (Abb. 6.2). Die Hasenpopulation<br />
kann Spitzendichten von bis zu 1500 Individuen pro km 2 erreichen.<br />
Unter diesen Bedingungen wird es für sie immer schwieriger, Futter zu<br />
finden und der Prädationsdruck steigt, da die durch Hunger geschwächten<br />
Hasen eine leicht zu erlegende Beute sind. Unter diesen Bedingungen können<br />
sich die Luchse optimal fortpflanzen und ihre Dichte nimmt zu, wodurch<br />
der Prädationsdruck auf die Hasen weiter erhöht wird. Die Hasenpopulation<br />
reduziert sich unter diesen Bedingungen bis auf ein niederes<br />
stabiles Niveau, welches mit den höchsten Luchsdichten zusammenfällt.<br />
Die Fortpflanzung der Luchse ist stark durch die Nahrungsverfügbarkeit<br />
limitiert, so dass sie unter Nahrungsmangel die Wurfgrößen reduzieren<br />
oder die Fortpflanzung sogar ganz einstellen, so dass sich die Luchsdichte<br />
ebenfalls reduziert. Wenn sich die Nahrung der Hasen wieder regeneriert<br />
hat, können sich diese wieder vermehren und bei mehreren Würfen pro<br />
Jahr schnell wieder eine wachsende Population etablieren, wodurch ein<br />
neuer Zyklus eingeleitet wird. Die Populationsdynamik der Luchse ist dabei<br />
allein von derjenigen der Hasen abhängig, wohingegen die Zyklen der<br />
Hasen durch die Kombination der Effekte von Prädation durch mehrere<br />
Räuber und die Verfügbarkeit ihrer Nahrung gesteuert werden (Stenseth<br />
et al. 1997). Aus gemäßigten und tropischen Habitaten gibt es keine Beispiele<br />
für solche Zyklen; vermutlich weil dort jeder Räuber weit mehr als<br />
nur eine Beuteart besitzt (z. B. Sinclair et al. 2003).
6.1 Evolutionäre Wettrennen 201<br />
Die Beziehungen zwischen Prädationsraten und Populationsdynamik<br />
können sehr komplexe Phänomene hervorrufen und über verschiedene<br />
Mechanismen vermittelt werden. Es wird in diesem Zusammenhang zunehmend<br />
deutlicher, dass insbesondere energetische und andere physiologische<br />
Kosten des Räuberdrucks die individuellen Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit<br />
beeinflussen können (Creel u. Christianson<br />
2008). Prädation hat daher nicht nur über die direkten Effekte der individuellen<br />
Prädation einen Einfluss auf die Populationsdynamik (Abb. 6.3).<br />
So unterdrücken manche Kleinsäuger, die einem hohen Prädationsrisiko<br />
ausgesetzt sind, die Fortpflanzung, vermutlich weil trächtige Tiere leichter<br />
von den Räubern zu fangen sind. Bei Wapitihirschen (Cervus canadensis)<br />
führt hoher Prädationsdruck durch Wölfe (Canis lupus) zu einer Reduktion<br />
im weiblichen Progesterontiter, welcher sich wiederum in einer reduzierten<br />
Geburtsrate niederschlägt (Creel et al. 2007). Die reduzierte Fortpflanzungsrate<br />
hat direkte Auswirkungen auf die Amplitude oder Frequenz von<br />
Populationszyklen (Ruxton u. Lima 1997). Ein anderer Effekt wurde bei<br />
Sumpfmäusen (Microtus oeconomus) nachgewiesen, bei denen durch Prä-<br />
Abb. 6.3. Beziehungen zwischen Prädationsdruck und Populationsdynamik. Über<br />
direkte Prädation von Individuen beeinflussen Räuber die Populationsdynamik der<br />
Beute. Das wahrgenommene Prädationsrisiko der Beute kann aber auch dessen<br />
Verhalten (energetische Konsequenzen) und Physiologie beeinflussen, welche<br />
über negative Effekte auf Überleben und Fortpflanzung die Populationsdynamik<br />
ebenfalls mit steuern
202 6 Prädation<br />
dation von emigrierenden Individuen durch Greifvögel die Populationszyklen<br />
innerhalb und zwischen Populationen miteinander synchronisiert<br />
wurden (Ims u. Andreassen 2000).<br />
Die Mehrzahl der Arten, die jemals auf der Erde existiert haben, ist bereits<br />
ausgestorben; es ist aber in den allermeisten Fällen nicht klar, ob und<br />
in welchem Maß eine Räuber-Beute-Beziehung an deren Aussterben beteiligt<br />
war. Eine Reihe von rezenten Beispielen, bei denen durch menschlichen<br />
Einfluss ein Teil eines Ökosystems in seiner Stabilität gestört wurde,<br />
zeigen aber, dass Prädation prinzipiell einen entsprechenden Einfluss<br />
haben kann. Vor allem auf Inseln wurden durch eingeschleppte neue Räuber<br />
zahlreiche Arten in relativ kurzen Zeiträumen ausgerottet. Die Nestprädation<br />
von am Boden brütenden Vögeln in Neuseeland durch eingeschleppte<br />
Hauskatzen und Ratten ist nur eines von mehreren Beispielen<br />
(Holdaway 1989). In diesem Fall trafen neue Räuber auf völlig unvorbereitete<br />
Beute, da es davor keine am Boden lebenden Nesträuber gab, so dass<br />
sich dieses System erst gar nicht stabilisieren konnte. Ein anderes Beispiel<br />
stammt von den Bahamas, wo nach einem Wirbelsturm eine Eidechsenart<br />
(Anolis sagrei) auf den Inseln ausstarb, auf denen eine davor eingeschleppte<br />
räuberische Eidechsenart (Leiocephalus carinatus) lebte. Auf benachbarten<br />
Inseln ohne den eingeschleppten Räuber erholte sich A. sagrei dagegen<br />
rasch von den ökologischen Störungen durch den Wirbelsturm<br />
(Schoener et al. 2001). Diese Fälle sprechen auch gegen die Hypothese,<br />
dass es nicht zum Aussterben von Beutepopulationen im evolutionären<br />
Wettlauf kommt, weil Räuber sich „klug“ verhalten, also ihre Beute nicht<br />
übermäßig nutzen.<br />
In stabilen Systemen entwickeln sich im Laufe des evolutionären Wettrennens<br />
immer feiner aufeinander abgestimmte Strategien und Gegenstrategien.<br />
Miteinander vertraute Räuber und Beutearten können sich beispielsweise<br />
gegenseitig besonders gut erkennen; hier kommt es zur<br />
Selektion von sehr spezifischen Gegenstrategien. So leben auf manchen<br />
australischen Blüten räuberische Spinnen, die von eingeborenen Bienen,<br />
aber nicht von eingeschleppten Honigbienen, erkannt und vermieden werden<br />
(Heiling u. Herberstein 2004). Solche Effekte existieren auch innerhalb<br />
von Arten. Gefleckte Fettschwanzgeckos (Oedura lesueurii) erkennen<br />
und vermeiden den Geruch einer räuberischen Schlange, wenn beide Arten<br />
sympatrisch vorkommen; Geckos, die in Gegenden ohne diesen Räuber leben,<br />
zeigen diese Reaktion nicht (Downes u. Shine 1998). Ein weiteres<br />
Beispiel stammt von einer Spinne (Metepeira incrassata), deren Eier von<br />
einer Fliege (Arachnidomyia lindae) gefressen werden. Die Spinne erkennt<br />
diesen Räuber an der Frequenz des Flügelschlags und kann ihn von anderen<br />
Fliegen, die für die Spinne potentielle Beute darstellen, unterscheiden<br />
(Hieber et al. 2002). Andererseits können Arten, die verschiedenen
6.2 Räuberstrategien 203<br />
Räubern mit unterschiedlichen Jagdstrategien ausgesetzt sind, auch flexible<br />
Gegenstrategien wählen, die von Räuber und Kontext abhängig sind.<br />
Vögel, die von Greifvögeln in der Luft angegriffen werden, passen beispielsweise<br />
ihre Fluchtstrategie an den jeweiligen Räuber an und versuchen,<br />
mit unterschiedlichen Flugmanövern zu entkommen (Hedenström u.<br />
Rosén 2001).<br />
Alle Anti-Prädationsstrategien ( Kap. 6.3) sind mit Kosten verschiedenster<br />
Art verbunden, die letztendlich verhindern, dass die Anpassungen<br />
der Beute denjenigen der Räuber im evolutionären Wettlauf enteilen. Es ist<br />
daher nicht verwunderlich, dass manche Beutetiere versuchen, diese Kosten<br />
zu reduzieren oder ganz zu vermeiden, indem sie sich auf induzierbare<br />
Abwehrmechanismen spezialisieren. Diese Mechanismen werden<br />
nur bei Bedarf aktiviert, also wenn ein tatsächliches und akutes Prädationsrisiko<br />
festgestellt wurde. Diese Anpassungen können das Verhalten betreffen,<br />
indem zum Beispiel die Aktivität reduziert oder ein eigentlich optimales<br />
Habitat verlassen wird. Bahama-Anolis (Anolis sagrei), auf deren<br />
Inseln neue, räuberische Eidechsen ausgesetzt wurden, veränderten ihre<br />
Habitatnutzung und mit einiger Verzögerung ihre Morphologie, die an die<br />
neue Nische besser angepasst war (Losos et al. 2004). Kaulquappen, bei<br />
denen diese induzierten Anpassungen besonders gut untersucht sind, prägen<br />
ebenfalls Wachstumsraten und morphologische Merkmale in der Präsenz<br />
von Räubern anders aus als in deren Abwesenheit (van Buskirk<br />
2000). Bei Miesmuscheln (Mytilus edulis) wurde entdeckt, dass die Präsenz<br />
von räuberischen Krebsen zu einer Verdickung ihrer Schalen führt<br />
(Freeman u. Byers 2006).<br />
Auch auf der Räuberseite finden sich Beispiele für fein dosierte Anpassungen<br />
an lokale Bedürfnisse. Strumpfbandnattern (Thamnophis sirtalis)<br />
zeigen beispielsweise Resistenz gegen das Gift einer ihrer Beutearten:<br />
Molche der Gattung Taricha. Die Resistenz gegen das Gift der Molche variiert<br />
jedoch zwischen Populationen entlang der amerikanischen Westküste<br />
über drei Größenordnungen und ist an die jeweils lokale Stärke des Giftes<br />
angepasst (Geffeney et al. 2002). Die Anpassung der Nattern an dieses Risiko<br />
ist also auch mit Kosten verbunden und wird entsprechend sparsam<br />
eingesetzt.<br />
6.2 Räuberstrategien<br />
Ökologen klassifizieren mehrere Klassen von Tieren als Räuber (Tabelle<br />
6.1). Dazu zählen Räuber im engeren Sinn, die also ihre Beute töten und<br />
danach fressen und dies regelmäßig tun. Allerdings ernähren sich Parasiten
204 6 Prädation<br />
Tabelle 6.1. In der Ökologie werden drei Räubertypen unterschieden. Sie ernähren<br />
sich alle von ihrer Beute, unterscheiden sich aber darin, ob sie die Beute dabei töten<br />
und mit welcher Häufigkeit sie als Räuber auftreten<br />
Ernährung Töten Häufigkeit<br />
Räuber ja ja regelmäßig<br />
Parasiten ja nein einmal bis wenig<br />
Herbivore ja nein regelmäßig<br />
ebenfalls von ihrem Wirt, aber sie bringen sie im Normalfall nicht um und<br />
befallen oft nur wenige Wirte in ihrem Leben. Aus der Sicht von Pflanzen<br />
sind auch herbivore Tiere Räuber. Allerdings bringen sie die Pflanzen dabei<br />
in der Regel ebenfalls nicht um (Ausnahme: Samenräuber). Im Folgenden<br />
werde ich mich nur auf die eigentlichen Räuber konzentrieren.<br />
6.2.1 Ansitz- vs. Suchjäger<br />
Räuber haben zwei grundlegende Strategien, um ihre Beute zu finden. Ansitzjäger<br />
(sit-and-wait predators) verharren ruhig und teilweise gut getarnt<br />
an einer Stelle und lauern auf potentielle Beute. Ihr Erfolg beruht im Wesentlichen<br />
auf Überraschung der ahnungslosen Beute, die sie mit einem<br />
Blitzangriff überwältigen. Diese Strategie ist im Allgemeinen mit vergleichsweise<br />
geringem Aufwand verbunden. Räuber müssen nur einen<br />
möglichst profitablen Futterplatz suchen; ihre Suchkosten sind vernachlässigbar<br />
(Anderson u. Karasov 1981). Ihre Selektivität bei der Beutewahl<br />
kann bei entsprechend hoher Beutedichte hoch sein; andererseits sind diese<br />
Räuber darauf angewiesen, dass die richtige Beute in ausreichender Zahl<br />
zu ihnen kommt. Die schon erwähnte, Fettschwanzgeckos fressende Breitkopfotter<br />
(Hoplocephalus bungaroides) lauert beispielsweise Tage oder<br />
Wochen regungslos auf ihre Beute (Downes u. Shine 1998). Gelbe Kaiserlibellen<br />
(Hemianax papuensis) haben eine verblüffende Jagdstrategie entwickelt,<br />
die aus der Perspektive der Beute den Eindruck eines ruhenden<br />
Räubers erweckt. Die Libellen tarnen sich bei ihren Angriffen mit Hilfe ihrer<br />
Flugbewegungen und wählen dabei eine Flugbahn, durch die auf der<br />
Retina der Beute der Eindruck eines stationären Objekts entsteht – in<br />
Wirklichkeit ist aber genau das Gegenteil der Fall (Mizutani et al. 2003).<br />
Andere Beispiele für Ansitzjäger finden sich unter anderem bei Netze
6.2 Räuberstrategien 205<br />
Abb. 6.4. Beispiele für Ansitzjäger. Eisvögel (Alcedo vintsioides) und Seidenspinnen<br />
(Nephila inaurata) lauern ihren Opfern auf<br />
bauenden Spinnen, Ameisenlöwen, Libellenlarven, Hechten, Anglerfischen,<br />
Reihern, Eisvögeln, manchen Greifvögeln sowie zahlreichen Reptilien<br />
(Abb. 6.4). Letztere haben den Vorteil, dass sie aufgrund ihrer geringen<br />
Stoffwechselraten ausdauernd lauern können, ohne allzu viele Kosten<br />
des Wartens zu akkumulieren.<br />
Die alternative Strategie besteht darin, dass ein Räuber aktiv nach Beute<br />
sucht. Dadurch erhöhen sich Suchaufwand und Auffälligkeit, aber auch die<br />
Begegnungsrate mit potentieller Beute. Diese Suchjäger haben oft ein<br />
spezifisches Suchmuster ihrer Beute sowie besonders leistungsfähige Sinne,<br />
die bei der Suche zum Einsatz kommen. Wenn sie eine Beute aus der<br />
Ferne entdeckt haben, setzen sie zu einer Verfolgungsjagd an, in deren<br />
Verlauf die Beute gegebenenfalls erlegt wird. Welse (Silurus glanis) können<br />
beispielsweise die Turbulenzen ihrer Beutefische über eine Distanz<br />
von mehr als 50 Körperlängen der Beute detektieren und verfolgen (Pohlmann<br />
et al. 2001). Bei der Auswahl der Beute, die sie angreifen, können<br />
suchende Räuber eine gewisse Selektivität an den Tag legen, wenn es<br />
große Unterschiede zwischen Beutearten oder -typen in Bezug auf den<br />
zu erwartenden durchschnittlichen Aufwand bei deren Bearbeitung gibt<br />
( Kap. 5.3). Diese Strategie verfolgen unter anderem zahlreiche Raubfische,<br />
insektivore Vögel, Fledermäuse sowie Löwen und Tüpfelhyänen. Bei<br />
Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) erfolgen als Anpassung an Gebiete mit<br />
unterschiedlicher Beuteprofitabilität sogar weiträumige Bewegungen, die<br />
Vorhersagen der ideal freien Verteilung entsprechen (Höner et al. 2005;<br />
Kap. 5.4).
206 6 Prädation<br />
6.2.2 Solitäre vs. Gruppenjäger<br />
Neben der Unterscheidung zwischen den beiden Jagdstrategien, die bei<br />
manchen Arten auch als flexible alternative Taktiken ( Kap. 1.4) eingesetzt<br />
werden, kann man Räuber auch dahingehend klassifizieren, ob sie<br />
Box 6.1<br />
Kosten-Nutzen-Analyse der gemeinsamen Jagd<br />
• Frage: Hat die gemeinsame Jagd, im Vergleich zur solitären Jagd, einen<br />
Netto-Vorteil für die betreffenden Individuen?<br />
• Hintergrund: Gemeinsame Jagd von Karnivoren hat einen von der<br />
Gruppengröße abhängigen positiven Effekt auf den Jagderfolg. Allerdings<br />
wurden dabei die Kosten des Teilens und des möglichen zusätzlichen Aufwandes<br />
(häufigere oder längere Jagd) in größeren Gruppen nicht berücksichtigt.<br />
• Methode: Der Jagderfolg von Wildhunden (Lycaon pictus), deren Anzahl<br />
adulter Gruppenmitglieder zwischen 3 und 20 variierte, wurde bei über<br />
900 Jagdepisoden gemessen. Zur Abschätzung der Kosten wurde der Pro-<br />
Kopf-Jagderfolg aller Gruppenmitglieder, die Gesamtzahl aller Jagdereignisse<br />
sowie deren Dauer bestimmt.<br />
8<br />
Jagderfolg<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
4 8 12 16 20<br />
Anzahl adulter Tiere<br />
• Ergebnis: Jagderfolg, gemessen als Pro-Kopf-Menge an Nahrung per km<br />
Jagd, steht in einem umgekehrt U-förmigen Zusammenhang mit der Anzahl<br />
der Jäger. Individuen in kleinen und sehr großen Gruppen haben einen<br />
geringeren Pro-Kopf-Jagderfolg als Tiere in mittelgroßen Gruppen.<br />
Gruppen dieser mittleren Größe treten auch am häufigsten auf.<br />
• Schlussfolgerung: Die Berücksichtigung von Kosten und Nutzen des gemeinsamen<br />
Jagens fördert die Bildung von Gruppen. Gemeinsame Jagd ist<br />
hier vorteilhafter als alleine auf die Jagd zu gehen.<br />
Creel u. Creel 1995
6.2 Räuberstrategien 207<br />
alleine oder in Gruppen jagen. Wenn sich mehrere Räuber zusammentun,<br />
sind sie für die Beutetiere auffälliger, haben möglicherweise längere Suchstrecken<br />
und -zeiten und müssen die Beute unter sich aufteilen, so dass der<br />
Pro-Kopf-Erfolg, gemessen am Aufwand, geringer sein kann als bei solitär<br />
jagenden Individuen (Creel u. MacDonald 1995).<br />
Da sich trotz dieser Nachteile mehrfach in Gruppen lebende Räuber<br />
entwickelt haben, muss es auch Vorteile der gemeinsamen Jagd geben,<br />
die diese Nachteile mehr als wettmachen. So wird durch kooperative Jagd<br />
die Erfolgsquote der Angriffe erhöht; zwei oder noch mehr Räuber haben<br />
oft eine größere Chance, eine Beute zu erlegen, als einer alleine. Zudem<br />
können mehrere Räuber auch Beutetiere überwältigen, die für einzelne<br />
Räuber zu groß oder zu wehrhaft wären. Mehrere Räuber können sich auch<br />
strategisch platzieren und durch koordinierte Aktionen Beute aufeinander<br />
zutreiben. Schließlich stellt das Gruppenleben für diese Räuber auch eine<br />
Art Versicherung dar, da erfolglose Tiere eine Chance haben, am Erfolg<br />
ihrer Artgenossen teilzuhaben. Diese Vorteile wurden vorwiegend an großen<br />
Karnivoren wie Löwen (Leo panthera) und Wildhunden (Lycaon pictus:<br />
Packer et al. 1990), aber auch bei Schimpansen (Pan troglodytes:<br />
Boesch 1994) dokumentiert.<br />
6.2.3 Giftige Räuber<br />
Neben diesen allgemeinen Strategien haben verschiedene Räuber auch<br />
spezifische Anpassungen zur Erhöhung ihrer Jagdeffektivität entwickelt.<br />
Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die mehrfach unabhängige<br />
Entwicklung von Giften und anderen spezifischen Mechanismen,<br />
die zur Immobilisierung von Beutetieren eingesetzt werden. So finden<br />
sich bei Nesseltieren (Hydrozoa und Anthozoa) Nematozysten, die<br />
Klebe-, Wickelfäden oder Toxine enthalten. Dieser Mechanismus des Beutefangs,<br />
der vor allem bei Seeanemonen weit verbreitet ist, kann auch, wie<br />
z. B. von Quallen, zur Abwehr von Angreifern eingesetzt werden. Das<br />
stärkste bekannte Gift im Tierreich überhaupt findet sich bei Würfelquallen<br />
(Chironex fleckeri).<br />
Bei terrestrischen Arten finden sich ebenfalls Giftapparate zur Überwältigung<br />
von Beute bei Spinnen, Skorpionen, Eidechsen und Schlangen (Fry<br />
et al. 2006). Giftspinnen können ihre mit Giftdrüsen verbundenen Cheliceren<br />
sowohl offensiv als auch defensiv einsetzen. Die stärksten Spinnengifte<br />
finden sich bei australischen Tunnelspinnen (Atrax spp.) und südamerikanischen<br />
Kammspinnen (Phoneutria spp.). Skorpione ergreifen ihre<br />
Beute mit ihren Cheliceren und manche Arten setzen zusätzlich ihren am<br />
Postabdomen befindlichen Giftstachel ein, der dabei über den Körper nach
208 6 Prädation<br />
vorne geschleudert wird. Giftnattern (Elapidae), Vipern (Viperidae), Grubenottern<br />
(Crotalidae) und Seeschlangen (Hydrophiidae) injizieren mit ihren<br />
Giftzähnen Neuro- und Cardiotoxine zusammen mit verschiedenen Enzymen,<br />
um ihre Beute zu lähmen oder zu töten; sie können sich damit aber<br />
auch gegen Angreifer zur Wehr setzen.<br />
6.3 Beutestrategien<br />
Die Mehrzahl aller Tierarten lebt mit der permanenten Bedrohung, gefressen<br />
zu werden. Prädation ist deshalb die wichtigste Ursache extrinsischer<br />
Mortalität und macht die Chancen der Beutetiere zunichte, ihre individuelle<br />
Fitness zu verbessern. Es gibt daher einen starken Selektionsdruck<br />
darauf, dieses Mortalitätsrisiko zu senken. Jedes Individuum, das infolge<br />
einer Verbesserung eines winzigen Aspekts seiner Physiologie, Morphologie<br />
oder seines Verhaltens von einem Räuber schwieriger zu entdecken<br />
oder zu erlegen ist, hat aufgrund der damit verbundenen verbesserten<br />
Überlebenswahrscheinlichkeit die Chance gewahrt, sich fortzupflanzen<br />
und die genetischen Grundlagen dieses Vorteils in die nächste Generation<br />
weiterzugeben. Aufgrund der evolutionären Bedeutung und ubiquitären<br />
Natur des Prädationsrisikos haben sich im Kontext der Räubervermeidung<br />
bei Beutearten aus unterschiedlichsten taxonomischen Gruppen durch<br />
konvergente Evolution mehrfach unabhängig ähnliche Anpassungen entwickelt.<br />
Diese Anpassungen der potentiellen Beutetiere sind stark auf die Jagdstrategien<br />
der jeweiligen wichtigsten Räuber zugeschnitten, aber teilweise<br />
durch anatomische, physiologische und ökologische Zwänge eingeschränkt<br />
(Ajie et al. 2007). Das Prädationsrisiko muss auch gegen die<br />
Notwendigkeiten des eigenen Nahrungserwerbs abgewogen werden (Searle<br />
et al. 2008). Zusätzlich kompromittiert werden diese Anpassungen in<br />
manchen Fällen dadurch, dass eine Art zwar räuberisch lebt, gleichzeitig<br />
aber auch selbst einem permanenten Prädationsrisiko ausgesetzt ist. Gehöckerte<br />
Krabbenspinnen (Thomisus onustus) leben beispielsweise in Blütenständen,<br />
wo sie Blüten besuchenden Insekten auflauern, aber auch<br />
selbst von Vögeln erbeutet werden. In verschiedenen Blüten nehmen die<br />
Spinnen deren Färbungen an, so dass sie jeweils für ihre Beute und Räuber<br />
schlecht sichtbar sind (Théry u. Casas 2002). Ähnlich ergeht es auch vielen<br />
einheimischen insektivoren Singvögeln, die ständig davon bedroht sind,<br />
selbst von Greifvögeln oder Raubsäugern gefressen zu werden. Ihre Anpassungen<br />
sowohl als Räuber als auch als Beute können daher suboptimal<br />
sein, da sie zum Teil nicht miteinander vereinbar sind.
6.3 Beutestrategien 209<br />
6.3.1 Krypsis<br />
Der simpelste und effektivste Mechanismus zur Reduktion des Prädationsrisikos<br />
besteht darin, möglichst kryptisch zu sein, d. h. durch unauffälliges<br />
Aussehen und Verhalten erst gar nicht die Aufmerksamkeit eines Räubers<br />
zu erregen (Broom u. Ruxton 2005). Das Unsichtbarmachen von Tieren,<br />
die sich vor visuell suchenden Räubern schützen, kann auf mehreren Wegen<br />
erfolgen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, sich mit verschiedenen<br />
Pflanzenteilen oder anderen Objekten, die im Lebensraum der Beute weit<br />
verbreitet sind, zu dekorieren und sich durch Dekoration vor Entdeckung<br />
zu schützen. Weiter verbreitet sind morphologische Anpassungen, welche<br />
die Form und Färbung des Körpers des betreffenden Tieres betreffen. Vor<br />
allem bei Wirbellosen finden sich zahlreiche Beispiele für eine solche<br />
Mimese, also die Nachahmung von unbelebten Objekten der Umgebung<br />
wie Steinen, Blättern oder Ästchen. Stabheuschrecken (Phasmatodea) liefern<br />
spektakuläre Beispiele dafür, dass so getarnte Tiere gar nicht als etwas<br />
Lebendiges oder Fressbares erkannt werden. Diese ungewöhnlichen Körperformen<br />
werden oft zusätzlich durch die entsprechende Färbung in ihrem<br />
Tarneffekt unterstützt.<br />
In vielen Fällen sind aufgrund funktionaler Zwänge bizarre Mimesen<br />
aber nicht möglich, und die Tarnung wird allein durch Färbung herbeigeführt.<br />
Dabei gibt es neben Tarnmustern, die zum Beispiel mit Schnee, einem<br />
Sand- oder Blätterhintergrund komplett verschmelzen, auch andere<br />
Möglichkeiten, der Aufmerksamkeit visuell jagender Räuber zu entgehen<br />
(Abb. 6.5). Punkt- und Streifenmuster sowie betonte Färbungen an der<br />
Peripherie lösen Kontraste auf und erschweren das Entdecken (Cuthill et al.<br />
2005), wobei der Struktur des Hintergrundes eine wichtige Bedeutung zukommt<br />
(Merilaita u. Lind 2005). Manche Tiere wie Tintenfische (Cole-<br />
Abb. 6.5. Der Teichfrosch<br />
(Rana esculenta)<br />
ist durch Farbe und Form<br />
perfekt getarnt
210 6 Prädation<br />
oidea) oder Chamäleons (Chamaeleonidae) können sich aktiv an die Farbe<br />
des Hintergrundes anpassen. Andere kryptisch gefärbte Tiere (v. a. Motten)<br />
existieren in mehreren Varianten von Farb- und Musterkombinationen.<br />
Dieser Polymorphismus könnte seine Ursache darin haben, dass sich Räuber<br />
auf den häufigsten Typ konzentrieren und es dadurch zu frequenzabhängiger<br />
Selektion kommt (Bond u. Kamil 2002).<br />
Eine andere Lösung haben viele Bewohner von dreidimensionalen Lebensräumen<br />
gefunden, die durch Konterschattierung (counter shading),<br />
also mit ihrem dunklen Rücken von oben gegen einen dunklen Untergrund<br />
und von unten mit ihrem hellen Bauch gegen den hellen Himmel, schwieriger<br />
zu erkennen sind (Speed et al. 2005). Auch manche Paarhufer (Artiodactyla)<br />
besitzen Felle mit Konterschattierungen und anderen Färbungsmustern,<br />
die bei der Tarnung eine Rolle spielen (Stoner et al. 2003).<br />
6.3.2 Aposematismus<br />
Einen komplett gegensätzlichen Weg haben Tiere beschritten, die durch<br />
auffällige Warnfärbungen auf sich aufmerksam machen. Sie signalisieren<br />
potentiellen Räubern damit nicht nur ihre Präsenz, sondern auch ihre Ungenießbarkeit<br />
oder Wehrhaftigkeit. So auffällig gefärbte Tiere besitzen<br />
eine aktive oder passive Wehrhaftigkeit, d. h. sie enthalten entweder Inhaltsstoffe,<br />
die sie übel schmeckend, ungenießbar oder sogar giftig machen,<br />
oder sie besitzen Giftstacheln oder andere aktive Abwehrmechanismen,<br />
so dass den Räubern ein einziges entsprechendes Erlebnis genügt, um<br />
den Zusammenhang zwischen Warnfärbung und Ungenießbarkeit zu lernen<br />
und eine lebenslängliche Aversion gegen diese Tiere zu entwickeln.<br />
Beispiele für aposematische Färbung finden sich im ganzen Tierreich.<br />
Bei vielen Hymenopteren ist der Legestachel der sterilen Arbeiterinnen in<br />
einen Giftapparat umgewandelt, mit dem sie Angreifern schmerzhafte Stiche<br />
zufügen können. Die Warnfärbung besteht hier in einem charakteristischen<br />
schwarz-gelben Streifenmuster am Abdomen. Solche Farb- und<br />
Luminanzkontraste spielen auch bei anderen Mustern eine wichtige Rolle<br />
bei der Wahrnehmung durch die Räuber (Prudic et al. 2006). Die vielleicht<br />
größte Diversität an Warnmustern und auffälligen Körperanhängen überhaupt<br />
existiert bei Schmetterlingsraupen (Abb. 6.6). Skorpionsfische<br />
(Scorpaeniformes), Kugelfische (Tetradontidae), Muränen (Murenidae),<br />
Pfeilgiftfrösche (Dendrobatidae) und manche Kröten (z. B. Bufo spp.),<br />
Seegurken (Holothuridae), Schnecken (z. B. Babylonia spp.) und ein Säugetier<br />
(Nycticebus coucang) enthalten starke passive Gifte auf der Haut, im<br />
Blut, Speichel oder im ganzen Körper verteilt, die einen Räuber ab-
6.3 Beutestrategien 211<br />
Abb. 6.6. Viele Schmetterlingsraupen<br />
signalisieren ihre Wehrhaftigkeit<br />
und Ungenießbarkeit<br />
– ein Paradebeispiel für<br />
Aposematismus<br />
schrecken oder sogar töten können. Die meisten von ihnen sind ebenfalls<br />
durch auffällige Warnfarben und -muster als gefährlich zu erkennen.<br />
Für diejenigen Individuen, die zum Lernerfolg eines naiven Räubers<br />
beitragen, bringt diese Form der Verteidigung keinen Vorteil. Ganz im<br />
Gegenteil: Sie werden möglicherweise verletzt oder sogar gefressen und<br />
letztendlich profitieren nur die anderen Artgenossen, denen dieser Räuber<br />
im Laufe seines Lebens noch begegnet. Hieraus ergibt sich ein fundamentales<br />
evolutionäres Problem. Wenn ein Warnsignal einmal in einer Population<br />
verbreitet ist, kann seine Beibehaltung erklärt werden, da die genannten<br />
Kosten über viele Individuen verteilt werden und das individuelle<br />
Risiko, als Lernmodell für einen naiven Räuber zu dienen, gering ist<br />
(Speed u. Ruxton 2005). Wenn ein solches Warnsignal aber durch Mutation<br />
neu auftritt, ist dieses Merkmal zunächst einmal selten und die betroffenen<br />
Individuen sind auffälliger als ihre kryptischen Artgenossen, so dass<br />
sich die Frage stellt, wie sich ein aposematisches Merkmal im Laufe der<br />
Evolution zunächst in einer Population ausbreiten konnte.<br />
Bisherige Versuche, die Evolution von Aposematismus zu klären, gehen<br />
von unterschiedlichen Annahmen über die relative Bedeutung der beteiligten<br />
Räuber- und Beutemerkmale aus. Zum einen spricht manches dafür,<br />
dass Räuber ungenießbare oder giftige Beute besser vermeiden lernen,<br />
wenn diese auffällig gefärbt ist, da sie bereits existierende sensorische<br />
Neigungen der Räuber anspricht. Zudem besitzen manche Räuber eine<br />
Hemmung, unbekannte Nahrung aufzunehmen (Lindström et al. 2001),<br />
oder eine angeborene Vermeidung auffällig gefärbter Beute (Exnerova et al.<br />
2007), was den neuen, auffälligen Beutetypen zugute kommen könnte.<br />
Wenn man andererseits davon ausgeht, dass die beiden Merkmale „Warnfärbung“<br />
und „Ungenießbarkeit“ unabhängig variieren, zeigen Modellierungen,<br />
dass Aposematismus schnell zu einem verlässlichen Wahrschein-
212 6 Prädation<br />
lichkeitsindikator der Ungenießbarkeit wird, wenn man zusätzlich annimmt,<br />
dass das Verhalten des Räubers mit der Beute koevolviert und<br />
nicht durch präexistierende sensorische Neigungen fixiert ist (Sherratt<br />
2002). Da Aposematismus sich verschiedener Modalitäten bedient und zudem<br />
auf Räuber aus unterschiedlichsten Taxa wirkt, erscheint es unwahrscheinlich,<br />
dass alle Räuber dieselben präexistierenden sensorischen Neigungen<br />
besitzen.<br />
Wie und wie häufig ungenießbare und auffällige Individuen neu entstehen,<br />
ist noch weitgehend ungeklärt. Eine Erklärung für die Evolution von<br />
Aposematismus könnte darin bestehen, dass ungenießbare Tiere in niedrigen<br />
Dichten kryptisch sind und erst bei höheren Dichten Warnfärbungen<br />
ausbilden (Sword 1999). Alternative Erklärungsmodelle basieren auf der<br />
Beobachtung, dass aposematische Schmetterlingsraupen oft in größeren<br />
Aggregationen vorkommen, welche vermutlich zum Großteil aus Geschwistern<br />
bestehen. In diesem Fall hätten aposematische Mutanten eine<br />
Chance sich auszubreiten, weil die Kosten der Opfer durch Verwandtenselektion<br />
( Kap. 1.5) abgemildert werden (Fisher 1930). Allerdings sind<br />
zwar die meisten in Gruppen vorkommenden Schmetterlingsraupen aposematisch,<br />
aber nicht alle aposematischen Arten sind auch gruppenbildend.<br />
Außerdem gibt es theoretische Hinweise dafür, dass sich aposematische<br />
Mutationen auch in solitären Arten aufgrund von dichteabhängigen Anpassungen<br />
der Lernprozesse der Räuber ausbreiten können (Yachi u. Higashi<br />
1998). Schließlich gibt es experimentelle Hinweise aus einem künstlichen<br />
System (präparierte Mandelstücke) mit naiven Räubern (Kohlmeisen) dafür,<br />
dass die Ausbreitung von aposematischen Merkmalen in Gruppen tatsächlich<br />
gefördert wird, und zwar sowohl durch Lernprozesse der Räuber<br />
als auch durch Verdünnungseffekte bei der Beute, ohne dass Verwandtenselektion<br />
zur Erklärung herangezogen werden muss (Riipi et al. 2001).<br />
Dass im Laufe der Evolution nicht viel mehr Beutearten aposematische<br />
Merkmale entwickelt haben, liegt vermutlich daran, dass diese Form der<br />
Verteidigung nicht nur zu Beginn ihrer Evolution mit beträchtlichen<br />
Kosten verbunden ist, sondern dass auch die Produktion und sichere Lagerung<br />
des chemischen Abwehrstoffes aufwändig ist. Manche Abwehrstoffe<br />
werden aus der Nahrung aufgenommen und müssen nicht selbst hergestellt<br />
werden. Andere Schutz- und Verteidigungsstoffe werden dagegen selbst<br />
produziert. Da alle diese Stoffe eine schädliche physiologische Wirkung<br />
haben, müssen die betreffenden Tiere selbst über aufwändige physiologische<br />
Mechanismen verfügen, um diesen Stoff im eigenen Körper unschädlich<br />
zu lagern.
6.3 Beutestrategien 213<br />
6.3.3 Mimikry<br />
Die Überlegung, dass echte Wehrhaftigkeit durch ihre Kosten auf relativ<br />
wenige Arten beschränkt bleibt, wird dadurch unterstützt, dass es zahlreiche<br />
Arten gibt, welche die auffällige Warnfärbung von wehrhaften Arten<br />
besitzen, aber völlig harmlos und genießbar sind (s. aber auch Box 6.2).<br />
Dabei handelt es sich um Fälle von Bates’scher Mimikry. Schwebfliegen<br />
(Syrphidae) ahmen zum Beispiel das auffällige schwarz-gelbe Streifenmuster<br />
von Bienen und Wespen nach und können daher mit diesen verwechselt<br />
werden (Abb. 6.7). Bei der Müller’schen Mimikry ähneln sich<br />
dagegen zwei wehrhafte oder ungenießbare Arten zum Verwechseln, so<br />
dass sie durch mutualistische Abschreckung des Räubers gegenseitig ihren<br />
Schutz verbessern; ein Räuber, der ein ungenießbares Individuum der Art<br />
A gefressen hat, wird in Zukunft auch die ähnlich aussehende Art B vermeiden.<br />
Ein bekanntes Beispiel stammt von Feuerwanzen (Pyrrhocoridea),<br />
die durch giftige Drüsensekrete geschützt sind und auffällig rot-schwarz<br />
gemustert sind. Diese Nachahmung kann in beiden Fällen neben faszinierender<br />
äußerer Ähnlichkeit mit einer anderen Art sogar deren arttypische<br />
Verhaltensmuster mit einschließen, so dass die Verwechslungsgefahr für<br />
die Räuber noch weiter zunimmt. Der gegenseitige Schutz funktioniert<br />
auch wenn die beteiligten Arten sich im Ausmaß ihrer Ungenießbarkeit unterscheiden<br />
(Rowland et al. 2007). Wenn es innerhalb einer wehrhaften Art<br />
auch Individuen mit reduzierter Wehrhaftigkeit gibt, spricht man von Automimikry<br />
(Ruxton u. Speed 2006).<br />
Die meisten Beispiele für beide Formen von Mimikry stammen von tropischen<br />
Schmetterlingen (Joron u. Mallet 1998), bei denen auch die Schritte<br />
bei der Evolution von Mimikry am besten untersucht sind. Besonders<br />
Abb. 6.7. Schwebfliegen (links) stellen das bekannteste einheimische Beispiel für<br />
Bates’sche Mimikry dar; sie imitieren wehrhafte Bienen (rechts) und Wespen,<br />
sind aber selbst harmlos
214 6 Prädation<br />
Box 6.2<br />
Akustische Mimikry<br />
• Frage: Kann Mimikry auch über andere Modalitäten vermittelt werden?<br />
• Hintergrund: Beispiele für akustische Mimikry sind bislang nur anekdotenhaft<br />
bekannt. Tigerspinner (Cycnia tenera) und Oleanderbärenspinner<br />
(Syntomeida epilais) sind ungenießbare Motten, die bei der Wahrnehmung<br />
von Ortungslauten von Fledermäusen selbst Laute produzieren.<br />
• Methode: 7 naive Fledermäuse (Lasiurus borealis und Eptesicus fuscus)<br />
wurden darauf trainiert, an Fäden fixierte Motten zu „jagen“. Neben verschiedenen<br />
genießbaren Arten, die keine Laute erzeugen, wurden an den<br />
ersten 5 Tagen des Versuchs auch Tigerspinner angeboten. Ab dem 6. Tag<br />
wurden stattdessen Oleanderbärenspinner präsentiert. Für die Präsentation<br />
am 11. Tag wurden den Oleanderbärenspinnern die lauterzeugenden<br />
Tymbalorgane entfernt. In allen Versuchen wurde der Anteil der von den<br />
Fledermäusen „gefangenen“ Motten bestimmt.<br />
• Ergebnis: In allen Versuchen wurden von beiden Fledermausarten praktisch<br />
alle genießbaren Motten gefressen (gestrichelte Linien). Am 5. Tag<br />
hatten alle Individuen beider Arten gelernt, die ungenießbaren Tigerspinner<br />
zu meiden (* signifikanter Unterschied zwischen Tag 1 und 5). Die<br />
daraufhin angebotenen Oleanderbärenspinner wurden ebenfalls durchgängig<br />
gemieden. Wenn diesen die Lautproduktion nicht mehr möglich war<br />
(Tag 11), wurden alle gefangen, aber anschließend nicht gefressen (* signifikanter<br />
Unterschied zwischen Tag 10 und 11).<br />
• Schlussfolgerung: Die Tatsache, dass Oleanderbärenspinner von in Bezug<br />
auf diese Art naiven Fledermäusen ebenfalls gemieden wurden, beweist<br />
die Existenz von Müller’scher Mimikry. Das Experiment mit stummen<br />
Beutetieren beweist, dass das akustische Signal dafür verantwortlich<br />
ist.<br />
Barber u. Conner 2007
6.3 Beutestrategien 215<br />
im Fall von Bates’scher Mimikry stellt sich aber die Frage, wie eine ungeschützte<br />
Art ihren Phänotyp so stark an eine andere Art anpassen kann,<br />
dass sie miteinander verwechselt werden können. Dass Mimikry tatsächlich<br />
einen evolutionären Vorteil bietet, ist in zahlreichen Wahlexperimenten<br />
mit Schmetterlingen und Vögeln gezeigt worden (z. B. Kapan 2001).<br />
Die Bedeutung dieses Selektionsvorteils erschließt sich auch aus der Beobachtung,<br />
dass eine nachahmende Schmetterlingsart in Gebieten, in denen<br />
das wehrhafte Modell nicht (mehr) vorkommt, zur ursprünglichen, unauffälligen<br />
Form zurückwechselt (Prudic u. Oliver 2008).<br />
Das evolutionäre Problem ist, ähnlich wie beim Aposematismus, der Ursprung<br />
der Ähnlichkeit. Wenn ein Individuum einer ungeschützten Art einer<br />
geschützten Art nur etwas, aber eben nicht komplett ähnlich sieht, ist<br />
es nur auffälliger und nicht geschützt, so dass sich solche Mutationen eigentlich<br />
nicht leicht ausbreiten können. Bei Schmetterlingen gibt es Hinweise<br />
für zwei Lösungen dieses Problems. Zum einen ergibt sich aufgrund<br />
der Annäherung zwischen dem Aussehen der beiden Arten keine zusätzliche<br />
Auffälligkeit, weil alle Arten schon vorher auffällig waren. Zum<br />
anderen gibt es Hinweise dafür, dass durch kleine Mutationen von Genen,<br />
welche die Entwicklung der Flügelmuster steuern, sehr große Veränderungen<br />
möglich sind, so dass es auf einen Schlag zu einer starken Annäherung<br />
zwischen den Mustern zweier Arten kommt (Beldade u. Brakefield 2002).<br />
Experimente mit Modellen, die einem giftigen Pufferfisch (Canthigaster<br />
valentini) unterschiedlich stark ähneln, haben schließlich gezeigt, dass<br />
selbst sehr unähnliche Modelle noch von räuberischen Fischen gemieden<br />
werden und dass so durch das Verhalten der Räuber ein breiter Schutzschirm<br />
für ungiftige Arten entsteht (Caley u. Schluter 2003). Die Erfahrungen<br />
des Räubers können auch ausschlaggebend dafür sein, welchem<br />
von mehreren verfügbaren Modellen sich eine nicht wehrhafte Art angleicht<br />
(Darst u. Cummings 2006).<br />
6.3.4 Wehrhaftigkeit<br />
Neben Aposematismus und Mimikry gibt es noch andere effektive Formen<br />
der Wehrhaftigkeit bei Tieren. Bei manchen Arten ohne chemischen<br />
Schutz sind Warnsignale entstanden, die diese Tiere nicht unbedingt auffälliger<br />
machen, sondern einen Angreifer auf kurze Distanz erschrecken<br />
oder verwirren sollen. Diese Signale bestehen beispielsweise aus Flecken,<br />
die als Augen eines viel größeren Tieres interpretiert werden können. Solche<br />
Augenflecken befinden sich auch manchmal am kaudalen Ende eines<br />
Tieres, so dass ein Räuber vom Zugriff auf den empfindlichen Kopf abgelenkt<br />
wird. Manche Reptilien und Wirbellose sind auch in der Lage, ihren
216 6 Prädation<br />
von einem Räuber ergriffenen Schwanz oder andere Körperteile abzustoßen<br />
(Autotomie) und sich so im letzten Moment doch noch vor einem<br />
verwirrten Räuber in Sicherheit zu bringen (Cooper 2003).<br />
Im Laufe der Evolution sind auch aktive chemische Verteidigungsmechanismen<br />
entstanden, die nicht primär auf Ungenießbarkeit basieren,<br />
sondern einen Räuber schon vor dem Zugriff abschrecken sollen. Diese<br />
Abschreckung besteht darin, in Interaktionen mit Räubern ätzende, irritierende<br />
oder übelriechende Substanzen abzugeben, die den Räuber zum Abbruch<br />
des Angriffs veranlassen. Wanzen, Tintenfische und Stinktiere liefern<br />
bekannte Beispiele für diese Form der Verteidigung. Des Weiteren<br />
gibt es auch giftige Beutetiere, die dies nicht durch auffällige Signale<br />
kundtun. In einem dieser Räuber-Beute-Systeme wurde ein darauf basierendes<br />
evolutionäres Wettrennen bis hin zu den zugrunde liegenden physiologischen<br />
Mechanismen entschlüsselt. Molche der Gattung Taricha enthalten<br />
ein Muskeln und Nerven lähmendes Gift, gegen das ihre Räuber<br />
(Strumpfbandnattern, Thamnophis sirtalis) in verschiedenen Populationen<br />
unterschiedlich starke Resistenzen entwickelt haben (Geffeney et al.<br />
2002); ein Beispiel, das zeigt, wie zwei Arten in verschiedenen Regionen<br />
aktuell in unterschiedlichen Phasen ihres evolutionären Räuber-Beute-<br />
Wettrennens stehen.<br />
Andere Tierarten sind mechanisch vor Räubern geschützt, indem sie<br />
sich mit einer harten oder stacheligen Oberfläche versehen, die es Räubern<br />
schwer oder unmöglich macht, durch diesen Panzer lebenswichtige Organe<br />
zu verletzen. Schuppen- und Gürteltiere, Stachelschweine und diverse Insektivoren<br />
liefern bekannte, unabhängig entstandene Säugetier-Beispiele<br />
für diese Strategie. Viele Schnecken, Muscheln, Seeigel und manche Krebse<br />
sind bekanntlich durch ihre Häuser oder Schalen vor dem Zugriff ihrer<br />
Räuber geschützt. Manche Beutetiere verteidigen sich auch mit Waffen<br />
und Verhaltensweisen, die ansonsten in innerartlichen Auseinandersetzungen<br />
eingesetzt werden. Sie können beißen, treten, schlagen und sich mit<br />
Stacheln, Hörnern, Geweihen oder langen Zähnen wehren (Caro et al.<br />
2004). Vor allem wenn der Größenunterschied zwischen Räuber und Beute<br />
nicht allzu groß ist, kann diese Form der aktiven Gegenwehr mit erheblichen<br />
Risiken für den Angreifer verbunden sein.<br />
Schließlich ist von mehreren Vögeln und Säugetieren bekannt, dass sie<br />
auf einen Räuber zugehen und dabei durch lautes Rufen weitere potentielle<br />
Beutetiere anlocken. Bei diesem Hassen (mobbing) wird der Räuber solange<br />
verfolgt und mit Scheinangriffen attackiert, bis er unverrichteter<br />
Dinge weiterzieht (Curio 1978). Dabei können gegenüber verschiedenen<br />
Räubern unterschiedliche Verhaltensweisen und Alarmrufe eingesetzt werden<br />
(Naguib et al. 1999), wodurch sowohl andere Arten, die demselben
6.3 Beutestrategien 217<br />
Räuber ausgesetzt sind (Krama u. Krams 2005), als auch andere Räuber<br />
(Hurd 1996) angelockt werden.<br />
6.3.5 Wachsamkeit<br />
Tiere, die sich nicht auf chemischen oder mechanischen Schutz verlassen<br />
können, suchen ihr Heil in der Regel in der Flucht. Es gibt daher starke<br />
Selektion auf Beutetiere, die schneller laufen, fliegen oder schwimmen<br />
können als ihre Räuber. Dabei ist es oft vorteilhaft, sich durch unregelmäßige,<br />
unvorhersagbare Bewegungen dem finalen Zugriff zu entziehen.<br />
Solche Bewegungen, wie z. B. die unregelmäßigen Luftsprünge der Thomson-Gazelle<br />
(Gazella thomsonii), können dem Räuber schon vor dem Angriff<br />
signalisieren, dass die Beute schwer zu fangen ist oder, wenn mehrere<br />
Tiere dieses Verhalten zeigen, den Räuber so verwirren, dass er sich nicht<br />
auf eine Beute konzentrieren kann (Caro et al. 2004).<br />
Voraussetzung für eine erfolgreiche Flucht ist die rechtzeitige Entdeckung<br />
des Räubers. Vor allem für große Tiere oder in Gruppen lebende<br />
Arten, für die Krypsis nur bedingt möglich ist, bietet Wachsamkeit die<br />
Möglichkeit, Räuber möglichst früh zu entdecken und diesen entscheidenden<br />
Informationsvorteil zum Verstecken oder zur Flucht zu nutzen. Wachsamkeit<br />
der Beute kann auf allen Modalitäten basieren, die eine frühzeitige<br />
Entdeckung ermöglichen.<br />
Am besten untersucht ist visuelle Wachsamkeit (Vigilanz). Praktisch<br />
alle tagaktiven Tiere können davon profitieren, durch Absuchen ihres visuellen<br />
Horizontes sich nähernde Räuber möglichst früh zu erkennen (Bednekoff<br />
u. Lima 1998; Abb. 6.8). Wenn ein Räuber entdeckt wird, gibt<br />
Abb. 6.8. Ein wachsamer<br />
Pavian (Papio<br />
cynocephalus) kann aus<br />
erhöhter Warte Gefahren<br />
besser erkennen
218 6 Prädation<br />
es, je nachdem um welches Räuber-Beute-Paar es sich handelt, vier Möglichkeiten<br />
für den nächsten Schritt der Beute:<br />
1. kann die potentielle Beute den Räuber auf sich aufmerksam machen,<br />
möglicherweise auf ihn zugehen und ihn „mobben“, um zu signalisieren,<br />
dass er entdeckt wurde und dass kein Überraschungsangriff mehr möglich<br />
ist (Clark 2005);<br />
2. kann das Beutetier nur einen Warnruf ausstoßen, um damit Artgenossen,<br />
Mitglieder anderer Arten und den Räuber selbst über die Entdeckung zu<br />
informieren (siehe unten);<br />
3. kann der Entdecker „einfrieren“ und versuchen, sich möglichst gut und<br />
lange zu verstecken (Broom u. Ruxton 2005);<br />
4. kann das Individuum, welches einen sich nähernden Räuber entdeckt<br />
hat, sofort fliehen und sich gegebenenfalls an einem sicheren Ort verstecken.<br />
Wenn sich die Beute in ein Versteck zurückzieht und der Räuber<br />
davor wartet, stellt sich die interessante Frage, wie lange beide warten<br />
sollen, bevor sie wieder herauskommen bzw. weiterziehen (Hugie<br />
2003).<br />
Da alle diese Optionen mit Vorteilen für die potentielle Beute verbunden<br />
sind, ist die dafür notwendige Wachsamkeit weit verbreitet.<br />
Wachsamkeit hat aber auch ihre Kosten. In der Zeit, in der ein Tier nach<br />
Räubern Ausschau hält, kann es diese nicht mit anderen Aktivitäten<br />
verbringen, die ebenfalls seine Fitness beeinflussen – also zum Beispiel<br />
nach Nahrung oder Fortpflanzungspartnern suchen (Pulliam et al. 1982;<br />
Box 6.3). Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Häufigkeit von Wachsamkeitsverhalten<br />
in Abhängigkeit von mehreren Variablen moduliert<br />
wird, um diese Kosten zu verringern. Den wichtigsten Effekt hat dabei die<br />
Gruppengröße (Elgar 1989). Einzelne Tiere investieren deutlich mehr in<br />
Wachsamkeit als solche, die sich Wachsamkeit mit Gruppenmitgliedern<br />
teilen können. Vor allem bei kleinen Gruppengrößen nimmt dieser Vorteil<br />
relativ stark mit jedem weiteren Gruppenmitglied zu (Roberts 1996). Diese<br />
geteilte Wachsamkeit ist daher auch ein wichtiger Selektionsvorteil, der<br />
zusammen mit einem damit verbundenen Verdünnungseffekt (siehe unten)<br />
die Bildung von Gruppen gefördert hat. Bei größeren Gruppen ist nicht die<br />
Größe der Gesamtgruppe, sondern die der lokalen Gruppe Ausschlag gebend<br />
(Treves et al. 2001), was wiederum die Bedeutung des erwähnten<br />
Vorteils in kleinen Gruppen unterstreicht.<br />
Neben der Größe der Gruppe, in der sich ein Individuum befindet,<br />
bestimmen vor allem individuelle Merkmale wie Geschlecht, Alter und<br />
Sozialstatus Variation im Wachsamkeitsverhalten. So wurde mehrfach<br />
beobachtet, dass Männchen häufiger vigilant sind und Räuber früher er-
6.3 Beutestrategien 219<br />
Box 6.3<br />
Vorteile der geteilten Wachsamkeit<br />
• Frage: Hat die Präsenz eines Wachpostens positive Effekte auf das Fouragierverhalten<br />
von Elsterdrosslingen (Turdoides bicolor)?<br />
• Hintergrund: Elsterdrosslinge leben in Gruppen von bis zu 15 Individuen,<br />
die im Boden nach Nahrung suchen. Ca. 30% der Zeit positioniert sich ein<br />
Individuum für mehrere Minuten auf einer erhöhten Warte, wo es gegebenenfalls<br />
Alarmrufe gibt. Die jeweiligen Wachposten geben während ihrer<br />
„Schicht“ regelmäßig Wächterlaute (sentinel calls) von sich.<br />
• Methode: Gruppen von Elsterdrosslingen wurden in Phasen mit und ohne<br />
Wächter beobachtet. Dabei wurde u. a. der Abstand zwischen Individuen,<br />
ihr Wachsamkeitsverhalten sowie ihr Fouragiererfolg gemessen. Außerdem<br />
wurden in einem Playback-Experiment Wächterlaute abgespielt,<br />
wenn gerade kein Gruppenmitglied diese Funktion übernahm.<br />
Gruppenverteilung [m³]<br />
160<br />
120<br />
80<br />
40<br />
0<br />
(A)<br />
Kontrollrufe<br />
Wächterrufe<br />
% Individuen<br />
ohne Deckung<br />
0.6<br />
0.4<br />
0.2<br />
0<br />
(B)<br />
Anzahl Kopfhoch<br />
pro min<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
(C)<br />
% Zeit wachsam<br />
0.3<br />
0.2<br />
0.1<br />
0<br />
(D)<br />
% Zeit foragierend<br />
0.6<br />
0.4<br />
0.2<br />
0<br />
(E)<br />
Biomassen-Aufnahme<br />
[g/min]<br />
0.4<br />
0.3<br />
0.2<br />
0.1<br />
0<br />
(F)<br />
• Ergebnis: In Situationen mit natürlichen Wächtern und mit playbacks von<br />
Wächterrufen waren Individuen weiter verteilt (A), benutzten häufiger<br />
exponierte Stellen (B), waren selber seltener wachsam (C, D), fraßen nicht<br />
länger (E), hatten aber trotzdem höhere Futteraufnahmeraten (F) als in Situationen<br />
ohne Wächter oder während des Abspielens von Kontrollrufen.<br />
• Schlussfolgerung: Die geteilte Wachsamkeit verbessert den Fouragiererfolg<br />
von Gruppenmitgliedern, indem die Kosten der individuellen<br />
Wachsamkeit reduziert werden. Die Wächterrufe allein ermöglichen in<br />
diesem Fall, den verstreut in unübersichtlichem Terrain fouragierenden<br />
Artgenossen die Präsenz eines Wächters zu signalisieren.<br />
Hollén et al. 2008
220 6 Prädation<br />
kennen als Weibchen. Solche Geschlechtsunterschiede in der Wachsamkeit<br />
sind zu erwarten, wenn Weibchen mehr Zeit zum Fressen benötigen oder<br />
wenn Männchen ihre Wachsamkeit gleichsam als Dienstleistung für Gruppenmitgliedschaft<br />
oder Paarungsprivilegien anbieten (van Schaik u. van<br />
Noordwijk 1989). Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Weibchen wachsamer<br />
sind als Männchen (Pays u. Jarman 2008). Außerdem sind juvenile<br />
Tiere zumeist weniger wachsam als adulte Gruppenmitglieder, da sie mehr<br />
Zeit mit Nahrungssuche verbringen müssen (Arenz u. Leger 2000). Mütter<br />
und andere Erwachsene können dieses Risiko aber mit erhöhter Wachsamkeit<br />
kompensieren.<br />
Innerhalb von Gruppen stellt sich auch die Frage, ob Individuen ihre<br />
Vigilanz synchronisieren (sollten). Wenn alle Gruppenmitglieder unabhängig<br />
voneinander Ausschau nach Räubern halten, kann ein Räuber keine<br />
Regelmäßigkeit in diesem Verhalten zu seinen Gunsten ausnutzen (Scannell<br />
et al. 2001). Andererseits wäre es vorteilhaft, Wachsamkeit mit anderen<br />
Gruppenmitgliedern zu koordinieren, so dass zu jedem Zeitpunkt nur<br />
einer wachsam ist (Fernández-Juricic et al. 2004). Dies scheint aber nur bei<br />
Arten mit Alarmrufen zu gelten, bei denen nicht wachsame Tiere Räuber<br />
nur schwer entdecken können (z. B. Erdmännchen, Suricata suricatta:<br />
Manser 1999). Bei anderen Arten, wie beispielsweise Wasserböcken (Kobus<br />
ellipsiprymnus), ist dagegen die Wachsamkeit innerhalb einer Gruppe<br />
synchronisiert; vermutlich weil sie eine Tendenz haben, das jeweilige Verhalten<br />
ihres Nachbarn zu kopieren (Pays et al. 2007).<br />
Neben der visuellen Vigilanz gibt es auch Wachsamkeit in anderen<br />
Modalitäten. Nachtfalter nehmen zum Beispiel die Ortungsrufe Nahrung<br />
suchender Fledermäuse schon aus der Distanz wahr und manche von ihnen<br />
besitzen einen Reflex, der ihren Flügelschlag aus dem Rhythmus und sie<br />
dadurch ins Trudeln bringt, wodurch sie auf der resultierenden unregelmäßigen<br />
Flugbahn von den Fledermäusen viel schwieriger zu fangen sind.<br />
(Acharya u. McNeil 1998; Box 6.2). In aquatischen Lebensräumen spielen<br />
olfaktorische Reize, die von Räubern ausgehen, eine wichtige Rolle bei<br />
deren Früherkennung durch die Beute. So reagieren Fische und Amphibienlarven<br />
allein auf die Präsenz chemischer Signale des Räubers mit<br />
adaptiven Verhaltensänderungen, z. B. in Form von reduzierter Aktivität<br />
(Hartman u. Abrahams 2000). Auch züngelnde Schlangen können Geruchsinformationen<br />
über Räuber in ihrer Umgebung mit dem Jakobson’schen<br />
Organ aufnehmen (Miller u. Gutzke 1999). Säugetiere können<br />
Aufenthaltsorte ihrer Räuber olfaktorisch erkennen und vermeiden diese<br />
Gebiete. Interessanterweise findet sich diese Fähigkeit einerseits bei Kängurupopulationen,<br />
die seit Tausenden von Generationen nicht mehr mit<br />
einem bestimmten Räuber in Kontakt gekommen sind, aber andererseits
6.3 Beutestrategien 221<br />
müssen andere Arten diese Assoziation offenbar erst lernen (Blumstein<br />
et al. 2002).<br />
6.3.6 Alarmsignale<br />
Funktional eng mit der Wachsamkeit verbunden ist der Einsatz von Alarmrufen<br />
und anderen Alarmsignalen. Manche Fische und aquatische Tiere<br />
setzen chemische Substanzen frei, wenn sie von einem Räuber angegriffen<br />
werden. Dieses Signal löst bei Artgenossen Fluchtverhalten aus und wird<br />
daher als Schreckstoff bezeichnet (von Frisch 1941). Die Bedeutung dieser<br />
Schreckstoffe kann auch von Mitgliedern anderer Arten gelernt werden<br />
(Chivers et al. 2002). Bei Insekten gibt es flüchtige Alarmpheromone mit<br />
analoger Funktion (Moritz u. Bürgin 1987).<br />
Alarmrufe sind die am besten untersuchten Alarmsignale. Solche Vokalisationen,<br />
die von Individuen ausgestoßen werden, die einen Räuber<br />
entdeckt haben, haben drei Effekte. Erstens macht der Rufer auf sich aufmerksam<br />
und erhöht dadurch sein persönliches Risiko, angegriffen zu<br />
werden. Zweitens wird der Räuber in diesem Moment darüber informiert,<br />
dass er entdeckt wurde und bricht seinen Angriff daher möglicherweise ab,<br />
da er das Überraschungsmoment verloren hat. Drittens profitieren andere<br />
potentielle Beutetiere von dieser Warnung, da sie nicht mehr vom Räuber<br />
überrascht werden können.<br />
Die Risiken des Alarmrufens werden offenbar durch die Vorteile mehr<br />
als wettgemacht. In diesem Zusammenhang spielt die Verstärkung der<br />
Vorteile durch Verwandtenselektion ( Kap. 1.5) eine wichtige Rolle.<br />
Wenn die Empfänger des Warnrufs nämlich Verwandte des Rufers sind,<br />
können indirekte Fitnessvorteile für den Rufer zur evolutionären Entstehung<br />
und Erhaltung von Warnrufen beitragen (Sherman 1977). In diesem<br />
Fall erhöht ein Alarmruf nämlich die statistische Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
von Individuen, die abstammungsidentische Allele mit dem Rufer<br />
teilen. Wenn es sich dabei um Nicht-Verwandte oder sogar um Mitglieder<br />
anderer Arten (Fichtel 2004) handelt, können diese Vorteile durch reziproken<br />
Altruismus ( Kap. 11.3) erklärt werden, falls der Rufer damit rechnen<br />
kann, regelmäßig auch in der Empfänger-Rolle zu sein.<br />
Die Evolution akustischer Alarmkommunikation kann im Sinne der Tinberg’schen<br />
Fragen ( Kap. 1.1) auch in Bezug auf deren phylogenetischen<br />
Ursachen untersucht werden. Eine vergleichende Analyse der Koevolution<br />
von Alarmrufen, Aktivität und Sozialsystem bei über 200 Nagerarten ergab,<br />
dass das Vorkommen von Alarmrufen signifikant mit Tagaktivität und<br />
Gruppenleben assoziiert ist, wobei Tagaktivität vor dem Rufen entstand<br />
(Shelley u. Blumstein 2005). Daraus lässt sich ableiten, dass die ursprüngliche<br />
Funktion von Alarmrufen darin bestand, mit dem Räuber zu kommu-
222 6 Prädation<br />
nizieren. Die positiven Effekte des Rufens für Artgenossen sind demnach<br />
erst sekundär entstanden. Experimentelle Studien an nachtaktiven Primaten<br />
unterstützen dieses evolutionäre Szenario (Fichtel 2007).<br />
Alarmrufe können prinzipiell zwei Arten von Informationen enthalten.<br />
Dringlichkeitsrufe enthalten keine Information über die spezifische Identität<br />
des Räubers oder anderer Gefahren, sondern kodieren in ihrer akustischen<br />
Struktur den Grad der subjektiv gefühlten Bedrohung. So unterscheiden<br />
sich diese Laute vor allem in Abhängigkeit von der Entfernung<br />
der Bedrohung. Bei Schwarzkopfmeisen (Poecile atricapilla) enthalten die<br />
Alarmrufe auch Informationen über die Größe des Räubers (Templeton<br />
et al. 2005). Funktional referentielle Rufe sind dagegen räuberspezifisch<br />
und klassifizieren die Kategorie (z. B. Schlange, Boden- oder Luftfeind)<br />
des Angreifers. Außerdem lösen diese Rufe spezifische, adaptive Reaktionen<br />
der Empfänger aus. Wenn zum Beispiel von Grünen Meerkatzen<br />
(Chlorocebus pygerythrus) ein Luftfeind-Alarmruf gegeben wird (oder experimentell<br />
in Abwesenheit eines Räubers präsentiert wird), schauen die<br />
Empfänger nach oben und bewegen sich rasch nach unten oder in Bereiche,<br />
die sie nach oben schützen; gegenüber Bodenfeinden oder Schlangen<br />
geäußerte Alarmrufe lösen andere adaptive Fluchtreaktionen aus (Seyfarth<br />
et al. 1980).<br />
Obwohl die Struktur von Alarmrufen auf der Produktionsseite angeboren<br />
ist, müssen sowohl ihr korrekter Einsatz als auch die korrespondierenden<br />
Reaktionen gelernt werden (Mateo 1996). Korrekte Reaktionen<br />
können auch auf neue oder eingeschleppte Räuber übertragen werden.<br />
Brüllaffen (Alouatta palliata) auf einer räuberfreien Insel lernten schnell<br />
allein auf Rufe von Harpyien (Harpia harpyja), die dort seit mindestens 50<br />
Jahren nicht mehr vorkamen, zu reagieren (Gil-da-Costa et al. 2003). Auch<br />
Seychellen-Rohrsänger (Acrocephalus sechellensis), die auf Inseln ohne<br />
Räuber leben, geben Alarmrufe und attackieren ausgestopfte Attrappen<br />
eines wichtigen Nesträubers (Veen et al. 2000).<br />
Die meisten bislang daraufhin untersuchten Arten haben entweder Rufe<br />
des einen oder anderen Typs; manche haben dagegen ein gemischtes<br />
Alarmrufsystem, bei dem ein funktional referentieller Ruf nur gegen einen<br />
spezifischen Räuber eingesetzt wird und alle anderen Räuber und Bedrohungen<br />
mit einem unspezifischen Laut bedacht werden (Fichtel u. Kappeler<br />
2002; Abb. 6.9). Erdmännchen (Suricata suricatta) kombinieren beide<br />
Informationen, indem sie die akustische Struktur funktional referentieller<br />
Alarmrufe in Abhängigkeit der Dringlichkeit modifizieren (Manser 2001).<br />
Paviane (Papio cynocephalus) nutzen strukturell unterschiedliche Varianten<br />
desselben Lauttyps sowohl als Alarmruf als auch in anderen Kontexten<br />
(Fischer et al. 2001).
6.3 Beutestrategien 223<br />
Abb. 6.9. Sonagramme der Alarmrufe eines Primaten (Eulemur fulvus rufus,<br />
Abb. 3.2). Der generelle Alarmruf informiert Artgenossen über Bodenfeinde<br />
und andere Gefahren. Der Luftfeind-Alarmruf ist funktional referentiell und wird<br />
beim Entdeckten von Greifvögeln geäußert<br />
6.3.7 Gruppenbildung<br />
Ein sehr effektiver Mechanismus zur Reduktion des individuellen Prädationsrisikos<br />
besteht in der Bildung von Gruppen. Dabei treten gleich mehrere<br />
Vorteile in Bezug auf die Räuberverteidigung in Kraft. Die Vorteile<br />
der geteilten Wachsamkeit wurden schon erwähnt. Zudem kann die gemeinsame<br />
Verteidigung mehrerer Tiere ausreichend sein, einen Angriff<br />
abzuwehren, obwohl einzelne Individuen einem Räuber unterlegen sind.<br />
Maultierhirsche (Odocoileus hemionus), die von Kojoten angegriffen werden,<br />
rotten sich beispielsweise zusammen und können so Angriffe besser<br />
abwehren (Lingle 2001). Bei sehr großen Gruppen kann dieser Schutz vor<br />
Räubern dadurch erzielt werden, dass viele, chaotisch fliehende potentielle<br />
Beutetiere einen Angreifer so sehr verwirren, dass er erfolglos bleibt. Offenbar<br />
fällt es einem Räuber in dieser Situation schwer, sich auf ein Individuum<br />
zu konzentrieren, wodurch ein koordiniertes Zupacken unmöglich<br />
wird. Wenn große Fischschwärme von Raubfischen angegriffen werden,<br />
tritt diese Räuberverwirrung zum Beispiel auf (Parrish 1993).
224 6 Prädation<br />
Abb. 6.10. Verdünnungseffekt. Mit zunehmender Gruppengröße sinkt das individuelle<br />
Risiko, von einem Räuber ausgewählt zu werden. In kleinen Gruppen sind<br />
die Vorteile durch die Addition eines weiteren Mitgliedes am größten<br />
Ein substantieller passiver Vorteil der Gruppenbildung in Bezug auf die<br />
Verringerung des persönlichen Prädationsrisikos ergibt sich aus dem resultierenden<br />
Verdünnungseffekt (Hamilton 1971). Wenn ein Räuber immer<br />
nur eine Beute erlegt, sinkt die individuelle Wahrscheinlichkeit, vom Räuber<br />
ausgewählt zu werden, durch den Zusammenschluss mit einem anderen<br />
Artgenossen bereits von 100% auf 50% (Abb. 6.10). Wenn die Gruppe aus<br />
drei Individuen besteht, ist das individuelle Risiko bereits auf 33% gesenkt.<br />
Das heißt, gerade bei kleinen Gruppengrößen stellt der Verdünnungseffekt<br />
einen wichtigen Vorteil des Gruppenlebens und damit auch<br />
einen initialen Antrieb zur Gruppenbildung dar. Bei größeren Gruppen<br />
wird der zusätzliche Vorteil aus dem Verdünnungseffekt, den jedes Individuum<br />
aus dem Anschluss eines weiteren Tieres an die Gruppe erfährt, immer<br />
geringer. Zudem treten auch zunehmend Nachteile in Kraft, welche<br />
die tatsächliche Gruppengröße mit beeinflussen ( Kap. 11.1).<br />
6.4 Zusammenfassung<br />
Räuber und Beute befinden sich in einem endlosen evolutionären<br />
Wettrennen. Da es für die Räuber immer nur um die nächste Mahlzeit,<br />
für die Beute aber um das nackte Überleben geht, hat die Beute aufgrund<br />
des stärkeren Selektionsdrucks die Nase immer ein wenig
Literatur 225<br />
vorne. Dementsprechend existieren bei Beutetieren Anpassungen, mit<br />
denen sie versuchen, Räubern, die ansitzend oder suchend sowie solitär<br />
oder in Gruppen jagen, zu entgehen. Die wichtigsten Beutestrategien<br />
bestehen darin, entweder sehr unauffällig oder sehr auffällig zu<br />
sein, wobei Auffälligkeit mit Ungenießbarkeit oder Wehrhaftigkeit<br />
einhergeht. Auf der Verhaltensebene stellt Wachsamkeit, manchmal<br />
in Kombination mit Alarmsignalen, eine effektive Strategie dar, um<br />
das Prädationsrisiko für sich und andere zu reduzieren. Durch den Zusammenschluss<br />
zu Gruppen ergeben sich aus Verdünnungseffekt, geteilter<br />
Wachsamkeit und anderen Vorteilen Schutzeffekte zur Verringerung<br />
des individuellen Risikos, gefressen zu werden. Da zahlreiche<br />
Tiere gleichzeitig Räuber und Beute sind, kann es zu interessanten<br />
Konflikten zwischen diesen teilweise gegenläufigen Strategien kommen.<br />
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III FORTPFLANZUNG<br />
Die eigene, direkte Fortpflanzung stellt für die Individuen der meisten<br />
Tierarten den entscheidenden Beitrag zu ihrer individuellen Fitness dar. In<br />
diesem Zusammenhang gibt es im Tierreich eine überwältigende Diversität<br />
an Fortpflanzungssystemen, Reproduktionsstrategien und -taktiken, deren<br />
Zwänge und Möglichkeiten das Fortpflanzungsverhalten von Individuen<br />
bestimmen. Alle Merkmale, die den individuellen Fortpflanzungserfolg<br />
beeinflussen, werden von sexueller Selektion bewertet. In den einzelnen<br />
Kapiteln dieses Abschnittes werde ich die Diversität der Fortpflanzungssysteme<br />
sowie deren Konsequenzen für die sexuelle Selektion skizzieren.<br />
Da die getrenntgeschlechtliche sexuelle Fortpflanzung am weitesten verbreitet<br />
und am besten untersucht ist, werde ich die Ursachen und Mechanismen<br />
männlicher und weiblicher Fortpflanzungsstrategien ausführlich in<br />
separaten Kapiteln besprechen. Dabei wird sich zeigen, dass die von beiden<br />
Geschlechtern erforderliche Kooperation zur erfolgreichen Fortpflanzung<br />
auf allen organisatorischen Ebenen (Genetik, Physiologie, Verhalten)<br />
durch einen grundlegenden Interessenskonflikt zwischen den Geschlechtern<br />
kompromittiert wird. Die Dimensionen dieses Konflikts und seine<br />
Konsequenzen für die Evolution unterschiedlicher Paarungssysteme werden<br />
abschließend dargestellt.
7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
7.1 Sexuelle und natürliche Selektion<br />
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie<br />
7.2.1 Asexualität<br />
7.2.2 Evolution der Sexualität<br />
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen<br />
7.4 Geschlechterverhältnis<br />
7.5 Zusammenfassung<br />
Im Tierreich existieren neben der uns vertrauten, getrenntgeschlechtlichen<br />
sexuellen Fortpflanzung eine Reihe anderer Fortpflanzungssysteme. Diese<br />
unterschiedlichen Formen der Fortpflanzung können als Life history-<br />
Merkmale verstanden werden, die das Fortpflanzungsverhalten von Individuen<br />
der jeweiligen Taxa in gewisser Weise festlegen und damit teilweise<br />
erklären. So unterscheiden sich die Fortpflanzungsstrategien von protogynen<br />
hermaphroditischen Blaukopflippfischen (Thalassoma bifasciatum)<br />
von denen gynogyner Amazonenkärpflinge (Poecilia formosa), haplodiploider<br />
Honigbienen (Apis mellifera) oder getrenntgeschlechtlicher<br />
Kohlmeisen (Parus major) in vielerlei Weise allein aufgrund ihres jeweiligen<br />
Fortpflanzungssystems. Für all diese Organismen liefert aber die<br />
Theorie der sexuellen Selektion ein Gerüst zur Analyse der Verhaltensweisen<br />
und anderer Anpassungen in Zusammenhang mit der Fortpflanzung, so<br />
dass ich deren Grundlagen als Erstes vorstellen möchte. Ich werde dabei<br />
sexuelle Selektion näher charakterisieren, die Beziehungen zwischen Life<br />
history und Fortpflanzung sowie die biologischen Grundlagen und Determinanten<br />
von Geschlechterrollen besprechen. Da die Dynamik der sexuellen<br />
Selektion auch wesentlich vom Geschlechterverhältnis beeinflusst<br />
wird, schließt dieses Kapitel mit einer Diskussion der Sex-ratio-Theorie.
234 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
7.1 Sexuelle und natürliche Selektion<br />
Mit der Theorie der natürlichen Selektion präsentierte Charles Darwin<br />
1859 ein analytisches Werkzeug zur Erklärung von adaptiven Unterschieden<br />
in den verschiedensten Merkmalen zwischen Arten. Viele dieser Unterschiede<br />
wurden von ihm dadurch erklärt, dass natürliche Selektion den<br />
Trägern dieser Merkmale einen Überlebensvorteil verschafft. Er war sich<br />
aber auch darüber bewusst, dass er damit eine Reihe von auffälligen Geschlechtsunterschieden,<br />
die teilweise die Überlebenschancen ihrer Träger<br />
reduzieren, nicht erklären konnte. Die langen, auffälligen Schwanzfedern<br />
männlicher Pfauen (Pavo cristatus) machen ihre Träger beispielsweise auffällig<br />
gegenüber Räubern und behindern sie bei der Flucht, sind aber<br />
gleichzeitig ein wichtiges Kriterium der Partnerwahl durch die Weibchen.<br />
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Darwin 12 Jahre später die Evolution<br />
dieser Merkmale durch „eine Theorie der Selektion in Bezug auf Sex“<br />
erklärte (Darwin 1871). Darin definierte er sexuelle Selektion als: … „die<br />
Art von Selektion, die den Vorteil, den einzelne Individuen gegenüber anderen<br />
Individuen desselben Geschlechts und derselben Art erfahren, betrifft<br />
und zwar ausschließlich in Bezug auf die Fortpflanzung“ …<br />
Sexuelle Selektion entsteht demnach aufgrund von Varianz im Fortpflanzungserfolg<br />
zwischen Mitgliedern desselben Geschlechts. Geschlechtsunterschiede<br />
in der Varianz im Fortpflanzungserfolg innerhalb<br />
einer Art beschreiben die Gelegenheit (opportunity) für sexuelle Selektion<br />
und können dafür benutzt werden, die relative Intensität der Selektion zu<br />
charakterisieren und sie zwischen Taxa zu vergleichen. Den Schwerpunkt<br />
der Ausführungen Darwins stellten sekundäre Geschlechtsmerkmale dar;<br />
also Merkmale, die dem Erwerb von Paarungspartnern dienen. Davon ausgeschlossen<br />
sind primäre Geschlechtsmerkmale, d. h. die Strukturen des<br />
Fortpflanzungsapparats, welche die Reproduktion bewerkstelligen sowie<br />
Geschlechtsunterschiede in Strukturen, die verschiedenen Lebensweisen<br />
dienen, wie z. B. in Form und Größe des Schnabels mancher Vögel, die<br />
durch natürliche Selektion modifiziert werden.<br />
Die Beziehung zwischen natürlicher und sexueller Selektion ist oft vage<br />
definiert, obwohl Darwin in dieser Hinsicht recht deutlich war. Natürliche<br />
Selektion ist nicht das Gegenteil von sexueller Selektion, sondern sie wurde<br />
so benannt, um sie von der künstlichen Selektion (artificial selection)<br />
durch Menschen bei der Zucht von Haustieren und Nutzpflanzen zu unterscheiden.<br />
Darwin hat sexuelle Selektion auch nicht als einen Spezialfall<br />
der natürlichen Selektion betrachtet. Vielmehr fallen all diejenigen Merkmale<br />
unter den Einfluss der sexuellen Selektion, die zu Variation im Paarungserfolg<br />
(im Unterschied zum Überlebenserfolg) innerhalb eines Ge-
7.1 Sexuelle und natürliche Selektion 235<br />
Abb. 7.1. Ursachen und Mechanismen unterschiedlicher Formen von Selektion.<br />
Sexuelle Selektion kann mit Hilfe von drei Mechanismen wirken. Definitionen<br />
und Erklärungen im Text<br />
schlechts führen (Abb. 7.1). Die Überlebensrate der produzierten Nachkommen<br />
bis zu deren Geschlechtsreife, welche die Fitness letztendlich definiert,<br />
steht dagegen unter dem Einfluss der natürlichen Selektion. Darwin<br />
selbst hat möglicherweise durch die Wahl des Begriffs, nämlich „selection<br />
in relation to sex“ und nicht „sexual selection“, andeuten wollen, dass es<br />
nur eine Selektion gibt (Clutton-Brock 2004). Diese Selektion bewertet also<br />
Variation in individueller Fitness, die durch das Geschlecht der betreffenden<br />
Individuen verursacht wird.<br />
Sexuelle Selektion bedient sich zweier Hauptprozesse. Intrasexuelle<br />
Selektion wirkt auf Merkmale, die bei der Konkurrenz zwischen Mitgliedern<br />
desselben Geschlechts um Zugang zu Paarungspartnern beteiligt sind.<br />
Aus heutiger Sicht muss dieser Begriff von „Konkurrenz um den Paarungserfolg“<br />
auf „Konkurrenz um den Befruchtungserfolg“ ausgedehnt<br />
werden, da inzwischen mehrere Formen postkopulatorischer Konkurrenz<br />
bekannt sind; d. h. es gibt Konkurrenzmechanismen, die auch noch nach<br />
erfolgter Kopulation wirksam sind ( Kap. 8).<br />
Intersexuelle Selektion wirkt dagegen auf Merkmale, die von Mitgliedern<br />
eines Geschlechts eingesetzt werden, um Mitglieder des anderen Geschlechts<br />
dazu zu veranlassen, sich mit ihnen zu verpaaren. Intersexuelle<br />
Selektion beinhaltet also eine explizite Wahlentscheidung durch die Mitglieder<br />
des Geschlechts, an das die von diesen Merkmalen ausgehenden<br />
Signale gerichtet sind ( Kap. 9).
236 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
Bei der Fortpflanzung kommt es häufig zu einem sexuellen Konflikt<br />
zwischen den Geschlechtern, z. B. über Zeitpunkt oder Häufigkeit von Paarungen<br />
( Kap. 9.8). Vor dem Hintergrund dieses Konflikts kann es zu sexuellem<br />
Zwang (sexual coercion) kommen; also zu Interaktionen zwischen<br />
den Geschlechtern, bei denen Mitglieder eines Geschlechts durch<br />
Gewalt oder die Androhung von Gewalt die Wahrscheinlichkeit, sich zu<br />
verpaaren, erhöhen (Smuts u. Smuts 1993). Sexueller Zwang wurde daher<br />
als eine dritte Kraft der sexuellen Selektion postuliert (Abb. 7.1).<br />
Box 7.1<br />
Wann ist ein Merkmal sexuell selektiert?<br />
Wie lässt sich nachweisen, dass ein Merkmal sexuell selektiert ist?<br />
1. Zunächst muss ein Merkmal bei Männchen und Weibchen unterschiedlich<br />
ausgeprägt sein. Wenn es einen Geschlechtsunterschied gibt, gilt es<br />
festzustellen, ob es in diesem Merkmal Variation in der Ausprägung zwischen<br />
Individuen eines Geschlechts gibt. Wenn wir also z. B. überprüfen<br />
wollen, ob ein prachtvoll verlängerter Schwanz bei den Männchen einer<br />
Vogelart durch sexuelle Selektion erklärbar ist, muss es zwischen Männchen<br />
natürliche Variation in der Schwanzlänge geben.<br />
2. Im nächsten Schritt gilt es zu zeigen, dass die Mitglieder des anderen Geschlechts<br />
zwischen unterschiedlichen Ausprägungen dieses Merkmals<br />
diskriminieren und eine Präferenz für eine bestimmte Ausprägung haben.<br />
Im Fall unseres Beispiels müsste man also nachweisen, dass Weibchen<br />
die Schwanzlänge bei der Auswahl von potentiellen Paarungspartnern<br />
beachten und eine Präferenz, z. B. für Männchen mit längeren Schwanzfedern,<br />
haben.<br />
3. Eine solche Präferenz muss zudem im Kontext der Partnerwahl und Fortpflanzung<br />
ausgedrückt werden. Weibchen müssten sich in diesem Fall also<br />
bevorzugt mit langschwänzigen Männchen paaren.<br />
4. Schließlich gilt es, einen positiven Zusammenhang zwischen einer differentiellen<br />
Präferenz und dem Fortpflanzungserfolg der betreffenden<br />
Weibchen nachzuweisen. Dieses Szenario gilt aber nur dann, wenn die<br />
Population für das betroffene Merkmal noch nicht im Gleichgewicht ist.<br />
Sobald direktionale Selektion zum Stillstand kommt, ist zu erwarten, dass<br />
Weibchen Männchen mit durchschnittlicher Schwanzlänge bevorzugen.<br />
Der formale Nachweis der Existenz eines sexuell selektierten Merkmals<br />
ist also methodisch anspruchsvoll und aufwändig, so dass es nicht<br />
verwunderlich ist, dass er in dieser Form erst für wenige Merkmale, wie<br />
zum Beispiel die Schwanzfedern männlicher Pfauen oder die Anogenitalschwellungen<br />
weiblicher Paviane, erbracht wurde (Snowdon 2004).
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie 237<br />
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie<br />
Die Fortpflanzungsstrategien eines Individuums werden zuallererst durch<br />
im Bauplan verankerte Life history-Merkmale festgelegt. Der grundlegendste<br />
Unterschied besteht dabei zwischen Arten mit asexueller und<br />
solchen mit sexueller Vermehrung.<br />
7.2.1 Asexualität<br />
Die evolutionär ursprüngliche asexuelle Vermehrung ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass es keine differenzierten Geschlechter und damit keine männlichen<br />
und weiblichen Gameten gibt. Je nachdem aus welchen Zellen die<br />
Nachkommen entstehen, unterscheidet man zwischen ungeschlechtlicher<br />
und eingeschlechtlicher Vermehrung (Abb. 7.2). Die komplette genetische<br />
Ausstattung eines ungeschlechtlichen Individuums stammt von einem Elter,<br />
der es durch Klonierung diploider somatischer Zellen, also ohne vorherige<br />
Meiose, erzeugt. Neben Viren und Einzellern findet sich ungeschlechtliche<br />
Vermehrung im Tierreich auch bei einigen Anneliden und<br />
Bdelloiden, wobei letztere über 350 Arten umfassen (Welch u. Meselson<br />
2000).<br />
Demgegenüber entstehen bei der eingeschlechtlichen Fortpflanzung<br />
Nachkommen aus haploiden Gameten – zumeist aus unbefruchteten Eizellen.<br />
Die wichtigste Form der eingeschlechtlichen Fortpflanzung ist die<br />
Parthenogenese. Sie findet sich bei Rädertierchen (Rotifera), Bärtierchen<br />
(Tardigrada) sowie manchen Arthropoden. Einige Eidechsen (Sechsstreifen-Rennechse<br />
Cnemidophorus uniparens, Zauneidechse Lacerta agilis),<br />
Schlangen (Strumpfbandnattern Thamnophis spp.) und Vögel (Truthahn<br />
Meleagris gallopavo) stellen außergewöhnliche Wirbeltier-Beispiele dar,<br />
Abb. 7.2. Typen von Asexualität und Formen der Sexualität. Details im Text
238 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
bei denen asexuelle Fortpflanzung sekundär entstanden ist und gelegentlich<br />
oder regelmäßig auftritt (Simon et al. 2003). Bei dieser automiktischen<br />
Parthenogenese verschmilzt nach der Reduktionsteilung der Meiose eines<br />
der Polkörperchen mit der Eizelle. Da bei den betroffenen Taxa Weibchen<br />
das heterogame Geschlecht sind, entstehen bei der postmeiotischen Verschmelzung<br />
entweder nicht lebensfähige Zellen mit zwei W-Chromosomen<br />
oder Männchen mit zwei Z-Chromosomen. Das heißt, durch automiktische<br />
Parthenogenese können nur Männchen entstehen.<br />
Diese asexuellen Formen der Vermehrung ermöglichen hohe Reproduktionsraten<br />
und bieten den Vorteil, dass ein bewährter Genotyp unverändert<br />
beibehalten werden kann. Außerdem kann die Reproduktion unabhängig<br />
erfolgen, also ohne Suche von und ohne Konkurrenz um Fortpflanzungspartner<br />
(Peck u. Waxman 2000). Trotzdem wird asexuelle Fortpflanzung<br />
heute nur von einer Minderheit aller Tierarten betrieben. Einige wenige<br />
Tiere wie Blattläuse und Wasserflöhe haben ein „gemischtes System“, bei<br />
dem sich parthenogenetische und sexuelle Fortpflanzung abwechseln. Damit<br />
besitzen sie die Möglichkeit, sich unter für sie optimalen Umweltbedingungen<br />
asexuell zu vermehren und unter sich verschlechternden Bedingungen<br />
über sexuelle Fortpflanzung besser angepasste Nachkommen oder<br />
Überdauerungsstadien zu produzieren (Simon et al. 2002).<br />
7.2.2 Evolution der Sexualität<br />
(1) Sexuelle Fortpflanzung, die durch die Verschmelzung haploider Gameten<br />
definiert ist, hat sich aufgrund der Vorteile der flexiblen Anpassung<br />
an sich ändernde Umweltbedingungen und Pathogene im Tierreich weitestgehend<br />
durchgesetzt; sie ist auch bei Mikroorganismen weiter verbreitet<br />
als lange Zeit angenommen wurde (Xu 2004). Durch die Vermischung<br />
des genetischen Materials, welche durch Meiose möglich und notwendig<br />
gemacht wird, kann es zur Ausselektierung nachteiliger Mutationen und<br />
zur Weitergabe vorteilhafter Mutationen und Genkombinationen kommen<br />
(Keightley u. Eyre-Walker 2000). Adulte Individuen können dabei haploid<br />
(manche Parasiten, z. B. der Malariaerreger Plasmodium) oder wie bei den<br />
meisten höheren Tieren diploid sein (Abb. 7.2). Bei Haplonten mit sexueller<br />
Fortpflanzung kann die Vermehrung trotzdem klonal erfolgen, wohingegen<br />
die Vermehrung von Diplonten obligat Sexualität beinhaltet. Aufgrund<br />
der erhöhten genetischen Variabilität und eines verbesserten<br />
Schutzes gegen rezessive negative Mutationen bietet die Diploidie evolutionär<br />
gesehen bessere Anpassungsmöglichkeiten und hat sich vermutlich<br />
deswegen bei der großen Mehrzahl der Metazoen durchgesetzt.
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie 239<br />
Sexuelle Fortpflanzung ist nicht notwendigerweise an getrenntgeschlechtliche<br />
Individuen gebunden. Hermaphroditen (Zwitter) haben<br />
funktionsfähige männliche und weibliche Geschlechtsanlagen in einem Individuum<br />
vereinigt. Dieses System bietet aufgrund der inhärenten Flexibilität<br />
die Möglichkeit, die Fortpflanzung opportunistisch zu gestalten. Einerseits<br />
ist jeder Artgenosse ein potentieller Paarungspartner, wobei<br />
Spermien meist reziprok ausgetauscht werden, so dass zwar die Kosten der<br />
Partnerfindung reduziert werden, aber strategische Fragen darüber auftauchen,<br />
wie viel in die männliche und weibliche Funktion investiert werden<br />
soll (Greeff u. Michiels 1999). Dabei kann es zu einer Abwägung der<br />
relativen Vor- und Nachteile kommen, die vor allem mit dem Transfer<br />
bzw. Empfang von Spermien verbunden sind (Michiels u. Newman 1998).<br />
Wechselseitige Inseminationen sind dabei häufiger reziprok als durch Zufall<br />
zu erwarten wäre (Abb. 7.3; Anthes u. Michiels 2005). So ist bei einer<br />
Meeresschnecke die Spermienabgabe an die reziproke Aufnahme gebunden<br />
(Anthes et al. 2005). Dabei wird aber gegen Individuen diskriminiert,<br />
die schon eine Spermatophore aus einer anderen Paarung in sich tragen,<br />
vermutlich um Spermienkonkurrenz ( Kap. 8.5) zu vermeiden (Haase u.<br />
Karlsson 2004).<br />
Andererseits ist bei Zwittern auch eine Selbstbefruchtung möglich, wobei<br />
in Populationen mit einem hohen Anteil an Selbstbefruchtung das Investment<br />
in die männliche Funktion reduziert wird (Johnston et al. 1998).<br />
Hermaphroditismus kann so ausgeprägt sein, dass ein Individuum gleichzeitig<br />
funktionale Eier und Spermien besitzt, oder er kann mit einem Geschlechtswechsel<br />
im Laufe des Lebens verbunden sein. Dabei kann sowohl<br />
die männliche (Protandrie) als auch die weibliche Funktion<br />
(Protogynie) als Erstes ausgebildet sein (Warner 1975). Veränderte Kör-<br />
Abb. 7.3. Wenn zwei paarungsbereite<br />
Kopfschildschnecken (Chelidonura hirundinina)<br />
aufeinandertreffen, erfolgt<br />
der Spermienaustausch zwischen diesen<br />
Hermaphroditen nach strengen Regeln<br />
der Reziprozität
240 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
pergröße und/oder soziale Bedingungen sind die wichtigsten proximaten<br />
Auslöser für den Geschlechtswechsel (Rogers 2003).<br />
Die überwiegende Zahl der Tierarten betreibt getrenntgeschlechtliche<br />
Fortpflanzung mit diploiden Männchen und Weibchen. Bei ihnen kann<br />
die Befruchtung intern oder extern erfolgen, was wiederum Konsequenzen<br />
für das Paarungsverhalten und geschlechtsspezifische Investitionsstrategien<br />
in den Nachwuchs nach sich zieht (Beck 1998; Kap. 10.1). Bei<br />
Arten mit interner Befruchtung entsteht zudem ein großer Selektionsdruck<br />
auf die Weibchen, Männchen der eigenen Art zu erkennen und auszuwählen.<br />
In diesem Zusammenhang ist die Evolution von komplizierten Fortpflanzungsorganen,<br />
die manchmal wie Schloss und Schlüssel aufeinander<br />
abgestimmt sein müssen, sowie von verhaltensbiologischen Arterkennungsmechanismen,<br />
wie komplexen Signalen oder Ritualen, zu sehen<br />
( Kap. 9.1).<br />
Bei einigen getrenntgeschlechtlichen Tieren können sich die Geschlechter<br />
auch in ihrer genetischen Ausstattung unterscheiden oder andere Besonderheiten<br />
aufweisen. Am bedeutsamsten sind in diesem Zusammenhang<br />
Hymenopteren (Ameisen, Wespen und Bienen), bei denen die<br />
Weibchen aus befruchteten Eiern entstehen und dementsprechend diploid<br />
sind, wohingegen aus unbefruchteten Eiern haploide Männchen schlüpfen.<br />
Diese Haplodiploidie hat weitreichende Konsequenzen, da dadurch Weibchen<br />
mit ihren Schwestern näher verwandt sind, als sie dies mit ihrem eigenen<br />
Nachwuchs wären, sich daher nicht selbst fortpflanzen und stattdessen<br />
in die Aufzucht von Geschwistern investieren (Hamilton 1964;<br />
Kap. 10.4).<br />
Bei manchen Amphibien und Fischen sind Männchen gänzlich verzichtbar<br />
geworden. Amazonenkärpflinge (Poecilia formosa) sind zum Beispiel<br />
eine reine Weibchenart, die durch Hybridisierung zwischen den bisexuellen<br />
Arten P. mexicana und P. latipinna entstanden ist. Die Fortpflanzung<br />
von P. formosa erfolgt asexuell durch Gynogenese, d. h. die diploiden Eizellen<br />
werden durch Spermien von Männchen anderer Arten stimuliert, um<br />
eine parthenogenetische Entwicklung der Embryonen zu initiieren<br />
(Schlupp u. Ryan 1996).<br />
(2) Nachteile von Sex. Die Evolution von Sexualität vor 700–800 Millionen<br />
Jahren war eines der wichtigsten Ereignisse im Verlauf der Evolution,<br />
und ihre Erklärung stellt immer noch eine der größten Herausforderungen<br />
der Evolutionsbiologie dar. Sexuelle Fortpflanzung ist, im Vergleich zur<br />
asexuellen Fortpflanzung, aus zwei Gründen ein Paradoxon (Abb. 7.4).<br />
Zum einen werden durch die notwendige Rekombination bei der Meiose<br />
erfolgreiche Genkombinationen, also solche, deren Träger es geschafft haben,<br />
zur Geschlechtsreife zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen,
7.2 Life history und Fortpflanzungsbiologie 241<br />
Abb. 7.4. Zusammenfassung von Vor- und Nachteilen der sexuellen Fortpflanzung<br />
auseinander gebrochen. Dieser Nachteil wird als Kosten der Rekombination<br />
bezeichnet. Zum andern entstehen, im Vergleich zu asexuellen Arten,<br />
durch die notwendige Produktion von Männchen Fitnesseinbußen für<br />
Weibchen, da nicht nur Töchter produziert werden, die sich selber wieder<br />
fortpflanzen, sondern die Hälfte der Investitionen in die Fortpflanzung auf<br />
Söhne entfällt ( Kap. 7.4). Dieser Nachteil ist als Kosten der Männchenproduktion<br />
bekannt (Barton u. Charlesworth 1998).<br />
(3) Vorteile von Sex. Was diese Kosten mehr als wettmacht, ist noch nicht<br />
abschließend geklärt, obwohl eine Fülle theoretischer Vorteile sexueller<br />
Fortpflanzung diskutiert werden. Demnach kann Sexualität über längere<br />
Zeiträume zu einem Selektionsvorteil für die Mitglieder einer Population<br />
führen, entweder weil sie das Aussterben durch mangelnde Anpassungen<br />
an Umweltveränderungen aufgrund von genetischer Koppelung vorteilhafter<br />
Mutationen (Fisher-Muller-Theorie; Rouzine et al. 2003) oder Akkumulation<br />
von nachteiligen Mutationen (Muller’s ratchet: Duarte et al.<br />
1992) verhindert. Mitglieder sexueller Populationen können auch aufgrund<br />
der geringeren Wachstumsraten reduzierter intraspezifischer Konkurrenz<br />
ausgesetzt sein (ecological cost: Doncaster et al. 2000). Andererseits kann<br />
Sexualität auch mit kurzfristigen Vorteilen für Individuen verbunden sein,<br />
entweder weil durch die resultierende genetische Variabilität der Nachkommen<br />
deren bessere Anpassung an unvorhersagbare Umweltbedingungen<br />
(Best-man-Hypothese: Dacks u. Roger 1999) oder an die räumliche
242 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
Heterogenität ihrer Lebensräume (Tangled-bank-Hypothese: Getz 2001)<br />
gewährleistet wird. Außerdem kann es zu einem Vorteil bei kompetitiven<br />
Interaktionen zwischen verschiedenen Organismen („antagonistische Koevolution“)<br />
wie beispielsweise zwischen Parasiten und ihren Wirten kommen<br />
(Red-queen-Hypothese; Bell 1982).<br />
Theoretische Modellierungen haben nahe gelegt, dass einzelne Faktoren,<br />
wie zum Beispiel Geschlechtsunterschiede in der Varianz des Fortpflanzungserfolgs<br />
(Siller 2001) oder der Prävalenz nachteiliger Mutationen<br />
(Agrawal 2001), die Nachteile der sexuellen Fortpflanzung mehr als wettmachen<br />
könnten, aber empirische Unterstützung existiert bislang einzig für<br />
die „Red-queen-Hypothese“. Der Name dieser Hypothese stammt aus der<br />
Geschichte von „Alice im Wunderland“, in der die rote Königin Alice erzählt,<br />
dass … „it takes all the running you can do, to keep in the same<br />
place“ … Demnach gibt es einen evolutionären Wettlauf zwischen Pathogenen<br />
und ihren Wirten, bei dem die Wirte durch sexuelle Fortpflanzung<br />
immer neue Genotypen mit verbesserter Resistenz produzieren und somit<br />
einen Vorteil gegenüber Parasiten und Krankheitserregern haben, die an<br />
den häufigsten Genotyp angepasst sind (Hamilton et al. 1990). So fanden<br />
Lively und Dybdahl (2000) bei einer Schnecken-Population mit sexuellen<br />
und asexuellen Individuen, dass der Anteil sexueller Individuen positiv mit<br />
der Parasitenhäufigkeit, aber keinem anderen Umweltfaktor korreliert.<br />
Möglicherweise gibt es aber Interaktionen zwischen sich nicht gegenseitig<br />
ausschließenden Vorteilen der sexuellen Fortpflanzung (West et al. 1999),<br />
so dass die Entstehung und Erhaltung von Sexualität nicht durch einen einzigen<br />
Faktor erklärt werden kann.<br />
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen<br />
In Darwins ursprünglicher Darstellung der sexuellen Selektionstheorie hat<br />
er Partnerwahl durch Weibchen als Selektionsmechanismus zwischen den<br />
Geschlechtern und den Kampf zwischen Männchen als wichtigsten Selektionsmechanismus<br />
innerhalb der Geschlechter dargestellt. Konkurrenz<br />
zwischen Weibchen und Wahl durch Männchen kamen darin nicht vor.<br />
Letztendliche Grundlage für diese Einschätzung und Definition dieser traditionellen<br />
Geschlechterrollen mit kompetitiven, nicht diskriminierenden<br />
Männchen und zurückhaltenden, wählerischen Weibchen ist die unterschiedliche<br />
Größe der Gameten von Männchen und Weibchen. Basierend<br />
auf Überlegungen zur Evolution von Anisogamie lässt sich die Evolution<br />
von traditionellen und modernen Geschlechterrollen rekonstruieren und so
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen 243<br />
die Grundlagen für ein modernes Verständnis geschlechtsspezifischer<br />
Fortpflanzungsstrategien schaffen (Cunningham u. Birkhead 1998).<br />
(1) Evolution von Anisogamie. Bei sich sexuell fortpflanzenden Organismen<br />
ist Isogamie die ursprüngliche Form der Sexualität. Dabei sind die<br />
zur Zygote verschmelzenden Gameten gleich groß. Isogamie findet sich<br />
heute nur noch bei einfachen Einzellern (z. B. Paramecium). Bei fast allen<br />
sich sexuell reproduzierenden mehrzelligen Tieren und Pflanzen findet dagegen<br />
eine anisogame Fortpflanzung statt, d. h. die Gameten haben unterschiedliche<br />
Größen. Diese Entwicklung kann als Spezialisierung an die<br />
beiden Aufgaben, die ein Gamet hat, nämlich andere Gameten zu finden<br />
und erfolgreich Zygoten zu bilden, interpretiert werden. Männliche Gameten<br />
(Spermien) sind klein, beweglich und nährstoffarm und repräsentieren<br />
eine optimale Anpassung an die erste Anforderung. Das weibliche Geschlecht<br />
ist dagegen durch die Produktion von großen, unbeweglichen und<br />
nährstoffreichen Gameten (Eier) definiert.<br />
Parker et al. (1972) haben unter Zuhilfenahme spieltheoretischer Ansätze<br />
vorgeschlagen, dass sich Anisogamie aus Isogamie entwickelt, wenn<br />
genetische Variation in der Gametengröße existiert, die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
der Zygoten größenabhängig ist und die Zunahme der Überlebensfähigkeit<br />
mit zunehmender Größe den Nachteil der geringeren Anzahl<br />
mehr als wettmacht, d. h. wenn zwei große Zygoten im Durchschnitt<br />
eine größere Fitness als vier kleine mit derselben Gesamtmasse haben. Unter<br />
diesen Annahmen, d. h. bei relativer Zunahme der großen Gameten,<br />
entsteht ein Selektionsdruck auf kleine Gameten, sich einen großen Partner<br />
zu suchen und dessen Nahrungsreserven auszubeuten. Große Gameten<br />
sollten versuchen, mit anderen möglichst großen Gameten zu verschmelzen.<br />
Da aber eine Zygote aus zwei winzigen Gameten nicht überlebensfähig<br />
ist, ist der Nachteil für einen großen Gameten beim Verschmelzen mit<br />
einem kleinen geringer als für einen kleinen beim Verschmelzen mit einem<br />
anderen kleinen, d. h. die Selektion wirkt stärker auf die kleinen Gameten,<br />
die außerdem aufgrund ihrer größeren Zahl einen zusätzlichen Vorteil erfahren,<br />
da sie größere genotypische Variabilität ausbilden können. Die mittelgroßen<br />
Gameten werden irgendwann aussterben, da sie weder den Vorteil<br />
der großen Anzahlen noch der großen Nahrungsreserven aufweisen.<br />
Am Ende dieses Wettlaufs gibt es also noch zwei Gametentypen: Eier und<br />
Spermien.<br />
(2) Konsequenzen der Anisogamie. Weibchen produzieren wenige große<br />
Gameten; Männchen viele kleine. Das heißt, Männchen sind potentiell in<br />
der Lage mehr Eier zu befruchten als verfügbar sind. Damit werden Eier<br />
zu einer knappen Ressource, um die Männchen konkurrieren, da diese ih-
244 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
ren potentiellen Fortpflanzungserfolg limitieren. Als Konsequenz ergibt<br />
sich dadurch ein fundamentaler Geschlechtsunterschied in den Determinanten<br />
des Fortpflanzungserfolgs. Männchen können ihren Fortpflanzungserfolg<br />
dadurch erhöhen, dass sie möglichst viele Weibchen finden<br />
und deren Eier befruchten. Sie haben damit ein wesentlich größeres Fortpflanzungspotential<br />
und sind daher einer starken Selektion ausgesetzt, was<br />
die Konkurrenz um Weibchen betrifft. Weibchen können dagegen nur die<br />
Rate der Eiproduktion erhöhen; zusätzliche Kopulationen haben keinen<br />
quantitativen Einfluss auf ihre Fitness. Ihre Fitness wird daher vor allem<br />
von Zugang zu Ressourcen, die sie in die Eiproduktion und Entwicklung<br />
und Fürsorge der Jungen investieren, limitiert.<br />
Dieser fundamentale Geschlechtsunterschied der Fitnesslimitierung<br />
wurde erstmals von A.J. Bateman (1948) in einem Experiment mit Drosophila<br />
demonstriert (Abb. 7.5). Er setzte dazu jeweils vier Männchen und<br />
vier Weibchen zusammen, wobei die Männchen durch individuelle phänotypische<br />
Marker charakterisiert waren, und ließ sie sich verpaaren. Anschließend<br />
ordnete er die Nachkommen jedes Weibchens einem Männchentyp<br />
zu; er machte also keine Beobachtungen des Paarungsverhaltens<br />
und bestimmte auch nicht den individuellen Fortpflanzungserfolg einzelner<br />
Fliegen. Er fand, dass die allermeisten Weibchen sich mit einem oder zwei<br />
Männchen verpaarten, wohingegen es genauso viele Männchen gab, die<br />
sich gar nicht fortpflanzten, wie solche, die eine oder zwei Paarungspartnerinnen<br />
hatten. Manche Männchen verpaarten sich sogar mit drei oder<br />
vier Weibchen. Das heißt, die Variabilität in der Zahl der Paarungspartner<br />
(und Nachkommen) war bei Männchen wesentlich höher als bei Weib-<br />
Abb. 7.5. Batemans Prinzipien: In Paarungsexperimenten mit Drosophila wurden<br />
vier Weibchen mit vier unterscheidbaren Männchen zusammengesetzt (links). Die<br />
Zuordnung der resultierenden Nachkommen (rechts) ergab, dass die Varianz in<br />
der Anzahl der Paarungspartner bei Männchen größer war als bei Weibchen
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen 245<br />
chen, manchen Männchen gelang es viele Weibchen zu befruchten, wohingegen<br />
andere wenig oder gar keinen Erfolg hatten.<br />
Box 7.2<br />
Batemans Prinzipien: Geschlechtsunterschiede in der Intensität sexueller<br />
Selektion<br />
• Frage: Unterscheidet sich die Intensität der sexuellen Selektion (bei Rauhäutigen<br />
Gelbbauchmolchen, Taricha granulosa) zwischen den Geschlechtern<br />
in der von Bateman’s Prinzipien vorhergesagten Weise?<br />
• Hintergrund: Batemans Prinzipien postulieren, dass sich die standardisierten<br />
Varianzen im Fortpflanzungs- bzw. Paarungserfolg zwischen den<br />
Geschlechtern unterscheiden (ist in der Regel bei Männchen größer). Damit<br />
sexuelle Selektion wirken kann, muss es einen Zusammenhang zwischen<br />
den beiden ersten Prinzipien geben; dieser wird durch den Bateman-<br />
Gradienten beschrieben.<br />
• Methode: Aus einem Teich wurden alle (96 Männchen und 42 Weibchen)<br />
Gelbbauchmolche nach der Paarungszeit gefangen und vermessen. Weibchen<br />
wurden bis zur Eiablage einzeln gehalten und die Vaterschaften der<br />
762 Jungen wurde genetisch bestimmt.<br />
Anzahl Nachkommen<br />
(Fortpflanzungserfolg)<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
0<br />
Männchen<br />
Weibchen<br />
1 2 3 4 5 6<br />
Anzahl Paarungspartner<br />
(Paarungserfolg)<br />
• Ergebnis: Männchen hatten eine 19-mal höhere standardisierte Varianz<br />
im Fortpflanzungserfolg und eine 7-mal höhere standardisierte Varianz im<br />
Paarungserfolg*. Die Steigung der Geraden, die den Zusammenhang zwischen<br />
Paarungs- und Fortpflanzungserfolg beschreibt (Batemans Gradient),<br />
ist für Männchen (⎯) positiv, wohingegen der Gradient für Weibchen<br />
(---) sich nicht signifikant von Null unterscheidet.<br />
• Schlussfolgerung: Die Intensität der sexuellen Selektion ist, wie vorhergesagt,<br />
für Männchen intensiver.<br />
Jones et al. 2002<br />
* berechnet als Varianz/Mittelwert²
246 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
Aus dieser Studie wurden Batemans Prinzipien abgeleitet, welche die<br />
Erforschung der sexuellen Selektion in den letzten 50 Jahren nachhaltig<br />
beeinflusst haben (Arnold 1994). Demnach hat das Geschlecht, welches<br />
der stärkeren sexuellen Selektion unterliegt, die höhere standardisierte Varianz<br />
im Paarungserfolg (Anzahl Partner) und Fortpflanzungserfolg<br />
(Anzahl Nachkommen). Außerdem ist die Steigung der Regressionsgeraden,<br />
die Fortpflanzungserfolg als Funktion des Paarungserfolgs betrachtet,<br />
im Geschlecht unter intensiverer sexueller Selektion steiler (Box 7.1).<br />
Eine erste generelle Formulierung geschlechtsspezifischer Fortpflanzungsstrategien<br />
wurde von George Williams (1966) erstellt. Er verdeutlichte<br />
die von Darwin skizzierten traditionellen Geschlechterrollen, indem<br />
er die Fortpflanzung eines typischen Säugetiers aus der Perspektive<br />
beider Geschlechter beleuchtete. Aufgrund der physiologischen Zwänge<br />
der internen Schwangerschaft und der nachfolgenden Laktation sind die<br />
Unterschiede zwischen den Geschlechtern hier deutlich erkennbar. Die<br />
Rolle eines männlichen Säugetiers in der Fortpflanzung endet demnach<br />
meist mit der Kopulation, die für es nur geringe Kosten in Form von Energie<br />
und verringerter Wachsamkeit mit sich bringt. Für die Weibchen ist es<br />
genau umgekehrt; mit der Kopulation beginnt für sie eine Zeit, die unter<br />
Umständen monatelange Gefahren und physiologische Belastungen mit<br />
sich bringt und andere Aspekte ihres Verhaltens beeinflusst. Aufgrund der<br />
vergleichsweise geringeren Kosten der primären Fortpflanzungsrolle der<br />
Männchen sollten sie daher eine ständige Bereitschaft zeigen, sich mit so<br />
vielen Weibchen wie möglich zu paaren. Weibchen können dagegen durch<br />
zusätzliche Verpaarungen mit anderen Männchen ihren quantitativen Fortpflanzungserfolg<br />
nicht verbessern, da ihre Wurfgröße relativ invariant und<br />
nicht durch Spermien limitiert ist. Aus diesen Überlegungen leitete Williams<br />
eine allgemeine stärkere Tendenz zur Promiskuität bei Männchen sowie<br />
eine Tendenz zur Vorsicht und Diskriminierung bei Weibchen ab.<br />
In einer einflussreichen evolutionsbiologischen Arbeit hat Robert Trivers<br />
(1972) diese Überlegung in wichtiger Weise erweitert und generalisiert.<br />
Er hat darin deutlich gemacht, dass die geschlechtsspezifische Form<br />
des elterlichen Investments in die Nachkommen ( Kap. 10.2), und nicht<br />
das Geschlecht oder die Gametengröße an sich, ausschlaggebend dafür ist,<br />
ob ein Individuum sich in der von Darwin und Williams charakterisierten<br />
Weise als typisch männlich oder weiblich verhält. Trivers definierte elterliches<br />
Investment als … „jegliches Investment durch die Eltern in ihre<br />
Nachkommen, das die Überlebenswahrscheinlichkeit der Nachkommen zu<br />
Lasten der Fähigkeit der Eltern, in weitere Nachkommen zu investieren,<br />
erhöht“ … Demnach müssen alle Formen der elterlichen Investition in die<br />
Fitness der Nachkommen berücksichtigt werden. Außerdem bestimmt der
7.3 Anisogamie und Geschlechterrollen 247<br />
relative Anteil der elterlichen Investition beider Geschlechter in ihren<br />
Nachwuchs den Fortpflanzungswettbewerb zwischen den Geschlechtern.<br />
Das heißt, wenn ein Geschlecht erheblich mehr investiert als das andere<br />
(und zwar unabhängig davon, wer die größeren Gameten produziert!), wird<br />
es zum Objekt der Konkurrenz zwischen Mitgliedern des anderen Geschlechts.<br />
Da es in der Praxis oft schwierig ist, das Ausmaß elterlicher Investition<br />
zu messen und zu vergleichen, hat Tim Clutton-Brock (1991) diese Überlegungen<br />
dahingehend erweitert, indem er vorschlug, dass die Rollen im<br />
Fortpflanzungswettbewerb letztendlich durch die potentiellen Fortpflanzungsraten<br />
beider Geschlechter determiniert werden. Die potentiellen<br />
Fortpflanzungsraten ergeben sich aus der Anzahl der Jungen pro Zeiteinheit,<br />
die beide Eltern unabhängig voneinander produzieren. Dieser Vorschlag<br />
basierte auf der Einsicht, dass eine Kopulation und deren Konsequenzen<br />
für die Geschlechter unterschiedliche „Bearbeitungszeiten“<br />
(handling times) mit sich bringen. Das in Hinblick auf die Fortpflanzungsraten<br />
„schnellere“ Geschlecht wird dabei durch das „langsamere“ Geschlecht<br />
limitiert und dadurch zum Wettbewerb um Partner gezwungen.<br />
Bei Stichlingen (Gasterosteus aculeatus) ist es zum Beispiel schwierig<br />
zu bestimmen, welches Geschlecht die größere elterliche Investition<br />
macht. Hier legen Weibchen die Eier in ein Nest, das von einem Männchen<br />
gebaut, anschließend bewacht und mit sauerstoffreichem Wasser befächelt<br />
wird. Sind hier die energetischen Kosten der Eiproduktion der Weibchen<br />
höher als die Kosten des Bauens, Fächelns, der reduzierten Nahrungsaufnahme<br />
und der erhöhten Räubergefahr während des Brütens durch die<br />
Männchen? Hier ist es nun so, dass die Weibchen einmal pro Woche Eier<br />
legen können und die Männchen einzelne Gelege 15–20 Tage lang bebrüten.<br />
Allerdings können Männchen bis zu sechs Gelege gleichzeitig bebrüten,<br />
wodurch sie eine maximale Fortpflanzungsrate von einem Gelege pro<br />
2,5 Tage haben; eine Rate, die doppelt so hoch ist wie die der Weibchen.<br />
Da die Männchen ein Gelege schneller verarbeiten können, konkurrieren<br />
sie trotz ihrer erheblichen Investition um Weibchen (Kraak et al. 1999).<br />
Dieses verfeinerte Modell über die Ursachen sexueller Selektion wurde<br />
unter anderem dadurch unterstützt, dass es auch das Verhalten von Männchen<br />
und Weibchen bei Arten erklären konnte, die umgekehrte Geschlechterrollen<br />
an den Tag legen (Berglund u. Rosenqvist 2003). Bei<br />
Seepferdchen (Syngnathus typhle) sind zum Beispiel die Männchen allein<br />
für die Aufzucht der Jungen verantwortlich und die Weibchen sind größer,<br />
aggressiver als die Männchen und konkurrieren untereinander um diese.<br />
Wie erwartet sind bei Seepferdchen die Bateman’schen Prinzipien umge-
248 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
kehrt: bei Weibchen gibt es eine stärkere positive Korrelation zwischen der<br />
Anzahl von Paarungspartnern und der Fertilität (Jones et al. 2000).<br />
In neuerer Zeit wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Varianz im<br />
individuellen Fortpflanzungserfolg auch eine zufällige Komponente hat<br />
(Hubbell u. Johnson 1987) und dass Individuen flexible Fortpflanzungsstrategien<br />
gegenüber sich verändernden sozialen oder Umweltbedingungen<br />
an den Tag legen. So wurde bei mehreren Arten beobachtet, dass<br />
Weibchen weniger wählerischer sind, wenn es ein hohes Prädationsrisiko<br />
gibt, ihre Parasitenbelastung hoch ist, sie relativ alt sind oder weniger<br />
Männchen zur Auswahl stehen (Gowaty 2004). Zudem gibt es erste Hinweise<br />
darauf, dass Männchen, die gezwungen werden, sich mit nicht präferierten<br />
Weibchen zu verpaaren, einen reduzierten Fortpflanzungserfolg haben<br />
(Gowaty et al. 2003). Daraus lässt sich ableiten, dass sich Männchen<br />
unter bestimmten Bedingungen sehr wohl auch wählerisch verhalten.<br />
Das aktuelle Verständnis von Geschlechterrollen geht daher davon<br />
aus, dass beide Geschlechter durch Zwänge ihrer Life history im Großen<br />
und Ganzen zwar auf die typischen Geschlechterrollen festgelegt sind, dass<br />
diese aber innerhalb gewisser Grenzen flexibel angepasst werden können.<br />
Man erwartet daher prinzipiell, dass beide Geschlechter unter bestimmten<br />
Bedingungen sowohl untereinander konkurrieren als auch wählerisch sein<br />
können (Clutton-Brock 2007). Da die Geschlechter aber durch unterschiedliche<br />
Faktoren in ihrem Fortpflanzungserfolg limitiert werden und<br />
die Flexibilität der Geschlechterrollen mehr oder weniger stark eingeschränkt<br />
sein kann, sind sexuelle Konflikte häufig ( Kap. 9.8).<br />
7.4 Geschlechterverhältnis<br />
Neben Merkmalen der Life history bestimmen verschiedene Aspekte der<br />
belebten und unbelebten Umwelt die Fortpflanzungsstrategien von Individuen.<br />
Dabei stellt das numerische Verhältnis von Männchen und Weibchen<br />
eine besonders wichtige Determinante der Intensität der Konkurrenz zwischen<br />
Männchen sowie der Wahlmöglichkeiten der Weibchen dar. Man<br />
unterscheidet dabei zwischen dem primären Geschlechterverhältnis bei der<br />
Geburt, dem sekundären Geschlechterverhältnis der geschlechtsreifen Individuen<br />
und dem operationalen Geschlechterverhältnis. Letzteres ist<br />
definiert als die Anzahl der Männchen und Weibchen, die zu einem gegebenen<br />
Zeitpunkt zur Fortpflanzung bereit sind (Emlen u. Oring 1977). Der<br />
Unterschied zwischen sekundärem und operationalem Geschlechterverhältnis<br />
ist letztendlich ein Unterschied zwischen Demographie und Verhalten.<br />
Während das sekundäre Geschlechterverhältnis eine Populationsgröße
7.4 Geschlechterverhältnis 249<br />
beschreibt, bezeichnet das operationale Geschlechterverhältnis, wie viele<br />
Männchen um diejenigen Weibchen konkurrieren, die genau zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt empfängnisbereit sind. Das operationale Geschlechterverhältnis<br />
beeinflusst bei Guppies (Poecilia reticulata) beispielsweise<br />
das männliche Balz-, Kopulations- und Bewachungsverhalten sowie die<br />
Stärke der weiblichen Präferenz für bestimmte männliche Ornamente (Jirotkul<br />
1999). Das operationale Geschlechterverhältnis kann sehr dynamisch<br />
sein und sich im Laufe einer Paarungszeit ständig ändern. Bei Zieseln<br />
(Spermophilus richardsoni) mit stark saisonaler Fortpflanzung ändert<br />
es sich beispielsweise mit jedem befruchteten Weibchen, welches das lokale<br />
Geschlechterverhältnis weiter zu Gunsten der Männchen verschiebt<br />
(Michener u. McLean 1996).<br />
Evolution des Geschlechterverhältnisses. Welche Geschlechterverhältnisse<br />
sind nun unter Berücksichtigung der Geschlechtsunterschiede in den<br />
jeweiligen potentiellen Fortpflanzungsraten zu erwarten? Wenn ein Männchen<br />
theoretisch viele Weibchen in kurzer Zeit befruchten kann, könnten<br />
Mitglieder von Populationen, die mehr Töchter produzieren, höhere<br />
Wachstumsraten erzielen. Wenn 20 Weibchen einer hypothetischen Art<br />
anstatt 50 Söhne und 50 Töchter zu produzieren, welche ihrerseits jeweils<br />
5 Eier produzieren, nur 10 Söhne und dafür 90 Töchter produzieren würden,<br />
hätten sie zusammen 450 anstatt 250 Enkel. Außerdem müssten die<br />
Söhne weniger untereinander konkurrieren und im Durchschnitt könnte jeder<br />
von ihnen mehr Nachkommen haben. An diesem simplen Gedankenexperiment<br />
lässt sich bereits erkennen, dass das Geschlechterverhältnis auf<br />
Populationsebene einen Einfluss auf das Fortpflanzungsverhalten hat und<br />
daher die Rollen und Strategien der Geschlechter im Kontext der Fortpflanzung<br />
mitbestimmt.<br />
Obwohl eine Population mit höherer Töchterproduktion viel schneller<br />
wachsen würde, ist das primäre Geschlechterverhältnis der meisten Arten<br />
auf Populationsebene aber nahe bei 1:1 und nicht zu Gunsten von Weibchen<br />
verschoben. Das liegt darin begründet, dass Selektion nicht zum<br />
Wohl einer Population oder Art wirkt, sondern den Fortpflanzungserfolg<br />
von Individuen bewertet.<br />
Ronald Fisher (1930) hat als erster erkannt, dass die Überproduktion<br />
von Söhnen oder Töchtern evolutionär nicht stabil ist. Wenn man annimmt,<br />
dass die Geschlechtsbestimmung eine genetische Grundlage hat,<br />
würden Mütter, die aufgrund eines solchen Merkmals mehr Söhne produzieren,<br />
mehr Enkel haben als Mütter, die überwiegend Töchter produzieren,<br />
da jeder Sohn theoretisch mehrere Weibchen befruchten kann. Dadurch<br />
würde sich dieses Gen aber rasch in der Population ausbreiten und<br />
nach wenigen Generationen stünden paarungsbereiten Männchen nur noch
250 7 Sexuelle Selektion: evolutionäre Grundlagen<br />
ganz wenige Weibchen gegenüber. In diesem Fall hätten Mütter, die nur<br />
Töchter produzieren einen Vorteil, da sich jede ihre Töchter, aber nur ganz<br />
wenige der Männchen fortpflanzen könnten. Das heißt, das seltenere Geschlecht<br />
hat immer einen relativen Fortpflanzungsvorteil. Nur wenn das<br />
Geschlechterverhältnis exakt 1:1 ist, haben Töchter und Söhne einen<br />
identischen durchschnittlichen Fortpflanzungserfolg.<br />
Abweichungen von einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis sind<br />
nur unter Ausnahmebedingungen zu erwarten. Zum einen sollte natürliche<br />
Selektion zu kompensatorischen Verschiebungen des Geschlechterverhältnisses<br />
führen, wenn das elterliche Investment in Söhne und Töchter unterschiedlich<br />
ist, (West u. Sheldon 2002; Kap. 10.3). Zum andern können<br />
auch bestimmte Pathogene zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses<br />
führen. So waren zwei Inselpopulationen der Eierfliege ( Abb. 2.17)<br />
mit Bakterien befallen, die selektiv männliche Embryos abtöteten. Das<br />
Geschlechterverhältnis war daher 100:1 zu Gunsten der Weibchen verschoben.<br />
Nach dem Auftreten und Ausbreiten einer Mutation, die den geschlechtsspezifischen<br />
Effekt der Bakterien unterband, erreichten die<br />
Schmetterlinge nach nur 10 Generationen wieder ein Geschlechterverhältnis<br />
von 1:1 (Charlat et al. 2007)!<br />
7.5 Zusammenfassung<br />
Die erfolgreiche Weitergabe möglichst vieler Kopien der eigenen Gene<br />
in die nächste Generation ist ein zentrales Anliegen aller Individuen,<br />
welches durch Selektion streng bewertet wird. Auf welche Art<br />
diese Weitergabe bewerkstelligt wird, variiert innerhalb des Tierreichs<br />
in faszinierender Weise und umfasst verschiedene asexuelle und sexuelle<br />
Fortpflanzungssysteme. Die Entstehung sexueller Fortpflanzung<br />
war eine der herausragenden Ereignisse der Evolutionsgeschichte.<br />
Sexualität konnte sich trotz offensichtlicher Nachteile durchsetzen,<br />
weil sie beim evolutionären Wettrennen zwischen Wirten und Pathogenen<br />
den Wirten zu einem Vorteil verhilft. Die Diversität der Vermehrungs-<br />
und Fortpflanzungssysteme kann als Ausdruck unterschiedlicher<br />
Life history-Anpassungen verstanden werden, die<br />
wiederum durch Zwänge des Bauplans eingeschränkt werden. Diese<br />
Grundausstattung an Fortpflanzungsmechanismen legt in wichtiger<br />
Weise grundlegende Aspekte des Fortpflanzungs- und Jungenaufzuchtverhaltens<br />
fest. Die sich bei der Mehrzahl der Tiere daraus ergebenden<br />
„typischen“ Geschlechterrollen von konkurrierenden Männ-
Literatur 251<br />
chen und wählerischen Weibchen können von Umweltbedingungen,<br />
unter anderem auch vom Verhältnis paarungsbereiter Männchen und<br />
Weibchen, modifiziert werden und sind daher flexibler, als lange angenommen<br />
wurde.<br />
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8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen<br />
konkurrieren<br />
8.1 Partnerfindung und Sensorik<br />
8.1.1 Partnerfindung<br />
8.1.2 Sensorische Mechanismen<br />
8.2 Größe, Stärke und Waffen<br />
8.2.1 Physische Merkmale<br />
8.2.2 Verteidigung<br />
8.2.3 Kosten der intrasexuellen Selektion<br />
8.2.4 Grundlagen des Fortpflanzungserfolges<br />
8.2.5 Evolution sekundärer Geschlechtsmerkmale<br />
8.3 Ornamente<br />
8.3.1 Visuelle Ornamente<br />
8.3.2 Akustische Ornamente<br />
8.4 Dominanz<br />
8.4.1 Dominanz und Fortpflanzung<br />
8.4.2 Reproduktive Unterdrückung<br />
8.5 Spermienkonkurrenz<br />
8.5.1 Mechanismen<br />
8.5.2 Verhaltensanpassungen an Spermienkonkurrenz<br />
8.5.3 Anatomische Anpassungen an Spermienkonkurrenz<br />
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz<br />
8.6.1 Bruce-Effekt<br />
8.6.2 Infantizid<br />
8.6.3 Infantizid und Life history<br />
8.7 Strategien und Taktiken<br />
8.7.1 Alternative Strategien<br />
8.7.2 Konditionale Strategien<br />
8.8 Partnerwahl durch Männchen<br />
8.9 Zusammenfassung
256 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Da ihr Fortpflanzungserfolg durch den Zugang zu fertilen Weibchen limitiert<br />
ist, folgen Männchen in der Regel einem „kopulatorischen Imperativ“<br />
(Ghiselin 1974). Dabei werden Merkmale, welche die Wahrscheinlichkeit,<br />
zu einer Paarungsgelegenheit zu kommen, auch nur minimal erhöhen, von<br />
intrasexueller Selektion positiv bewertet. Sexuell selektierte Anpassungen<br />
finden sich dabei in ganz unterschiedlichen Merkmalen, wobei das Verhalten<br />
aber eine herausragende Rolle spielt. Bei Männchen zählen laut<br />
Darwin (1871) unter anderem Angriffs- und Verteidigungswaffen, Aggressivität<br />
und „Mut in Kämpfen, Ornamente und Vorrichtungen, die Klänge<br />
oder Düfte produzieren, welche nur dazu dienen, Weibchen anzulocken“,<br />
zu diesen Merkmalen. Die Konkurrenz zwischen Männchen um den relativ<br />
höchsten Fortpflanzungerfolg ist dabei aber in den wenigsten Fällen auf<br />
das unmittelbare Paarungsgeschehen begrenzt.<br />
Der Fortpflanzungswettbewerb zwischen Männchen findet zumeist in<br />
mehreren Etappen statt: vor, während und nach einer Kopulation (Abb. 8.1).<br />
Zunächst muss ein Männchen paarungsbereite Weibchen lokalisieren und<br />
aufsuchen ( Kap. 8.1). Zur Maximierung ihres Fortpflanzungserfolges<br />
sollten Männchen versuchen, möglichst viele Weibchen für sich zu monopolisieren,<br />
indem sie den Zugang von Rivalen zu Weibchen unterbinden.<br />
Diese präkopulatorische Konkurrenz hat viele Facetten, wobei zumeist Variabilität<br />
zwischen Männchen in physischen Merkmalen für deren Erfolg<br />
ausschlaggebend ist ( Kap. 8.2.4). Selbst wenn ein Männchen diese ersten<br />
Etappen erfolgreich absolviert hat, erzielt es durch die vollzogenen<br />
Kopulationen zunächst nur einen Paarungserfolg; ob eine erfolgreiche Paarung<br />
auch zur erfolgreichen Fortpflanzung führt, hängt von einer Reihe<br />
weiterer Faktoren ab.<br />
Wenn sich das Weibchen nämlich auch noch mit anderen Männchen<br />
verpaart, kommen seine Spermien unter Umständen gar nicht zur Befruchtung,<br />
falls sie bei der stattfindenden Spermienkonkurrenz ( Kap. 8.5)<br />
Abb. 8.1. Etappen der Fortpflanzungskonkurrenz. Die zeitliche Organisation der<br />
einzelnen Schritte zeigt, dass Männchen vor und nach der Kopulation auf verschiedene<br />
Weisen miteinander konkurrieren
8.1 Partnerfindung und Sensorik 257<br />
unterliegen oder vom Weibchen wieder ausgestoßen werden. Außerdem<br />
können befruchtete Zygoten durch den Einfluss von Rivalen unter Umständen<br />
resorbiert oder Föten abgestoßen werden. Selbst neugeborene Jungtiere<br />
können noch von Rivalen getötet werden, um das betroffene Weibchen<br />
schneller für sich paarungsbereit zu machen, wodurch der Fortpflanzungserfolg<br />
eines Männchens noch Monate nach einer Paarung zunichte gemacht<br />
wird ( Kap. 8.6). Es gibt daher auch mehrere Etappen postkopulatorischer<br />
Konkurrenz zwischen Männchen, wobei eine Kopulation zunächst<br />
nur eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Fortpflanzung darstellt.<br />
Mit welchen Mechanismen Männchen versuchen, Mitkonkurrenten<br />
auf allen Etappen der Fortpflanzungskonkurrenz auszustechen und einen<br />
zählbaren Fortpflanzungserfolg zu erzielen, ist in diesem Kapitel im Einzelnen<br />
dargestellt.<br />
8.1 Partnerfindung und Sensorik<br />
Eine grundlegende Voraussetzung für erfolgreiche Fortpflanzung ist das<br />
Zusammentreffen beider Geschlechter oder zumindest ihrer Gameten. Es<br />
ist daher sinnvoll, in diesem Zusammenhang zwischen Arten mit interner<br />
und solchen mit externer Befruchtung zu unterscheiden. Externe Befruchtung,<br />
die das Zusammentreffen der Geschlechter nicht bedingt, findet sich<br />
beispielsweise bei vielen sessilen marinen Wirbellosen, die ihre Eier und<br />
Spermien an die Umwelt abgeben. Die große Zahl der Gameten, die<br />
Schwämme, Korallen, Muscheln oder Seeigel freisetzen, erhöht dabei die<br />
Abb. 8.2a,b. Partnerfindung bei Arten mit externer und interner Befruchtung.<br />
a Solitär lebende Frösche (hier Aglyptodactylus securifer) und b Fossas (Cryptoprocta<br />
ferox) liefern Beispiele für Arten mit externer bzw. interner Befruchtung,<br />
bei denen sich die Geschlechter zur Paarung erst treffen müssen
258 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ein Spermium auf ein Ei derselben Art trifft und<br />
sich die dabei entstehende Zygote zu einer planktonischen Larve entwickelt<br />
(Bishop 1998). Um diese Wahrscheinlichkeit weiter zu erhöhen, ist<br />
die Freisetzung der Gameten bei mancher dieser Arten durch eine innere<br />
Jahresuhr oder bestimmte Umweltfaktoren zwischen Individuen synchronisiert.<br />
Außerdem erkennen sich Gameten derselben Art chemisch. Partnersuche<br />
ist für diese Tiere also kein Thema. Externe Befruchtung bedeutet<br />
aber nicht zwangsläufig, dass die Geschlechter nicht zur Paarung<br />
zusammenfinden müssen. Bei vielen Fischen und Amphibien kommt es<br />
nur zum gemeinsamen Ablaichen, wenn sich Männchen und Weibchen gefunden<br />
und ihr Verhalten aufeinander abgestimmt haben (Abb. 8.2a).<br />
8.1.1 Partnerfindung<br />
Bei den meisten Tierarten kommen Männchen und Weibchen zur Paarung<br />
zusammen. Diese Annäherung erfolgt notwendigerweise bei allen Arten<br />
mit interner Befruchtung. Manche Arten leben in Paaren oder in Gruppen<br />
aus mehreren Männchen und Weibchen. In diesem Fall ist es für<br />
Männchen nicht notwendig, rezeptive Weibchen über größere Distanzen<br />
zu lokalisieren. Bei manchen Zugvögeln legen die beiden Mitglieder eines<br />
Brutpaares aber auch Hunderte von Kilometern getrennt zurück und kommen<br />
unabhängig voneinander innerhalb weniger Tage im Brutgebiet an,<br />
wo sie sich zuerst (wieder-)finden müssen (Gunnarsson et al. 2004).<br />
Bei Arten ohne permanente Assoziation zwischen den Geschlechtern<br />
müssen Individuen aber zum Zweck der Fortpflanzung zusammenkommen<br />
(Abb. 8.2b). Das ist, wie bei manchen Walen, wo die Geschlechter Hunderte<br />
von Kilometern voneinander entfernt sind, oder wie bei manchen<br />
Tiefseeorganismen, die in geringen Dichten in absoluter Dunkelheit leben,<br />
nicht immer einfach. Bei räuberischen Arten kann diese Annäherung auch<br />
gefährlich sein, wenn Paarungspartner und Beute nicht eindeutig identifizierbar<br />
sind. In den allermeisten Fällen sind es dabei die Männchen, die<br />
sich auf die Suche machen, da ihre Fortpflanzungsrate letztendlich durch<br />
die Zahl der gefundenen Weibchen limitiert wird.<br />
8.1.2 Sensorische Mechanismen<br />
Manche sensorischen Höchstleistungen im Tierreich basieren auf intrasexueller<br />
Selektion, welche die Fähigkeit von Männchen, Weibchen überhaupt<br />
oder schneller als Konkurrenten lokalisieren zu können, belohnt. Das<br />
bekannteste Beispiel dafür stammt vom Seidenspinner (Bombyx mori: Butenandt<br />
et al. 1959). Paarungsbereite Weibchen dieses Nachtfalters geben
8.1 Partnerfindung und Sensorik 259<br />
Abb. 8.3. Männliche Seidenspinner<br />
(Bombyx mori)<br />
können mit ihren Antennen<br />
einzelne Moleküle des<br />
weiblichen Sexual-Pheromons<br />
detektieren<br />
ein Pheromon ab, das Bombykol, welches von Männchen mit spezifischen<br />
Rezeptoren auf ihren Antennen perzipiert wird (Abb. 8.3). Männchen fliegen<br />
in immer enger werdenden Schleifen gegen den Gradienten der Pheromonquelle,<br />
bis sie auf das dazu gehörende Weibchen treffen. Experimente<br />
haben gezeigt, dass ein einziges Bombykol-Molekül ausreichend ist,<br />
ein Aktionspotential an den Rezeptoren des Männchens auszulösen. Die<br />
sensorische Empfindlichkeit der Seidenspinner-Männchen wurde also<br />
durch intrasexuelle Selektion bis an den Rand der physiologischen Leistungsfähigkeit<br />
getrieben, vermutlich weil Männchen mit einer etwas besseren<br />
Empfindlichkeit für die Wahrnehmung dieses Moleküls im Laufe der<br />
Evolution im Durchschnitt häufiger zur Fortpflanzung kamen als ihre weniger<br />
sensitiven Konkurrenten.<br />
Es können aber auch alle anderen Sinnesmodalitäten bei der Lokalisation<br />
paarungsbereiter Weibchen eingesetzt werden. Bei Glühwürmchen<br />
(Lampyridae) kommen in diesem Zusammenhang visuelle Signale zum<br />
Einsatz, die durch Biolumineszenz erzeugt werden. Männliche Glühwürmchen<br />
erzeugen beim Umherfliegen artspezifische Lichtimpulse. Die Weibchen<br />
befinden sich stationär in der Vegetation und antworten nach einer<br />
charakteristischen Verzögerung mit einem spezifischen Antwortsignal<br />
(Loyd 1971). Männchen, die weiter umherfliegen und weibliche Signale<br />
besser wahrnehmen können, haben daher vermutlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit,<br />
sich zu verpaaren. Männchen mit bestimmten Signalcharakteristika,<br />
wie zum Beispiel einer erhöhten Blinkrate, haben zudem größere<br />
Chancen, von Weibchen ein Antwortsignal zu erhalten (Branham u.<br />
Greenfield 1996). Wenn sie in der Nähe des Signals, das sie angelockt hat,<br />
gelandet sind, bekommen manche dieser Männchen entweder eine Paarungsgelegenheit<br />
oder aber sie werden gefressen! Es gibt nämlich auch<br />
Weibchen räuberischer Arten (Photuris spp.), die das Leuchtsignal anderer
260 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Arten täuschend ähnlich nachahmen und so liebeshungrige Männchen anlocken<br />
und anschließend „vernaschen“ (Loyd 1981).<br />
Bei vielen tagaktiven Schmetterlingen und Eidechsen locken Weibchen<br />
paarungsbereite Männchen ebenfalls vornehmlich mit visuellen Signalen<br />
an. So nehmen weibliche Bläulinge (Polyommatus icarus) mit ihren larvalen<br />
Nahrungspflanzen Flavonoide auf, welche das im UV-Bereich sichtbare<br />
Flügelmuster für Männchen vermutlich leichter erkennbar machen<br />
(Burghardt et al. 2000).<br />
Bei manchen Arten reagieren Männchen bei der Partnersuche besonders<br />
empfindlich auf akustische Signale, die von empfängnisbereiten Weibchen<br />
ausgesendet werden. Weibchen können in diesem Zusammenhang<br />
unspezifische Laute einsetzen oder aber solche, die spezifisch ihre Fortpflanzungsbereitschaft<br />
signalisieren. Männchen des chinesischen Kaskadenfroschs<br />
(Odorrana tormota) zeigen eine bemerkenswert genaue positive<br />
Hinwendung (Phonotaxis Kap. 4.3) zu Ultraschall-Lauten von<br />
Weibchen; ihr Fehler beträgt < 1° (Shen et al. 2008). Männchen, die weibliche<br />
Lockrufe besser wahrnehmen können als andere, erfahren also einen<br />
Fortpflanzungsvorteil, da sie dadurch empfängnisbereite Weibchen besser<br />
oder schneller lokalisieren können.<br />
Solitäre Männchen können ihre Wahrscheinlichkeit, auf Weibchen oder<br />
deren Signale zu treffen, durch eine Erhöhung ihrer Mobilität verbessern<br />
(Hammerstein u. Parker 1987). Diese Männchen suchen Gebiete ab, die ihre<br />
normalen Streifgebiete um ein Vielfaches in der Größe übertreffen, und<br />
inspizieren gefundene Weibchen in Bezug auf ihre Fortpflanzungsbereitschaft.<br />
Dieses Verhalten zeigen u. a. manche Streifenhörnchen (Spermophilus<br />
tridecemlineatus: Schwagmeyer 1988) oder Lemuren (Mirza coquereli:<br />
Kappeler 1997), die sich, auch wenn sie ein empfängnisbereites<br />
Weibchen gefunden haben, nicht lange nach der Paarung bei diesem aufhalten,<br />
sondern sich gleich auf die Suche nach weiteren potentiellen Partnerinnen<br />
machen. Diese Suchstrategie der Männchen ist mit der Kürze der<br />
jährlichen Paarungszeit zu erklären. Da empfängnisbereite Weibchen nur<br />
für wenige Wochen pro Jahr verfügbar sind, investieren Männchen in<br />
dieser Zeit alle verfügbare Energie darin, die Begegnungsrate mit Weibchen<br />
zu maximieren. Als Nebenprodukt besitzen Männchen dieser Arten<br />
ein besseres räumliches Orientierungsvermögen als Weibchen (Schwagmeyer<br />
1994).<br />
Diese Form des Wettsuchens zwischen Männchen führt oft zu einer<br />
Form der Fortpflanzungskonkurrenz, die als Verdrängungskonkurrenz<br />
(scramble) bezeichnet wird. Diese findet immer dann statt, wenn das<br />
Monopolisierungspotential der Männchen, also deren Fähigkeit ein oder<br />
mehrere Weibchen erfolgreich gegen Rivalen zu verteidigen, gering ist
8.1 Partnerfindung und Sensorik 261<br />
Abb. 8.4. Zusammenhänge zwischen der Verteilung rezeptiver Weibchen in Raum<br />
und Zeit, dem daraus resultierenden Monopolisierungspotential für Männchen sowie<br />
den daraus begründeten Anpassungen und Konkurrenzmechanismen<br />
(Abb. 8.4). Das ist in der Regel der Fall, wenn Weibchen weiträumig verteilt<br />
oder in ihrer Fortpflanzungsaktivität stark synchronisiert sind (Emlen<br />
u. Oring 1977). In diesem Fall investieren Männchen wenig in präkopulatorische<br />
Verteidigung und/oder postkopulatorische Bewachung, sondern<br />
machen sich stattdessen nach einer erfolgreichen Paarung zügig auf die<br />
Suche nach dem nächsten Weibchen. Wenn die Weibchen sich mit mehreren<br />
Männchen nacheinander verpaaren, kommt es dadurch zu Spermienkonkurrenz<br />
( Kap. 8.7), die einen wichtigen Mechanismus der Verdrängungskonkurrenz<br />
zwischen Männchen darstellt.<br />
Am anderen Ende eines gedachten Kontinuums der Konkurrenzformen<br />
findet sich Interferenzkonkurrenz (contest). Dabei steht die Monopolisierung<br />
von empfängnisbereiten Weibchen während und nach der Paarung<br />
gegenüber Rivalen im Mittelpunkt. Diese Monopolisierung wird ermöglicht,<br />
wenn Weibchen räumlich geklumpt vorkommen und/oder ihre rezeptiven<br />
Phasen asynchron sind. Die Monopolisierung erfolgt dadurch, dass<br />
andere Männchen permanent von Weibchen oder deren Streifgebieten<br />
ferngehalten werden, oder dadurch, dass einzelne Weibchen temporär verteidigt<br />
werden. Bei dieser Form der Konkurrenz sind andere Eigenschaften<br />
der Männchen für deren Erfolg ausschlaggebend: Größe, Stärke, Ausdauer<br />
und der Besitz von Waffen.
262 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
8.2 Größe, Stärke und Waffen<br />
Darwin (1871) charakterisierte intrasexuelle Selektion unter anderem als<br />
Selektion, welche „die Kraft zum Besiegen anderer Männchen in Kämpfen“<br />
vergrößert. Das Bild zweier Rothirschmännchen (Cervus elaphus), die<br />
mit ineinander verzahnten Geweihen versuchen, einander wegzuschieben,<br />
versinnbildlicht diesen Aspekt der Konkurrenz zwischen Männchen vermutlich<br />
am deutlichsten (Abb. 8.5). Solche Kämpfe um die Monopolisierung<br />
von Fortpflanzungsgelegenheiten sind potentiell immer dann<br />
möglich, wenn mindestens zwei Männchen gleichzeitig bei fortpflanzungsbereiten<br />
Weibchen eintreffen oder bereits mit ihnen assoziiert sind. Der<br />
Ausgang eines solchen Kampfes ist in vielen Fällen von individueller Variabilität<br />
in der Stärke, Ausdauer, Körpergröße sowie in der Größe und<br />
Anwendung artspezifischer Waffen abhängig. Bei Tieren wie manchen<br />
Greifvögeln oder Fischen, bei denen Männchen einander im dreidimensionalen<br />
Raum jagen, können aber auch Merkmale wie Agilität und Schnelligkeit<br />
von größerer Bedeutung sein.<br />
Positive Selektion auf die an den Kämpfen beteiligten Merkmale führt<br />
häufig zu einem Unterschied zwischen den Geschlechtern in den betreffenden<br />
Merkmalen. Eine weitere Konsequenz dieser Form der Konkurrenz<br />
besteht in der Investition in effektive Verteidigungsstrukturen, die bei<br />
Kämpfen genauso wichtig sein können wie die Angriffswaffen. Da Kämpfe<br />
immer mit einem Verletzungsrisiko behaftet sind, ist zu erwarten, dass<br />
Männchen versuchen sollten, Asymmetrien in ihrer Kampfkraft durch Ornamente<br />
zu signalisieren ( Kap. 8.3) oder in Form von Dominanzbeziehungen<br />
( Kap. 8.4) zu ritualisieren. Sekundäre Geschlechtsmerkmale der<br />
Abb. 8.5. Wenn Kämpfe zwischen Rothirschbullen um Zugang zu einem Harem<br />
eskalieren, entscheiden am Ende Größe und Stärke über den Ausgang
8.2 Größe, Stärke und Waffen 263<br />
Männchen können aber auch eine Grundlage für die Partnerwahl der<br />
Weibchen liefern (Berglund et al. 1996). Letztendlich müssen aber sowohl<br />
Ornamente als auch Dominanzpositionen durch die entsprechenden physischen<br />
Merkmale untermauert werden, falls die gegenseitige Bedrohung<br />
zum Kampf eskaliert, d. h. es handelt sich um „ehrliche Signale“ (Zahavi<br />
1975).<br />
8.2.1 Physische Merkmale<br />
Wenn Männchen untereinander um den Zugang zu paarungsbereiten<br />
Weibchen konkurrieren, existieren Verhaltensweisen, die zusammen mit<br />
morphologischen und physiologischen Merkmalen zu deren Erfolg beitragen.<br />
Körpergröße und die damit verbundene Stärke stellen zumeist die<br />
wichtigste Grundlage der Konkurrenzfähigkeit dar. Damit verbunden sind<br />
auch oft die physiologischen Grundlagen von Ausdauer und Schnelligkeit.<br />
Durch die Effekte von Testosteron wird zudem die Aggressivität und<br />
Kampfbereitschaft der Männchen erhöht.<br />
In vielen Taxa sind Waffen entstanden, die Männchen in ihren Kämpfen<br />
untereinander einsetzen. Vergrößerte Mandibeln, Scheren oder andere spezifische<br />
Strukturen finden sich bei zahlreichen Arthropoden. Bei Reptilien<br />
und Vögeln werden Schnäbel, Sporne und Krallen als Waffen eingesetzt.<br />
Bei Säugetieren fungieren neben Hufen, Krallen, Hörnern und Geweihen<br />
auch Eckzähne als Waffen, die gefährliche Verletzungen verursachen können.<br />
Die Größe dieser Waffen ist zumeist konditionsabhängig, so dass größere<br />
und ältere Tiere in guter Verfassung die effektivsten Waffen besitzen.<br />
Außerdem gibt es zwischen den Arten einen positiven Zusammenhang<br />
zwischen Körpergröße, Waffengröße und der Intensität der Konkurrenz.<br />
Bei Hirschen (Cervidae) haben beispielsweise größere Arten durchschnittlich<br />
größere Harems als Arten mit Männchen mit geringerer Körpergröße.<br />
Wenn man diesen Effekt der Körpergröße statistisch kontrolliert, haben<br />
Arten mit größeren Harems relativ größere Geweihe als Arten mit durchschnittlich<br />
kleineren Harems (Clutton-Brock et al. 1980).<br />
Waffen sind allerdings nicht immer auf Männchen beschränkt. Bei einem<br />
Drittel der Hornträger (Boviden) gibt es beispielsweise auch Weibchen<br />
mit Hörnern. Bei Antilopen unterscheidet sich die Länge der Hörner<br />
nicht zwischen den Geschlechtern, aber die Hörner der Männchen sind im<br />
Durchschnitt fast doppelt so dick; vermutlich als Anpassung an die Art und<br />
Weise, wie Männchen gegeneinander kämpfen (Packer 1983). Bei Dickhornschafen<br />
(Ovis canadensis), bei denen beide Geschlechter Hörner tragen<br />
(Abb. 2.3), hat selektiver Jagddruck auf Männchen mit besonders<br />
großen Hörnern über einen Zeitraum von 30 Jahren dazu geführt, dass die
264 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
durchschnittliche Horn- und Körpergröße der Männchen zurückging, da<br />
sich diese Männchen seltener fortpflanzen konnten (Coltman et al. 2003).<br />
8.2.2 Verteidigung<br />
Aufgrund des hohen Verletzungsrisikos sowie des Infektionsrisikos von<br />
Wunden, das von diesen Waffen ausgeht, ist es nicht verwunderlich, dass<br />
korrespondierende Schutzmechanismen entstanden sind, um Verletzungen<br />
zu vermeiden. Individuen, die besser gegen einen Angriff geschützt sind,<br />
haben eine höhere Wahrscheinlichkeit weiter zu kämpfen oder überleben<br />
zu können. Peter Jarman (1989) hat solche Schutzmechanismen bei herbivoren<br />
Säugetieren untersucht und dazu Variation in der Hautdicke am ganzen<br />
Körper gemessen. Er fand dabei Artunterschiede in der Lage verdickter<br />
Hautstellen sowie einen massiven Geschlechtsunterschied: diese<br />
Hautschilde kommen fast nur bei Männchen vor. Ein Vergleich der artspezifischen<br />
Verteilung der Hautschilde mit typischen Waffen und Kampfstilen<br />
bestätigte die Hypothese, dass diese Hautverdickungen in intraspezifischen<br />
Auseinandersetzungen eine Schutzfunktion ausüben.<br />
So ist zum Beispiel bei Großen Roten Kängurus (Macropus rufus), die<br />
aufrecht kämpfen, die Haut an Bauch und Hals der Männchen besonders<br />
dick. Bei Wildschweinen (Sus scrofa), bei denen sich Männchen seitlich<br />
gegenüber stehen und versuchen, ihre Hauer einzusetzen, sind dagegen die<br />
bedrohten Hautstellen an der Körperseite besonders dick. Wenn Hörner<br />
und Geweihe eingesetzt werden, sind die Nacken- und Schulterregionen<br />
der Männchen mit dicker Haut versehen. Bei Gnus (Connochaetes taurinus),<br />
die versuchen ihre Hörner unter den Gegner zu bringen, ist außerdem<br />
die Haut der Halsunterseite verdickt, und die Tiere gehen zusätzlich beim<br />
Kämpfen in die Knie, um solche Angriffe zu verhindern.<br />
8.2.3 Kosten der intrasexuellen Selektion<br />
Merkmale, die durch intrasexuelle Selektion gefördert werden, können neben<br />
dem Verletzungsrisiko bei Kämpfen auch zusätzliche Kosten in anderer<br />
Form mit sich bringen. So kann die Produktion mancher Waffen energetisch<br />
teuer sein, insbesondere dann, wenn sie, wie beispielsweise<br />
Hirschgeweihe, jährlich erneuert werden und wichtige Ressourcen (z. B.<br />
Kalzium) binden. Außerdem steigt mit zunehmendem Körpergewicht der<br />
absolute Energiebedarf; wenn Futter knapp wird, verhungern Männchen<br />
daher oft als Erste (Clutton-Brock et al. 1997). Die Akkumulation von<br />
Körpermasse und das Wachstum von Waffen beanspruchen also viel Energie<br />
und Zeit.
8.2 Größe, Stärke und Waffen 265<br />
Diese indirekten Kosten der intrasexuellen Selektion treffen schon die<br />
heranwachsenden Männchen, die höhere Wachstumsraten und/oder<br />
-dauern haben als Weibchen. Juvenile Männchen haben daher generell<br />
eine höhere Mortalitätswahrscheinlichkeit als Weibchen, welche zudem<br />
mit dem artspezifischen Maß an Polygynie, einem Maß für Varianz im<br />
männlichen Fortpflanzungserfolg, zunimmt. Außerdem ist auch noch keine<br />
effektive Beteiligung dieser „Halbstarken“ am Fortpflanzungswettbewerb<br />
möglich, so dass sie durch dieses verlängerte Investment auch Fortpflanzungsgelegenheiten<br />
verpassen, obwohl sie schon geschlechtsreif sind.<br />
Diese Investitionen in die Kampfeskraft sind bei polygynen Arten mit unterschiedlichen<br />
Kosten verbunden.<br />
Ein genereller Zusammenhang zwischen Sexualdimorphismus und Geschlechtsunterschieden<br />
in den Mortalitätsraten wurde sowohl bei Vögeln<br />
als auch bei Säugetieren gefunden. Je größer Männchen im Vergleich zu<br />
den Weibchen sind, umso höher sind die Mortalitätsraten der Männchen<br />
(Promislow 1992). Bei Vögeln haben zudem Männchen bei Arten mit auffälligerem<br />
Gefieder durchschnittlich höhere Mortalitätsraten als weniger<br />
auffällig gefärbte Männchen nah verwandter Arten (Promislow et al.<br />
1992). Wenn man annimmt, dass auffällige Gefieder auch bei der Konkurrenz<br />
zwischen Männchen eine Funktion besitzen, kann man diesen Zusammenhang<br />
ebenfalls als Beitrag zu den Kosten intrasexueller Selektion<br />
interpretieren.<br />
Schließlich gibt es Hinweise darauf, dass die durch intrasexuelle Selektion<br />
entstandenen Waffen die Funktionalität anderer Organe in Mitleidenschaft<br />
ziehen können. Bei Mistkäfern (Onthophagus spp.) gibt es<br />
Hunderte von Arten mit Hörnern an unterschiedlichen Stellen des Körpers<br />
(Abb. 8.6). Detaillierte Vergleiche haben gezeigt, dass diese Hörner je<br />
nach ihrer Lage die jeweils benachbarten Organe um durchschnittlich 25%<br />
in deren Größe reduzieren. Wenn sich die Hörner also vorne am Kopf befinden,<br />
sind die Antennen kleiner, wenn sich die Hörner an der Basis des<br />
Kopfes befinden, sind die Augen reduziert, und wenn sich die Hörner auf<br />
dem Thorax befinden, haben die betreffenden Tiere kleinere Flügel (Emlen<br />
2001). Die lagespezifischen Kosten der Hornproduktion interagieren dabei<br />
mit der Ökologie der einzelnen Arten: nachtaktive Arten haben beispielsweise<br />
seltener Hörner an der Basis des Kopfes und damit auch seltener<br />
verkleinerte Augen. Solche funktionalen Kosten können also darüber mitentscheiden,<br />
wo genau bestimmte Waffen angelegt werden, d. h. es gibt eine<br />
Interaktion zwischen Ökologie und Morphologie auch im Kontext<br />
sexuell selektierter Merkmale.<br />
Nicht nur Merkmale, die bei direkten Auseinandersetzungen zwischen<br />
Männchen eingesetzt werden, sind mit Kosten behaftet, sondern auch die<br />
Produktion und Aufrechterhaltung von Ornamenten ( Kap. 8.3) sind mit
266 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Abb. 8.6. Mistkäfer<br />
benutzen ihre Hörner, die<br />
bei verschiedenen Arten an<br />
unterschiedlichen Stellen<br />
des Kopfes angebracht<br />
sind, primär dazu, den<br />
Eingang von Höhlen, in<br />
denen sich Weibchen<br />
befinden, gegenüber Rivalen<br />
zu blockieren<br />
verschiedenen Kosten verbunden. Vogelarten mit ornamentiertem Gefieder<br />
wenden beispielsweise mehr Zeit und Energie für die Gefiederpflege auf<br />
als einfach gefärbte Arten (Walther u. Clayton 2005). Investitionen in Ornamente<br />
können auch die Mortalitätswahrscheinlichkeit von Männchen<br />
beeinflussen. Wenn man Feldgrillen (Teleogryllus commodus) mit Nahrung<br />
hoher Qualität, in diesem Fall mit hohem Proteinanteil, versorgt, leben<br />
diese Weibchen länger als andere, die proteinarme Nahrung bekamen.<br />
Männchen mit proteinreicher Nahrung starben aber früher als ihre Artgenossen<br />
mit schlechterem Futter, da sie mehr in das Anlocken von Weibchen<br />
mit Hilfe ihrer „Gesänge“ investierten (Hunt et al. 2004). Dieses Experiment<br />
zeigt also, dass Investition in sexuell selektierte Merkmale<br />
sowohl von der Verfassung der einzelnen Männchen als auch von der jeweiligen<br />
Ressourcenlage abhängt.<br />
8.2.4 Grundlagen des Fortpflanzungserfolges<br />
Sexualdimorphismus in Merkmalen, die der Fortpflanzungskonkurrenz<br />
dienen, ist mit Überlebenskosten verbunden. Natürliche Selektion beschränkt<br />
also die Ausprägung mancher Merkmale, die durch intrasexuelle<br />
Selektion begünstigt werden. Eine grundlegende Annahme bei der Interpretation<br />
der Evolution der Angriffsmerkmale der Männchen besteht darin,<br />
dass diese Investitionskosten durch entsprechenden Fortpflanzungserfolg<br />
kompensiert werden. Dass heißt, es ist zu erwarten, dass größere, stärkere
8.2 Größe, Stärke und Waffen 267<br />
Box 8.1<br />
Polygynie und Varianz im männlichen Fortpflanzungserfolg<br />
• Frage: Erzielen männliche Südliche See-Elefanten (Mirounga leonina),<br />
die Harems verteidigen und am häufigsten kopulieren, auch den größten<br />
Fortpflanzungserfolg?<br />
• Hintergrund: See-Elefanten kommen nur einmal pro Jahr an Land, um<br />
sich zu paaren. Hunderte von erwachsenen Männchen und Weibchen konzentrieren<br />
sich dabei auf kleine, traditionelle Strandabschnitte. Männchen<br />
bilden in heftigen Kämpfen eine Rangordnung aus, die den Zugang zu<br />
Weibchen stark beeinflusst. Der Erfolg in diesen Kämpfen wird hauptsächlich<br />
von der Körpergröße bestimmt.<br />
• Methode: Die räumliche Verteilung und das Paarungsverhalten von individuell<br />
markierten See-Elefanten wurden an einem Strandabschnitt der<br />
Falklandinseln über mehrere Jahre beobachtet. Die Vaterschaft der Jungtiere<br />
wurde mit genetischen Methoden bestimmt.<br />
% Paarungserfolg oder Vaterschaften<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
25<br />
12<br />
14<br />
15<br />
44 41<br />
25<br />
20<br />
100<br />
% Paarungserfolg<br />
% Vaterschaften<br />
0<br />
RUB96 SM96 SF96 SF97 SI196 SI296 SI297<br />
26<br />
37<br />
78<br />
51<br />
49<br />
Harems<br />
• Ergebnis: Nur 28% der 149 Männchen haben sich mindestens einmal<br />
verpaart. 93% der 790 Kopulationen wurden von Haremshaltern durchgeführt.<br />
Nur 28% der Männchen zeugten mindestens ein Jungtier, wobei<br />
90% dieser Vaterschaften den dominanten Haremshaltern zufielen*.<br />
• Schlussfolgerung: Die Intensität der sexuellen Selektion ist, wie vorhergesagt,<br />
für Männchen intensiv.<br />
Fabiani et al. 2004<br />
* für 7 Harems dargestellt als Anteil der Kopulationen eines Männchens multipliziert<br />
mit der Zahl der Weibchen/Harem, der über alle Harems summiert wird ( ) sowie<br />
dem Anteil der Vaterschaften des dominanten Bullen ( ).
268 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Männchen mit den größten und effektivsten Waffen auch den höchsten<br />
Fortpflanzungserfolg erzielen.<br />
Der vorhergesagte positive Zusammenhang zwischen Körpergröße<br />
und Fortpflanzungserfolg wurde bei polygynen Säugetieren, bei denen<br />
sich manche Männchen mit mehreren Weibchen verpaaren, eindrucksvoll<br />
bestätigt (Box 8.1). Die körperliche Verfassung eines Männchens einer polygynen<br />
Säugetierart wird dabei nicht nur vom Alter beeinflusst; ansonsten<br />
würden alle Männchen im Laufe ihres Lebens im Durchschnitt gleich viele<br />
Nachkommen hinterlassen. Männchen unterscheiden sich auch noch in anderen<br />
Merkmalen, die alle zur Varianz im Lebensfortpflanzungserfolg<br />
beitragen. So gibt es bei Rothirschen große interindividuelle Unterschiede<br />
in der Anzahl der Brunftzeiten, die Männchen mitmachen, in der durchschnittlichen<br />
Anzahl von Tagen, an denen sie einen Harem verteidigen,<br />
sowie in der Anzahl an Weibchen, die dabei monopolisiert werden, in der<br />
Anzahl der Kälber, die sie durchschnittlich pro Jahr zeugen, sowie in deren<br />
Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Varianz zwischen Individuen in all diesen<br />
Faktoren führt dazu, dass Rothirschmännchen im Durchschnitt vier<br />
Nachkommen zeugen, die das erste Lebensjahr erreichen. Fast die Hälfte<br />
der Männchen zeugt aber in ihrem ganzen Leben kein einziges Jungtier,<br />
wohingegen andere bis zu 32 Nachkommen haben (Clutton-Brock et al.<br />
1982). Die Ursachen dieser Varianz lassen sich letztendlich auf das Geburtsgewicht<br />
der Männchen sowie das Investment ihrer Mütter in den ersten<br />
Lebensmonaten zurückführen (Kruuk et al. 1999; Kap. 10.2).<br />
Positive Zusammenhänge zwischen Körper- oder Waffengröße einerseits<br />
und Paarungs- und Fortpflanzungserfolg andererseits wurden auch bei<br />
anderen polygynen Säugetieren wie Mufflons (Ovis aries: Preston et al.<br />
2003), Dickhornschafen (Ovis canadensis: Coltman et al. 2002) oder Meerschweinchen<br />
(Cavia aperea: Asher et al. 2008) nachgewiesen. Körpergröße<br />
hat aber auch bei Wirbellosen wie der Großen Zitterspinne (Pholcus<br />
phalangioides: Schaefer u. Uhl 2003) oder dem Ohrwurm (Forficula auricularia:<br />
Forslund 2000) einen Einfluss auf den Paarungserfolg. Bei monogamen<br />
Arten gibt es dagegen selten auffällige Geschlechtsunterschiede in<br />
Merkmalen, die in ähnlicher Weise mit dem Fortpflanzungserfolg verknüpft<br />
sind. Bei diesen in Paaren lebenden Arten ist die Varianz im Lebensfortpflanzungserfolg<br />
zwischen den Geschlechtern auch sehr viel ähnlicher<br />
(z. B. Thomas u. Coulson 1988).<br />
8.2.5 Evolution sekundärer Geschlechtsmerkmale<br />
Sekundäre Geschlechtsmerkmale, die bei der direkten Konkurrenz der<br />
Männchen von Bedeutung sind, bringen sowohl Kosten als auch Nutzen
8.2 Größe, Stärke und Waffen 269<br />
für ihre Träger mit sich. Welche theoretischen Erwartungen für die Evolution<br />
dieser Merkmale ergeben sich daraus? Intrasexuelle Konkurrenz sollte<br />
eigentlich zu einem Wettrüsten führen, da der Paarungserfolg nicht von<br />
der absoluten Größe eines Merkmals, sondern von dessen relativen Wert in<br />
der Population abhängt. Das Wettrüsten hat drei mögliche Ausgänge:<br />
1. Männchen werden so selten, dass die Art ausstirbt.<br />
2. Zyklische Variation in der durchschnittlichen Männchengröße: Wenn<br />
große Männchen sehr selten sind, haben kleine Männchen wieder einen<br />
Vorteil und initiieren die nächste Spirale.<br />
3. Es gibt einen stabilen Polymorphismus in der Population, wodurch<br />
Kosten und Nutzen ausgeglichen werden (Parker 1983).<br />
Theoretische Modelle haben gezeigt, dass der Mittelwert vom ökologischen<br />
Optimum für ein Merkmal verschoben ist, wenn Stabilität erreicht<br />
wird. Stabile Polymorphismen treten immer dann auf, wenn die Kosten mit<br />
zunehmender Größe stärker zunehmen und wenn es umweltbedingte Variation<br />
im betreffenden Merkmal gibt (Maynard Smith u. Brown 1986). Da<br />
diese Annahmen in den meisten Populationen realistisch sind, unterstützen<br />
diese Modelle also Darwins Theorie, dass intrasexueller Wettbewerb um<br />
Paarungspartner zu stabilen Übertreibungen von männlichen Merkmalen<br />
führen kann, obwohl sie die durchschnittliche Überlebensfähigkeit reduzieren.<br />
Eine wichtige Konsequenz dieses höheren Investments von Männchen<br />
in Körpergröße und artspezifische Waffen besteht in der Evolution von<br />
zum Teil markanten Geschlechtsunterschieden. Wenn die betreffenden<br />
Merkmale quantifiziert werden können, lässt sich das Maß an Sexualdimorphismus<br />
als relative Größe der Männchen ausdrücken. Bei manchen<br />
marinen Säugetieren sind Männchen ein Vielfaches größer und schwerer<br />
als Weibchen (Lindenfors et al. 2002), aber auch bei vielen Primaten,<br />
Paarhufern und Karnivoren sind Männchen deutlich größer als Weibchen.<br />
Im Fall der Waffen können diese ganz auf die Männchen beschränkt sein<br />
oder sie sind bei den Männchen vergrößert (z. B. Eckzähne bei Primaten:<br />
Plavcan 2001).<br />
Obwohl bei vielen Wirbellosen, Fischen, Amphibien und Reptilien<br />
Männchen ebenfalls um den Zugang zu Weibchen konkurrieren, finden<br />
sich in diesen Gruppen kaum Beispiele für Arten, in denen Männchen erheblich<br />
größer sind (Anuren: Monnett u. Cherry 2002; Eidechsen: Butler<br />
et al. 2007); ganz im Gegenteil: In vielen Arten sind die Weibchen größer<br />
als die Männchen (umgekehrter Sexualdimorphismus). Entweder liegt<br />
dabei ein Rollentausch vor, also Weibchen haben schnellere potentielle<br />
Fortpflanzungsraten als die Männchen und konkurrieren untereinander um
270 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
diese (Jones et al. 1999; Kap. 9.7), oder bei diesen Arten ist die Fekundität<br />
positiv mit der Körpergröße korreliert. Da größere Weibchen mehr<br />
Eier produzieren können, gibt es bei diesen Arten möglicherweise stärkere<br />
Selektion auf die Körpergröße der Weibchen als auf die der Männchen.<br />
Schließlich interagiert das Maß an Sexualdimorphismus auch mit der<br />
absoluten Körpergröße: In Arten mit größeren Männchen nimmt Sexualdimorphismus<br />
mit zunehmender Körpergröße zu, wohingegen größere Arten<br />
mit umgekehrtem Sexualdimorphismus geringere Geschlechtsunterschiede<br />
aufweisen (Renschs Regel). Eine vergleichende Untersuchung an<br />
102 Arten von Strandläufern (Charadriides), bei denen sowohl „normaler“<br />
als auch „umgekehrter“ Sexualdimorphismus vorliegt, zeigte, dass die<br />
Richtung des Geschlechtsunterschiedes unabhängig von der Körpergröße<br />
davon abhängt, welches Paarungssystem in Kombination mit welchen<br />
männlichen Flug-displays existiert (Székely et al. 2004). Diese weiter gefassten<br />
Vergleiche zeigen, dass Sexualdimorphismus ein relatives Maß ist,<br />
welches zum Großteil unabhängige Selektionseffekte bei Männchen und<br />
Weibchen miteinander vergleicht.<br />
8.3 Ornamente<br />
Viele der spektakulärsten Anpassungen im Tierreich sind sexuell selektierte<br />
Ornamente von Männchen. Dabei handelt es sich um Farben, Muster,<br />
Anhänge, vergrößerte Strukturen oder aufwändige Signale in anderen Modalitäten,<br />
die im Rahmen der Paarungskonkurrenz oder Partnerwahl eingesetzt<br />
werden (Abb. 8.7). Da diese optischen, akustischen oder olfaktorischen<br />
Signale theoretisch sowohl von Rivalen als auch von potentiellen<br />
Paarungspartnerinnen empfangen werden, lässt sich eine exklusive Funktion<br />
im Kontext der Paarungskonkurrenz nicht leicht nachweisen. Nach einer<br />
Hypothese stellen aufwändige Ornamente Indikatoren der Qualität<br />
und Kondition des Senders dar. Diese Information ist sowohl für potentielle<br />
Paarungspartnerinnen als auch für Rivalen, die ihre Chancen bei einer<br />
direkten Konfrontation abschätzen, von Bedeutung (Berglund et al.<br />
1996). Allerdings sind nicht alle aufwändigen Ornamente automatisch Indikatoren<br />
männlicher Qualität; bei Blutschnabel-Webervögeln (Quelea<br />
quelea) ist die auffällige Färbung der Männchen nachweislich nicht mit deren<br />
Qualität assoziiert (Dale 2000).<br />
Die von Zahavi (1975) postulierte Handicap-Hypothese liefert eine Erklärung<br />
für sexuell selektierte Merkmale, die durch ihre Größe oder Auffälligkeit<br />
die Überlebenschancen des Trägers reduzieren. Demnach können
8.3 Ornamente 271<br />
Abb. 8.7. Paradiesvögel (hier<br />
Paradisea minor jobiensis) liefern<br />
einige der spektakulärsten<br />
Beispiele für auffällige und<br />
aufwändige Ornamente<br />
sich nur Individuen mit entsprechender körperlicher Verfassung solche<br />
Ornamente leisten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Merkmalen, die<br />
ehrlich oder zuverlässig sind, weil sie nicht gefälscht werden können, sowie<br />
Behinderungen (handicaps), die ehrlich sind, weil ihre Herstellung<br />
teuer und aufwändig ist (Maynard Smith u. Harper 2003). Männchen signalisieren<br />
demnach Weibchen mit aufwändigen Ornamenten, dass sie trotz<br />
dieses handicap problemlos überlebt haben und daher „gute Gene“ haben<br />
( Kap. 9.5). Zudem liefern dieselben Signale aber auch Information an<br />
Rivalen über die körperliche Verfassung eines möglichen Gegners. Da Eskalationen<br />
zu direkten körperlichen Auseinandersetzungen immer mit einem<br />
Verletzungsrisiko behaftet sind, können Ornamente dazu beitragen,<br />
Auseinandersetzungen zwischen Männchen mit ungleicher Kampfkraft<br />
zum Vorteil aller Beteiligten zu vermeiden.<br />
Verschiedene Produktions-, Unterhalts- und Mortalitätskosten von Ornamenten<br />
wurden bereits angesprochen (s. auch Walther u. Clayton 2005).<br />
Die Kosten des handicap können zudem auch darin begründet sein, dass<br />
Ornamente ihre Träger auffälliger für Raubfeinde machen. Ein Teil dieser<br />
Kosten kann durch entsprechende Verhaltensanpassungen allerdings kompensiert<br />
werden. Männliche Grillen (Gryllus integer) mit längeren, auffälligeren<br />
„Gesängen“ verhalten sich bei experimentell simulierter Präsenz<br />
von Räubern beispielsweise vorsichtiger als solche mit weniger aufwändigen<br />
Lauten (Hedrick 2000).
272 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
8.3.1 Visuelle Ornamente<br />
Körpergröße und Waffen können auch als Ornamente interpretiert werden.<br />
Sie stellen weitestgehend ehrliche visuelle Signale der Stärke und Wehrhaftigkeit<br />
dar, die bei Arten, bei denen Männchen direkt miteinander um<br />
Zugang zu Weibchen konkurrieren, zur Einschätzung der Kampfeskraft<br />
des Gegenübers benutzt werden können. In manchen Fällen versuchen<br />
Männchen durch Aufplustern, Haareaufstellen oder vergleichbare Mechanismen<br />
in solchen Situationen einen Rivalen zusätzlich zu beeindrucken<br />
(Abb. 8.8). Scheinangriffe und anderes Imponierverhalten sind bei solchen<br />
Konfrontationen ebenfalls häufig zu beobachten.<br />
In manchen Fällen scheint die Funktion von visuellen Ornamenten primär<br />
in der Paarungskonkurrenz zu liegen. So besitzen Fasane (Phasianus<br />
colchicus) einen auffälligen Kamm, dessen Größe und Farbe Testosteronabhängig<br />
variiert. Im Unterschied zur Schwanzlänge, die nachweislich von<br />
Weibchen bei der Partnerwahl bewertet wird, und der Länge des Fersensporns,<br />
der von Männchen bei Kämpfen eingesetzt wird, ist nur die Größe<br />
des Kamms mit dem Rang der Männchen korreliert und erfüllt damit die<br />
Voraussetzung als Signal der Kampfeskraft (Papeschi et al. 2003). Ob<br />
diese Information von den Fasanen-Männchen tatsächlich genutzt wird, ist<br />
allerdings noch nicht bekannt.<br />
Adulte männliche Mandrills (Mandrillus sphinx) besitzen bunt gefärbte<br />
Gesichter und Hinterteile (Abb. 8.9). Langfristige Vergleiche der Färbung,<br />
der Körperkondition, des Testosterontiters und des Dominanzrangs haben<br />
gezeigt, dass diese visuellen Ornamente die Voraussetzungen ehrlicher<br />
Signale erfüllen (Setchell u. Dixson 2001). Das heißt, die Färbung entwickelt<br />
sich, wenn Mandrill-Männchen sechs bis neun Jahre alt sind, wobei<br />
dominante Männchen zu jedem Zeitpunkt größer und bunter sind als<br />
Abb. 8.8. Bei Kämpfen<br />
zwischen Hähnen<br />
kommt es, wie bei vielen<br />
anderen Arten, zu<br />
Imponierverhalten, das<br />
den Gegner einschüchtern<br />
soll
8.3 Ornamente 273<br />
Abb. 8.9. Mandrills haben konditionsabhängige visuelle Ornamente. Dasselbe<br />
Männchen als Alpha-Tier (sitzend) und nach seiner Verdrängung auf einen niedereren<br />
Rang (stehend)<br />
niederrangige. Wenn erwachsene Männchen zum Alpha-Rang aufsteigen,<br />
werden sie schwerer, im Gesicht röter, bekommen größere Hoden und einen<br />
erhöhten Testosterontiter. Bei einem späteren Statusverlust sind alle<br />
diese Änderungen reversibel. Daher handelt es sich hierbei vermutlich um<br />
ehrliche Signale, die andere Männchen in den großen, anonymen Gruppen<br />
(von bis zu 600 Tiere) nutzen können, um ihr Verhalten gegenüber Rivalen<br />
einzuschätzen. Weibchen haben zudem eine Präferenz für farbige Männchen<br />
(Setchell 2005).<br />
Die Ehrlichkeit von Ornamenten basiert in vielen Fällen auf der Beteiligung<br />
von Karotenoiden. Diese Pigmente sind für die gelbe-orange-rote<br />
Färbung zahlreicher Ornamente verantwortlich und besitzen eine physiologische<br />
Funktion in der Immunabwehr. Experimente mit Amseln (Turdus<br />
merula) haben gezeigt, dass bei Parasitenbefall eine konditionsabhängige<br />
Allokation von Karotenoiden erfolgt. Nur Männchen, denen Karotenoide<br />
zugefüttert wurden, konnten ihre leuchtende Schnabelfarbe behalten und<br />
eine experimentelle Parasiteninfektion erfolgreich unterdrücken (Baeta et al.<br />
2008). Obwohl es jahreszeitliche Fluktuationen im zirkulierenden Karotenoidtiter<br />
geben kann, bleiben relative Unterschiede zwischen Männchen<br />
erhalten (Pérez-Rodríguez 2008). Solche Ornamente können auch dynamisch<br />
an sich verändernde soziale Bedingungen angepasst werden. Zebrafinkenmännchen<br />
(Taeniopygia guttata), die zusammen mit Weibchen<br />
gehalten werden, haben einen roteren Schnabel als solche, die in reinen<br />
Männchengruppen gehalten werden (Gautier et al. 2008); dieses Ornament<br />
scheint also primär auf Weibchen gerichtet zu sein. Schließlich gibt es<br />
auch genetisch determinierte innerartliche Farbpolymorphismen, die nicht
274 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
konditionsabhängig sind. So gibt es bei einem Prachtfinken (Gouldamadine,<br />
Erythrura gouldiae) drei Männchenmorphen, deren jeweilige Kopffärbung<br />
mit unterschiedlichem Dominanzstatus korreliert (Pryke u. Griffith<br />
2006).<br />
8.3.2 Akustische Ornamente<br />
Männchen vieler Insekten, Amphibien, Vögel und Säuger produzieren repetitive<br />
Rufe oder Laute, die als akustische Ornamente interpretiert werden.<br />
Diese Vokalisationen können entweder deswegen ehrliche Information<br />
über die Größe oder die physische Kondition eines Männchens<br />
enthalten, weil deren Produktion mit energetischen Kosten verbunden ist<br />
oder weil physikalische Merkmale des Lautes durch nicht fälschbare Eigenschaften<br />
des Senders bestimmt werden (Maynard Smith 1994).<br />
Bei Amphibien ist zum Beispiel die Grundfrequenz des Lautes negativ<br />
mit der Körpergröße korreliert; größere Männchen produzieren tiefere Rufe<br />
(Davies u. Halliday 1978). Da die Körpergröße bei direkten Auseinandersetzungen<br />
zwischen Männchen entscheidend ist, enthält die Grundfrequenz<br />
des Rufes ehrliche Information über die Kampfkraft, die aber<br />
wohl nicht immer genutzt wird (Bee 2002). Aufgrund der größenabhängigen<br />
modulierenden Wirkung des vokalen Trakts auf akustische Merkmale<br />
eines Rufs können Vokalisationen von Säugetiermännchen ebenfalls<br />
Informationen über die Körpergröße enthalten. Bei Rothirschen (Cervus<br />
elaphus) gibt es beispielsweise einen engen positiven Zusammenhang zwischen<br />
Alter, Körpermasse und der Formantendispersion, einer akustischen<br />
Variablen des Röhrens (Reby u. McComb 2003). Da das Röhren aber mit<br />
erheblichen energetischen Produktionskosten verbunden ist, steckt auch in<br />
der Rate, mit der ein Männchen ruft, Information über dessen Ausdauer<br />
und Qualität. Die Rufrate von Rothirschmännchen ist daher positiv mit deren<br />
Kampffähigkeit und Paarungserfolg korreliert (Clutton-Brock u. Albon<br />
1979); sie reagieren unterschiedlich auf künstlich veränderte Rufe, die die<br />
Präsenz eines großen oder kleineren Rivalen simulieren (Reby et al. 2005).<br />
Bei Pavianen (Papio ursinus) enthält der „Wa-hoo“, ein lauter, zweisilbiger<br />
Ruf, Informationen über die Qualität des Rufers (Abb. 8.10).<br />
Wa-hoos werden unter anderem bei Auseinandersetzungen zwischen<br />
Männchen ausgestoßen, wobei Männchen laut rufend umherlaufen, was<br />
körperlich anstrengend ist. Dominante Männchen rufen häufiger, schneller<br />
und länger als niederrangige Männchen (Kitchen et al. 2003). Außerdem<br />
unterscheidet sich die akustische Struktur der Wa-hoos zwischen dominanten<br />
und subordinaten Männchen (Fischer et al. 2004). Dass es sich dabei
8.4 Dominanz 275<br />
Abb. 8.10a–d. Konditionsabhängige Variabilität eines akustischen Ornaments, des<br />
Wa-hoo-Rufs a bei Pavianen b. Sowohl die Grundfrequenz der Rufe c als auch die<br />
Dauer des „hoo“-Teiles d variieren zwischen und innerhalb von Individuen in Abhängigkeit<br />
von deren Dominanzrang<br />
vermutlich um ein ehrliches akustisches Ornament handelt, haben Vergleichsmessungen<br />
der Laute von Männchen gezeigt, die im Rang abfielen.<br />
Nachdem sie keine dominante Position mehr innehatten, verkürzte sich die<br />
„hoo“-Silbe der Rufe und deren Grundfrequenz sank ab. Eine Silbe im Gesang<br />
männlicher Mehlschwalben (Hirundo rustica) scheint eine ähnliche<br />
Grundlage sowie eine vergleichbare Funktion bei der Konkurrenz zwischen<br />
Männchen zu haben (Galeotti et al. 1997).<br />
8.4 Dominanz<br />
Tiere, die regelmäßig mit denselben Artgenossen um Ressourcen konkurrieren,<br />
können untereinander Dominanzbeziehungen ausbilden. Dominanz<br />
ist ein Mechanismus zum Management individueller Asymmetrien, mit<br />
dem riskante Kämpfe vermieden werden können. Dominanz ist dabei keine<br />
intrinsische Eigenschaft eines Individuums, sondern sie beschreibt einen
276 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Aspekt der sozialen Beziehung zwischen zwei Individuen (Dyade), die dadurch<br />
gekennzeichnet ist, dass nur eines der beiden Tiere submissives<br />
Verhalten an den Tag legt. Außer im Fall von Individuen, die entweder<br />
alle anderen dominieren oder von allen anderen dominiert werden, ist es<br />
daher streng genommen irreführend, von dominanten oder subordinaten<br />
Tieren zu sprechen; alle anderen Tiere dominieren nämlich manche andere<br />
und werden von manchen anderen dominiert. Dominanzbeziehungen spielen<br />
nicht nur bei der Fortpflanzungskonkurrenz zwischen Männchen eine<br />
Rolle, sondern sie vermitteln auch Konkurrenz um andere Ressourcen<br />
( Kap. 5.4).<br />
8.4.1 Dominanz und Fortpflanzung<br />
Dominanzbeziehungen zwischen Männchen dienen primär der Regulation<br />
des Zugangs zu Weibchen und können daher im Kontext der intrasexuellen<br />
Selektion interpretiert werden. Im Unterschied zu Weibchen konkurrieren<br />
Männchen außerdem um eine nicht-teilbare Ressource: befruchtungsfähige<br />
Eier. Daher konkurrieren sie auf mehrere Arten und intensiver als Weibchen.<br />
Dominanzbeziehungen werden oft durch den Einsatz von aggressiven<br />
Verhaltensweisen etabliert. Dabei spielen körperliche Merkmale wie Größe,<br />
Stärke und Waffen die entscheidende Rolle, so dass der Dominanzrang<br />
in einer Hierarchie positiv mit diesen Merkmalen korreliert ist. Allerdings<br />
kann bei ausreichenden körperlichen Asymmetrien schon das Drohen eines<br />
übermächtigen Gegners Submission auslösen; vor allem dann, wenn sich<br />
Individuen regelmäßig treffen. Spontanes submissives Verhalten spielt<br />
bei der Aufrechterhaltung von Dominanzbeziehungen daher eine ebenso<br />
große Rolle. Die Existenz von Dominanzbeziehungen ist also nicht mit<br />
immerwährender Aggression gleichzusetzen; ganz im Gegenteil – durch<br />
die Kenntnis und Anerkennung der Überlegenheit eines Dominanten werden<br />
riskante Kämpfe vermieden.<br />
Wenn zwei oder mehr Männchen regelmäßig interagieren und untereinander<br />
Dominanzbeziehungen ausbilden, ist zu erwarten, dass sich die<br />
Rangunterschiede in unterschiedlichem Paarungserfolg niederschlagen. In<br />
diesem Zusammenhang existieren zwei Modelle zur Beschreibung des Zusammenhangs<br />
zwischen Rang und Paarungserfolg (Abb. 8.11). Das korrelative<br />
Modell postuliert einen generellen statistischen Zusammenhang<br />
zwischen den beiden Variablen, ohne einen besonderen Mechanismus zu<br />
benennen, der diesen Zusammenhang herstellt. Das „Priority-of-access“-<br />
Modell beschreibt dagegen einen spezifischeren Zusammenhang und Mechanismus.<br />
Demnach funktioniert die Rangordnung als eine Art Warte-
8.4 Dominanz 277<br />
Abb. 8.11. Schematische Darstellung der beiden Modelle, die den Zusammenhang<br />
zwischen Dominanz und Paarungserfolg beschreiben<br />
schlange, in welcher der Höchstrangige Priorität beim Zugang zu<br />
empfängnisbereiten Weibchen hat. Wenn die Zahl der gleichzeitig rezeptiven<br />
Weibchen aber so groß wird, dass nicht mehr alle vom Alpha-<br />
Männchen monopolisiert werden können, bekommt der Zweithöchste<br />
ebenfalls Paarungsgelegenheiten, dann der Drittrangige usw. (z. B. Charpentier<br />
et al. 2005).<br />
Zur Überprüfung dieser Modelle sind detaillierte Verhaltensdaten von<br />
Gruppen mit mehreren Männchen notwendig. Entsprechende Untersuchungen<br />
wurden in großer Zahl an Primaten durchgeführt, da diese mehrheitlich<br />
in Gruppen mit mehreren Männchen leben (Kutsukake u. Nunn 2006).<br />
Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen der Beziehung zwischen<br />
Dominanzrang und Paarungserfolg waren sehr uneinheitlich. Sowohl bei<br />
Vergleichen zwischen Arten, zwischen Populationen derselben Art als<br />
auch zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Population fand<br />
man eine große Varianz der Korrelationskoeffizienten zwischen diesen<br />
beiden Variablen. In der Mehrzahl der Fälle war der Korrelationskoeffizient<br />
positiv, manchmal gab es sogar eine perfekte Korrelation, aber in anderen<br />
Fällen gab es gar keine oder sogar eine negative Beziehung.<br />
Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass das „Priority-ofaccess“-Modell<br />
nicht unzutreffend ist, sondern dass es unter bestimmten<br />
Bedingungen für manche Männchen möglich ist, „sich vorzudrängeln“<br />
(Alberts et al. 2003). Zum einen wird der erwartete Zusammenhang zwischen<br />
Dominanzrang und Paarungserfolg mit zunehmender Anzahl der<br />
Männchen unschärfer, vermutlich weil es in größeren Gruppen mehr Möglichkeiten<br />
für zwei rangniedere Männchen gibt, durch eine Koalitions-
278 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
bildung ein höherrangiges Männchen von östrischen Weibchen zu vertreiben.<br />
Zum anderen ist der Rang eines Männchens stark von seinem Alter<br />
abhängig, womit wiederum seine Kampfkraft korreliert ist. In größeren<br />
Gruppen sind zudem aus demografischen Gründen mehr Männchen mit<br />
ähnlichem Alter zu erwarten, so dass die physischen Unterschiede zwischen<br />
ihnen geringer sind und auch rangniedere Männchen häufiger als<br />
erwartet zur Paarung kommen. Die Effekte der Dominanz auf den Paarungserfolg<br />
sind in diesem Fall also dichte- und altersabhängig. Bei Erdmännchen<br />
(Suricata suricatta) hat die Anzahl der subordinaten Männchen<br />
ebenfalls einen modulierenden Einfluss auf Aggressionsraten innerhalb einer<br />
Gruppe (Kutsukake u. Clutton-Brock 2008).<br />
Beobachtungen und DNA-basierte Vaterschaftsuntersuchungen an einer<br />
Population von 200 Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) zeigten einen generellen<br />
positiven Zusammenhang zwischen Dominanzrang und Fortpflanzungserfolg<br />
(Engh et al. 2002). Jedoch monopolisieren die alpha-Männchen<br />
die Fortpflanzung in ihren jeweiligen Gruppen nicht für sich. Diese<br />
Abweichung vom erwarteten Muster kommt zum einen dadurch zustande,<br />
dass natale Männchen einen höheren Rang haben, sich aber mit den ihnen<br />
nah verwandten Weibchen nur selten fortpflanzen; nur 3% der Jungen<br />
wurden von diesen Männchen gezeugt. Zum anderen korreliert die Aufenthaltsdauer<br />
eingewanderter Männchen in einer Gruppe positiv mit dem<br />
Fortpflanzungserfolg; mit jedem weiteren Jahr, das ein Männchen in einer<br />
Gruppe verbringt, steigen seine Fortpflanzungschancen und das unabhängig<br />
vom Rang (East u. Hofer 2001).<br />
Wie sehr der Fortpflanzungserfolg zu Gunsten des oder der ranghöchsten<br />
Männchen verschoben ist, kann durch die reproduktive Ungleichverteilung<br />
(reproductive skew) ausgedrückt werden, welche die<br />
Schiefe der dazu gehörenden Häufigkeitsverteilung beschreibt (Vehrencamp<br />
1983). Bei maximalem reproductive skew wird die Fortpflanzung<br />
vom Alpha-Tier monopolisiert (z. B. Gorillas, Gorilla gorilla: Bradley<br />
et al. 2005, Sifakas, Propithecus verreauxi: Kappeler u. Schäffler 2008). In<br />
diesem Fall wird die gesamte Varianz im Fortpflanzungserfolg durch Dominanzunterschiede<br />
erklärt (Abb. 8.12). Wenn dagegen alle Männchen im<br />
Durchschnitt ± gleich erfolgreich sind, ist der reproductive skew am geringsten,<br />
und der Dominanzstatus hat keinen Einfluss auf den Fortpflanzungserfolg<br />
(z. B. Streifenmangusten, Mungos mungo: de Luca u. Ginsberg<br />
2001). In den letzten Jahren wurden zahlreiche Modelle zu dieser Problematik<br />
entwickelt, die sich aber hauptsächlich mit der Fortpflanzungskonkurrenz<br />
zwischen Weibchen und den zugrunde liegenden Mechanismen<br />
beschäftigen (Clutton-Brock 1998; Kap. 9.7).
8.4 Dominanz 279<br />
Abb. 8.12. Schematische Darstellung unterschiedlicher Intensitäten von reproductive<br />
skew. Die theoretische Verteilung von Vaterschaften zwischen vier Männchen<br />
bei hohem, mittlerem und geringem reproductive skew<br />
8.4.2 Reproduktive Unterdrückung<br />
Wenn es zu einer kompletten Monopolisierung der Fortpflanzung durch<br />
das ranghöchste Männchen, also zu maximalem reproductive skew kommt,<br />
kann dies in manchen Fällen durch physiologische Unterdrückung der<br />
Fortpflanzungsfunktion der Subordinierten zustande kommen. Die Präsenz<br />
des Dominanten ist dabei ausreichend, bei anderen Männchen Änderungen<br />
des Verhaltens und der Fortpflanzungsphysiologie auszulösen, die deren<br />
Paarungserfolg beeinträchtigen. Da durch Stress ähnliche Effekte ausgelöst<br />
werden können (von Holst 1998; Kap. 3.1), könnte es sich um vergleichbare<br />
physiologische Mechanismen handeln.<br />
Beispiele reproduktiver Unterdrückung gibt es bislang vornehmlich von<br />
Säugetieren. Beim Alpen-Murmeltier (Marmota marmota) leben neben<br />
einem dominanten reproduktiven Männchen, welches die Fortpflanzung<br />
weitestgehend monopolisiert, auch noch mehrere andere Männchen in einer<br />
Gruppe. Bei diesen Männchen handelt es sich entweder um ältere Söhne<br />
des Alpha-Männchens oder um Immigranten. Alle drei Klassen von<br />
Männchen unterscheiden sich nicht in der Körpermasse oder Hodengröße<br />
(Arnold u. Dittami 1997). Immigranten haben aber geringere Androgenund<br />
höhere Kortikosteroidtiter sowie mehr Verletzungen als die anderen<br />
Männchen; vermutlich als Folge von Aggression durch das Alpha-Männchen.<br />
Diese Männchen haben infolgedessen einen geringeren Gewichtszuwachs<br />
im kommenden Sommer und eine reduzierte Überlebenswahr-
280 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Abb. 8.13. Reproduktive Unterdrückung bei Orang-Utans (Pongo pygmaeus).<br />
Dominante Männchen (links) besitzen sekundäre sexuelle Merkmale wie Backenwülste<br />
und eine lange Mähne, deren Ausprägung bei subordinaten Männchen<br />
(rechts) durch die Präsenz eines Dominanten unterdrückt wird<br />
scheinlichkeit im darauf folgenden Winterschlaf. Da die eigenen gleichaltrigen<br />
Söhne diese Effekte nicht aufweisen, handelt es sich um eine gezielte<br />
Unterdrückung der Immigranten durch die Dominanten.<br />
Beim Grauen Mausmaki (Microcebus murinus) reicht der Urin eines<br />
unbekannten Dominanten aus, um bei Männchen, die dem Dominanten<br />
noch nie begegnet sind, eine Reduktion des Körpergewichts, der Hodengröße<br />
und des Testosterontiters auszulösen (Schilling et al. 1984). Bei<br />
Orang-Utans (Pongo pygmaeus) sind es dagegen die lauten Rufe (long<br />
calls) der Dominanten, die bei anderen Männchen die Entwicklung der<br />
auffälligen sekundären Geschlechtsmerkmale unterbinden (Maggioncalda<br />
et al. 2002; Abb. 8.13). Trotzdem gelingt es solchen Männchen, deren<br />
Entwicklung dermaßen gestoppt wird, Nachwuchs zu zeugen (Utami et al.<br />
2002). In allen Fällen sind die Effekte nach Entfernung des Dominanten<br />
rasch reversibel. Hier stellt sich auch die Frage nach dem Anpassungswert<br />
dieser Unterdrückungsreaktion. Für den Dominanten sind die Vorteile klar,<br />
da dadurch seine Konkurrenzfähigkeit verbessert wird. Aus Sicht der Betroffenen<br />
ist aber nicht klar, ob sie sich dagegen einfach nicht wehren können<br />
oder ob es sich um eine aktive Anpassung handelt. Solche physiologischen<br />
Unterdrückungsmechanismen finden sich bei manchen Arten auch<br />
zwischen Weibchen ( Kap. 9.7).
8.5 Spermienkonkurrenz 281<br />
8.5 Spermienkonkurrenz<br />
Wenn die Bemühungen von Männchen, Weibchen für sich zu monopolisieren,<br />
fehlschlagen, kommt es aus Sicht der Weibchen zu Mehrfachverpaarungen<br />
mit zwei oder mehr Partnern. Diese Mehrfachverpaarungen<br />
führen zwangsläufig zu Spermienkonkurrenz: Konkurrenz zwischen<br />
Spermien von verschiedenen Männchen um die Befruchtung der Eier eines<br />
Weibchens. Spermienkonkurrenz ist im Tierreich weit verbreitet und hat<br />
bei den betroffenen Männchen zu einer Reihe von anatomischen, physiologischen<br />
und verhaltensbiologischen Anpassungen geführt. Eine weit verbreitete<br />
wichtige Konsequenz der Spermienkonkurrenz besteht im Auftreten<br />
von gemischten Vaterschaften. Spermienkonkurrenz liefert auch<br />
Anlass zu Konflikten zwischen den Geschlechtern ( Kap. 9.8) und liefert<br />
die Grundlage für eine wichtige Form der weiblichen „Partnerwahl“: der<br />
kryptischen Auswahl bestimmter Spermien ( Kap. 9.3). Die Existenz von<br />
Spermienkonkurrenz zeigt auch, dass die Fortpflanzungskonkurrenz der<br />
Männchen nicht mit einer erfolgreichen Paarung endet; es handelt sich also<br />
um einen wichtigen Mechanismus postkopulatorischer Konkurrenz.<br />
Trotz zahlreicher Beobachtungen des Verhaltens hat Darwin (1871) in<br />
seinem Werk über sexuelle Selektion keine Bemerkungen über Spermienkonkurrenz<br />
gemacht; vermutlich weil es im viktorianischen Zeitalter nicht<br />
opportun war, darüber zu sprechen. Geoff Parker (1970) war daher der erste,<br />
der anhand seiner Beobachtungen an Insekten auf die Existenz von<br />
Spermienkonkurrenz aufmerksam gemacht hat. Seither gab es zunächst eine<br />
Vielzahl an Untersuchungen an Insekten, aber in den letzten Jahren<br />
wurde Spermienkonkurrenz auch bei Wirbeltieren, insbesondere bei<br />
Vögeln, intensiv untersucht (Birkhead u. Møller 1992).<br />
8.5.1 Mechanismen<br />
Die Untersuchung der Mechanismen der Spermienkonkurrenz ist eng mit<br />
den sich in diesem Gebiet entwickelnden Methoden verknüpft. Eine wichtige<br />
Methode, die dabei Anwendung findet, besteht darin, Spermien von<br />
individuellen Männchen zu markieren: entweder mit bestimmten Farbstoffen<br />
oder radioaktiven Isotopen, so dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />
nach der Kopulation im weiblichen Genitaltrakt einzelnen Männchen<br />
zugeordnet werden können. Außerdem können die Mechanismen der<br />
Spermienkonkurrenz mit Hilfe von Vaterschaftstests bestimmt werden.<br />
Wenn sich die Vaterschaft mit Hilfe von phänotypischen Markern oder mit<br />
genetischen Verfahren eindeutig bestimmen lässt, kann man mit kontrollierten<br />
Verpaarungsexperimenten die einer Vaterschaftsverteilung zugrun-
282 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
de liegenden Mechanismen erforschen. In einem solchen Standardexperiment<br />
wird ein Weibchen nacheinander mit zwei Männchen verpaart. Die<br />
resultierenden P-Werte (von paternity) geben Hinweise auf das Geschehen<br />
im Genitaltrakt des Weibchens. Der üblicherweise dabei verwendete<br />
P 2 -Wert bezeichnet den Anteil der Nachkommen, die vom jeweils<br />
zweiten Männchen gezeugt wurden.<br />
Trotz vieler gemeinsamer Grundprinzipien hängen die spezifischen<br />
Mechanismen der Spermienkonkurrenz bei Wirbellosen und Wirbeltieren<br />
stark vom Bauplan der Genitalien und der Spermienphysiologie ab.<br />
Bei vielen Insekten bewahren Weibchen zum Beispiel empfangene Spermien<br />
für einige Zeit in speziellen Aufbewahrungsorganen auf (manche<br />
Ameisenköniginnen für mehr als 20 Jahre!), von wo sie zur sequentiellen<br />
späteren Befruchtung der Eier herangezogen werden. Wenn sich solche<br />
Weibchen mit mehreren Männchen verpaaren, kommt es aufgrund der<br />
meist röhrenförmigen, blind endenden Struktur dieser Aufbewahrungsorgane<br />
dazu, dass die Spermien des jeweils letzten Männchens die vorher<br />
deponierten Spermien zum Ende des Organs schieben. Da die benötigten<br />
Spermien in umgekehrter Reihenfolge ihrer Deposition rekrutiert werden,<br />
kommt es aufgrund der resultierenden Stratifikation der Ejakulate dazu,<br />
dass die Spermien des letzten Männchens als erste zur Befruchtung herangezogen<br />
werden; es gilt also: „last in – first out“. Dieser Mechanismus<br />
kann über einen hohen P 2 -Wert nachgewiesen werden. Stratifikation ist ein<br />
passiver Mechanismus der Spermienkonkurrenz, den Männchen theoretisch<br />
nur dadurch zu ihren Gunsten beeinflussen können, dass sie als letzte<br />
kopulieren. Bei Gespenstkrabben (Inachus phalangium) unterstützen<br />
Männchen diesen Mechanismus allerdings aktiv. Sie deponieren zunächst<br />
nur eine klebrige Samenflüssigkeit ohne Spermien, die sich über die älteren<br />
Ejakulate legt und diese verklebt; erst dann werden eigene Spermien<br />
ejakuliert (Diesel 1990).<br />
Bei einer kolonialen Seescheide (Diplosoma listerianum: Bishop et al.<br />
2000) oder einer Molchart (Taricha granulosa: Jones et al. 2002) gibt es<br />
aufgrund der Struktur der Spermienspeicherorgane aber auch genau den<br />
umgekehrten Effekt: Hier haben die jeweils ersten Männchen einen Vorteil<br />
(first male advantage), da ihre Spermien bevorzugt benutzt werden. Bei<br />
der untersuchten Molchart ist dies deshalb bemerkenswert, weil die Weibchen<br />
Spermien über Tage oder Wochen speichern, diese sich vermischen<br />
und der Abstand zwischen den Kopulationen des ersten und zweiten<br />
Männchens keinen Einfluss auf die Verteilung der Vaterschaft hat.<br />
Bei einem anderen Mechanismus der Spermienkonkurrenz übernehmen<br />
Männchen dagegen einen aktiven Part: Sie entfernen die Spermien von<br />
Männchen, die vor ihnen mit einem Weibchen kopuliert haben. Dadurch<br />
erreicht der P 2 einen Wert von praktisch 1, zumindest für die Eier, die di-
8.5 Spermienkonkurrenz 283<br />
rekt danach befruchtet und gelegt werden. Das Entfernen von Spermien<br />
ist aber nicht unbedingt 100%ig effektiv, so dass sich die Spermien mit der<br />
Zeit vermischen und der P 2 -Wert sich nach mehreren Tagen einem Wert<br />
von 0,5 nähert. Das Entfernen der Spermien von Rivalen erfordert einen<br />
entsprechend geformten Penis. Bei Libellen, bei denen dieser Mechanismus<br />
entdeckt wurde, ist die Spitze des Penis in der Tat löffelartig erweitert<br />
(Waage 1979). Bei anderen Arten bleiben die Spermien der Vorgänger<br />
passiv am Penis hängen, wie z. B. bei den Männchen einer asiatischen<br />
Heuschrecke, denen die Spermien des Vorgängers nach der Kopulation als<br />
Nahrung dienen (Ono et al. 1989). Bei Aaskäfern (Aleochara curtula)<br />
dient nicht der Penis, sondern die übertragene Spermatophore der Verdrängung.<br />
Aus dieser wächst ein Schlauch in die Spermatothek des Weibchens,<br />
wo er sich wie ein Ballon ausweitet und die Spermien von früheren<br />
Kopulationen verdrängt. Erst dann lässt der Kontakt mit kleinen Haken an<br />
der Innenwand der Spermatothek die Spermatophore platzen und setzt die<br />
neuen Spermien frei (Gack u. Peschke 1994).<br />
Eine weitere, sehr direkte Form der Spermienkonkurrenz besteht darin,<br />
die Spermien eines Vorgängers durch große Mengen eigenen Spermas zu<br />
verdrängen und sie damit auszuspülen (Simmons et al. 1999a). In manchen<br />
Fällen ist zum Austausch der Ejakulate die aktive Mithilfe des Weibchens<br />
nötig. Entweder trägt das Ansaugen bzw. Abgeben von Spermien<br />
durch feine Kanäle im spermienspeichernden Organ mit dazu bei, dass das<br />
Sperma des vorletzten Männchens zugunsten des letzten Männchens wieder<br />
freigesetzt wird (Ward 1993), oder das Männchen massiert die Genitalien<br />
des Weibchens nach der Kopulation, bis es Spermien des Vorgängers<br />
abgibt. P 2 -Werte ohne solche Massagen sind sehr viel geringer als mit<br />
Massage. Ein solcher Mechanismus findet sich bei der Heckenbraunelle<br />
(Prunella modularis), wo mehrere Männchen mehrfach mit demselben<br />
Weibchen kopulieren (Davies 1983).<br />
Bei Hühnern wurde ein weiterer Mechanismus entdeckt, der zu einem<br />
Vorteil für das letzte Männchen führt: passiver Spermienverlust. Wenn<br />
man Hühner künstlich mit den vermischten Spermien von zwei Männchen<br />
befruchtet, fertilisieren beide im Durchschnitt dieselbe Zahl an Eiern.<br />
Wenn man die beiden Ejakulate dagegen im Abstand von vier Stunden<br />
appliziert, resultiert ein P 2 -Wert von 0,77. Diese Verschiebung kommt<br />
dadurch zustande, dass die Spermien einer Ejakulation sofort beginnen,<br />
wieder aus dem Speichertubulus, in dem sie aufgenommen werden, auszulaufen<br />
(Abb. 8.14). Bei diesem linearen, passiven Verlust hängt der<br />
P 2 -Wert nur vom zeitlichen Abstand zwischen zwei Kopulationen ab; je<br />
größer der Abstand, um so höher der P 2 -Wert (Birkhead u. Biggins 1998).<br />
Bei Arten, die Spermien nicht speichern können, gilt häufig das<br />
Lotterie-Prinzip: wenn die Lose billig sind und der Preis wertvoll ist, ist
284 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Abb. 8.14. Schematische Darstellung von passivem Spermienverlust. Der Zeitpunkt<br />
einer Kopulation in Relation zur Befruchtung sowie der Abstand zwischen<br />
den Kopulationen verschiedener Männchen bestimmen deren Befruchtungswahrscheinlichkeit<br />
die Wahrscheinlichkeit, den Hauptgewinn zu ziehen, umso größer, je mehr<br />
Lose man hat. Männchen werden also darauf selektiert, möglichst viele<br />
Ejakulate mit möglichst vielen Spermien zu produzieren, da die Befruchtungswahrscheinlichkeit<br />
proportional zur abgegebenen Spermienmenge<br />
zunimmt (raffle principle; Parker 1990). Männchen in Arten mit externer<br />
Fertilisation können einzig durch eine solche Erhöhung der Spermienmenge<br />
ihre Befruchtungswahrscheinlichkeit vergrößern. Sessile Invertebraten<br />
wie Muscheln oder Seeigel produzieren daher riesige Mengen an<br />
Spermien, die ins Wasser abgegeben werden.<br />
Bei Vögeln und Säugetieren spielen funktionale Zwänge der Fortpflanzungsphysiologie<br />
eine wichtige Rolle bei der Spermienkonkurrenz.<br />
Bei Vögeln werden nicht alle Eier eines Geleges gleichzeitig produziert<br />
und befruchtet, sondern einzeln, je nach Gelegegröße über Tage oder sogar<br />
Wochen. Die Spermien landen bei Vögeln zunächst in zahlreichen kleinen<br />
Speichertubuli an der Basis des Ovidukts und werden dort für mehrere Tage<br />
oder Wochen gespeichert, bevor sie freigesetzt werden und zum Infundibulum<br />
am anderen Ende des Ovidukts wandern, wo sie auf die nächste<br />
Ovulation warten.<br />
Säugetiere haben keine speziellen Strukturen zur Spermienspeicherung<br />
und besitzen, mit Ausnahme von manchen Fledermäusen, nur sehr kurzlebige<br />
Spermien. Bei ihnen entscheidet die Art der Ovulation in wichtiger<br />
Weise darüber mit, welches Männchen erfolgreich ist, da manche Weibchen<br />
nur für wenige Stunden empfängnisbereit und die Spermien vergleichsweise<br />
kurzlebig sind. Genauer gesagt ist der Zeitpunkt der Kopula-
8.5 Spermienkonkurrenz 285<br />
tion in Relation zur Ovulation dafür Ausschlag gebend, welche Spermien<br />
zur Befruchtung gelangen. Bei Arten mit induzierter Ovulation, wie z. B.<br />
Katzen, deponiert das erste Männchen, welches die Ovulation auslöst, seine<br />
Spermien zeitlich am nächsten zur Ovulation und hat daher meist die<br />
Nase vorn, falls es noch zu weiteren Kopulationen kommt. Bei Arten mit<br />
spontaner Ovulation entscheidet ebenfalls der Ejakulationszeitpunkt in<br />
Relation zur Ovulation über den Fertilisationserfolg; hier ist es aber in den<br />
wenigsten Fällen das erste Männchen, das zur rechten Zeit kopuliert. Neben<br />
dem Zeitpunkt und der Dauer der Ovulation ist aber auch die Zeit<br />
wichtig, welche die Spermien zur Reifung (Kapazitierung) benötigen. Dies<br />
belegt ein Paarungsexperiment mit Hamstern (Mesocricetus auratus), in<br />
dem Männchen des Wildtyps und einer homozygot rezessiven Farbvariante<br />
in unterschiedlichen Abständen mit Weibchen kopulieren durften (Huck<br />
et al. 1989). Hier entschieden die Paarungsreihenfolge, der Abstand zwischen<br />
den beiden Kopulationen sowie der Paarungszeitpunkt relativ zur<br />
Kopulation darüber, ob es einen Vorteil für das erste oder zweite Männchen<br />
gab (Abb. 8.15).<br />
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Intensität und der vorherrschende<br />
Mechanismus der Spermienkonkurrenz durch mehrere Bauplanmerkmale<br />
bestimmt werden. Die Existenz von Spermienspeicherorganen<br />
variiert zwischen Taxa, und das hängt damit zusammen, ob und<br />
wie lange Spermien gespeichert werden können. Säugerspermien sind 1–5<br />
Abb. 8.15. Spermienkonkurrenz bei Hamstern. Bei Verpaarungen im Abstand von<br />
sechs Stunden entscheiden die Reifungszyklen der Spermien in den einzelnen Ejakulaten<br />
sowie der Zeitpunkt deren Deposition in Relation zur Ovulation über die<br />
Befruchtungswahrscheinlichkeit einzelner Männchen. In diesem Beispiel stammen<br />
die meisten befruchtungsfähigen Spermien vom „gelben“ Männchen
286 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Tage überlebensfähig, bei Vögeln sind es 12–13 Tage und bei Insekten<br />
können es Jahre sein. Ein zweiter Faktor ist die Form der Spermienübertragung:<br />
Handelt es sich um diskrete Spermatophoren oder um flüssige<br />
Ejakulate? Erstere können viel leichter gespeichert und entfernt werden.<br />
Schließlich hat die Art der Fertilisation einen Einfluss auf die Mechanismen<br />
der Spermienkonkurrenz, je nachdem, ob sie extern oder intern erfolgt.<br />
Es handelt sich hier um ein weiteres Beispiel dafür, wie das Verhalten<br />
von Tieren durch vorgegebene Bauplanmerkmale eingeschränkt ist.<br />
8.5.2 Verhaltensanpassungen an Spermienkonkurrenz<br />
Bei intensiver Spermienkonkurrenz ist es nahe liegend, dass Männchen<br />
auch eine Reihe von defensiven Gegenstrategien entwickelt haben, um ihre<br />
„Investition“ zu schützen und/oder um sich einen Konkurrenzvorteil zu<br />
verschaffen. In diesem Zusammenhang spielt das Verhalten der Männchen<br />
eine herausragende Rolle; entsprechende Anpassungen finden sich aber<br />
auch in der Anatomie der Genitalien, Hoden und Spermien.<br />
Männchen können ihre Erfolgschancen bei der Spermienkonkurrenz mit<br />
drei Aspekten ihres Verhaltens beeinflussen: sie können die betreffenden<br />
Weibchen bewachen, sie können besondere Verhaltensweisen bei der Kopulation<br />
einsetzen und sie können mehr als einmal kopulieren. Die Bewachung<br />
von Weibchen (mate guarding) kann schon vor Beginn der fertilen<br />
Phase einsetzen oder sie folgt auf die Kopulation. Außerdem kann<br />
Bewachung mit oder ohne physischen Kontakt erfolgen. Bewachung hat<br />
zum Ziel, Kontakte eines Weibchens mit anderen Männchen zu unterbinden<br />
und damit das Risiko von Spermienkonkurrenz zu reduzieren. Permanente<br />
Bewachung eliminiert das Risiko von Spermienkonkurrenz und<br />
führt zur effektiven Monopolisierung. Ob und wie lange ein Männchen ein<br />
bestimmtes Weibchen in anderen Fällen bewacht, hängt von mehreren<br />
Faktoren ab. Das Bewachen stellt für Männchen zunächst ein Dilemma<br />
dar: Die Zeit, die sie in die Bewachung eines Weibchens investieren, fehlt<br />
ihnen bei der Suche nach weiteren Weibchen. Männchen sehen sich also<br />
einem Trade-off gegenüber, bei dem sie Sicherheit in die Vaterschaft bei<br />
einem Weibchen gegen zusätzliche Vaterschaften mit weiteren Weibchen<br />
gegeneinander aufrechnen müssen (Kokko u. Morrell 2005). Da das Bewachen<br />
zudem mit energetischen Kosten verbunden ist, reagieren Männchen<br />
flexibel auf Variabilität in zusätzlichen Fortpflanzungsmöglichkeiten<br />
sowie auf das Risiko, einen Teil der Vaterschaft zu verlieren (Komdeur<br />
2001).<br />
Variabilität im Kopulationsverhalten kann ebenfalls als Anpassung an<br />
unterschiedlich hohe Vaterschaftswahrscheinlichkeiten betrachtet werden.
8.5 Spermienkonkurrenz 287<br />
Abb. 8.16. Das Tandem von<br />
Libellen (hier Hufeisen-Azurjungfern<br />
Coenagrion puella)<br />
ist eine Form des mate<br />
guarding, bei der das<br />
Männchen bis zur Eiablage<br />
Körperkontakt mit dem Weibchen<br />
hält<br />
Während manche Arten nur für wenige Sekunden kopulieren, bleiben die<br />
Partner bei anderen Arten viel länger verbunden als zur Befruchtung notwendig<br />
ist. Eine richtiggehende mechanische Verschränkung der Genitalien<br />
gibt es z. B. bei Hundeartigen und Nagern. Eine ähnliche Strategie verfolgen<br />
Männchen von Libellen und Dungfliegen, die postkopulatorischen<br />
Körperkontakt mit den Weibchen halten oder zumindest so lange in ihrer<br />
Nähe bleiben, bis sie einen Großteil der Eier gelegt haben (Abb. 8.16).<br />
Auch innerhalb von Arten gibt es Variation in der Kopulationsdauer<br />
(Box 8.2). Da der Anteil der befruchteten Eier nicht linear mit der Kopulationsdauer<br />
zunimmt, sollte es eine optimale Kopulationsdauer geben, nach<br />
der sich Männchen auf die Suche nach weiteren Weibchen machen. Bei<br />
Dungfliegen (Scathophaga stercoraria) beträgt die berechnete optimale<br />
Kopulationsdauer 41 Minuten und liegt damit recht nahe an der beobachteten<br />
durchschnittlichen Kopulationsdauer von 36 Minuten (Parker 2001).<br />
Schließlich kommt es bei manchen Arten nur zu einer oder wenigen<br />
Kopulationen, um die Eier eines Geleges oder Wurfes zu befruchten, wohingegen<br />
andere Arten zum selben Zweck hunderte von Kopulationen<br />
absolvieren. Schimpansenweibchen (Pan troglodytes) kopulieren zum Beispiel<br />
ca. 6000-mal im Leben – um durchschnittlich vier Junge zu produzieren<br />
(Wrangham 1993)! Proximat hängt die Zahl der Kopulationen<br />
sicher davon ab, wie viele Spermien pro Ejakulat übertragen werden und<br />
ob bzw. wie lange Spermien gelagert werden können (in Relation zur Reifungsdauer<br />
der Eier). Damit kann ein Teil der zwischenartlichen und interindividuellen<br />
Variabilität im Kopulationsverhalten erklärt werden.<br />
Aus evolutionärer Perspektive sollten Männchen auf ein Risiko der<br />
Spermienkonkurrenz mit einer Erhöhung der Kopulationshäufigkeit reagieren,<br />
da sie so selbst mehr Spermien deponieren und damit ihre Fertilisationschancen<br />
erhöhen – wenn alle anderen Faktoren konstant sind. Aller-
288 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Box 8.2<br />
Kopulationsdauer bei Seidenspinnen: … bis dass der Tod sie scheidet<br />
• Frage: Erhöhen längere Kopulationen den Fortpflanzungserfolg bei Seidenspinnen?<br />
• Hintergrund: Weibliche Seidenspinnen (Nephila plumipes), die sich<br />
mehrfach verpaaren, fressen häufig Männchen im Verlauf der Paarung.<br />
Dieser Kannibalismus kann aus männlicher Sicht nur vorteilhaft sein,<br />
wenn die betroffenen Männchen hohen Fertilisationserfolg haben. Der<br />
männliche Fertilisationserfolg sollte daher positiv mit der Kopulationsdauer<br />
zusammenhängen.<br />
• Methode: Weibliche Spinnen wurden experimentell nacheinander mit<br />
zwei Männchen verpaart und die Vaterschaft beider Männchen unter den<br />
Nachkommen bestimmt.<br />
1,25<br />
1,0<br />
0,75<br />
P 2<br />
0,5<br />
0,25<br />
0,0<br />
1 10 100 1000<br />
Dauer der 2.Kopulation<br />
• Ergebnis: Kopulationen mit Kannibalismus dauerten im Durchschnitt<br />
länger als solche ohne. Nur Männchen, die als zweite kopulierten, hatten<br />
mit zunehmender Kopulationsdauer einen größeren Befruchtungserfolg<br />
(P 2 ).<br />
• Schlussfolgerung: Männchen, die auf ein bereits verpaartes Weibchen<br />
treffen, können durch eine längere Kopulation ihren Fortpflanzungserfolg<br />
erhöhen. In diesem Sinne könnte Kannibalismus für die betroffenen<br />
Männchen vorteilhaft sein.<br />
Schneider u. Elgar 2001<br />
dings müssen sie dabei die Effekte der vorangehenden und nächsten Kopulation<br />
mit berücksichtigen – also ihre verfügbaren Spermien möglichst optimal<br />
über mehrere Ejakulationen verteilen. Obwohl jedes einzelne Sper-
8.5 Spermienkonkurrenz 289<br />
mium winzig ist, sind die Produktionskosten für Millionen davon vermutlich<br />
nicht trivial, so dass es in aufeinander folgenden Ejakulationen zu einer<br />
Reduktion der Spermienzahl kommt (Wedell et al. 2002). Das heißt,<br />
eine weitere Kopulation mit einem Weibchen erhöht die Vaterschaftschancen<br />
irgendwann nicht merkbar weiter, reduziert aber wohl die Fähigkeit,<br />
für ein anderes Weibchen ein großes Ejakulat produzieren zu können;<br />
vor allem wenn die beiden Kopulationen relativ zeitnah erfolgen. Aus diesen<br />
theoretischen Gründen ist zu erwarten, dass sowohl die Zahl der Kopulationen<br />
als auch die Zahl der Spermien pro Ejakulation von den Männchen<br />
an diese Variablen angepasst wird; ob und wie sie das tun, ist aber<br />
noch kaum erforscht.<br />
8.5.3 Anatomische Anpassungen an Spermienkonkurrenz<br />
(1) Hodengröße. Die offensichtlichste anatomische Anpassung an Spermienkonkurrenz<br />
besteht in der Vergrößerung der Hoden. Diese Anpassung<br />
betrifft zwei Aspekte: Variabilität in der Hodengröße innerhalb und zwischen<br />
Arten. Innerartliche Variabilität in der Hodengröße wurde bislang<br />
kaum in Relation zum Fortpflanzungsverhalten und -erfolg untersucht.<br />
Bei Wildschafen (Ovis aries) sind Körpermasse und Hornlänge<br />
wichtige Merkmale, die den Zugang von Männchen zu Weibchen sowie<br />
deren Fortpflanzungserfolg beeinflussen. Allerdings gibt es auch große<br />
Variabilität zwischen Männchen im Hodenvolumen, welches einen unabhängigen<br />
Effekt auf den Paarungserfolg hat. Männchen mit größeren Hoden<br />
haben mehr Kopulationen und zeugen mehr Junge als Männchen mit<br />
kleineren Hoden, und dieser Effekt nimmt mit zunehmender Zahl gleichzeitig<br />
östrischer Weibchen zu (Preston et al. 2003). Das heißt, wenn das<br />
Monopolisierungspotential geringer wird, nimmt die Spermienkonkurrenz<br />
an Intensität zu und größere Hoden machen den entscheidenden Unterschied.<br />
Eine weitere vorhergesagte Folge von Spermienkonkurrenz besteht<br />
darin, dass es zwischenartliche Variation in der relativen Hodengröße<br />
gibt. Männchen in polyandrischen Arten, in denen Weibchen also mit mehr<br />
als einem Männchen kopulieren ( Kap. 9.6), sollten demnach größere<br />
Hoden haben, wenn die Spermienproduktivität positiv mit der Hodengröße<br />
korreliert ist. Tatsächlich produzieren Männchen bei Arten mit relativ größeren<br />
Hoden größere Ejakulate, die mehr Spermien pro Ejakulat enthalten<br />
und sie produzieren außerdem mehr Ejakulate (Møller 1989). Solche Artunterschiede<br />
in der Hodengröße wurden erstmals von Roger Short (1981)<br />
bei Menschenaffen in Beziehung zur Spermienkonkurrenz gesetzt. Gorillas<br />
(Gorilla gorilla) und Orang-Utans (Pongo spp.), die normalerweise
290 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Abb. 8.17. Die relative Hoden- (und Körper-)größe bei Menschenaffen. In Relation<br />
zu einem standardisierten Weibchen sind für die verschiedenen Arten die relative<br />
Körpergröße der Männchen (Größe der Kreise) sowie deren relative Hodengröße<br />
dargestellt (nach Short 1981)<br />
Zugang zu mehreren Weibchen gegen Rivalen verteidigen, haben kaum<br />
Spermienkonkurrenz zu befürchten und demgemäß für ihre Körpergröße<br />
winzige Hoden. Schimpansen (Pan troglodytes) und Bonobos (P. paniscus),<br />
bei denen sich Weibchen Hunderte von Malen mit praktisch allen<br />
Männchen ihrer Gruppe verpaaren, haben dagegen relativ große Hoden<br />
(Abb. 8.17). Spätere vergleichende Untersuchungen bei anderen Taxa haben<br />
diese Vorhersage der Spermienkonkurrenztheorie bestätigt: Männchen<br />
in Arten mit höherer Wahrscheinlichkeit von Mehrfachverpaarungen haben<br />
relativ größere Hoden, egal ob es sich um Arten mit interner oder externer<br />
Fertilisation handelt.<br />
(2) Penisanatomie. Bei Arten mit interner Fertilisation findet sich auch eine<br />
unbeschreibliche Vielfalt an Formen und Modifikationen des Penis. Da<br />
die Übertragung von Spermien mechanisch recht einfach ist, muss die<br />
Genitalmorphologie unter anderen Selektionskräften evoluiert sein. Dazu<br />
gibt es zwei gängige Hypothesen. Nach der „Schlüssel-und-Schloss-Hypothese“<br />
sind komplizierte Genitalien als präkopulatorische Isolationsmechanismen<br />
entstanden, wobei die männlichen Genitalien einen „Schlüssel“<br />
repräsentieren, der nur in das „Schloss“ der richtigen Art passt (Eberhard<br />
1985). Nach der „Sexuellen-Selektions-Hypothese“ können verschiedene<br />
Mechanismen (Spermienkonkurrenz, kryptische Weibchenwahl und intersexueller<br />
Konflikt) die Genitalmorphologie beeinflussen (Arnqvist 1998).<br />
Die Struktur der Penisse von Libellen, die Spermien aus früheren Kopulationen<br />
entfernen können, ist sicherlich unter dem Einfluss von Spermien-
8.5 Spermienkonkurrenz 291<br />
Abb. 8.18. a Am Endophallus von Dungkäfern befinden sich mehrere Sklerite, die<br />
den Fertilisationserfolg beeinflussen. b Der bizarr geformte Penis der Fossa (Cryptoprocta<br />
ferox) ist ebenfalls mit zahlreichen Stacheln versehen.<br />
konkurrenz entstanden. Am Penis von Dungkäfern (Onthophagus taurus)<br />
befinden sich zum Beispiel fünf bizarr geformte Sklerite (Abb. 8.18a),<br />
deren Größenunterschied den Fortpflanzungserfolg ihrer Träger beeinflusst<br />
(House u. Simmons 2003). Größen- und Formunterschiede an unterschiedlichen<br />
Skleriten sind dabei mit der Fähigkeit verbunden, entweder den P 1 -<br />
oder P 2 -Wert in Paarungen zu erhöhen, je nachdem ob der Träger als Erster<br />
oder Zweiter kopuliert. Manche dieser Sklerite am Penis der Dungkäfer<br />
haben also eher offensive Funktionen; andere eine eher defensive.<br />
Bis auf einige Wasser- und Laufvögel besitzen Vögel im Allgemeinen<br />
keinen Penis, vermutlich um für das Fliegen Gewicht zu sparen. Trotzdem<br />
gibt es eine Reihe von ungewöhnlichen Kloaken, die aufgrund ihrer Form<br />
ebenfalls mit Spermienkonkurrenz in Verbindung gebracht werden (Birkhead<br />
u. Kappeler 2004). Bei manchen Säugetieren ist der Penis mit Stacheln<br />
oder anderen Anhängen versehen (Abb. 8.18b), für deren Funktion<br />
es bislang keine eindeutigen Hinweise gibt (Birkhead u. Kappeler 2004).<br />
Ähnlich verhält es sich mit Artunterschieden in Besitz, Größe und Form<br />
eines Penisknochens (Os penis).<br />
(3) Spermien. Schließlich sind bei Arten mit Spermienkonkurrenz die<br />
Spermien selbst wichtiger Angriffspunkt der Selektion. Wie bei der Hodengröße<br />
haben sich bisherige Untersuchungen auf zwischenartliche Variabilität<br />
konzentriert. Diese Variabilität in der Spermienmorphologie ist<br />
enorm. Die Form und Gesamtgröße von Spermien variiert genauso zwischen<br />
Arten wie die relative Größe von Kopf und Schwanz oder deren<br />
Beweglichkeit (Immler et al. 2007). Viele Befunde sprechen dafür, dass
292 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Anpassungen an Spermienkonkurrenz für viele dieser Unterschiede verantwortlich<br />
sind. So sind Beweglichkeit und Geschwindigkeit der Spermien<br />
bei Arten mit Spermienkonkurrenz erhöht. Neben dem Paarungssystem<br />
können sich auch soziale Faktoren auf Spermienmorphologie und<br />
-menge auswirken. So haben die Spermien von subordinaten Hähnen (Gallus<br />
gallus) zum Beispiel höhere Beweglichkeit als die von dominanten<br />
(Froman et al. 2002), vielleicht um den Nachteil beim Zugang zu Hühnern<br />
zu kompensieren. Seesaiblinge (Salvelinus alpinus) produzieren geringere<br />
Mengen bewegliche Spermien, wenn sie in die Position eines dominanten<br />
Männchens aufsteigen (Rudolfsen et al. 2006), und Wiesenwühlmäuse<br />
(Microtus pennsylvanicus) erhöhen die Ejakulatmenge, wenn sie in Gegenwart<br />
des Geruchs eines Rivalen kopulieren (DelBarco-Trillo u. Ferkin<br />
2004). Individuell variierende Aspekte der Spermienmorphologie sind aber<br />
auch erblich und werden von erfolgreichen Vätern weitergegeben (Birkhead<br />
et al. 2005).<br />
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz<br />
Selbst nachdem entschieden ist, welche Spermien zur Befruchtung gelangen,<br />
ist der Fortpflanzungswettbewerb der Männchen noch nicht unbedingt<br />
beendet. Zwischen Fertilisation und Geburt kann es unter bestimmten<br />
Bedingungen dazu kommen, dass durch induzierte Resorption oder Abortion<br />
eines Embryos der Fortpflanzungserfolg eines Männchens zunichte<br />
gemacht wird. Nach der Geburt sind Jungtiere vieler Taxa außerdem dem<br />
Risiko der Kindstötung (Infantizid) durch ein Männchen, das nicht der Vater<br />
ist, ausgesetzt.<br />
8.6.1 Bruce-Effekt<br />
Während der Trächtigkeit kann die Anwesenheit eines fremden Männchens<br />
und das gleichzeitige Verschwinden des bisherigen Partners bei<br />
manchen Säugetieren die Implantation der Eier behindern oder sogar<br />
Resorption oder Abortion der Embryonen bewirken (Schwagmeyer<br />
1979). Die betroffenen Weibchen werden innerhalb weniger Tage wieder<br />
östrisch, und alle dann gezeugten Jungen stammen häufig vom neuen<br />
Männchen. Dieser nach seinem Entdecker benannte Bruce-Effekt wurde<br />
bei mehreren Maus- und Wühlmausarten nachgewiesen. Er könnte entstanden<br />
sein, weil Weibchen, welche ihren Partner verloren haben und die<br />
Hilfe des Männchens bei der Aufzucht der Jungen benötigen, auf diese<br />
Weise das neue Männchen zum Erbringen eines väterlichen Investments
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz 293<br />
veranlassen können (monogame Arten wie Microtus ochrogaster: Hofmann<br />
et al. 1987). Es gibt aber auch Hinweise aus Freilandexperimenten<br />
darauf, dass der Verlust des bisherigen Partners einen stärkeren Effekt auf<br />
Weibchen hat als die Anwesenheit eines neuen Männchens (Mahady u.<br />
Wolf 2002). Bei nicht-monogamen Arten könnten die Weibchen dadurch<br />
Energie und Kosten sparen, wenn fremde Männchen infantizidial sind und<br />
so ihre Verluste minimieren (siehe unten). In jedem Fall sollte dieser<br />
Effekt nicht nur ein Resultat der Konkurrenz der Männchen untereinander,<br />
sondern auch mit Vorteilen für die Weibchen verbunden sein, um dessen<br />
Existenz adaptiv erklären zu können.<br />
8.6.2 Infantizid<br />
Bei manchen Vögeln, Nagetieren, Karnivoren und Primaten wurde beobachtet,<br />
dass neugeborene oder noch abhängige Junge von Männchen<br />
derselben Art getötet werden (Abb. 8.19). Infantizid kann dabei als jegliche<br />
Form der Einschränkung des elterlichen Investments durch Artgenossen<br />
definiert werden, wobei die Einschränkung durch Tötung eines<br />
Embryos oder Neugeborenen durch ein Mitglied der eigenen Art (zumeist<br />
ein Männchen) herbeigeführt wird. Dieser direkte Infantizid hat Generationen<br />
von Verhaltensforschern Kopfzerbrechen bereitet. Er ist offensichtlich<br />
nicht zum Wohl der Art und damit nicht durch Gruppenselektion zu<br />
erklären, außer man postuliert, dass er der Populationsregulation dient.<br />
Diese Erklärung ist aber nicht schlüssig, denn Selektion bewertet den Erfolg<br />
von Individuen sehr viel stärker als den von Gruppen (und letzteren<br />
nur unter seltenen, restriktiven Bedingungen). Dementsprechend kann sich<br />
ein genetisch bedingtes Verhalten, welches mit Kosten und Risiken für das<br />
ausführende Individuum und Vorteilen hauptsächlich für die Population<br />
Abb. 8.19. Ein männlicher<br />
Bärenpavian (Papio ursinus)<br />
hat ein Jungtier getötet. Manchmal<br />
kommt es in diesem Kontext<br />
sekundär auch zu Kannibalismus
294 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
verbunden ist, niemals gegenüber einer alternativen Strategie durchsetzen,<br />
welche diese Kosten und Risiken nicht beinhaltet und deren Träger daher<br />
im Durchschnitt länger leben und sich häufiger fortpflanzen können.<br />
In der klassischen Ethologie standen die proximaten Mechanismen im<br />
Mittelpunkt der Erklärung. Dieser Erklärungsansatz ging davon aus, dass<br />
Tiere eine natürliche Tötungshemmung gegenüber Artgenossen besitzen<br />
und dass Infantizid daher ein pathologisches Verhalten darstellt, welches<br />
durch Stress ausgelöst wird, zum Beispiel wenn Populationen in außergewöhnlich<br />
hoher Dichte leben. Beobachtungen an Hanuman-Languren<br />
(Semnopithecus entellus) lieferten zunächst Unterstützung für diese Hypothese,<br />
da sie in Indien als heilig angesehen und von den Menschen gefüttert<br />
werden, was dazu führt, dass sie in der Nähe von menschlichen Besiedlungen<br />
in hohen Dichten leben (Sommer u. Mohnot 1985). Unter<br />
diesen Gruppen gibt es viel Aggression um das von Menschen bereitgestellte<br />
Futter und natürlich auch im Vergleich zu abgelegenen, nicht habituierten<br />
Gruppen bessere Beobachtungsbedingungen für seltene und kurze<br />
Ereignisse wie Infantizid. Beobachtungen von Infantizid in nicht gefütterten<br />
Gruppen und in Gegenden mit geringen Populationsdichten (Newton<br />
1986) haben diese Erklärung aber zunichte gemacht.<br />
Heute gibt es drei akzeptierte ultimate Erklärungen für Infantizid, die<br />
auf individueller Selektion basieren. Erstens können die Opfer als Nahrungsressource<br />
dienen. Vor allem bei räuberischen Insekten, Spinnen,<br />
Amphibien und Fischen, bei denen es erhebliche Größenunterschiede zwischen<br />
Eltern und Jungen sowie wenig elterliche Brutpflege gibt, kommt es<br />
vor, dass Jungtiere getötet und gefressen werden (z. B. Schneider u. Lubin<br />
1996). Bei diesem Kannibalismus steht aber der Nahrungsaspekt im Vordergrund,<br />
und häufig treten beide Geschlechter als Täter in Erscheinung,<br />
so dass Infantizid in diesen Fällen nicht als Form der Fortpflanzungskonkurrenz<br />
erklärt werden kann. Zweitens wird Infantizid bei manchen Arten<br />
von Weibchen begangen (z. B. Digby 2000), die sich dadurch bei der<br />
Konkurrenz um Ressourcen oder Helfer bei der Jungenaufzucht einen<br />
Vorteil verschaffen können ( Kap. 9.7). Drittens kann Infantizid, wenn<br />
bestimmte Bedingungen erfüllt sind, als sexuell selektierte Fortpflanzungsstrategie<br />
von Männchen interpretiert werden, die dadurch ihren relativen<br />
Fortpflanzungserfolg erhöhen bzw. den von Rivalen verringern.<br />
(1) Sexuelle Selektionstheorie. Die Logik der sexuellen Selektionshypothese<br />
basiert darauf, dass durch das Töten der abhängigen Jungen eines<br />
potentiellen Paarungspartners das betroffene Weibchen schneller wieder<br />
fortpflanzungsbereit wird und der Täter dann gute eigene Paarungschancen<br />
besitzt (Hrdy 1979). In fast allen dokumentierten Fällen ist das Auftreten<br />
von Infantizid durch Männchen an eine Änderung des Residenz- oder
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz 295<br />
Dominanzstatus gebunden; entweder werden bisherige Dominante vertrieben,<br />
neue Männchen wandern ein oder die Dominanzhierarchie der Männchen<br />
ändert sich. In diesem Fall ist Infantizid nur dann zu erwarten, wenn<br />
(1) die Opfer von mütterlicher Fürsorge abhängig sind und deren Fürsorge<br />
ihre Fähigkeit hemmt, in neuen Nachwuchs zu investieren, (2) die betroffenen<br />
Weibchen schneller wieder fortpflanzungsbereit werden und (3) die<br />
Täter sich mit den betroffenen Müttern verpaaren. Damit sich ein solches<br />
Verhalten evolutionär etablieren und durchsetzen kann, muss zudem gewährleistet<br />
sein, dass (4) die Männchen keinen eigenen Nachwuchs töten.<br />
Diese Annahmen und Vorhersagen sind inzwischen bei zahlreichen<br />
Vögeln und Säugern untersucht worden und liefern überzeugende Beweise<br />
für die sexuelle Selektionstheorie (van Schaik 2000a). Bei Hanuman-<br />
Languren (Semnopithecus entellus) konnte gezeigt werden, dass Männchen<br />
tatsächlich nur fremden Nachwuchs töten. Bei diesen Primaten bilden<br />
Weibchen Gruppen, mit denen ein einziges adultes Männchen lebt und<br />
diese reproduktiv monopolisiert. Die restlichen Männchen leben in reinen<br />
Männchengruppen, die immer wieder versuchen, Haremshalter zu vertreiben.<br />
In manchen Gebieten enthalten Gruppen allerdings auch mehrere<br />
Männchen. Bei den Tätern handelt es sich entweder um Männchen, die eine<br />
Gruppe von Weibchen neu übernehmen oder in die Fortpflanzungsposition<br />
aufsteigen; d. h. sie sind mit den getöteten Jungen sehr wahrscheinlich<br />
nicht verwandt. In einer Stichprobe von 16 getöteten jungen Hanuman-<br />
Languren zeigten genetische Vaterschaftsuntersuchungen außerdem, dass<br />
in keinem einzigen Fall der Täter der Vater war (Borries et al. 1999a). In<br />
94% der gut dokumentierten Infantizid-Fälle bei allen Primaten fanden<br />
ebenfalls vorher keine Kopulationen zwischen Müttern und Tätern statt<br />
(van Schaik 2000a).<br />
Außerdem wurden ausschließlich abhängige Junge getötet; d. h. bei<br />
Hanuman-Languren waren alle Opfer weniger als sechs Monate alt. Der<br />
Verlust der Jungtiere führte zu einem raschen Ende der durch das Stillen<br />
bedingten Sterilität (Laktationsamenorrhoe), so dass die betroffenen<br />
Weibchen rasch wieder empfängnisbereit waren, zum Teil schon nach<br />
zwei Tagen. Bei Populationen mit saisonaler Fortpflanzung können die<br />
Weibchen nicht sofort wieder rezeptiv werden; bei ihnen verkürzte sich der<br />
Zwischengeburtenabstand allerdings um ca. 25%, so dass die betroffenen<br />
Männchen über diesen längeren Zeitraum mehr Fortpflanzungsgelegenheiten<br />
hatten (Borries 1997). Schließlich verpaaren sich in den meisten<br />
Fällen die Täter beim nächsten Fortpflanzungszyklus mit den wieder rezeptiv<br />
gewordenen Weibchen. Vaterschaftstests in einer Hanuman-Languren-Population<br />
zeigten, dass die Täter eine Vaterschaftswahrscheinlichkeit<br />
von 71% hatten (Borries et al. 1999b).
296 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Bei anderen Arten mit ähnlichem Sozialsystem erfolgt Infantizid nach<br />
demselben Muster. Bei Löwen (Panthera leo) übernehmen Koalitionen<br />
von Männchen Gruppen von Weibchen. Wenn die Weibchen abhängige<br />
Junge besitzen, werden diese sofort getötet. Infantizid ist bei Löwen für ca.<br />
ein Viertel der Jungensterblichkeit im ersten Lebensjahr verantwortlich.<br />
Damit ist Infantizid durch fremde Männchen bei Arten, die dafür anfällig<br />
sind, eine mächtige Selektionskraft. Zum einen können Männchen, die nur<br />
für eine relativ kurze, unvorhersehbare Zeit ihres Lebens in einer Position<br />
sind, in der sie überhaupt Zugang zu Weibchen haben, durch diese Strategie<br />
die Zahl der Verpaarungsgelegenheiten maximieren. Zum anderen<br />
stellen die verlorenen Jungen einen hohen Anteil des Gesamtfortpflanzungserfolgs<br />
bei Arten mit relativ langsamen Life histories dar. Gorilla-<br />
Weibchen haben zum Beispiel im Laufe ihres Lebens nur 4–6 Nachkommen.<br />
Da die betroffenen Weibchen keinerlei Vorteile aus einem Infantizid<br />
ziehen, ist zu erwarten, dass sie über effektive Gegenmaßnahmen verfügen,<br />
die helfen, ihre Verluste zu minimieren (van Schaik 2000b).<br />
(2) Weibliche Gegenstrategien. Weibchen versuchen natürlich, ihre Jungen<br />
zu verteidigen. Manchmal bilden sich auch Koalitionen von Weibchen,<br />
die dies gemeinsam tun (Le Galliard et al. 2006). Allerdings sind sie<br />
mit direkter Verteidigung nur wenig effektiv, vermutlich, weil die Männchen<br />
zumeist größer und stärker sind. Weibchen mit gefährdeten Jungen<br />
vermeiden neue Männchen aus diesem Grund, soweit dies möglich ist.<br />
Wenn der Männchenwechsel während der Trächtigkeit stattfindet und das<br />
Infantizidrisiko hoch ist, können sie durch einen induzierten Abort ihre Investition<br />
und damit ihren Verlust reduzieren ( Bruce-Effekt). Ein sehr effektiver<br />
Weg, das Infantizidrisiko zu verringern, besteht darin, die Vaterschaft<br />
zu verschleiern. Durch Paarungen mit möglichst vielen Männchen<br />
bekommen diese eine Vaterschaftswahrscheinlichkeit von > 0 und gehen<br />
damit das Risiko ein, ihren eigenen Nachwuchs umzubringen. Männchen<br />
scheinen dieses Risiko ernst zu nehmen. Mäusemännchen, die mit einem<br />
Weibchen verpaart wurden, begehen an deren Jungen anschließend keinen<br />
Infantizid, auch wenn sie selbst nicht Vater der Jungen sind.<br />
Schließlich können sich Weibchen auch einen männlichen Beschützer<br />
zulegen (Abb. 8.20). Wenn dieser eine hohe Vaterschaftssicherheit hat,<br />
sollte er die Jungen gegen fremde Männchen direkt oder dadurch, dass er<br />
Immigrationen verhindert, indirekt verteidigen (Palombit et al. 1997). Bei<br />
Anubispavianen (Papio anubis) reagieren diese „Freunde“ stärker auf die<br />
Hilferufe der jeweiligen Weibchen als andere Männchen (Lemasson et al.<br />
2008). Dies mag erklären, warum bei praktisch allen potentiell Infantizid<br />
gefährdeten Primatenarten permanent bisexuelle Gruppen auftreten (van<br />
Schaik u. Kappeler 1997); ein Zusammenhang, der sich auch bei anderen
8.6 Postkonzeptionelle Konkurrenz 297<br />
Abb. 8.20. Bei Pavianen<br />
(hier Papio anubis) existieren<br />
Freundschaften zwischen<br />
Männchen und Weibchen, die<br />
durch viel Nähe und grooming<br />
sowie wenig Aggression<br />
charakterisiert sind. Sie halten<br />
auch an, wenn die Weibchen<br />
anöstrisch oder laktierend<br />
sind. Freunde schützen Weibchen<br />
vor Belästigung und<br />
Infantizid<br />
Säugetieren findet. Dass sexuell selektierter Infantizid trotz dieser zahlreichen<br />
Gegenmaßnahmen auftritt, weit verbreitet ist und in manchen Arten<br />
die wichtigste Ursache der Jungensterblichkeit darstellt, zeigt, dass es<br />
sich um einen wichtigen Selektionsfaktor mit weitreichenden Konsequenzen<br />
handelt.<br />
8.6.3 Infantizid und Life history<br />
Bei welchen Säugetieren ist Infantizid überhaupt ein Risiko? Da der Erfolg<br />
dieser Strategie in kritischer Weise von der Reaktion eines Fortpflanzungsmerkmals,<br />
nämlich der Aufhebung der Ovulationsblockade, abhängt,<br />
handelt es sich hier um ein deutliches Beispiel für die funktionale Verschränkung<br />
zwischen dem Verhalten und der Life history einer Art. Beuteltiere<br />
(Marsupialia) können bis zu drei Jungtiere unterschiedlichen Alters<br />
gleichzeitig versorgen. Sie können ein frisch geborenes Jungtier neben einem<br />
älteren Geschwister säugen (sie produzieren für diese an verschiedenen<br />
Zitzen unterschiedliche Milch!) und gleichzeitig einen Embryo tragen<br />
(Jarman 2000). In diesem Fall kann die Fortpflanzungsrate durch Eliminierung<br />
eines Jungtiers nicht beschleunigt werden.<br />
Bei plazentalen Säugetieren wird die potentielle Fortpflanzungsrate eines<br />
Männchens prinzipiell dadurch reduziert, dass Weibchen zumeist nicht<br />
gleichzeitig trächtig und laktierend sind. Bei Arten mit schnellen Life<br />
histories ist die Laktation nur kurz und Weibchen verpaaren sich wenige<br />
Tage nach der Geburt während eines Post-partum-Östrus, so dass sie<br />
gleichzeitig für zwei Junge unterschiedlichen Alters sorgen (Abb. 8.21a).<br />
Hier gibt es kein Infantizidrisiko durch Männchen, weil dadurch Paarungsgelegenheiten<br />
nicht beschleunigt werden können, außer die Wurfgröße ist
298 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
Abb. 8.21a–c. Die Anfälligkeit einer plazentalen Säugetierart wird durch das Verhältnis<br />
von Trächtigkeits- und Laktationsdauer bestimmt. Arten mit längerer<br />
Trächtigkeit a haben einen Post-partum-Östrus: bei ihnen kann Infantizid die Fortpflanzungsrate<br />
nicht erhöhen. Bei Arten mit längerer Laktation b würde ein Problem<br />
durch die Versorgung von aufeinander folgenden Jungtieren mit unterschiedlichen<br />
Bedürfnissen entstehen (rot). Durch die Laktationsamenorrhoe c wird<br />
dieses Problem vermieden, aber dadurch entsteht eine Anfälligkeit für sexuell selektierten<br />
Infantizid<br />
sehr groß und hat einen negativen Effekt auf die Größe des nächsten<br />
Wurfs, so dass infantizidiale Männchen in der nächsten Fortpflanzungsrunde<br />
mehr Nachkommen mit einem betroffenen Weibchen zeugen können.<br />
Es ist daher zu erwarten, dass Infantizid insbesondere in Arten mit langer<br />
Laktation, im Vergleich zur Dauer der Trächtigkeit, eine profitable<br />
männliche Strategie darstellt, da bei diesen Arten die größte Beschleunigung<br />
der weiblichen Fortpflanzungsrate herbeigeführt werden kann. Für<br />
diese Arten ist der Post-partum-Östrus keine Option, da sie sonst zwei Sätze<br />
von Jungtieren mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen versorgen<br />
müssten (Abb. 8.21b). Diese Vorhersage haben vergleichende Tests bestätigt:<br />
Männlicher Infantizid ist nur von denjenigen plazentalen Säugetieren<br />
bekannt, bei denen die Laktation länger als die Trächtigkeit dauert und sich<br />
eine Laktationsamenorrhoe an die Geburt anschließt (Abb. 8.21c). Zu
8.7 Strategien und Taktiken 299<br />
diesen Arten zählen Primaten, Wale, Karnivoren und hörnchenartige Nager<br />
(van Schaik 2000c).<br />
Bei anderen Taxa ist sexuell selektierter Infantizid relativ selten. Bei<br />
Vögeln gibt es nur bei ca. 15 Arten dokumentierte Fälle (Veiga 2000). Bei<br />
Rauchschwalben (Hirundo rustica) wurde beobachtet, dass Männchen<br />
manchmal eine Brut zerstören, um so die Trennung des Brutpaares zu provozieren<br />
und das Weibchen anschließend übernehmen zu können (Møller<br />
1988), wobei die Häufigkeit von Infantizid positiv mit der Populationsdichte<br />
korreliert (Møller 2004). Infantizid wurde auch nach einer Nestübernahme<br />
nach Verwitwung beobachtet; bei Haussperlingen (Passer<br />
domesticus) wird dadurch die Dauer bis zur erneuten Eiablage von 18 auf 7<br />
Tage reduziert (Veiga 1990). Bei einer semelparen Röhrenspinne (Stegodyphus<br />
lineatus) können Männchen von Oozid profitieren, wenn sie das<br />
normalerweise einzige Gelege eines Weibchens zerstören und sie so zu einer<br />
weiteren Eiablage veranlassen (Schneider u. Lubin 1997). Bei anderen<br />
Taxa ist sexuell selektierter Infantizid sehr selten; vielleicht weil ihre Life<br />
histories und Sozialsysteme nicht über die notwendige Kombination von<br />
Voraussetzungen verfügen.<br />
8.7 Strategien und Taktiken<br />
Wie in allen anderen Verhaltenskontexten gibt es auch im Fortpflanzungsverhalten<br />
Unterschiede zwischen Individuen. Diese interindividuelle<br />
Variabilität kann durch eine Reihe von Faktoren zustande kommen. So<br />
unterscheiden sich Individuen unter anderem in ihrer Konkurrenzfähigkeit,<br />
ihrem Dominanzstatus sowie in ihrer jeweiligen sozialen und ökologischen<br />
Umwelt. Als Anpassung an diese variablen internen und externen Bedingungen<br />
können Individuen eines Geschlechts unterschiedliche diskrete<br />
Verhaltensmuster einsetzen, um ihren Fortpflanzungserfolg zu verbessern.<br />
Wenn es zwei oder mehr unterscheidbare Muster dieser Art gibt, werden<br />
sie als alternative Fortpflanzungstaktiken bezeichnet. Alternative Taktiken<br />
sind manchmal mit spezifischen Unterschieden in morphologischen, physiologischen<br />
oder Life history-Merkmalen verbunden, was auf eine genetische<br />
Grundlage mancher dieser Unterschiede hindeutet. Es stellt sich daher<br />
die Frage, wie flexibel Merkmale oder Merkmalskombinationen sind,<br />
die verschiedene Fortpflanzungstaktiken charakterisieren.<br />
Grundsätzlich werden genetisch festgelegte Entscheidungsregeln in diesem<br />
Zusammenhang als Strategie bezeichnet. Dabei handelt es sich um<br />
Programme, die für die unterschiedliche Allokation von somatischem und<br />
reproduktivem Aufwand in unterschiedlichen Phänotypen verantwortlich
300 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
sind. Eine Taktik ist dagegen ein Phänotyp, der durch eine Strategie verursacht<br />
wird und zu deren Umsetzung beiträgt. Wenn ein Genotyp zwei<br />
oder mehr diskrete Phänotypen hervorbringt, wird dies als Polyphänismus<br />
bezeichnet; ein extremes Beispiel für phänotypische Plastizität. Die beobachtbare<br />
phänotypische Diversität im Fortpflanzungsverhalten kann in<br />
drei Klassen von Strategien eingeteilt werden, von denen zwei alternative<br />
Taktiken beinhalten (Gross 1996).<br />
Es ist theoretisch möglich, dass es eine gemischte Strategie mit alternativen<br />
Taktiken gibt. Dabei handelt es sich um eine genetisch monomorph<br />
kontrollierte Strategie, die ihre Träger dazu veranlasst, in x% der<br />
Fälle Taktik X und in y% der Fälle Taktik Y anzuwenden. Eine solche gemischte<br />
Strategie findet sich möglicherweise bei Grasfröschen (Rana temporaria),<br />
bei denen ein und dieselben Männchen opportunistisch eine von<br />
zwei Taktiken anwenden. Entweder verpaaren sie sich ganz normal mit einem<br />
Weibchen oder sie besamen frisch abgelaichte Gelege, wodurch sie<br />
über Spermienkonkurrenz einen Teil der Eier doch noch befruchten können,<br />
obwohl die Weibchen einen anderen Partner gewählt haben (Vieites<br />
et al. 2004). Ob dieses Verhalten tatsächlich genetisch bestimmt wird, ist<br />
aber nicht bekannt.<br />
8.7.1 Alternative Strategien<br />
Wenn es aufgrund eines genetischen Polymorphismus zwei oder mehr<br />
Fortpflanzungsstrategien mit im Durchschnitt identischem Erfolg gibt, bezeichnet<br />
man diese als alternative Strategien. Die Balance der relativen<br />
Abb. 8.22. Voraussetzung für die Existenz von alternativen Strategien. Zwei alternative<br />
Phänotypen (X und Y) haben unterschiedliche, frequenzabhängige Fitnessfunktionen.<br />
Die relative Häufigkeit der beiden Phänotypen stellt sich an dem<br />
Punkt ein, an dem beide im Durchschnitt dieselbe Fitness erzielen (f*)
8.7 Strategien und Taktiken 301<br />
Häufigkeit der einzelnen Strategien wird durch frequenzabhängige Selektion<br />
herbeigeführt. Frequenzabhängige Selektion liegt immer dann vor,<br />
wenn die relative Fitness von alternativen Phänotypen von deren Häufigkeit<br />
in der Population abhängt. Dabei müssen sich die Fitnessfunktionen<br />
der verschiedenen Phänotypen kreuzen und eine negative Frequenzabhängigkeit<br />
aufweisen (Abb. 8.22). Das heißt, ein Phänotyp (Y), der bei geringer<br />
Häufigkeit eine höhere durchschnittliche Fitness erbringt als der alternative<br />
Phänotyp (X), wird zunächst in der Population zunehmen. Aufgrund<br />
der negativen Frequenzabhängigkeit verringert sich dabei aber seine<br />
durchschnittliche Fitness. Wenn die durchschnittliche Fitness der beiden<br />
Phänotypen identisch ist, wird sich daher ein Gleichgewicht einstellen,<br />
welches die relative Häufigkeit der beiden Phänotypen definiert.<br />
Beim Kampfläufer (Philomachus pugnax) gibt es zwei Typen von<br />
Männchen, die alternative Strategien verfolgen. Das Paarungssystem von<br />
Kampfläufern wird als Lek bezeichnet. Es ist dadurch charakterisiert, dass<br />
Männchen an traditionellen Balzplätzen zusammenkommen, wo sie von<br />
Weibchen aufgesucht werden. Dunkel gefärbte Männchen (Abb. 8.23a)<br />
verteidigen kleine (1–2 m 2 ) Territorien innerhalb eines Leks, wohingegen<br />
helle Männchen (Abb. 8.23b) sich als Satelliten in der Nähe der dunklen<br />
Männchen aufhalten. Diese Unterschiede gehen auf unterschiedliche<br />
Allele an einem autosomalen Genort zurück; helle Männchen, die mit einer<br />
durchschnittlichen Häufigkeit von 16% auftreten, sind an diesem Lokus<br />
homozygot rezessiv (Lank et al. 1995). Helle Männchen werden von dunklen<br />
dominiert, bekommen aber gelegentlich Zugang zu einem Weibchen,<br />
das eigentlich von einem dunklen Territoriumshalter angezogen wurde.<br />
Möglicherweise haben dunkle Männchen unter dem Strich einen Vorteil<br />
von der Präsenz der hellen Männchen – obwohl ihnen dadurch einige Ko-<br />
Abb. 8.23a,b. Kampfläufer besitzen einen genetischen Polymorphismus mit zwei<br />
Männchenformen. a Verteidiger von Balzarenen und b Satellitenmännchen
302 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
pulationen entgehen – da die Weibchen größere Männchenansammlungen<br />
attraktiv finden. Helle Männchen haben einen geringeren Fortpflanzungserfolg,<br />
leben aber möglicherweise länger, so dass der Erfolg der beiden<br />
Strategien im Durchschnitt ähnlich ist (Widemo 1998).<br />
Bei einer Meerassel (Paracerceis sculpta) gibt es sogar drei Männchen-<br />
Strategien, die ebenfalls genetisch festgelegt sind (Shuster 1992). Große<br />
Alpha-Männchen verteidigen Brutplätze innerhalb von Schwämmen, zu<br />
denen Weibchen sowie andere Männchen-Typen angezogen werden. Alpha-Männchen<br />
verteidigen einzelne Spongocoelen (Schwammgänge) mit<br />
Weibchen gegen andere Männchen und verlassen sich dabei vor allem auf<br />
ihren Größenvorteil, indem sie den Eingang zu den Spongocoelen versperren.<br />
Vier Prozent der Männchen einer Population sind Beta-Männchen, die<br />
in ihrem Äußeren Weibchen nachahmen, sich so in die Schwämme schleichen<br />
und dort Paarungen ergattern. Gamma-Männchen, die 14% aller<br />
Männchen ausmachen, sind sehr klein und wendig und können sich aufgrund<br />
ihrer geringen Größe an den Alpha-Männchen vorbeischleichen und<br />
ebenfalls zu Paarungen kommen. Alle drei Männchen-Typen erzielen im<br />
Durchschnitt denselben Fortpflanzungserfolg (Shuster u. Wade 1991). Es<br />
gibt aber auch Beispiele (Seitenfleckenleguan, Uta stansburiana), bei<br />
denen zwischen Männchen mit alternativen Strategien unterschiedlicher<br />
Fortpflanzungserfolg festgestellt wurde, möglicherweise weil sich die<br />
beiden Strategien in der Varianz ihrer Fitness unterscheiden (Calsbeek<br />
et al. 2002).<br />
8.7.2 Konditionale Strategien<br />
Am häufigsten ist in der Natur die dritte Möglichkeit realisiert: alternative<br />
Taktiken innerhalb einer konditionalen Strategie (Plaistow et al. 2004).<br />
Die Anwendung einer bestimmten Taktik basiert dabei auf einer Entscheidung<br />
des Individuums, wobei die Entscheidung vom Status oder der Erfahrung<br />
des Tieres beeinflusst wird. Individuen unterscheiden sich in ihrem<br />
Status aufgrund der Interaktion von internen (Genotyp, Alter) und externen<br />
(Energiezufuhr, Pathogene) Faktoren. Die Annahme zur Erklärung der<br />
Existenz unterschiedlicher Taktiken besteht darin, dass Tiere mit einem<br />
bestimmten Status mit der Taktik X eine höhere Fitness erzielen als mit der<br />
Taktik Y (Abb. 8.24). Bei einer Statusänderung kann sich dies aber<br />
ändern, bzw. Tiere mit unterschiedlichem Status differenzieren teilweise<br />
an ihre Situation angepasste Morphologien aus (Lailvaux et al. 2004). Der<br />
Punkt, an dem zwischen zwei Taktiken gewechselt wird, ist manchmal<br />
auch der Schwellenwert für unterschiedliche Morphologien. Umwelt- und<br />
demografische Faktoren, welche die relative Fitness männlicher Taktiken
8.7 Strategien und Taktiken 303<br />
Abb. 8.24. Voraussetzung für die Existenz von konditionalen Strategien mit alternativen<br />
Taktiken. Individuen mit unterschiedlichen Taktiken (X und Y) haben in<br />
Abhängigkeit von ihrem Status unterschiedliche Fitness zu erwarten. Es lohnt sich<br />
daher, bei einer Änderung des Status die Taktik zu wechseln. An diesem Punkt<br />
findet sich manchmal auch ein Schwellenwert (s*) für unterschiedliche Morphologien<br />
beeinflussen, bestimmen auch die Lage dieses Schwellenwerts und damit,<br />
ob eine Population alternative Morphen enthält.<br />
So lassen sich zum Beispiel Populationsunterschiede bei Ohrwürmern<br />
(Forficula auricularia) in der Existenz von ein oder zwei Männchen-<br />
Typen in Abhängigkeit der jeweiligen Populationsdichten erklären (Tomkins<br />
u. Brown 2004). Bei dieser Art gibt es Männchen mit großen oder<br />
kleinen Zangen, die bei der Paarungskonkurrenz eingesetzt werden. Männchen<br />
mit großen Zangen verteidigen Weibchen, wohingegen Männchen<br />
mit kleineren Zangen versuchen, Paarungen zu erschleichen. Zwischen<br />
verschieden Populationen von Ohrwürmern variiert der Anteil der beiden<br />
Männchen-Typen stark. Bei hoher Populationsdichte erhöht sich die Begegnungsrate<br />
mit Weibchen sowie die Häufigkeit der Auseinandersetzungen<br />
über Weibchen, so dass der relative Konkurrenzvorteil der Männchen<br />
mit großen Zangen stärker belohnt wird. Der Anteil der Männchen mit<br />
großen Zangen nimmt daher mit zunehmender Populationsdichte zu.<br />
Wenn Fortpflanzungserfolg statusabhängig variiert und wenn die Konkurrenz<br />
zwischen Männchen selbst oder die Ausbildung der dabei wichtigen<br />
Strukturen mit hohen Kosten verbunden sind, sollte es Selektion für<br />
alternative Strategien geben. Dies gilt besonders für kleinere oder jüngere<br />
Männchen, für die diese Konkurrenzkosten absehbar groß sind. Durch alternative<br />
Taktiken erreichte kleine Erfolge sind immer noch besser als gar<br />
keine, d. h. diese Männchen versuchen, das Beste aus einer schlechten<br />
Situation zu machen (making the best of a bad job). In diesem Kontext<br />
haben sich in unterschiedlichsten Taxa ähnliche Taktiken entwickelt: man-
304 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
che Männchen konkurrieren und verteidigen Weibchen (guards), wohingegen<br />
andere sich dazu schleichen und versuchen, unter Umgehung der<br />
direkten Konkurrenz zu Paarungen zu kommen (sneaks). Sneaks verursachen<br />
für die dominanten Männchen nur Kosten, da sie deren Fortpflanzungserfolg<br />
schmälern. Subordinate Männchen, die dem dominanten irgendeinen<br />
zusätzlichen Vorteil zukommen lassen, werden dagegen als<br />
Satelliten (satellites) bezeichnet. Männchen mit flexiblen Fortpflanzungstaktiken<br />
müssen sich möglicherweise vor jeder Paarungszeit entscheiden,<br />
ob sie als guards, sneaks oder satellites konkurrieren. Ein elegantes Experiment<br />
mit Galapagos-Meerechsen (Amblyrhynchus cristatus) hat gezeigt,<br />
dass Testosteron eine wichtige Rolle bei der proximaten Regulation dieser<br />
Entscheidung spielt (Box 8.3).<br />
Da Männchen mit den beiden klassischen Taktiken – Weibchen verteidigen<br />
oder Paarungen erschleichen – ihren jeweiligen Fortpflanzungserfolg<br />
über verschiedene Mechanismen erzielen, ist zu erwarten, dass diejenigen<br />
Morphen, die nicht in Größe, Waffen und Verteidigung investieren, mehr<br />
in Mechanismen der Spermienkonkurrenz investieren (Simmons u. Emlen<br />
2006). So haben in der Tat bei einer Mistkäferart (Onthophagus binodis)<br />
hornlose Männchen größere Testes und produzieren größere Ejakulate als<br />
Männchen mit Hörnern (Simmons et al. 1999b). Bei Blaukiemen-Sonnenbarschen<br />
(Lepomis macrochirus) drängeln sich manche Männchen blitzschnell<br />
in die Nähe eines gerade ablaichenden Paares und geben dabei ihre<br />
Spermien ab. Genetische Vaterschaftsanalysen haben gezeigt, dass Männchen,<br />
die diese Taktik wählen, in solchen Situationen mehr Eier befruchten<br />
als die anderen Männchen (Fu et al. 2001). Diese Sneaks haben größere<br />
Hoden und erreichen die Geschlechtsreife früher als Männchen, die eine<br />
Weibchenverteidigungs-Taktik wählen (Neff et al. 2003).<br />
Aufgrund der Vielzahl der Fortpflanzungssysteme gibt es bei Fischen<br />
viele Beispiele für alternative Taktiken (Taborsky 1998). Eine extreme<br />
Lösung des Problems des statusabhängigen Fortpflanzungserfolges ist eine<br />
Geschlechtsumwandlung. Wenn große Männchen die Fortpflanzung<br />
monopolisieren, kann es Selektion für eine Geschlechtsumwandlung von<br />
Weibchen zu Männchen (protogyner Hermaphroditismus) geben. Zunächst<br />
muss eine solche Umwandlung praktisch möglich sein; sie kommt daher<br />
nur bei Fischen mit einfachen Gonaden und externer Befruchtung vor.<br />
Zweitens müssen junge oder kleine Individuen als Weibchen größeren<br />
Fortpflanzungserfolg aufweisen als Männchen. Drittens muss die durchschnittliche<br />
Fitness von Geschlechtsumwandlern größer sein als von Individuen,<br />
die dies nicht tun. Diese Bedingungen sind offenbar bei Blauköpfen<br />
(Thalassoma bifasciatum) erfüllt. Die Männchen sind leuchtend<br />
gefärbt und verteidigen Reviere auf Riffen, in denen sie bis zu 40-mal pro<br />
Tag kopulieren. Die Umwandlung vom Weibchen zum Männchen ist
8.7 Strategien und Taktiken 305<br />
Box 8.3<br />
Proximate Kontrolle alternativer Paarungstaktiken<br />
• Frage: Welche Rolle spielt Testosteron bei der proximaten Kontrolle<br />
unterschiedlicher Paarungstaktiken männlicher Galapagos-Meerechsen?<br />
• Hintergrund: Territoriale Meerechsen haben sowohl höhere Testosteron-<br />
Konzentrationen (T) als jüngere und kleinere Satellitenmännchen, welche<br />
wiederum weniger T besitzen als sneaks, die sich wie Weibchen verhalten.<br />
• Methode: Dominanten Männchen wurde ein T-Blocker injiziert; Satelliten<br />
und sneaks bekamen T-Injektionen. Territoriumsgröße, Anzahl der<br />
Weibchen pro Territorium sowie Kopfnickhäufigkeiten wurden für experimentelle<br />
Männchen und deren Kontrollen (mit Scheininjektionen) über<br />
7 Tage bestimmt.<br />
Territoriumsgröße<br />
[m²]<br />
Weibchen pro<br />
Territorium<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
x x x y x x x x x<br />
x y y z x y x y y<br />
vorher nach 2 Tagen nach 7 Tagen<br />
• Ergebnis: Im Vergleich zu Nachbarn, die mit Kontrollsubstanz ( ) oder<br />
gar nicht ( ) injiziert wurden, verloren mit T-Blocker behandelte dominante<br />
Männchen ( ) innerhalb von 2 Tagen die Hälfte ihrer Territoriumsfläche<br />
und 95% der Weibchen darauf*. Nach 7 Tagen wurden die<br />
Ausgangswerte wieder fast erreicht. Satelliten-Männchen zeigten nach<br />
T-Injektion die umgekehrte Reaktion. Sneaks, die mit T behandelt wurden,<br />
verhielten sich danach wie Satelliten.<br />
• Schlussfolgerung: Die Wahl einer Taktik bei männlichen Galapagos-<br />
Meerechsen ist proximat von Testosteron und der ontogenetischen Phase<br />
der Entwicklung abhängig.<br />
Wikelski et al. 2005<br />
* Mittelwerte mit unterschiedlichen Buchstaben (x, y, z) unterscheiden sich<br />
signifikant
306 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
größenabhängig und unterliegt einer sozialen Kontrolle, d. h. erst nach<br />
Verschwinden der größten Männchen werden die größten Weibchen zu<br />
Männchen (Warner u. Shultz 1992). Bei anderen Arten, wie z. B. paarlebenden<br />
Anemonenfischen, erfolgt die Geschlechtsumwandlung in die andere<br />
Richtung (Kuwamura u. Nakashima 1998). Schließlich gibt es auch<br />
Beispiele dafür, dass Geschlechtsumwandlungen in beide Richtungen erfolgen<br />
können (Munday 2002) oder sogar reversibel sind (Kuwamura et al.<br />
2002).<br />
8.8 Partnerwahl durch Männchen<br />
In den Theorien der klassischen Geschlechterrollen spielt die Partnerwahl<br />
durch Männchen keine Rolle. In den meisten Arten sind Paarungen für<br />
Männchen mit geringen Kosten verbunden und sie versuchen, die Zahl der<br />
Paarungsgelegenheiten zu maximieren. Wenn es allerdings Unterschiede in<br />
der Qualität der Weibchen gibt und Männchen sich entscheiden können,<br />
sollten sie zwischen Weibchen diskriminieren. Solches Wahlverhalten von<br />
Männchen ist in mindestens drei Situationen zu erwarten. Erstens bei<br />
Arten mit umgekehrten Geschlechterrollen, also solchen, bei denen die<br />
Männchen langsamere potentielle Fortpflanzungsraten ( Kap. 7.3) besitzen,<br />
sich allein um die Jungenaufzucht kümmern und Weibchen um<br />
Männchen konkurrieren (Gwynne 1991). Zweitens sollten Männchen auch<br />
bei Arten, in denen die Weibchen sich deutlich in ihrer Fekundität unterscheiden,<br />
zwischen Weibchen diskriminieren, weil größere Weibchen<br />
mehr Nachwuchs produzieren können (z. B. Drosophila: Byrne u. Rice<br />
2006). Bei Schnappgrundeln (Gobiusculus flavescens) haben Männchen<br />
eine starke Präferenz für Weibchen mit gelbem Bauch. Dieses weibliche<br />
Ornament ist daher vermutlich durch männliche Partnerwahl entstanden<br />
(Amundsen u. Forsgren 2001); womöglich weil dieses Ornament Informationen<br />
über die Anzahl der Eier im Bauch der Weibchen enthält oder verstärkt.<br />
Partnerwahl durch Männchen ist unabhängig vom Paarungssystem<br />
( Kap. 11.2) zu erwarten. Männchen in monogamen Arten sollten ihre<br />
Partnerinnen besonders sorgfältig auswählen, da die genetische Kompatibilität<br />
und die Zusammenarbeit der Eltern bei der Jungenaufzucht die Fitness<br />
beider Partner beeinflusst. Bei einer monogamen Mäuseart (Peromyscus<br />
polionotus) hatten Männchen mit von ihnen präferierten Weibchen tatsächlich<br />
mehr Nachwuchs als Männchen, die mit nicht präferierten Weibchen<br />
verpaart wurden (Ryan u. Altmann 2001). Männchen in polygynen Arten<br />
ohne väterliches Investment in die Jungen können ihren Fortpflanzungserfolg<br />
ebenfalls erhöhen, indem sie Weibchen mit vorteilhafter genetischer
8.9 Zusammenfassung 307<br />
Kompatibilität ( Kap. 9.5) wählen. In einem Verpaarungsexperiment mit<br />
Hausmäusen (Mus musculus) ging aus Paarungen mit in vorangegangenen<br />
Verhaltenstests präferierten Weibchen signifikant häufiger Nachwuchs<br />
hervor, und ein größerer Anteil der produzierten Jungen überlebte bis zur<br />
Entwöhnung. Außerdem dominierten adulte Söhne von Männchen, die mit<br />
präferierten Weibchen verpaart wurden, später Männchen, die aus anderen<br />
Paarungen hervorgingen (Gowaty et al. 2003). Die Partnerpräferenzen dieser<br />
Männchen beeinflussten also unter kontrollierter Ausschaltung von<br />
Konkurrenz zwischen Männchen und Partnerwahl durch die Weibchen die<br />
männliche Fitness. Partnerwahl durch Männchen ist also auch bei polygynen<br />
Arten vermutlich weiter verbreitet als bislang angenommen.<br />
8.9 Zusammenfassung<br />
Fortpflanzungskonkurrenz zwischen Männchen entscheidet in der<br />
großen Mehrzahl der Tierarten in wichtiger Weise über den relativen<br />
Fortpflanzungserfolg einzelner Männchen mit. Der Erfolg der Männchen<br />
wird dabei von intrasexueller Selektion bewertet. Fortpflanzungskonkurrenz<br />
kann vor oder nach der Paarung stattfinden und<br />
durch direkten Kontakt zwischen Rivalen oder durch indirekte<br />
Mechanismen erfolgen. Das Verhalten der Männchen spielt bei den<br />
meisten Mechanismen der Fortpflanzungskonkurrenz eine herausragende<br />
Rolle, aber in vielen Fällen sind Merkmale der Morphologie<br />
und Physiologie ebenfalls an die Art der Konkurrenz angepasst. In<br />
manchen Fällen schränken Zwänge der Life history die möglichen<br />
Mechanismen der intrasexuellen Selektion ein. Aufgrund von individuellen<br />
Unterschieden in der Konkurrenzfähigkeit kommt es in den<br />
meisten Fällen zu Varianz im männlichen Fortpflanzungserfolg, die<br />
größer ist als die unter den Weibchen. Diese Varianz ist darauf zurückzuführen,<br />
dass sich Männchen in ihrem Erfolg bei der prä- und<br />
postkopulatorischen Konkurrenz unterscheiden, wobei präkopulatorischer<br />
Erfolg stark konditionsabhängig ist. Ornamente und Dominanz<br />
tragen zur Reduktion der Kosten präkopulatorischer Konkurrenz<br />
bei. Postkopulatorische Konkurrenz findet vor allem zwischen den<br />
Spermien rivalisierender Männchen statt. Wenn sich Männchen zu<br />
sehr in ihrer Konkurrenzfähigkeit unterscheiden, kann es zu Selektion<br />
für alternative Paarungsstrategien kommen. Intrasexuelle Selektion ist<br />
so ubiquitär und stark, dass sie Anpassungen in zahlreichen außergewöhnlichen<br />
Merkmalen und Verhaltensaspekten der Männchen erklärt,<br />
die durch natürliche Selektion nicht zu erklären sind.
308 8 Intrasexuelle Selektion: wie Männchen konkurrieren<br />
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9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
9.1 Arterkennung<br />
9.1.1 Mechanismen der Arterkennung<br />
9.1.2 Speziation<br />
9.1.3 Wahl von artfremden Männchen<br />
9.2 Inzestvermeidung<br />
9.2.1 Mechanismen der Inzestvermeidung<br />
9.2.2 Verwandtenerkennung<br />
9.3 Mechanismen der Partnerwahl<br />
9.3.1 Selektivität der Weibchen<br />
9.3.2 Erhebungstaktiken<br />
9.3.3 Proximate Grundlagen der Wahl<br />
9.3.4 Kryptische Weibchenwahl<br />
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl<br />
9.4.1 Effekte auf Fertilität und Fekundität<br />
9.4.2 Vaterqualitäten<br />
9.4.3 Andere Qualitäten der Männchen<br />
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl<br />
9.5.1 Sexy Söhne durch den Fisher-Prozess<br />
9.5.2 Besserer Nachwuchs durch gute Gene<br />
9.5.3 Genetische Kompatibilität<br />
9.6 Polyandrie<br />
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen<br />
9.7.1 Reproductive skew<br />
9.7.2 Weibliche Ornamente<br />
9.8 Sexueller Konflikt<br />
9.8.1 Theorie sexueller Konflikte<br />
9.8.2 Beispiele für sexuellen Konflikt<br />
9.8.3 Konsequenzen sexuellen Konflikts<br />
9.8.4 Sexuelle Nötigung<br />
9.9 Zusammenfassung
318 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Im Unterschied zu Männchen können Weibchen in der Regel ihren Fortpflanzungserfolg<br />
nicht durch zusätzliche Verpaarungen erhöhen. Stattdessen<br />
können sie zur Maximierung ihres Fortpflanzungserfolgs die Qualität<br />
und Überlebenschancen ihrer Nachkommen verbessern. Dies ist grundsätzlich<br />
auf zwei Arten möglich. Erstens können sie ihre mütterliche Investition,<br />
die durch Zeit und Energie limitiert wird, erhöhen ( Kap. 11). Zweitens<br />
können sie durch die Wahl eines entsprechenden Partners Vorteile für<br />
sich oder ihre Jungen beziehen. Diese Vorteile können direkter Natur sein,<br />
indem sie Männchen wählen, die ihnen materielle Vorteile verschaffen<br />
oder väterliches Investment in den Nachwuchs leisten ( Kap. 9.4). Weibchen<br />
können auch indirekte Vorteile aus der Partnerwahl beziehen, indem<br />
sie Männchen hoher genetischer Qualität wählen, die diese Qualitätsmerkmale<br />
an die Jungen weitergeben ( Kap. 9.5). Manche Befunde sprechen<br />
allerdings auch dafür, dass die Partnerwahl der Weibchen nicht adaptiv<br />
ist, sondern dass Männchen in einem evolutionären Wettrennen<br />
zwischen den Geschlechtern sinnesphysiologische Präferenzen der Weibchen<br />
ausnutzen ( Kap. 9.8). Unter Umständen konkurrieren Weibchen<br />
auch um Männchen hoher Qualität oder sie versuchen, den Fortpflanzungserfolg<br />
von Rivalinnen zu beeinträchtigen ( Kap. 9.7).<br />
Die Partnerwahl der Weibchen kann vor der Paarung oder postkopulatorisch<br />
zwischen den Spermien verschiedener Männchen erfolgen. Sie<br />
basiert auf unterschiedlichen Mechanismen, wobei das Verhalten eine<br />
herausragende Rolle spielt ( Kap. 9.3). Weibchen können sich entweder<br />
aktiv für bestimmte Männchen entscheiden und diese zu Paarungen auffordern,<br />
oder sie können Paarungsaufforderungen von Männchen selektiv abweisen.<br />
Es kann auch adaptive Gründe geben, warum sich manche Weibchen<br />
scheinbar wahllos mit mehreren Männchen verpaaren ( Kap. 9.6).<br />
Intersexuelle Selektion wirkt dabei auf Merkmale, die von Männchen eingesetzt<br />
werden, Weibchen dazu zu veranlassen, sich mit ihnen zu verpaaren.<br />
Ebenso unterliegen die korrespondierenden Präferenzen der Weibchen<br />
für bestimmte Merkmalsausprägungen der intersexuellen Selektion. In<br />
diesem Zusammenhang lastet ein hoher Selektionsdruck auf Weibchen,<br />
artfremde und nah verwandte Männchen zu erkennen und gegen diese zu<br />
diskriminieren, da die Kosten solcher Paarungen von den Weibchen getragen<br />
werden ( Kap. 9.1 u. 9.2). Intersexuelle Selektion ist daher eine treibende<br />
evolutionäre Kraft bei der Artbildung, der Entwicklung von Ornamenten<br />
sowie von Geschlechtsunterschieden in ganz unterschiedlichen<br />
Merkmalen.
9.1 Arterkennung 319<br />
9.1 Arterkennung<br />
Die erste wichtige Entscheidung, die fortpflanzungsbereite Weibchen treffen<br />
müssen, betrifft die Auswahl eines Männchens der eigenen Art. Obwohl<br />
Arten als geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaften definiert sind,<br />
können sich viele nahverwandte Arten potentiell untereinander verpaaren,<br />
so dass für Weibchen das Risiko besteht, sich mit einem artfremden Männchen<br />
zu verpaaren, insbesondere wenn ihre Artgenossen sehr viel seltener<br />
sind als die Mitglieder einer sympatrischen Schwesterart (Wirtz 1999).<br />
Wenn solche heterospezifischen Verpaarungen stattfinden, führen sie oft<br />
zu Störungen der frühen Embryonalentwicklung und zum Absterben der<br />
sich entwickelnden Embryonen. In anderen Fällen kann es aber auch zu<br />
Hybridisierungen kommen, wobei die resultierenden Bastarde zwar erhöhte<br />
Vitalität (zum Beispiel Maulesel), aber verminderte Fertilität aufweisen.<br />
In den allermeisten Fällen ist von diesen Nachteilen das heterogame Geschlecht<br />
betroffen (Haldanes Regel).<br />
Die Kosten solcher Fehlverpaarungen tragen die Weibchen; sie verlieren<br />
ihre Investition in die Eizellen und Embryonalentwicklung und damit<br />
wertvolle Zeit und Gelegenheit, sich erfolgreich fortzupflanzen. Es ist also<br />
zu erwarten, dass sie Mechanismen entwickelt haben, Männchen der eigenen<br />
Art zu erkennen. Wenn Weibchen neue Präferenzen entwickeln, liefert<br />
intersexuelle Selektion daher auch einen wichtigen Mechanismus, der<br />
zur Artentstehung in sich divergierenden Populationen beitragen kann.<br />
Schließlich kommt es aufgrund eines ungewöhnlichen Fortpflanzungssystems<br />
bei manchen Arten dazu, dass Weibchen artfremde Männchen erkennen<br />
müssen, weil sie diese für die Fertilisation benötigen ( Kap. 7.2).<br />
9.1.1 Mechanismen der Arterkennung<br />
Paarungsbereite Weibchen sollten von der Selektion dafür belohnt werden,<br />
die Artzugehörigkeit von Männchen möglichst frühzeitig zu verifizieren.<br />
Nur wenn sie sich auf Männchen der eigenen Art einlassen, minimieren sie<br />
die Kosten, auch in Form verschwendeter Zeit, die sich aus Interaktionen<br />
mit artfremden Männchen ergeben. Wenn es doch zur Hybridisierung<br />
zwischen verschiedenen Arten kommt, verstärken deren Kosten Selektionskräfte,<br />
welche die Differenzierung der betroffenen Populationen<br />
vorantreiben; es kommt zur reproduktiven Merkmalsverschiebung<br />
(Higgie et al. 2000). Diese ist dadurch definiert, dass nahverwandte sympatrische<br />
Arten sich stärker in den Mechanismen der Partnererkennung unterscheiden<br />
als allopatrische Populationen, wobei natürliche und sexuelle
320 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Abb. 9.1. Bei Fröschen und Kröten<br />
(hier Teichfrosch, Rana esculenta)<br />
rufen Männchen, um paarungsbereite<br />
Weibchen anzulocken. Diese<br />
Rufe sind artspezifisch, enthalten<br />
aber auch zusätzliche Information,<br />
z. B. über die Größe des Rufers<br />
Selektion bei der Ausprägung von Partnererkennungsmechanismen zusammenwirken<br />
(Blows 2002). Viele Merkmale und Signale, wie zum Beispiel<br />
aufwändiges Balzverhalten, können daher als Arterkennungsmechanismen<br />
interpretiert werden. Manche Merkmale sind dabei so stereotyp<br />
wie die arttypischen Bewegungsabläufe, die Entenvögel bei der Balz einsetzen,<br />
dass sie in phylogenetischen Rekonstruktionen als artspezifische<br />
Merkmale herangezogen wurden (Lorenz 1941). Trotzdem sind bei<br />
Vögeln, aber auch bei anderen Taxa nicht wenige Hybridisierungen dokumentiert<br />
worden (Randler 2002).<br />
Von den Weibchen ausgehende Selektion sollte also dazu führen, dass<br />
Männchen eindeutige Signale produzieren, anhand derer sie von Weibchen<br />
als adäquate Paarungspartner erkannt werden können. Die bekanntesten<br />
Beispiele für Arterkennung und reproduktive Isolierung durch weibliche<br />
Präferenzen für akustische Signale liefern Studien mit Amphibien und<br />
Heuschrecken. Bei vielen Fröschen und Kröten versammeln sich Männchen<br />
in der Nähe von Gewässern und rufen, um damit Weibchen anzulocken<br />
(Abb. 9.1). Laichbereite Weibchen können sich so zuverlässig einem<br />
Männchen derselben Art annähern. Nahverwandte Arten, die sich<br />
teilweise am selben Gewässer einfinden, unterscheiden sich in mehreren<br />
akustischen Merkmalen ihrer Werberufe (Ryan u. Rand 1993). In einfachen<br />
Wahlversuchen, in denen man ein Weibchen zwischen zwei Lautsprecher<br />
setzt und ihnen die Werberufe von Art A und Art B (oder Kontrolllaute)<br />
vorspielt, orientieren sich praktisch alle Weibchen zum<br />
Lautsprecher, aus dem der arteigene Ruf erklingt.<br />
Bei Grillen und Heuschrecken spielen die „Gesänge“, die Männchen<br />
durch Stridulation mit ihren Hinterbeinen erzeugen, die wichtigste Rolle<br />
bei der reproduktiven Isolation sympatrischer Arten, aber auch in den Kontaktzonen<br />
allopatrischer Arten (Stumpner u. von Helversen 1994). Wenn
9.1 Arterkennung 321<br />
Abb. 9.2. Arterkennung und Hybridisierung entlang einer Hybridzone. Bei Heuschrecken<br />
der Gattung Chorthippus kommt es zu Hybridisierungen zweier Arten<br />
(A und B), deren Männchen sich in ihren Werbegesängen und den bei der Produktion<br />
eingenommenen Körperhaltungen unterscheiden (Vedenina u. von Helversen<br />
2003)<br />
die Trennung von Arten mit aneinander grenzenden Verbreitungsgebieten<br />
deutlich ist, kommt es zur Ausbildung bimodaler Hybridzonen. Dabei gehören<br />
die meisten Individuen einer der beiden Elternarten an, wohingegen<br />
die Zahl der intermediären Hybriden gering ist (Jiggins u. Mallet 2000).<br />
Präzygotische Isolation von benachbarten Arten wird in solchen Hybridzonen<br />
durch assortative Verpaarungen und damit letztendlich durch Weibchenwahl<br />
hergestellt.<br />
Bei der Feldheuschrecke (Chorthippus albomarginatus) werden Weibchen<br />
zum Beispiel von mehreren „singenden“ Männchen umringt, die<br />
teilweise stundenlang ihre Balzlaute produzieren. In dieser Situation können<br />
Weibchen nicht nur die Artzugehörigkeit eines Männchens, sondern<br />
auch Korrelate ihrer Qualität direkt vergleichen. Die akustische Struktur<br />
der Laute verschiedener Arten sowie die Körperhaltungen der Männchen<br />
bei der Lautproduktion sind komplex und artspezifisch (Abb. 9.2). Da<br />
männliche Bastarde, wenn sie doch entstehen, in diesen Merkmalen intermediär<br />
zwischen den Elternarten sind, haben diese Arterkennungsmerkmale<br />
eine genetische Grundlage, wobei es bei der Hybridisierung auch<br />
manchmal zur Bildung neuer Elemente kommt, welche neues Rohmaterial<br />
für die sexuelle Selektion liefern können (Vedenina u. von Helversen<br />
2003). Bei Turteltauben (Streptopelia spp.) sind die Rufe von männlichen<br />
Hybriden nur in der Hybridzone darin effektiv, Rivalen fern zu halten, so
322 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
dass Rufe auch im Kontext der intrasexuellen Selektion zur Stabilisierung<br />
der Hybridzone beitragen können (den Hartog et al. 2007).<br />
Oft unterscheiden sich neu entstandene Arten daher zunächst nur in<br />
sekundären Geschlechtsmerkmalen, so dass vermutet wird, dass die Divergenz<br />
im Verhalten sogar für die Artbildung verantwortlich ist. Bei der<br />
Grillen-Gattung Laupala auf Hawaii, welche die höchste bekannte Speziationsrate<br />
bei Arthropoden aufweist, unterscheiden sich Arten scheinbar nur<br />
in ihren Gesängen (Mendelson u. Shaw 2005).<br />
Geruchliche Information spielt auch eine wichtige Rolle bei der Arterkennung.<br />
Urin von Säugetieren enthält olfaktorische Signale, die eine<br />
Unterscheidung von Arten, Unterarten, aber auch von Geschlecht und individueller<br />
Identität erlauben (z. B. Smadja u. Ganem 2002). Beim Zwerg-<br />
Schwertträger (Xiphophorus pygmaeus), einem kleinen lebendgebärenden<br />
Zahnkarpfen, haben Weibchen eine starke Präferenz für große Männchen,<br />
was das Risiko erhöht, sich mit einem Männchen der sympatrischen Art<br />
Xiphophorus cortezi zu verpaaren (Hankison u. Morris 2003). Allerdings<br />
präferieren sie olfaktorische Signale der eigenen Männchen über die der<br />
anderen Art, so dass hier die Geruchsinformation ein zusätzliches Signal<br />
liefert, welches dazu beiträgt, das Risiko von heterospezifischen Paarungen<br />
zu reduzieren. Wenn Größe und Geruch kombiniert werden, egalisieren<br />
sich die beiden Präferenzen, und es gibt keine klare Reaktion. Wenn man<br />
allerdings zusätzlich das artspezifische Streifenmuster zeigt, wird die Präferenz<br />
für Männchen der eigenen Art wieder deutlich. Diese und vermutlich<br />
viele andere Weibchen verlassen sich also nicht nur auf ein Merkmal<br />
bei der Artidentifikation.<br />
Ein bei Arten mit interner Fertilisation verbreiteter Mechanismus der<br />
Arterkennung besteht in der mechanischen Passgenauigkeit der Genitalien.<br />
Männliche Geschlechtsorgane sind dabei in komplexer Weise geformt,<br />
so dass diese häufig für Taxonomen und vermutlich auch für die<br />
jeweiligen Weibchen das verlässlichste Merkmal zur Artidentifikation darstellen<br />
(Abb. 9.3). Zur Erklärung der evolutionären Entstehung dieser<br />
Diversität in Form und Größe von Genitalien gibt es zwei Hypothesen.<br />
Nach der Schlüssel-und-Schloss-Hypothese fungieren komplexe Genitalien<br />
als präinseminatorischer Mechanismus zur Hybridisationsvermeidung,<br />
d. h. Verpaarungen mit artfremden Männchen sind möglich, aber die resultierenden<br />
Hybriden besitzen schlechter passende Genitalien und<br />
haben daher einen reduzierten Fortpflanzungserfolg. Demnach ist der<br />
Nachteil der Bastarde letztendlich für die Evolution von komplexen,<br />
mechanisch passenden Genitalien verantwortlich. Nach der Sexuellen-<br />
Selektions-Hypothese wirkt Selektion dagegen auf männliche Genitalien<br />
unter Bewertung ihres Fortpflanzungserfolges, das heißt nach der Insemi-
9.1 Arterkennung 323<br />
Abb. 9.3. Männliche Genitalien sind bei zahlreichen<br />
Insekten mit komplexen Anhängen und<br />
Auswüchsen versehen (hier beim Vierfleckigen<br />
Bohnenkäfer: Callosobruchus maculatus). Zwei<br />
evolutionäre Hypothesen erklären diese<br />
Formenvielfalt; eine davon postuliert eine<br />
Funktion in der Arterkennung<br />
nation. Demnach besitzt die (kryptische) Weibchenwahl ( Kap. 9.3) eine<br />
wichtige Rolle für die Ausbildung elaborierter männlicher Genitalien<br />
(Eberhard 1990).<br />
Ein Vergleich von Taxa mit unterschiedlichen Paarungssystemen erlaubt<br />
einen vergleichenden Test dieser beiden Hypothesen. In Arten mit monandrischen<br />
Weibchen, die sich also nur mit einem Männchen verpaaren,<br />
gibt es im Vergleich zu polyandrischen Arten geringe Varianz im männlichen<br />
Fortpflanzungserfolg und dementsprechend nur schwache Selektion<br />
auf die Anatomie männlicher Genitalien. Nach der Schlüssel-und-Schloss-<br />
Hypothese sollte dagegen bei monandrischen Arten der Selektionsdruck<br />
auf Passgenauigkeit der Genitalien größer sein. Bei einem Vergleich unabhängiger<br />
phylogenetischer Kontraste ( Kap. 1.4) der Genitalform zwischen<br />
monandrischen und polyandrischen Insektentaxa zeigte Göran<br />
Arnqvist (1998), dass die Genitalform in 18 von 19 solcher Vergleiche in<br />
vier Insektenordnungen innerhalb der polyandrischen Gruppen im Durchschnitt<br />
mehr als doppelt so variabel war als in monandrischen Gruppen. Da<br />
sich dieselben Gruppen in der Form anderer Körperteile wie Flügel oder
324 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Beine nicht unterscheiden, unterstreicht diese Studie die Bedeutung sexueller<br />
Selektionsmechanismen für die Entstehung von Diversität von männlichen<br />
Genitalien und suggeriert bestenfalls eine sekundäre Funktion bei<br />
der Arterkennung.<br />
9.1.2 Speziation<br />
Intersexuelle Selektion stellt aufgrund des erwähnten Selektionsdrucks auf<br />
Weibchen auch einen wichtigen Mechanismus der Artbildung dar. Eine<br />
Differenzierung einer Art in zwei Tochterarten kann durch intersexuelle<br />
Selektion erfolgen, wenn eine gleichzeitige Änderung von Partnerpräferenzen<br />
der Weibchen und sekundären Geschlechtsmerkmalen der Männchen<br />
innerhalb einer Population zu präzygotischer Isolation führt (Boughman<br />
2001). Präzygotische Isolation in Form von Partnerdiskriminierung<br />
ist die wichtigste Ursache von reproduktiver Isolation zwischen allopatrischen<br />
oder sekundär sympatrischen Populationen. Da sexuelle Selektion in<br />
diesem Fall direkt auf Merkmale wirkt, die an der Partnererkennung beteiligt<br />
sind, kann es dadurch schnell und unabhängig von Umweltbedingungen<br />
zu einer Divergenz zwischen Populationen kommen (Panhuis et al.<br />
2001). So können vor allem Unterschiede zwischen allopatrischen Populationen<br />
verstärkt werden, aber auch sympatrische Speziation kann sich dieses<br />
Mechanismus bedienen (Boul et al. 2007).<br />
Cichliden in den afrikanischen Seen stellen für die Untersuchung von<br />
Speziationsmechanismen eine besonders geeignete Gruppe dar, weil dort<br />
in den letzten Jahrtausenden Hunderte von Arten entstanden sind, die sich<br />
zum Teil ökologisch und morphologisch stark ähneln (Won et al. 2005). In<br />
der Gattung Pundamilia gibt es zum Beispiel zwei Schwesterarten (P.<br />
pundamilia und P. nyererei), deren Weibchen nur sehr schwer unterscheidbar<br />
sind, da sie ähnlich groß und kryptisch gefärbt sind. Die männlichen<br />
P. pundamilia sind dagegen bläulich gefärbt, wohingegen die P.<br />
nyererei-Männchen ein auffälliges rot-gelbes Muster besitzen. Maan et al.<br />
(2004) haben untersucht, ob P. nyererei-Weibchen letztendlich für die rote<br />
Farbe ihrer Männchen und damit für die Differenzierung dieser beiden Arten<br />
verantwortlich sind (Box 9.1).<br />
Der Zusammenhang zwischen sexueller Selektion und Speziation kann<br />
auch indirekt durch vergleichende Studien untersucht werden. Schon<br />
Darwin (1871) bemerkte, dass auffällige sekundäre Geschlechtsmerkmale<br />
in artenreichen Taxa konzentriert sind. Durch den Vergleich von Speziationsraten<br />
zwischen Schwestertaxa, die per Definition gleich viel Zeit zur<br />
Diversifizierung hatten, kann man überprüfen, ob das Auftreten von sexuell<br />
selektierten Ornamenten positiv mit Artendiversität korreliert ist. Bei
9.1 Arterkennung 325<br />
Box 9.1<br />
Weibchenwahl und Artbildung<br />
• Frage: Haben weibliche Präferenzen zur Artbildung bei Cichliden beigetragen?<br />
• Hintergrund: Die Weibchen zweier Arten (Pundamilia pundamilia und P.<br />
nyererei) sind zum Verwechseln ähnlich, wohingegen die Männchen sich<br />
deutlich unterscheiden (P. pundamilia: blau; P. nyererei: rot). Da die ursprüngliche<br />
Farbe von Pundamilia-Männchen blau ist, stellt sich die Frage,<br />
ob P. nyererei dadurch entstanden ist, dass deren Weibchen rote<br />
Männchen präferieren.<br />
• Methode: In Wahlversuchen wurden einzelnen P. nyererei-Weibchen<br />
zwei unterschiedlich rot gefärbte Männchen in separaten Aquarien präsentiert.<br />
Die Annäherungsreaktion der Weibchen auf verschiedene Komponenten<br />
des männlichen Balzverhaltens wurde quantifiziert.<br />
• Ergebnis: Weibchen zeigten eine signifikante Präferenz* für das jeweils<br />
intensiver rot gefärbte von zwei Männchen, die sich weder in ihrer Größe<br />
noch in der Intensität des Balzverhaltens unterschieden.<br />
• Schlussfolgerung: Weibliche P. nyererei haben eine starke Präferenz für<br />
rote Männchen. Diese vermutlich zufällig neu entstandene Präferenz hat<br />
zu einer raschen Trennung in zwei Arten geführt.<br />
Maan et al. 2004<br />
* gemessen als Zuschwimmen auf Männchen, die ein „seitliches display“, „Schütteln“<br />
oder „Voranschwimmen“ zeigen.<br />
Singvögeln wurde gezeigt, dass der Anteil der Arten mit Sexualdichromatismus<br />
in 12 von 15 unabhängigen Vergleichen in Kladen mit höherer Artendiversität<br />
größer ist (Barraclaugh et al. 1995). Stärker ornamentierte<br />
Singvogelarten haben im Durchschnitt auch mehr Unterarten (Møller u.<br />
Cuervo 1998), was darauf hindeutet, dass dort verstärkt taxonomische Differenzierungen<br />
im Gange sind.
326 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Wenn sich die Verbreitungsgebiete von polytypischen Arten mosaikartig<br />
aneinander fügen, können nach intensiver Ausbreitung Unterarten<br />
wieder mit der Ausgangspopulation in Kontakt treten und sich im sekundären<br />
Überschneidungsgebiet wie getrennte Arten verhalten. Dabei können,<br />
wie bei eurasischen Kohlmeisen (Parus major) oder der Herings- (Larus<br />
fuscus) und Silbermöwe (L. argentatus) Rassenkreise entstehen, an deren<br />
Ende trotz eines gemeinsamen Genpools zwei Rassen unvermischt sympatrisch<br />
vorkommen. Die mögliche Bedeutung der Weibchenwahl bei der<br />
Bildung von Rassenkreisen ist aber noch nicht gründlich untersucht (Edwards<br />
et al. 2005).<br />
Wenn zwei allopatrische Populationen nach längerer Trennung wieder<br />
aufeinander treffen, bevor die Artbildung abgeschlossen ist, kann Verstärkung<br />
dazu dienen, reproduktive Isolation herzustellen und den Artbildungsprozess<br />
abzuschließen. Verstärkung (reinforcement) kann dadurch<br />
bewerkstelligt werden, dass Tendenzen zu assortativen Paarungen<br />
existieren, es werden also ähnliche Phänotypen bevorzugt. In einer Studie<br />
an Fliegenschnäppern (Ficedula spp.) konnte gezeigt werden, dass die genetischen<br />
Grundlagen der Arterkennung durch Weibchen und der Erkennung<br />
artspezifischer männlicher Gefiederfärbung auf dem weiblichen<br />
Z-Chromosom gekoppelt sind (Sæther et al. 2007). Da diese Gene nur sehr<br />
unwahrscheinlich durch Rekombination auseinandergebrochen werden,<br />
könnte diese Koppelung eine wichtige Grundlage der Vermeidung von<br />
Hybridisation, und damit in diesem Fall der Artbildung, darstellen. Experimente<br />
mit Blau- und Kohlmeisen, bei denen Junge von der jeweils anderen<br />
Art aufgezogen wurden, zeigten, dass Prägung ( Kap. 10.5) auf die<br />
Morphologie der Eltern ebenfalls einen Einfluss auf spätere Partnerpräferenzen<br />
hat (Hansen et al. 2007). Wenn die Männchen zweier Arten sich<br />
äußerlich sehr ähnlich sind, kann weibliche Partnerwahl zu sehr ausgedehntem<br />
Balzverhalten führen; vermutlich damit Weibchen ein Maximum<br />
an Information sorgfältig auswerten können, um ein artfremdes Männchen<br />
zu vermeiden (Friberg et al. 2008).<br />
9.1.3 Wahl von artfremden Männchen<br />
Unter seltenen Umweltbedingungen können die genetischen Konsequenzen<br />
der Hybridisierung vorteilhaft sein, so dass Weibchen eine Präferenz<br />
für Männchen einer anderen Art zeigen. So bevorzugen weibliche Schaufelfußkröten<br />
(Spea bombifrons) in trockenen Jahren Männchen einer anderen<br />
Art (S. multiplicata), da sich deren Kaulquappen in kleinen, flachen<br />
Tümpeln schneller entwickeln (Pfennig 2007).
9.2 Inzestvermeidung 327<br />
Bei manchen Arten sind Weibchen dagegen auf artfremde Männchen<br />
zur Befruchtung ihrer Eier angewiesen. Bei diesem ungewöhnlichen Fortpflanzungssystem<br />
benötigen Weibchen Spermien einer anderen Art, entweder<br />
um ihre Eier zu befruchten (Hybridogenese) oder um die Reifung<br />
ihrer Embryonen zu stimulieren (Gynogenese). Das väterliche Erbgut wird<br />
aber in der Regel vor der Meiose eliminiert und nicht weitergegeben; es<br />
handelt sich daher um eine klonale Weitergabe des kompletten weiblichen<br />
Genoms. Dadurch sparen Weibchen dieser Arten die evolutionären Kosten<br />
der Männchen-Produktion ( Kap. 7.2). Außer bei einigen Wirbellosen<br />
finden sich solche Fortpflanzungssysteme bei manchen Fischen und Amphibien<br />
(z. B. Engeler u. Reyer 2001). Solche Arten entstehen durch Hybridisierung<br />
und produzieren nur weibliche Nachkommen, die daher Männchen<br />
anderer Arten erkennen und auswählen müssen. Die Koexistenz mit<br />
der jeweiligen Ausgangsart basiert daher teilweise auf der Partnerwahl<br />
durch Weibchen.<br />
Männchen sollten Paarungen mit hybridogenen oder gynogenen Weibchen<br />
einer nah verwandten Art eigentlich vermeiden, weil ihre Gene nicht<br />
weitergegeben werden. Da die sexuell parasitären Weibchen aber von<br />
deren Spermien abhängig sind, sollten Arten mit spermienabhängigem<br />
Fortpflanzungssystem eigentlich rasch aussterben. Eine mögliche Erklärung<br />
für die Existenz der gynogenen Arten könnte darin bestehen, dass die<br />
betreffenden Männchen entweder bei der Partnerwahl Fehler machen oder<br />
dass die Kosten für sie vernachlässigbar gering sind. Ein Experiment mit<br />
gynogenen Amazonen- (Poecilia formosa) und Breitflossenkärpflingen (P.<br />
latipinna) brachte einen direkten Vorteil heterospezifischer Paarungen<br />
durch P. latipinna-Männchen zu Tage: Mit Amazonenkärpflingen erfolgreiche<br />
Männchen werden auch von Weibchen der eigenen Art bevorzugt,<br />
auch wenn sie vorher nicht präferiert wurden (Schlupp et al. 1994).<br />
9.2 Inzestvermeidung<br />
Weibchen sollten auch darauf bedacht sein, neben artfremden Männchen<br />
gegen eine zweite Gruppe von Männchen bei der Paarung zu diskriminieren:<br />
nahe Verwandte. Paarungen zwischen Verwandten sollten vermieden<br />
werden, weil es aufgrund der Anhäufung homozygoter Allele zu Inzuchtdepression<br />
in Form einer Reduktion von Geburtsgewicht, Überlebens- und<br />
Fortpflanzungsraten sowie der Resistenz gegenüber Krankheiten oder ökologischen<br />
Stressoren kommt, deren Kosten ebenfalls großteils von den<br />
Weibchen getragen werden (Keller u. Waller 2002). Allein die Hemmung,<br />
sich mit verwandten Männchen fortzupflanzen, kann mit Kosten verbun-
328 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
den sein. Wenn man weibliche Striemengrasmäuse (Rhabdomys pumilio)<br />
im Experiment mit ihren Vätern aufwachsen lässt, zeigen sie im Vergleich<br />
zu Kontrollen, die mit fremden Männchen aufwachsen, verzögerte sexuelle<br />
Reifung und reduzierten Fortpflanzungserfolg (Pillay 2002). Weibchen<br />
sollten also Mechanismen entwickelt haben, anhand derer sie Männchen<br />
mit großer genetischer Ähnlichkeit erkennen und ablehnen, um das Risiko<br />
von inzestuösen Paarungen zu verringern.<br />
9.2.1 Mechanismen der Inzestvermeidung<br />
Die einfachste Möglichkeit, das Inzuchtrisiko zu vermindern, besteht<br />
darin, aus dem Geburtsgebiet abzuwandern. Dabei ist es ausreichend, wenn<br />
die Mitglieder eines Geschlechts abwandern. Welches Geschlecht abwandert,<br />
ist stark vom Paarungssystem abhängig ( Kap. 11.1). Bei monogamen<br />
Vögeln und Säugern wandern vor allem Weibchen ab, wohingegen<br />
bei polygynen Arten Männchen ihr Geburtsgebiet verlassen (Greenwood<br />
1980). Da bei polygynen Arten die Kosten der Inzucht die Weibchen stärker<br />
treffen, ist zu vermuten, dass sie durch die Wahl fremder Männchen<br />
die mit ihnen verwandten Männchen zur Abwanderung zwingen. Neben<br />
den empirischen Mustern haben auch theoretische Modellierungen gezeigt,<br />
dass weibliche Partnerwahl bei hohen Inzuchtkosten bei polygynen Arten<br />
zur Abwanderung der Männchen führt (Lehmann u. Perrin 2003).<br />
Manchmal kommt es aber zu keiner kompletten Abwanderung eines Geschlechts.<br />
Bei Vögeln mit kooperativer Brutfürsorge ( Kap. 10.4) bleiben<br />
beispielsweise geschlechtsreife Nachkommen bei ihren Eltern und unterstützen<br />
diese bei der Aufzucht der nächsten Brut. Wenn in solchen Gruppen<br />
das züchtende Männchen stirbt, findet sich das Weibchen plötzlich im<br />
Territorium seines ältesten Sohnes wieder. In dieser Situation wandern die<br />
meisten Weibchen ab und vermeiden so Paarungen mit ihrem Sohn (Cockburn<br />
et al. 2003).<br />
In anderen Fällen wandern Weibchen nicht weit genug ab, um bei anschließenden<br />
zufälligen Verpaarungen innerhalb lokaler Sub-Populationen<br />
Inzucht zu vermeiden. Hier kommt es vermutlich aufgrund der hohen Mortalitätsraten<br />
immer wieder zu frei werdenden Brutgelegenheiten, so dass<br />
die Abwanderung auf demografische Faktoren und nicht auf Partnerwahl<br />
zurückzuführen ist. Bei der Hausspitzmaus (Crocidura russula) kommt es<br />
so zu überzufällig häufigen Verpaarungen zwischen Verwandten, wodurch<br />
auf Populationsebene ein Defizit an Heterozygoten entsteht, was aber keine<br />
bemerkbaren phänotypischen Nachteile zur Folge hat (Duarte et al.<br />
2003). Ein weiteres Beispiel für fehlende Verwandtendiskriminierung
9.2 Inzestvermeidung 329<br />
stammt von einer Ameisenart mit mehreren Königinnen, die in ihrem Geburtsnest<br />
verbleiben und sich darin verpaaren. Genetische Verwandtschaftsanalysen<br />
in 26 Kolonien von Argentinischen Ameisen (Linepithema<br />
humile) haben gezeigt, dass deren Königinnen sich zufällig mit verfügbaren<br />
Männchen verpaaren, also nicht gegen Verwandte diskriminieren<br />
(Keller u. Fournier 2002). Möglicherweise sind die tatsächlichen Kosten<br />
der Inzucht bei dieser Art ebenfalls gering. Geschlechtsspezifische Abwanderung<br />
findet also nicht immer statt, und in solchen Fällen scheint es nicht<br />
immer andere Mechanismen zur Verwandtenerkennung und -vermeidung<br />
zu geben.<br />
Bei limitierten Abwanderungsmöglichkeiten kann Inzestvermeidung<br />
das Fortpflanzungsverhalten von Weibchen trotzdem nachhaltig beeinflussen.<br />
So ist bei Damaraland-Graumullen (Cryptomys damarensis) die Fortpflanzung<br />
auf ein dominantes Weibchen beschränkt. Neue Kolonien werden<br />
von einem nicht miteinander verwandten Pärchen gegründet. Die<br />
ausbleibende Fortpflanzung der in diese Kolonie hinein geborenen Weibchen<br />
könnte proximat dadurch zu erklären sein, dass sie keinen Zugang zu<br />
nicht-verwandten Männchen haben. Wenn man nämlich die Männchen einer<br />
Kolonie (aber nicht das dominante Weibchen) experimentell gegen<br />
fremde Männchen austauscht, wird bei den meisten reproduktiv unterdrückten<br />
Weibchen sexuelle Aktivität ausgelöst (Cooney u. Bennett 2000).<br />
Normalerweise ist bei Graumull-Weibchen das Partnerwahlverhalten also<br />
teilweise dadurch unterdrückt, dass keine geeigneten Männchen zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Ein ähnliches Problem stellt sich für Weibchen, deren Auswahl an<br />
nicht-verwandten Partnern eingeschränkt ist. Diese verpaaren sich<br />
manchmal mit Männchen, mit denen sie abstammungsidentische Allele teilen.<br />
Bei mehreren Arten von arktischen Strandläufern (Calidris mauri,<br />
Abb. 9.4. Bei Bergstrandläufern<br />
(Calidris<br />
mauri) kommt es regelmäßig<br />
zu Verpaarungen<br />
zwischen verwandten<br />
Tieren, obwohl sie<br />
genetische Ähnlichkeit<br />
bestimmen können
330 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Actitis hypoleuca und Charadrius alexandrinus, Abb. 9.4) kommt es aus<br />
nicht genau bekannten Gründen regelmäßig zu solchen Verpaarungen zwischen<br />
Verwandten. Beide Geschlechter beteiligen sich am Bebrüten der<br />
Eier, wobei Männchen aber deutlich mehr investieren. Fremde Junge in<br />
einem Nest können also auf Verpaarungen des Weibchens mit einem zweiten<br />
Männchen zurückzuführen sein oder aus Eiern stammen, die fremde<br />
Weibchen in das gemeinsame Nest gelegt haben und die dann vom Männchen<br />
ausgebrütet wurden. Ein Vergleich der Häufigkeit von Jungen, die<br />
nicht von den beiden Paarpartnern stammen, mit der genetischen Ähnlichkeit<br />
zwischen Männchen und Weibchen ergab, dass der Anteil fremder<br />
Jungen mit zunehmender genetischer Ähnlichkeit zwischen den sozialen<br />
Eltern zunahm (Blomqvist et al. 2002). Das „Fremdgehen“ kann in diesem<br />
Fall als Anpassung zur Vermeidung der genetischen Nachteile von Verpaarungen<br />
mit Verwandten interpretiert werden. Diese Tiere können also<br />
offenbar ihre genetische Ähnlichkeit mit Artgenossen bestimmen, verpaaren<br />
sich aber trotzdem manchmal mit Verwandten.<br />
Da der Fortpflanzungserfolg in manchen Arten stark zu Gunsten von<br />
dominanten Männchen verschoben ist ( Kap. 8.4), kann es dazu kommen,<br />
dass die Jungen verschiedener Weibchen derselben Alterskohorte<br />
denselben Vater haben. In diesem Fall sollten also Verpaarungen zwischen<br />
Individuen, die über die väterliche Linie miteinander verwandt sind, vermieden<br />
werden. Bei Savannenpavianen (Papio cynocephalus) wurde entsprechend<br />
dieser Erwartung beobachtet, dass sexuelle Interaktionen zwischen<br />
Geschwistern mit demselben Vater seltener auftraten als zwischen<br />
nicht miteinander verwandten Tieren (Alberts 1999). Zu diesem Problem<br />
kommt es also, wenn Geschlechtsreife und Abwanderung nicht strikt gekoppelt<br />
sind und sich zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Bei<br />
polygynen Säugetieren, bei denen Männchen länger in einer Fortpflanzungsposition<br />
sind als die Weibchen zum Erreichen der Geschlechtsreife<br />
benötigen, wandern die Weibchen ausnahmsweise aus ihrer Geburtsgruppe<br />
ab (Clutton-Brock 1989), offensichtlich um Paarungen mit ihren Vätern zu<br />
vermeiden.<br />
Neben präkopulatorischen Mechanismen der Inzestvermeidung scheint<br />
es Weibchen auch möglich zu sein, nach multiplen Verpaarungen selektiv<br />
gegen die Spermien von verwandten Männchen zu diskriminieren<br />
(Abb. 9.5). In einem Experiment wurden weibliche Mittelmeerfeldgrillen<br />
(Gryllus bimaculatus) entweder mit zwei Brüdern, zwei nicht-verwandten<br />
oder je einem verwandten und nicht-verwandten Männchen verpaart und<br />
die Anzahl der später geschlüpften Jungen gezählt (Tregenza u. Wedell<br />
2002). Nach Verpaarungen mit zwei Brüdern schlüpften aus den resultierenden<br />
befruchteten Eiern deutlich weniger Nachkommen als in den anderen<br />
Kombinationen. Da sich der Fortpflanzungserfolg nach Paarungen mit
9.2 Inzestvermeidung 331<br />
Abb. 9.5. Polyandrie als möglicher Mechanismus der Inzestvermeidung. Wenn<br />
weibliche Grillen mit zwei Männchen verpaart werden, schlüpfen aus Eiern, die in<br />
Verpaarungen mit zwei Brüdern (B + B) befruchtet wurden, deutlich weniger<br />
Nachkommen, als wenn sie sich mit Brüdern (B) oder Nicht-Verwandten (N-V) in<br />
anderen Kombinationen verpaaren<br />
einem Verwandten und einem Nicht-Verwandten (unabhängig von deren<br />
Paarungsreihenfolge) nicht vom Schlüpferfolg nach Paarungen mit zwei<br />
fremden Männchen unterschied, müssen die Weibchen die Spermien der<br />
fremden Männchen selektiv bevorzugt haben. Falls dieser kryptische<br />
postkopulatorische Mechanismus ( Kap. 9.3) weit verbreitet ist, kann<br />
man polyandrische Verpaarungen ( Kap. 9.6) von Weibchen ebenfalls<br />
als einen Mechanismus zur Inzuchtvermeidung interpretieren.<br />
9.2.2 Verwandtenerkennung<br />
In den Fällen, in denen Weibchen versuchen, Paarungen mit verwandten<br />
Männchen zu vermeiden, benötigen sie proximate Mechanismen der Verwandtenerkennung.<br />
Dafür sind drei Komponenten notwendig: (1) Existenz<br />
eines phänotypischen Signals, das genetische Ähnlichkeit kodiert, (2)<br />
Wahrnehmung und (3) Abgleich dieses Signals mit einer internen template,<br />
d. h. einer zumeist erlernten internen Repräsentation eines Erwartungswerts,<br />
der anhand von Interaktionen mit externen Referenten gebildet<br />
wird (Sherman et al. 1997). In manchen Arten wird eine solche template<br />
auch unter dem Einfluss eigener Merkmale gebildet (Hauber u. Sherman
332 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
2001); die Vorstellung, wie Verwandte riechen, wird zum Beispiel durch<br />
den eigenen Geruch geformt.<br />
Die Diskriminierung zwischen Artgenossen mit unterschiedlichem<br />
Verwandtschaftsgrad spielt auch bei vielen Aspekten des Sozialverhaltens<br />
eine wichtige Rolle. Viele Untersuchungen der Mechanismen der Verwandtenerkennung<br />
wurden daher vor dem Hintergrund anderer Fragestellungen<br />
durchgeführt ( Kap. 11.3).<br />
Bislang gibt es Hinweise auf die Existenz von vier Mechanismen der<br />
Verwandtenerkennung. Die einfachste Form der Kategorisierung von Artgenossen<br />
in Verwandte und Nicht-Verwandte besteht darin, aus räumlicher<br />
Information auf die Zugehörigkeit zur Klasse der Verwandten zu<br />
schließen. Das ist dann möglich, wenn sich Verwandte in sehr heterogenen<br />
Lebensräumen mit sehr hohen Wahrscheinlichkeiten nur an bestimmten<br />
Stellen befinden. Manche Vögel betrachten und behandeln zum Beispiel<br />
alle Jungtiere in ihrem Nest als Nachkommen, ignorieren aber eigene Junge,<br />
die sich nur wenig außerhalb des Nests befinden (Beecher 1991). Dieser<br />
Mechanismus wird von Brutparasiten (z. B. Kuckuck, Cuculus canorus)<br />
ausgenutzt, da die adulten Wirts-Vögel auch diese fremden Eier<br />
ausbrüten und die daraus schlüpfenden Jungen wie ihre eigenen füttern<br />
(Kilner et al. 1999). Aus dem Bereich der Partnerdiskriminierung ist bislang<br />
aber kein Beispiel bekannt, das auf diesem Mechanismus beruht.<br />
Eine zweite Form der Verwandtenerkennung beruht auf einem Phänotyp-Abgleich.<br />
Man stellt sich dabei vor, dass Individuen eine interne<br />
template von Verwandtschaft mit dem beobachteten Phänotyp abgleichen.<br />
Dieser Mechanismus wird postuliert, wenn Tiere ohne vorherigen Kontakt<br />
Verwandte erkennen oder zwischen bekannten, aber unterschiedlich nah<br />
verwandten Individuen unterscheiden (Box 9.2). Die eigentliche Erkennung<br />
kann aufgrund unterschiedlichster Signale erfolgen. Viele Wirbellose<br />
tragen koloniespezifische Geruchsstoffe an der Körperoberfläche, die<br />
durch direkten Körperkontakt weitergegeben werden und in diesem Zusammenhang<br />
eine Bedeutung haben (Linsenmair 1987). Bei Goldenen<br />
Hamstern (Mesocricetus auratus) erfolgt die Verwandtenerkennung ebenfalls<br />
über olfaktorische Signale, die mit dem Eigengeruch verglichen werden<br />
(Mateo u. Johnston 2000). Bei Primaten gibt es Hinweise dafür, dass<br />
visuelle Merkmale des Gesichts oder strukturelle Merkmale akustischer<br />
Signale zwischen Verwandten ähnlicher sind als zwischen Nicht-<br />
Verwandten (Rendall 2004).<br />
Ein dritter Mechanismus der Verwandtenerkennung besteht in der<br />
direkten Erkennung des Verwandtschaftsgrades anhand eines möglichst<br />
zuverlässigen Korrelates. Da genetische Ähnlichkeit selbst nicht direkt<br />
detektiert werden kann, sollte es sich dabei um ein möglichst unmittelbares<br />
Genprodukt handeln. Die Gene des Haupthistokompatibilitäts-Komplexes
9.2 Inzestvermeidung 333<br />
Box 9.2<br />
Verwandtenerkennung und Inzestvermeidung<br />
• Frage: Vermeiden weibliche Schaben (Blattella germanica) verwandte<br />
Männchen und wodurch werden diese erkannt?<br />
• Hintergrund: Schaben leben in Aggregationen mit überlappenden Generationen.<br />
Abwanderung findet nicht statt. Weibchen produzieren Ootheken,<br />
aus denen Kohorten von ca. 40 Jungen heranwachsen. Es gibt daher<br />
ein großes Potential für Inzucht. Weibchen paaren sich nur einmal.<br />
• Methode: Durch Zuchtexperimente wurden fünf Kategorien von Adulten<br />
erzeugt, die sich in ihrem Bekanntheits- und Verwandtschaftsgrad (Geschwister<br />
(r = 0,5), eigener (0 ≤ r < 0,5) oder fremder (r = 0) Stamm) unterschieden.<br />
Weibchen wurde die Wahl gegeben, sich mit zwei Männchen<br />
aus unterschiedlichen Klassen zu paaren. Gemessen wurde der Anteil der<br />
gewählten Männchen aus beiden Kategorien.<br />
• Ergebnis: Weibchen präferierten fremde Stammmitglieder über bekannte<br />
Geschwister (I). Sowohl zwischen Geschwistern als auch Fremden diskriminierten<br />
Weibchen nicht gegen bekannte Männchen (II, III). Unbekannte<br />
Stammmitglieder wurden gegenüber fremden Geschwistern (IV),<br />
aber nicht gegenüber fremden Nicht-Verwandten (V) bevorzugt. Körpergröße<br />
hatte keinen Einfluss darauf, welches Männchen zur Kopulation<br />
kam.<br />
• Schlussfolgerung: Weibliche Schaben erkennen und diskriminieren gegen<br />
nah verwandte Männchen. Die Erkennung basiert nicht auf Bekanntheit,<br />
sondern auf einen Phänotyp-Abgleich genetischer Information.<br />
Lihoreau et al. 2007
334 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
(major histocompatibility complex, MHC) sind prinzipiell dafür geeignet.<br />
Sie produzieren unterschiedliche Moleküle, die Fremd- und Eigenpeptide<br />
in der Zelle greifen und an der Oberfläche den T-Lymphozyten zur Unterscheidung<br />
präsentieren. Je mehr MHC-Allele ein Individuum hat, umso<br />
größer ist sein Spektrum von MHC-Molekülen und umso größer ist dadurch<br />
das Spektrum von Parasitenpeptiden, das den T-Lymphozyten präsentiert<br />
werden kann. Diese präsentierten Peptide sind sozusagen eine<br />
Blaupause der MHC-Moleküle und signalisieren Informationen über den<br />
MHC-Genotyp dieses Individuums an Sozialpartner, z. B. Partner wählende<br />
Weibchen ( Kap. 9.5). MHC-abhängige Geruchsinformation kann von<br />
Nagern benutzt werden, um genetische Ähnlichkeit festzustellen (Leinders-Zufall<br />
et al. 2004), aber ein spezifischer Einsatz dieser Information<br />
zur Inzestvermeidung wurde bislang noch nicht nachgewiesen (Mateo<br />
2003).<br />
Da Verwandtenerkennung per se nicht möglich ist, sondern bestenfalls<br />
die Ähnlichkeit von Allelen an mehreren Genloci über deren Produkte<br />
festgestellt werden kann, verlassen sich Individuen vieler Arten auf einen<br />
einfacheren Mechanismus, der unter natürlichen Bedingungen recht zuverlässig<br />
arbeitet: Bekanntheit. Dabei werden Individuen, mit denen man<br />
aufgewachsen ist oder die man im Lauf der frühen Individualentwicklung<br />
als Verwandte kennen gelernt hat, von Fremden unterschieden. Diese Bekanntheit<br />
wird oft während einer sensiblen Phase, die vor Erreichen der<br />
Geschlechtsreife abgeschlossen ist, in einem prägungsähnlichen Vorgang<br />
( Kap. 10.5) erworben und festgelegt. Welche Signale proximat daran<br />
beteiligt oder von besonderer Bedeutung sind, ist allerdings nicht klar.<br />
Dieser Mechanismus lässt sich experimentell elegant mit Umsetzungsversuchen<br />
demonstrieren. Jungtiere, die mit Fremden aufgezogen werden,<br />
präferieren diese später als Sozialpartner und vermeiden sie als Paarungspartner<br />
gegenüber getrennt von ihnen aufgewachsenen Geschwistern.<br />
Dieser Mechanismus verhindert auch Paarungen zwischen Eltern und<br />
ihren Jungen. Bei Striemengrasmäusen zeigen Töchter, die mit dem biologischen<br />
Vater oder mit experimentellen Stiefvätern aufwachsen, dieselben<br />
Verzögerungen und Reduktionen des Fortpflanzungsverhaltens (Pillay<br />
2002). Junge Weibchen, die man kurz nach der Geburt zwischen Zuchtpaaren<br />
austauschte, wurden, nachdem sie entwöhnt waren, entweder mit ihrem<br />
biologischen Vater oder dem Männchen, mit dem sie aufgewachsen sind,<br />
zusammengesetzt. Von jeweils 15 Weibchen pflanzten sich 9 mit dem biologischen,<br />
aber für sie fremden Vater fort, wohingegen dies nur ein Weibchen<br />
mit dem Stiefvater tat. Die Erkennung und Diskriminierung von<br />
Verwandten als potentiellen Paarungspartnern basiert hier also eindeutig<br />
nicht auf einem Phänotypen-Abgleich, sondern auf dem Bekanntheitsgrad.
9.3 Mechanismen der Partnerwahl 335<br />
Bei Schaben wurde dagegen gezeigt, dass Bekanntheit bei der Verwandtendiskriminierung<br />
keine Rolle spielt (Box 9.2).<br />
9.3 Mechanismen der Partnerwahl<br />
Die Frage, wie Weibchen ihre Paarungspartner auswählen, ist zu unterscheiden<br />
von der Frage, nach welchen Kriterien sie ihre Wahl treffen.<br />
Wenn Weibchen vor dem Problem stehen, einen Fortpflanzungspartner<br />
auszuwählen, spielen dabei neben ultimaten Aspekten der Fitnessmaximierung<br />
( Kap. 9.5) auch eine Reihe von proximaten Verhaltensaspekten eine<br />
Rolle. Die Frage nach dem „Wie“ liefert also ergänzende Antworten auf<br />
die Frage, warum ein Weibchen ein bestimmtes Männchen gewählt hat<br />
( Kap. 1.3).<br />
Eine Paarungspräferenz kann definiert werden als „alle sensorischen<br />
und verhaltensbiologischen Merkmale, welche die Bereitschaft, sich mit<br />
einem bestimmten Phänotyp zu verpaaren, beeinflussen“ (Jennions u.<br />
Petrie 1997). Bei der Untersuchung von Paarungspräferenzen kann man<br />
zwischen drei Determinanten unterscheiden (Abb. 9.6). Erstens unterschei-<br />
Abb. 9.6. Determinanten von Paarungspräferenzen. Paarungspräferenzen werden<br />
von einer Präferenzfunktion, einer bestimmten Erhebungstaktik und der Selektivität<br />
der Weibchen beeinflusst. Diese Komponenten sind mit anderen Aspekten der<br />
sexuellen Selektion vernetzt
336 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
den sich Weibchen darin, wie wählerisch sie sind, also wie viel Zeit und<br />
Energie sie bereit sind, in die Partnersuche zu investieren (choosiness).<br />
Zweitens unterscheiden sich Weibchen darin, wie sie Informationen über<br />
potentielle Partner erhalten (sampling tactic). Schließlich werden drittens<br />
Partnerpräferenzen auch durch Präferenzfunktionen beeinflusst (preference<br />
function), die darüber entscheiden, wie potentielle Partner in eine Rangfolge<br />
gebracht werden (Widemo u. Sæther 1999).<br />
9.3.1 Selektivität der Weibchen<br />
Männchen investieren generell mehr in die Suche von potentiellen Partnerinnen<br />
(„males go where the females are“, Altman 1990), so dass viele<br />
Weibchen zwischen werbenden Männchen wählen können. Bei Arten mit<br />
Lek-Paarungssystem kommen dagegen die Weibchen zu Balzarenen, wo<br />
sie mehrere potentielle Partner gleichzeitig direkt miteinander vergleichen<br />
und sich mit ausgewählten Männchen verpaaren können. Bei anderen<br />
Arten verteidigen Männchen individuelle Territorien und werden dort von<br />
paarungsbereiten Weibchen aufgesucht. Wieder andere Arten leben in<br />
permanent bisexuellen Gruppen, d. h. potentielle Paarungspartner leben<br />
ganzjährig zusammen und die Weibchen kennen die zur Auswahl stehenden<br />
Männchen genau. Unter diesen unterschiedlichen Bedingungen benötigen<br />
Weibchen bestimmte Kriterien und Taktiken, mit deren Hilfe sie<br />
Männchen suchen, vergleichen und sich letztendlich für eines oder mehrere<br />
entscheiden.<br />
Eine erste Unterscheidung bei der Analyse des Wahlverhaltens betrifft<br />
die zwischen aktiver und passiver Wahl. Wenn Männchen die Initiative ergreifen,<br />
paarungsbereite Weibchen aufsuchen und zu Kopulationen auffordern,<br />
haben Weibchen die Möglichkeit, auf diese Aufforderungen einzugehen<br />
oder sie abzulehnen. Da Kopulationen physische Kooperation durch<br />
die Weibchen voraussetzen, können sie nicht zu Paarungen gezwungen<br />
werden (siehe aber Kap. 9.8). Durch Wegbewegen oder Hinsetzen können<br />
sie beispielsweise die Aufforderungen bestimmter Männchen ins Leere<br />
laufen lassen und damit eine vergleichsweise passive Wahl zum Ausdruck<br />
bringen. Demgegenüber können Weibchen sich aktiv auf die Suche nach<br />
Paarungspartnern machen und selbst auserwählte Männchen zu Paarungen<br />
auffordern. Eine solche aktive Wahl ist vor allen auf Leks und in Arten<br />
mit territorialen Männchen erkennbar, wird aber auch von Weibchen in<br />
vielen gruppenlebenden Arten praktiziert (Sullivan 1989).<br />
In jedem Fall spielt die Selektivität der Weibchen eine wichtige Rolle.<br />
Weibchen bei manchen Arten, wie zum Beispiel der Galapagos-Meerechse<br />
(Amblyrhynchus cristatus), verpaaren sich pro Saison nur einmal mit
9.3 Mechanismen der Partnerwahl 337<br />
einem Männchen (Trillmich 1983); manche Zikaden (Magicicada spp.)<br />
nur einmal im Leben (Cooley u. Marshall 2004). Viele Singvogel-Weibchen<br />
wählen dagegen einen festen Partner, verpaaren sich aber gelegentlich<br />
zusätzlich mit einem oder mehreren weiteren Männchen; es kommt zu<br />
extra-pair copulations (EPCs). Bei Blaumeisen (Cyanistes caeruleus)<br />
stammen beispielsweise 11–14% aller Jungen in einer Population nicht<br />
vom sozialen Partner eines Weibchens (Kempenaers et al. 1997). Weibliche<br />
Schimpansen (Pan troglodytes) oder Löwinnen (Panthera leo) kopulieren<br />
dagegen hundertfach pro Konzeption mit praktisch allen Männchen<br />
ihrer Gruppe. Weibliche Graue Mausmakis (Microcebus murinus) kopulieren<br />
in einem Zeitfenster von wenigen Stunden pro Jahr mit jedem Männchen,<br />
das Interesse zeigt, wehren sich aber aggressiv gegen jeglichen Annäherungsversuch<br />
davor oder danach (Eberle u. Kappeler 2004). Wenn<br />
sich Weibchen nur mit einem oder vielen Männchen verpaaren, erfordert<br />
dies unterschiedliche Wahlkriterien. Monandrische Weibchen sollten daher<br />
sehr viel wählerischer sein und benötigen möglicherweise sehr viel mehr<br />
Zeit und Energie, um das eine Männchen zu finden, als polyandrische<br />
Weibchen, die sich scheinbar unselektiv verpaaren.<br />
9.3.2 Erhebungstaktiken<br />
Da es individuelle Variabilität zwischen Männchen gibt, sollte es für<br />
Weibchen nicht gleichgültig sein, mit wem sie sich verpaaren. Daher sollte<br />
Selektion diejenigen Weibchen belohnt haben, die ein möglichst hochwertiges<br />
Männchen mit möglichst geringen Kosten finden. Um unterschiedliche<br />
Erhebungstaktiken (sampling tactic) im Rahmen der Weibchenwahl<br />
zu verstehen, müssen daher vor allem die Partnerqualität und die Kosten<br />
der Partnersuche berücksichtigt werden (Gibson u. Langen 1996). In Bezug<br />
auf die Qualität potentieller Paarungspartner gibt es drei Möglichkeiten.<br />
Erstens kann es absolute Qualitätsunterschiede zwischen Männchen<br />
geben, so dass es ein bestes Männchen gibt, das alle Weibchen finden und<br />
wählen sollten. Zweitens kann es für jedes Weibchen ein für sie individuell<br />
bestes Männchen geben, so dass verschiedene Weibchen nach unterschiedlichen<br />
Partnern suchen. Schließlich ist es drittens auch möglich, dass<br />
Weibchen nur bestimmte Minimalanforderungen haben, die mehrere<br />
Männchen ihrer Population erfüllen. Die konkreten Qualitätsmerkmale, die<br />
Weibchen verschiedener Arten bewerten, unterscheiden sich zwischen Arten;<br />
sie können Männchen nach direkten Vorteilen, nach genetischen<br />
Merkmalen oder nach ihrer Eignung als Helfer bei der Jungenaufzucht<br />
auswählen. Bei Prärieammern (Calamospiza melanocorys) wurde zudem<br />
gezeigt, dass Weibchen in aufeinander folgenden Jahren unterschiedliche
338 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Abb. 9.7. Erhebungstaktiken<br />
bei der Partnerwahl. Wie bei<br />
diesen madagassischen Fröschen<br />
(Aglyptodactylus securifer)<br />
gibt es kein absolut<br />
bestes Männchen, das alle<br />
wählen sollten. Stattdessen<br />
wählt jedes Weibchen das<br />
für sie aufgrund bestimmter<br />
Kriterien beste Männchen<br />
männliche Ornamente bevorzugen (Chaine u. Lyon 2008); die Wahlkriterien<br />
können also auch plastisch sein.<br />
Beobachtungen an zahlreichen Arten haben gezeigt, dass die Wahl<br />
niemals einstimmig erfolgt (Abb. 9.7). Dies könnte damit zu tun haben,<br />
dass (1) dominante Weibchen das beste Männchen für sich monopolisieren,<br />
dass (2) diese besten Männchen, falls es sie gibt, nicht genügend<br />
Zeit, Energie und Spermien besitzen, um alle Weibchen zu befruchten,<br />
dass (3) manche Männchen hohe Qualität vortäuschen oder dass (4) Weibchen<br />
sich aus eigennützigen Gründen nicht auf ein Männchen beschränken,<br />
sondern sich mit mehreren Männchen verpaaren wollen ( Kap. 9.6). Da<br />
es außerdem für Weibchen unmöglich ist, alle Männchen einer Population<br />
zu treffen und zu bewerten, ihnen also die perfekte Information fehlt (Wikelski<br />
et al. 2001), gehen theoretische Modelle der aktiven Partnerwahl<br />
nicht davon aus, dass Weibchen auf der Suche nach dem absolut besten<br />
Männchen (best male) sind.<br />
Stattdessen wird angenommen, dass Weibchen potentielle Partner sequentiell<br />
treffen, wobei diese zufällig in ihrer Qualität variieren, und dass<br />
Weibchen diese Qualitätsunterschiede korrekt feststellen können (Janetos<br />
1980). Unter diesen Annahmen sind drei Taktiken möglich (Abb. 9.8).<br />
Zum einen können Weibchen eine bestimmte Anzahl von Männchen besuchen<br />
und anschließend den Besten (best of n) aus dieser Stichprobe<br />
auswählen. Andererseits könnten Weibchen auch mehrere Männchen besuchen,<br />
bis sie auf einen treffen, dessen Qualität einen bestimmten Schwellenwert<br />
überschreitet (threshold rule). Da Weibchen in Wirklichkeit<br />
Männchen oft nicht zufällig treffen, scheint auch noch eine dritte Taktik<br />
verwirklicht zu sein, die auf sequentiell hierarchischen Eingrenzungen<br />
basiert. Demnach konzentrieren sich Weibchen aufgrund individueller<br />
Präferenzen oder aus der Ferne verfügbarer Information auf eine Unter-
9.3 Mechanismen der Partnerwahl 339<br />
Abb. 9.8. Taktiken der Partnerwahl. Bei der Best-of-n-Taktik (oben) wird eine bestimmte<br />
Anzahl Männchen verglichen und anschließend das Beste gewählt. Wenn<br />
es einen Schwellenwert für die Qualität der Männchen gibt (Mitte), wird das erste<br />
Männchen gewählt, das diesen Schwellenwert erreicht. Bei der sequentiell hierarchischen<br />
Eingrenzung (unten) erfolgen stufenweise Vorauswahlen nach unterschiedlichen<br />
Kriterien, bis der Richtige gefunden ist<br />
gruppe von Männchen, unter denen dann nach einem anderen Kriterium<br />
ausgewählt wird (Mays u. Hill 2004).<br />
Welche dieser Taktiken in einem konkreten Fall vorteilhafter ist, hängt<br />
vor allem von den Suchkosten ab. Neben den energetischen Kosten des<br />
Suchens tragen das Prädationsrisiko, die voranschreitende Zeit (ist für Arten,<br />
die sich aus ökologischen Gründen nur innerhalb eines kurzen Zeitfensters<br />
fortpflanzen können, bedeutsam), die Gefahr, von besuchten<br />
Männchen sexuell belästigt zu werden, sowie das Risiko, einen akzeptablen<br />
Partner an ein anderes Weibchen zu verlieren, zu diesen Kosten bei.<br />
Mit zunehmenden Kosten sollten Weibchen weniger wählerisch sein und<br />
dementsprechend weniger Männchen aufsuchen bzw. ihre Qualitätsschwelle<br />
absenken, was z. B. Stichlings-Weibchen (Gasterosteus aculeatus)<br />
tun (Milinski u. Bakker 1992). Die Entscheidung, die Suche an einem<br />
bestimmten Punkt abzubrechen, hängt auch von der Wahrscheinlichkeit ab,<br />
mit der unter Berücksichtigung zusätzlicher Kosten noch ein Männchen<br />
besserer Qualität gefunden werden kann. Wenn dieser Faktor in theoretischen<br />
Modellen einbezogen wird, erweist sich die Schwellenwert-Taktik<br />
im Durchschnitt immer als effizienter als die Best-of-n-Taktik (Real 1990),
340 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
da mit ihr weitere Kosten vermieden werden, wenn ein akzeptables Männchen<br />
relativ schnell gefunden wird. Wenn die Suchkosten gering sind, sollten<br />
Weibchen dagegen mehrere Männchen besuchen und sich anschließend<br />
für das Beste aus dieser Stichprobe entscheiden.<br />
Bei langlebigen Arten könnten Suchtaktiken und Wahlentscheidungen<br />
auch durch Erfahrungen aus vorangegangenen Entscheidungen beeinflusst<br />
werden. Weibchen, die sich zum ersten Mal verpaaren, und solche,<br />
die im letzten Brutzyklus ein Männchen hoher oder geringer Qualität<br />
hatten, sollten daher unterschiedlich lange suchen. Dass Weibchen ihre<br />
Suchtaktik erfahrungsabhängig anpassen, wurde an Seidenlaubvögeln (Ptilonorhynchus<br />
violaceus) nachgewiesen. Deren Weibchen besuchen nacheinander<br />
mehrere Männchen, die Jahr für Jahr an derselben Laube auf<br />
Damenbesuch warten. Mit Daten aus simultanen Videoaufzeichnungen an<br />
mehr als 30 Lauben konnten Uy et al. (2000) zeigen, dass Weibchen, die<br />
im Vorjahr besonders attraktive Männchen gewählt hatten, sich im folgenden<br />
Jahr wieder mit diesen verpaarten und weniger andere Männchen besuchten<br />
als Weibchen, die im Vorjahr ein weniger attraktives Männchen<br />
gewählt hatten. Letztere wählten dieses Männchen in der Regel nicht wieder<br />
und suchten länger. Attraktive Männchen wurden dabei über ihren unabhängigen<br />
Paarungserfolg mit anderen Weibchen definiert.<br />
9.3.3 Proximate Grundlagen der Wahl<br />
Die Präferenzfunktion, mit deren Hilfe potentielle Partner in eine Rangfolge<br />
gebracht werden, beschreibt den Zusammenhang zwischen der Stärke<br />
eines männlichen Reizes und der dazu gehörenden weiblichen Reaktion.<br />
In diesem Kontext spielen also vor allem sensorische Prozesse und angeborene<br />
Erwartungsmuster eine Rolle. Eine grundlegende Annahme der<br />
Theorien der Partnerwahl besteht darin, dass Paarungspräferenzen, soweit<br />
sie evolutionär von Belang sind, angeboren sind und an die eigenen Nachkommen<br />
weitergegeben werden (Bakker u. Pomiankowski 1995). Das<br />
heißt, die sensorischen und neurobiologischen Grundlagen einer Entscheidung<br />
sind innerhalb eines gewissen Rahmens vorgegeben. Solche angeborenen<br />
Präferenzen existieren auf zwei Ebenen.<br />
(1) Arterkennung. Erstens gibt es häufig angeborene Präferenzen für Mitglieder<br />
der eigenen Art, welche über verschiedene Mechanismen vermittelt<br />
werden ( Kap. 9.1). Bei Vögeln gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass<br />
diese angeborenen Präferenzen während einer sensiblen Phase durch sexuelle<br />
Prägung nachhaltig beeinflusst werden (ten Cate u. Vos 1999). Als<br />
Prägung bezeichnet man Lernprozesse, die einmalig während einer
9.3 Mechanismen der Partnerwahl 341<br />
vorprogrammierten sensiblen Phase im Lauf der Individualentwicklung<br />
stattfinden und die häufig irreversibel sind (Immelmann 1972). Bei sexueller<br />
Prägung findet die Fixierung der Präferenz in zwei Phasen statt. Während<br />
einer frühen Erwerbsphase wird die Präferenz für artcharakteristische<br />
Merkmale (zum Beispiel der Gesang des Vaters) erworben, in einer späteren<br />
Phase konsolidiert und mit dem Sexualverhalten verbunden (Oetting<br />
et al. 1995). Die Effekte der sexuellen Prägung lassen sich mit Umsetzungsversuchen<br />
eindrucksvoll zeigen. Wenn man beispielsweise Eier von<br />
Kohlmeisen von Blaumeisen ausbrüten und aufziehen lässt, haben die betroffenen<br />
Individuen größere Schwierigkeiten, sich erfolgreich mit einem<br />
Mitglied der eigenen Art zu paaren und fortzupflanzen als von Kohlmeisen<br />
aufgezogene Kohlmeisen (Slagsvold et al. 2002). Beim umgekehrten Versuch<br />
mit Blaumeisen kommt es sogar zu erfolgreichen Paarungen zwischen<br />
den beiden Arten; die Prägungseffekte dominieren also andere Mechanismen<br />
der Arterkennung. Partnerpräferenzen auf Artebene können<br />
also sowohl durch angeborene als auch durch erworbene Faktoren stark<br />
kanalisiert sein.<br />
(2) Innerartliche Auswahl. Zweitens gibt es weibliche Präferenzen für<br />
bestimmte Merkmalsausprägungen von Männchen derselben Art (Widemo<br />
u. Sæther 1999). Da es sich bei den betreffenden Merkmalen häufig um<br />
Ornamente handelt ( Kap. 8.2), werden deren Charakteristika von den<br />
Weibchen sinnesphysiologisch verarbeitet und bewertet. In diesem Zusammenhang<br />
kann eine existierende sensorische Empfindlichkeit (sensory<br />
bias) die Entscheidung der Weibchen beeinflussen bzw. von den Männchen<br />
ausgenutzt werden. Wenn ein Weibchen beispielsweise in einem<br />
bestimmten Wellenlängenbereich besondert gut sieht oder in einem bestimmten<br />
Frequenzbereich besonders gut hört, haben Männchen, die diese<br />
sensorischen Empfindlichkeiten mit ihren Ornamenten bedienen, eine erhöhte<br />
Wahrscheinlichkeit, von den Weibchen präferiert und gewählt zu<br />
werden (Ryan u. Keddy-Hector 1992). So kann es rasch zu einer evolutionären<br />
Koppelung von Präferenz und Merkmal kommen, so dass Männchen<br />
mit intensiven oder sogar übertriebenen Ornamenten allein aufgrund<br />
des höheren Signalwerts präferiert werden; sie betreiben eine sensorische<br />
Ausbeutung der Weibchen.<br />
Eine vergleichende Studie von weiblichen Präferenzen zeigte, dass,<br />
wenn es vom Populationsmittelwert abweichende Präferenzen gibt, diese<br />
immer in Richtung hin zu größerer Quantität verschoben sind. Da Verschiebungen<br />
in diese Richtung immer von einer stärkeren sensorischen<br />
Stimulation der Weibchen begleitet sind, kann diese auf proximate Mechanismen<br />
fokussierte Hypothese weibliche Präferenzen für aufwändige<br />
Ornamente auf eine Art erklären. Wenn also beispielsweise akustische
342 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Signale der Männchen ein Kriterium der weiblichen Partnerwahl sind, finden<br />
sich bei den daraufhin untersuchten Insekten, Fröschen und Vögeln<br />
Präferenzen für größere Rufintensität, Rufrate und Lautrepertoires (Ryan<br />
u. Keddy-Hector 1992). Ähnliches gilt für visuelle Signale, von denen<br />
größere und buntere Ornamente bevorzugt werden. Vergleichende Untersuchungen<br />
haben außerdem gezeigt, dass die Präferenz vor dem korrespondierenden<br />
Merkmal entstanden sein muss. Man kann dazu die Präferenzen<br />
von Weibchen für ein männliches Merkmal, das bei verwandten<br />
Arten unterschiedlich ausgeprägt ist, vergleichen. Wenn die phylogenetische<br />
Beziehung zwischen den betreffenden Arten bekannt ist, lässt sich<br />
bestimmen, ob die Präferenz oder das Merkmal zuerst entstanden ist oder<br />
ob beide koevoluiert sind, wie es der Fisher-Prozess und die Handicap-<br />
Hypothese postulieren ( Kap. 9.5).<br />
Wie von der Hypothese von der sensorischen Ausbeutung vorhergesagt,<br />
gibt es eine Reihe von Beispielen für die Präexistenz von Präferenzen.<br />
So haben Weibchen der Frosch-Gattung Physalaemus eine Präferenz für<br />
einen zweisilbigen Werberuf nah verwandter Männchen, auch wenn die<br />
eigenen Männchen einsilbig sind (Ryan u. Rand 1993). Bei Schwertträgern<br />
(Xiphophorus spp.) haben Weibchen eine Präferenz für ein Schwert an der<br />
Analflosse, auch wenn die Männchen der eigenen Art ein solches nicht besitzen<br />
(Basolo 1990). Wenn weiblichen Schwertträgern ein attraktives<br />
Männchen präsentiert wird, werden in den Neuronen eines Gehirnbereichs<br />
bestimmte Gene aktiviert und in der Präsenz eines unattraktiven Männchens<br />
abgeschaltet (Cummings et al. 2008). Bei afrikanischen Witwenvögeln<br />
(Euplectes ssp.) haben nicht nur Weibchen langschwänziger Arten<br />
eine Präferenz für Männchen mit besonders langen (oder experimentell<br />
verlängerten) Schwanzfedern (Andersson 1982), sondern auch Weibchen<br />
von kurzschwänzigen Arten haben eine Präferenz für artuntypisch lange<br />
Schwänze (Pryke u. Andersson 2002). Um die Kosten der Hybridisierung<br />
potentieller Fehlentscheidungen zu vermeiden, verwenden die meisten<br />
Weibchen daher mehrere Merkmale und Reize bei der eigentlichen Wahl<br />
(Candolin 2003).<br />
Eine weitere Möglichkeit, die Hypothese von der sensorischen Ausbeutung<br />
zu überprüfen, besteht darin, künstliche Merkmale bei Männchen zu<br />
erzeugen und die Reaktion der Weibchen darauf zu betrachten. Bei Zebrafinken<br />
(Taeniopygia guttata) konnte so eine Präferenz für Männchen mit<br />
einem roten Ring am Bein nachgewiesen werden (Burley 1986). Bei sexuell<br />
monomorphen Prachtfinken (Lonchura leuco) hatte ein künstliches<br />
Ornament in Form einer roten Feder geschlechtsspezifische Konsequenzen:<br />
Männchen vermieden ornamentierte Weibchen, wohingegen manche<br />
Weibchen eine Präferenz für die so geschmückten Männchen zeigten (Witte<br />
u. Curio 1999).
9.3 Mechanismen der Partnerwahl 343<br />
(3) Nachahmungseffekte. Ein weiterer Mechanismus, der erklärt, warum<br />
Weibchen eine Präferenz für ein bestimmtes Männchen haben, besteht darin,<br />
dass manche Individuen keine eigene, unabhängige Entscheidung treffen,<br />
sondern die Wahl anderer Weibchen nachahmen. Dieses mate copying<br />
ist der am besten untersuchte, nicht-unabhängige Mechanismus der Partnerwahl<br />
(Westneat et al. 2000). Lee Dugatkin (1992) hat mate copying als<br />
Erster nachgewiesen, indem er einem Guppy-Weibchen (Poecilia reticulata)<br />
zwei Männchen präsentierte, von denen eines mit dem Modell eines<br />
Weibchens assoziiert war. Wenn das Modell entfernt wurde und das Weibchen<br />
sich frei bewegen konnte, zeigte es eine deutliche Präferenz für das<br />
Männchen, welches vorher mit dem Modell assoziiert war. Wenn man<br />
Weibchen zunächst eine spontane Präferenz für ein Männchen ausdrücken<br />
lässt, kann man in einem zweiten Durchgang mit diesem Paradigma die<br />
Präferenz der Weibchen sogar umkehren (Dugatkin u. Godin 1992). Diese<br />
Nachahmungseffekte lassen sich auch in Bezug auf die Ablehnung von bestimmten<br />
Männchen nachweisen (Witte u. Ueding 2003); Weibchen achten<br />
also nicht nur darauf, wer von anderen gewählt wird, sondern auch, wer<br />
abgelehnt wird.<br />
Eine ultimate Erklärung für die Existenz dieses Mechanismus besteht<br />
darin, dass kopierende Weibchen auf diese Art die Kosten der Partnerwahl<br />
reduzieren oder ganz vermeiden können. Wenn beispielsweise das Prädationsrisiko<br />
hoch ist und Weibchen eine Gelegenheit haben, die Partnerwahl<br />
anderer Weibchen zu beobachten, können sie durch mate copying ihr Mortalitätsrisiko<br />
beim Vergleich von verschiedenen Männchen erheblich reduzieren.<br />
In einem entsprechend angelegten Experiment mit Guppies erhöhte<br />
sich die Häufigkeit des mate copying unter simuliertem Prädationsrisiko<br />
allerdings nicht (Briggs et al. 1996).<br />
9.3.4 Kryptische Weibchenwahl<br />
Weibchen können die Identität der Väter ihrer Jungen nicht nur durch die<br />
präkopulatorische Wahl von Paarungspartnern kontrollieren, sondern es<br />
gibt auch physiologische Mechanismen, mit deren Hilfe die Vaterschaft<br />
zu (Un-) Gunsten bestimmter Männchen beeinflusst werden kann. Da<br />
diese Wahl im weiblichen Genitaltrakt im Verborgenen abläuft, wird sie<br />
als kryptische Wahl (cryptic female choice) bezeichnet. Per Definition<br />
kann kryptische Weibchenwahl nur nach Verpaarungen mit zwei oder<br />
mehr Männchen erfolgen. Damit existieren identische Voraussetzungen<br />
für das Auftreten von kryptischer Weibchenwahl und Spermienkonkurrenz<br />
( Kap. 8.7); diese beiden Prozesse werden daher auch als postkopulatorische<br />
sexuelle Selektion zusammengefasst (Birkhead u. Pizzari 2002).
344 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Damit existieren auch die Voraussetzungen für antagonistische Interessen<br />
der Geschlechter bezüglich der Fertilisation, die großteils auf dem postkopulatorischen<br />
Schlachtfeld ausgetragen werden ( Kap. 9.8).<br />
Kryptische Partnerwahl durch Weibchen wurde erstmals bei Skorpionsfliegen<br />
(Harpobittacus nigriceps) beschrieben (Thornhill 1983), aber erst<br />
eine gründliche Zusammenfassung von Bill Eberhard (1996) überzeugte<br />
viele Biologen davon, dass Weibchen die Speicherung und Nutzung von<br />
Spermien zu (Un-) Gunsten bestimmter Männchen beeinflussen können.<br />
Die Mechanismen, die einer differenziellen Nutzung von Spermien verschiedener<br />
Männchen zugrunde liegen, sind in den meisten Fällen noch<br />
nicht bekannt; der weibliche Genitaltrakt ist in dieser Hinsicht noch eine<br />
„black box“. Neben strukturellen Merkmalen, wie Größe und Form von<br />
Spermienspeicherorganen, können auch immunologische Prozesse sowie<br />
mit dem Genotyp der Männchen korrelierte Erkennungsmechanismen an<br />
der Oberfläche der Spermien dafür sorgen, dass bestimmte Spermien bevorzugt<br />
und andere eliminiert werden (Greef u. Parker 2000). Durch diese<br />
Prozesse können auch bestimmte Spermienmorphologien selektiert werden<br />
(Miller u. Pitnick 2002). Durch die Kontrolle der Dauer der Kopulation<br />
(und damit der Zahl der übertragenen Spermien pro Männchen) besitzen<br />
weibliche Insekten einen weiteren Kontrollmechanismus. Das selektive<br />
Ausscheiden bestimmter Spermien stellt einen anderen Mechanismus dar,<br />
mit dem Weibchen in die Spermienkonkurrenz eingreifen und einen der<br />
Kontrahenten unterstützen können (Pizzari u. Birkhead 2000).<br />
Kryptische Weibchenwahl kann eingesetzt werden, wenn präkopulatorische<br />
Mechanismen der Wahl versagt haben. Falls es beispielsweise zu<br />
Paarungen mit einem artfremden Männchen kommt, legen die betroffenen<br />
Weibchen anschließend keine Eier, obwohl ihre Spermatotheken gefüllt<br />
sind (Markow 1997); kryptische Prozesse verhindern also, dass Spermien<br />
freigesetzt werden und zur Befruchtung gelangen. In Fällen, in denen die<br />
Weibchen wenig oder keine präkopulatorische Kontrolle darüber haben,<br />
von wem sie inseminiert werden, können die Spermien theoretisch auch<br />
postkopulatorisch differenziert werden, so dass die Weibchen doch das<br />
letzte Wort behalten. Es ist aber auch vorstellbar, dass Weibchen eine direktionale<br />
Wahl betreiben, dass sie also prä- und postkopulatorisch dieselben<br />
Männchen bevorzugen. Dies ist theoretisch zu erwarten, wenn die<br />
Kosten der präkopulatorischen Wahl hoch sind; wenn also zum Beispiel<br />
Paarungen mit subordinaten Männchen nicht verhindert werden können<br />
(Pizzari u. Birkhead 2000).<br />
Wie lässt sich kryptische Weibchenwahl erkennen oder nachweisen,<br />
auch wenn die spezifischen Mechanismen im Einzelfall nicht (vollständig)<br />
bekannt sind? Ein bewährtes experimentelles Design in diesem Zusammenhang<br />
besteht darin, ein Paar von Männchen in derselben Reihenfolge
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl 345<br />
mit verschiedenen Weibchen zu verpaaren. Wenn es keine kryptische<br />
Weibchenwahl gibt, ist zu erwarten, dass der P 2 -Wert, also der Anteil der<br />
Eier, der vom zweiten Männchen befruchtet wird, wenig zwischen Weibchen<br />
variiert. Wenn man bei einer solchen Untersuchung an Vierfleckigen<br />
Bohnenkäfern (Callosobruchus maculatus) den Genotyp der Weibchen<br />
systematisch variiert, ändert sich aber die Replizierbarkeit des P 2 -Werts<br />
(Wilson et al. 1997), d. h. es gibt eine Interaktion zwischen den Geschlechtern,<br />
durch die der Fertilisationserfolg der Männchen in Abhängigkeit vom<br />
Genotyp der Weibchen beeinflusst wird. Ein alternativer, eleganter methodischer<br />
Ansatz besteht darin, durch künstliche Befruchtung von Weibchen<br />
mit Spermien von verschiedenen Männchen sowohl die präkopulatorische<br />
weibliche Einschätzung von Qualitätsunterschieden zwischen Männchen<br />
als auch die Reihenfolge und Spermienmenge von konkurrierenden Männchen<br />
zu kontrollieren. Bei einem solchen Experiment mit Guppies gelangten<br />
die Spermien von intensiver gefärbten Männchen signifikant häufiger<br />
zur Befruchtung als Spermien von anderen Männchen (Evans et al. 2003).<br />
Dieser Unterschied kann nur durch differenzierte Behandlung der Spermien<br />
im weiblichen Genitaltrakt erklärt werden.<br />
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl<br />
Wenn Weibchen durch den Ausschluss von artfremden und verwandten<br />
Männchen den Kreis potentieller Paarungspartner eingeschränkt haben,<br />
stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Weibchen zwischen potentiellen<br />
Partnern unterscheiden und auswählen. Sie sollten dabei prinzipiell<br />
Tabelle 9.1. Die Partnerwahl ist mit einer Reihe potentieller direkter Vorteile für<br />
Weibchen verbunden<br />
Potentielle direkte Vorteile der Partnerwahl<br />
● erhöhte Fertilität<br />
● erhöhte Fekundität<br />
● guter Vater<br />
● erhöhte Territoriumsqualität<br />
● guter Wächter<br />
● guter Beschützer<br />
● reduzierte Pathogenübertragung
346 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
versuchen, ein Männchen möglichst hoher Qualität zu wählen. Die Qualität<br />
der Männchen kann anhand von zwei Kriterien beurteilt werden. Männchen<br />
können entweder nach genetischen Merkmalen unterschieden werden,<br />
die zu Nachwuchs höherer Qualität beitragen, oder nach Merkmalen,<br />
die den Fortpflanzungserfolg der Weibchen selbst direkt beeinflussen, indem<br />
sie eine Reihe von möglichen Vorteilen vermitteln (Tabelle 9.1). Die<br />
Voraussetzung für eine informierte Wahl besteht in beiden Fällen darin,<br />
dass es phänotypische Qualitätsindikatoren gibt, die den Weibchen zugänglich<br />
sind und möglichst ehrlich Auskunft über die Qualität eines<br />
Männchens geben.<br />
9.4.1 Effekte auf Fertilität und Fekundität<br />
Wie können Weibchen durch die Wahl eines bestimmten Männchens direkt<br />
profitieren? Durch eine gezielte Partnerwahl können Weibchen potentiell<br />
mehrere Variablen beeinflussen, die ihre eigene Fitness unmittelbar<br />
betreffen. Am deutlichsten sind diese Effekte bei Merkmalen, die eng mit<br />
dem Fortpflanzungserfolg zusammenhängen, also Fertilität, Fekundität und<br />
väterliche Jungenfürsorge (Møller u. Jennions 2001). Die Fertilität der<br />
Weibchen, also der Anteil der befruchteten Eier oder der geschlüpften<br />
Jungen, variiert in der Tat bei zahlreichen Insekten und Wirbeltieren in<br />
Abhängigkeit von interindividueller Variabilität in männlichen Merkmalen.<br />
So können zum Beispiel Körpergröße, Farbe oder Gesangsrepertoire<br />
qualitätskorreliert oder -anzeigend sein, aber auch willkürliche<br />
Merkmale, wie die Präsenz oder Farbe von experimentell angebrachten<br />
Fußringen bei Vögeln, korrelieren mit unterschiedlichen Fertilitätsraten der<br />
Weibchen. Bei einem australischen Frosch (Uperoleia laevigata) befruchten<br />
beispielsweise Männchen, die genau 70% des Gewichts des betreffenden<br />
Weibchens besitzen, sehr viel mehr Eier als Männchen, die nur 0,2 g<br />
mehr oder weniger wiegen (Robertson 1990). Vermutlich diskriminieren<br />
Weibchen sowohl gegen leichtere Männchen, weil diese nicht genügend<br />
Spermien haben, als auch gegen schwerere, weil sie die Weibchen während<br />
der Paarung untertauchen und ertränken können. Bei einem afrikanischen<br />
Frosch (Hyperolius marmoratus) wurde aber kein Unterschied in der<br />
Befruchtungsfähigkeit verschiedener Männchen gefunden (Grafe 1997),<br />
was zeigt, dass die Bedeutung solcher Merkmale nicht universell ist.<br />
Die Fekundität eines Weibchens, also die aktuelle Gelege- oder Wurfgröße,<br />
kann ebenfalls in Abhängigkeit von der Qualität der Männchen<br />
variieren. Bei Halsbandschnäppern (Ficedula albicollis) ist die durchschnittliche<br />
Gelegegröße, die ein Weibchen produziert, beispielsweise mit
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl 347<br />
der Größe eines weißen Stirnflecks bei Männchen korreliert (Qvarnström<br />
et al. 2000). Die Größe des Stirnflecks variiert zwischen Männchen und<br />
hat eine nachgewiesene Funktion als Ornament bei der intrasexuellen<br />
Konkurrenz. Der Zusammenhang zwischen Gelegegröße und Größe des<br />
männlichen Stirnflecks ist außerdem vom Zeitpunkt im Brutzyklus abhängig;<br />
das heißt, Männchen mit unterschiedlichen Stirnflecken induzieren im<br />
Laufe eines Brutzyklus verschieden große Gelege. Die Präferenz der<br />
Weibchen für dieses männliche Merkmal verändert sich im Laufe der<br />
Brutsaison ebenfalls. Ursache für diesen Effekt ist die Tatsache, dass<br />
Männchen mit großen Stirnflecken früh in der Brutsaison viel in die Fortpflanzungskonkurrenz<br />
investieren, aber wenn später ihr Beitrag zum Füttern<br />
der Jungen gefragt ist, in relativ schlechter Verfassung sind. In diesem<br />
Fall handelt es sich beim Qualitätsindikator nicht um ein offensichtlich<br />
qualitätskorreliertes Merkmal.<br />
In anderen Fällen, wie zum Beispiel bei Taufliegen (Drosophila melanogaster),<br />
variiert die Fekundität der Weibchen mit der Körpergröße der<br />
betreffenden Männchen (Pitnick 1991). Dort legen Weibchen, die mit kleinen<br />
Männchen verpaart werden, mehr Eier als Weibchen mit größeren<br />
Männchen. Neben der Gelegegröße können manche Weibchen auch die<br />
Qualität der Eier beeinflussen. So werden von Stockenten (Anas platyrhynchos)<br />
größere Eier gelegt, wenn sie mit einem von ihnen bevorzugten<br />
Erpel gepaart werden (Cunningham u. Russell 2000), und aus diesen<br />
größeren Eiern schlüpfen Junge mit einer besseren körperlichen Verfassung.<br />
Ein ähnlicher Effekt wurde bei Pfauen (Pavo cristatus) dokumentiert,<br />
wo nach Paarungen mit stärker ornamentierten Hähnen größere Eier,<br />
deren Eigelb mehr Testosteron enthält, gelegt werden (Loyau et al. 2007).<br />
Effekte der Partnerwahl auf die Fekundität der Weibchen sind nicht nur<br />
von intrinsischen Merkmalen der Männchen abhängig. Bei manchen Insekten<br />
machen Männchen Brautgeschenke, die von den Weibchen zumeist<br />
während der Kopulation konsumiert werden. Bei diesen Geschenken handelt<br />
es sich um Beutetiere, spezielle Drüsensekrete, Anhänge von Spermatophoren<br />
oder sogar Teile des männlichen Körpers, die aufgrund ihres<br />
Energiegehalts einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Fortpflanzungserfolg<br />
der Weibchen haben (Abb. 9.9). Die Qualität des Brautgeschenks<br />
ist in der Regel positiv mit der Fekundität verbunden, so dass<br />
Weibchen, die ein großes Geschenk erhalten haben, mehr Eier legen<br />
(Simmons 1990). Aufgrund dieses Vorteils sollten Weibchen also diejenigen<br />
Männchen bevorzugen, welche die besten Brautgeschenke anbieten.<br />
Umgekehrt haben Männchen auch ein Interesse daran, ein möglichst<br />
hochwertiges Geschenk anzubieten, da, wie zum Beispiel bei Skorpionsfliegen<br />
(Panorpa vulgaris), die Kopulationsdauer positiv mit der Größe<br />
des Geschenks korreliert ist (Sauer et al. 1998). Mit zunehmender Kopula-
348 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Abb. 9.9. Männliche Skorpionsfliegen<br />
(Panorpa vulgaris)<br />
überreichen ein Brautgeschenk<br />
in Form eines nahrhaften Drüsensekrets<br />
an paarungsbereite<br />
Weibchen<br />
tionsdauer werden auch mehr Spermien übertragen, so dass letztendlich<br />
der Fortpflanzungserfolg der Männchen mit größeren Brautgeschenken<br />
höher ist. Brautgeschenke, die aus Drüsensekreten der Männchen bestehen,<br />
können auch in ihrem Proteingehalt variieren und strategisch in ihrer Größe<br />
angepasst werden (Bussière et al. 2005). Dabei können auch Männchen<br />
in relativ guter Verfassung relativ kleine Geschenke produzieren und umgekehrt<br />
(Engqvist u. Sauer 2001). Der evolutionäre Ursprung von Brautgeschenken<br />
ist vermutlich darin zu sehen, dass Männchen, die eine präexistierende<br />
Präferenz für solche Geschenke zufällig bedienten, mit einem<br />
selektiven Fortpflanzungserfolg belohnt wurden (Sakaluk 2000). Bei zumindest<br />
einer Insektenart sind die Geschlechterrollen in diesem Kontext<br />
umgekehrt; hier erhalten Männchen während der Kopulation eine Sekretion<br />
der Weibchen, möglicherweise, um so das Risiko von Kannibalismus<br />
durch die Männchen zu reduzieren (Arnqvist et al. 2003).<br />
9.4.2 Vaterqualitäten<br />
Männchen variieren auch darin, welchen Beitrag sie zur Jungenaufzucht<br />
leisten ( Kap. 10.2). Dieses Investment der Männchen kann darin bestehen,<br />
dass sie Gelege bewachen und wie im Fall von Fischen mit sauerstoffreichem<br />
Wasser befächeln. Bei Stichlingen sind Unterschiede zwischen<br />
Männchen im Fürsorgeverhalten mit der Größe der Pektoralflosse korreliert<br />
(Künzler u. Bakker 2000), so dass Weibchen Männchen anhand der<br />
Größe dieser Flosse diskriminieren können. Den deutlichsten und direktesten<br />
Beitrag leisten in dieser Hinsicht männliche Vögel, die ihre Jungen füttern.<br />
Die Rate, mit der sie füttern, oder der Anteil des Gesamtfütterungsaufwandes,<br />
den einzelne Männchen übernehmen, variiert zwischen
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl 349<br />
Box 9.3<br />
Indikatoren der Vaterqualität<br />
• Frage: Woran erkennen Weibchen des Azurbischofs (Guiraca caerulea)<br />
Unterschiede in der Vaterqualität zwischen Männchen?<br />
• Hintergrund: Männchen unterscheiden sich in der Intensität ihrer blauen<br />
Gefiederfärbung. Intensiver gefärbte Männchen sind in besserer Verfassung,<br />
so dass die Färbung ein ehrlicher Qualitätsindikator sein könnte.<br />
• Methode: 34 Männchen wurden gefangen, vermessen und anschließend<br />
ihr Fütterungsverhalten beobachtet.<br />
• Ergebnis: Die am intensivsten blau gefärbten Männchen waren größer,<br />
hatten die größten Territorien mit der meisten Nahrung, und sie fütterten<br />
die Jungen des ersten Geleges häufiger.<br />
• Schlussfolgerung: Die Gefiederfärbung stellt ein zuverlässiges Signal<br />
männlicher Qualität dar. Weibchen, die ihre Partnerwahl danach ausrichten,<br />
können direkt durch besseren Ressourcenzugang und höheres väterliches<br />
Investment profitieren.<br />
Keyser u. Hill 2000<br />
Individuen. Beim Azurbischof (Guiraca caerulea) korreliert die Färbung<br />
der Männchen positiv mit deren Fütterungsraten (Box 9.3). Beim Schilfrohrsänger<br />
(Acrocephalus schoenobaenus) ist der Umfang des Gesangsrepertoires<br />
der Männchen positiv mit deren Fütterungsrate korreliert (Buchanan<br />
u. Catchpole 2000); das heißt, unterschiedliche Merkmale können bei<br />
verschiedenen Arten als Indikatoren desselben Qualitätsmerkmals dienen.
350 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
9.4.3 Andere Qualitäten der Männchen<br />
Andere Merkmale, die zwischen Männchen variieren und die unmittelbare<br />
Fitnesskonsequenzen für Weibchen haben, betreffen die Qualität ihrer Territorien,<br />
ihre Wachsamkeit und Beschützerqualitäten sowie ihre Pathogenbelastung.<br />
Die Territoriumsqualität beinhaltet insofern Potential für<br />
direkte Vorteile, als ein hochwertiges Territorium mehr Nahrung oder<br />
Schutz für das Weibchen und seine Jungen bereithält. Allerdings wächst<br />
mit zunehmender Qualität des Territoriums auch das Risiko, dass sich<br />
darauf ein zweites Weibchen niederlässt, mit dem diese Ressourcen geteilt<br />
werden müssen ( Kap. 11.2). Beim Bitterling (Rhodeus sericeus) verteidigen<br />
Männchen den Zugang zu einer oder mehreren Süßwassermuscheln,<br />
in denen sich die Embryonen dieser Fische für 3–6 Wochen entwickeln.<br />
Weibchen deponieren dazu ihre Eier in den Siphon der Muschel, von<br />
wo sie in die Kiemen wandern. Die Spermien der Männchen werden danach<br />
durch die Muschel angesaugt und befruchten die Eier. Die Überlebensrate<br />
der Embryonen hängt sowohl von der Art der Muschel als auch<br />
von der Zahl der bereits darin befindlichen Embyronen ab, so dass Weibchen<br />
die Muscheln vor der Eiablage genau inspizieren sollten. Weibchen<br />
vermeiden tatsächlich Muscheln, die bereits Embryonen von anderen<br />
Weibchen enthalten. Weibchen modifizieren also ihre direkten Fitnessgewinne<br />
aus der Wahl eines Männchens durch einen Vergleich der von<br />
ihnen verteidigten Ressource (Candolin u. Reynolds 2001). Die Qualität<br />
dieser Ressource ist in diesem Fall unabhängig von der Qualität der Männchen,<br />
welche die Weibchen in einem ersten Auswahlschritt anhand ihrer<br />
Farbe unterscheiden.<br />
Ähnliches gilt für die Wachsamkeit der Männchen. Weibchen und ihre<br />
Nachkommen können von höherer Wachsamkeit durch ein reduziertes<br />
Prädationsrisiko profitieren. Bei Hühnern (Gallus gallus) sind dominante<br />
Hähne unter anderem auch wachsamer als andere Hähne (Pizzari 2003),<br />
was die Präferenz der Hühner für dominante Hähne teilweise erklären<br />
könnte. Möglicherweise hat die Wachsamkeit der Hähne aber auch noch<br />
andere Ursachen.<br />
Männchen, die Weibchen durch postkopulatorisches mate guarding vor<br />
Belästigung durch andere Männchen schützen, liefern diesen ebenfalls<br />
direkte Vorteile. Bei Moskitofischen (Gambusia holbrooki) werden Weibchen<br />
häufig durch Kopulationsversuche belästigt und haben dadurch deutlich<br />
reduzierte Nahrungsaufnahmeraten. Wenn Weibchen sich allerdings<br />
einem großen Männchen nähern, vertreibt dieses alle anderen, kleineren<br />
Männchen und erhöht so die Effizienz der Nahrungsaufnahme der Weibchen<br />
(Pilastro et al. 2003). Hier profitieren Weibchen also direkt davon,
9.4 Direkte Vorteile der Partnerwahl 351<br />
wenn sie möglichst große Männchen auswählen, da diese bessere<br />
Beschützer sind.<br />
Schließlich haben Weibchen auch ganz unmittelbare Vorteile davon,<br />
sich nicht mit Männchen mit hoher Pathogenbelastung zu verpaaren und<br />
damit das Risiko zu reduzieren, dass auf sie selbst oder ihre Jungen diese<br />
Pathogene übertragen werden. Diese Vorteile manifestieren sich schon<br />
ganz unmittelbar bei der Paarung, wenn es in der Population Männchen<br />
gibt, die Geschlechtskrankheiten übertragen. Im Falle von Ektoparasiten<br />
können diese auch potentiell auf die Jungen übertragen werden. In der Tat<br />
findet man in der Mehrzahl der untersuchten Arten eine negative Korrelation<br />
zwischen der Intensität des Parasitenbefalls der Männchen und ihrem<br />
Paarungserfolg (Able 1996).<br />
Direkte vs. indirekte Vorteile. Die direkten Vorteile, die sich aus der<br />
Wahl eines Männchens ergeben, werden von theoretischen Evolutionsbiologen<br />
generell als bedeutsamer angesehen als die indirekten, da auf direkte<br />
Vorteile das Lek-Paradoxon nicht zutrifft. Das Lek-Paradoxon ist auf der<br />
Überlegung begründet, dass Weibchen auf einem Lek zwischen extrem<br />
ornamentierten Männchen wählen, ohne dass die Wahl eigentlich Konsequenzen<br />
haben sollte (Kirkpatrick u. Ryan 1991). Das hat folgende Ursache:<br />
Da Männchen auf Leks Weibchen keine direkten Vorteile bieten,<br />
sollten die Weibchen ein Männchen mit guten Genen wählen, um so die<br />
Fitness ihrer Nachkommen zu erhöhen. Da aber Selektion die Allele, die<br />
Fitness erhöhen, innerhalb weniger Generationen zur Fixierung treibt, wird<br />
dadurch die korrespondierende additive genetische Varianz rasch gegen<br />
Null getrieben. Die additive genetische Varianz beschreibt Variabilität, die<br />
auf additive Effekte von Allelen zurückgeführt werden kann. Der additive<br />
Effekt eines Allels beschreibt dabei den durchschnittlichen Effekt, der entsteht,<br />
wenn es durch ein anderes Allel ersetzt wird. Wenn die additive genetische<br />
Varianz für diese Fitnesskomponente der Männchen verschwunden<br />
ist, sind phänotypische Fitnessunterschiede zwischen Männchen nicht<br />
mehr vererbbar. Von daher gibt es für Weibchen eigentlich keinen Grund,<br />
zwischen Männchen zu wählen. Trotzdem haben Arten mit Leks die auffälligsten<br />
Rituale und Ornamente – was also paradox erscheint. Da aber<br />
Merkmale, die zur Fitness beitragen, auch stark von Umweltfaktoren und<br />
der Kondition des Trägers beeinflusst werden, zum Beispiel über Parasiten-Wirt-Interaktionen<br />
(Hamilton et al. 1990), bleibt deren Varianz erhalten,<br />
und es lohnt sich für Weibchen daher, weiter zu wählen (Kothiaho<br />
et al. 2001). Da direkte Vorteile der Partnerwahl andererseits unmittelbare<br />
Konsequenzen für die Weibchen haben, sind sie daher nicht auf Mechanismen<br />
angewiesen, die genetische Varianz generieren oder erhalten.
352 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl<br />
In vielen Fällen erhalten Weibchen keine direkten Vorteile durch die Wahl<br />
eines bestimmten Männchens, sondern sie erhalten nur die zur Befruchtung<br />
ihrer Eier notwendigen Spermien – und die darin enthaltenen Gene. In<br />
diesem Fall sollten Weibchen die Qualität ihrer Paarungspartner anhand<br />
deren genetischer Ausstattung bzw. der daraus resultierenden Phänotypen<br />
unterscheiden und auswählen. Vielen sekundären Geschlechtsmerkmalen<br />
von Männchen, insbesondere auffälligen Ornamenten, wird eine Funktion<br />
bei der Anzeige dieser Qualitätsunterschiede zugeschrieben. Dadurch,<br />
dass Weibchen Partner mit bestimmten Qualitätsmerkmalen bevorzugen,<br />
kommt es über evolutionäre Zeiträume zu einer genetischen Assoziation<br />
zwischen weiblichen Präferenzen, männlichen Merkmalen und der Fitness<br />
der Nachkommen bestimmter Elternkombinationen. Durch die Wahl eines<br />
entsprechenden Männchens können Weibchen so die Wachstumsrate, Fekundität,<br />
Überlebensrate oder sexuelle Attraktivität ihrer Nachkommen<br />
verbessern, was als indirekter Vorteil der Partnerwahl betrachtet wird.<br />
Für Charles Darwin bestand ein zentrales und ungelöstes Problem der<br />
sexuellen Selektionstheorie darin, die Existenz von spektakulären männlichen<br />
Ornamenten zu erklären. Insbesondere Merkmale, die ihre Träger<br />
auffälliger gegenüber Raubfeinden machen oder die ihre Überlebenschancen<br />
in anderer Weise kompromittieren, stellten ein Paradoxon dar, da<br />
Tabelle 9.2. Übersicht über evolutionäre Prozesse, die extravagante männliche<br />
Ornamente hervorbringen können. Sie beinhalten auch indirekte Vorteile der Partnerwahl<br />
für Weibchen<br />
Ursachen extravaganter Ornamente<br />
● Fisher-Prozess<br />
– Ornament arbiträr<br />
– Fortpflanzungsvorteil durch ↑ Attraktivität<br />
– Ornament und Präferenz positiv gekoppelt<br />
● Gute-Gene-Modelle<br />
– Ornament ist Qualitätsindikator<br />
– Qualität ist absolut<br />
– gute Gene des Vaters ↑ Fitness der Jungen<br />
● Kompatibilität<br />
– Ergänzung der Gene von Vater und Mutter<br />
– Heterozygotenvorteil der Jungen
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 353<br />
sie nicht mit natürlicher Selektion erklärt werden können. Darwin kam<br />
zwar zu dem richtigen Schluss, dass diese Ornamente dazu dienen, die<br />
Partnerwahl der Weibchen positiv zu beeinflussen, aber er konnte keinen<br />
plausiblen Mechanismus für die Evolution dieser Ornamente vorschlagen,<br />
da er noch nichts über deren genetische Grundlage wissen konnte. Heute<br />
gibt es dafür drei verschiedene Erklärungen (Tabelle 9.2).<br />
Aufgrund des Fisher-Prozesses können Ornamente entstehen und durch<br />
weibliche Partnerwahl verstärkt werden, weil es zu einer genetischen Korrelation<br />
zwischen Präferenz und Merkmal kommt. Außerdem ist es möglich,<br />
dass Männchen mit bestimmten Ornamenten bevorzugt werden, weil<br />
diese Indikatoren hoher erblicher Qualität sind – ihre Träger also „gute<br />
Gene“ besitzen. Diese Prozesse werden oftmals als Alternativen betrachtet,<br />
aber neuere theoretische Modellierungen haben grundlegende Gemeinsamkeiten<br />
beider Mechanismen betont und in einem gemeinsamen Modell<br />
verdeutlicht (Kokko et al. 2002). Schließlich können Weibchen die Qualität<br />
eines potentiellen Partners auch danach beurteilen, wie kompatibel dessen<br />
Genotyp mit der eigenen genetischen Ausstattung ist.<br />
9.5.1 Sexy Söhne durch den Fisher-Prozess<br />
Eine erste Erklärung für einen Teil der Ornamente, die Darwin so viel<br />
Kopfzerbrechen bereiteten, lieferte Ronald Fisher (1930). Das nach ihm<br />
benannte Koevolutionsmodell geht davon aus, dass Weibchen, die attraktive<br />
Männchen bevorzugen, einen indirekten genetischen Vorteil aus dieser<br />
Wahl beziehen. Dieser Vorteil ist nicht darauf begründet, dass die bevorzugten<br />
Männchen höhere genetische Qualität besitzen, sondern darauf,<br />
dass die genetischen Grundlagen des attraktiven Ornaments des Vaters an<br />
dessen Söhne weitergegeben werden. Damit entstehen Söhne, die attraktiver<br />
sind als andere Männchen (sexy sons) und damit für ihre Mütter mehr<br />
Enkel produzieren als die Söhne anderer Weibchen, die diese Präferenz<br />
nicht haben.<br />
Nach dieser Überlegung haben sowohl die Präferenz der Weibchen für<br />
ein bestimmtes Merkmal der Männchen als auch das betreffende Ornament<br />
selbst eine genetische Grundlage (Bakker u. Pomiankowski 1995). In diesem<br />
Fall kommt es zu einer unvermeidlichen genetischen Kovarianz zwischen<br />
der Präferenz und dem Ornament, die dazu führt, dass die weibliche<br />
Präferenz sich selbst verstärkt, was wiederum zu einer Vergrößerung des<br />
Ornaments führt. Mit diesem freilaufenden Prozess (runaway) kann man<br />
erklären, wie es zur Evolution von Ornamenten kommt, die größer sind als<br />
es allein aufgrund natürlicher Selektion zu erwarten wäre.
354 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
a<br />
b<br />
Merkmal<br />
Merkmal<br />
Präferenz<br />
Präferenz<br />
c<br />
Merkmal<br />
Präferenz<br />
Abb. 9.10a–c. Schematische Darstellung des Fisher-Prozesses. a Merkmal und<br />
korrespondierende Präferenz liegen jeweils normalverteilt vor. b Merkmal und<br />
Präferenz werden genetisch gekoppelt. c Eine Veränderung der durchschnittlichen<br />
Präferenz (roter Pfeil) führt zu einer Vergrößerung des Merkmals (blauer Pfeil),<br />
wodurch ein freilaufender Prozess (schwarzer Pfeil) ausgelöst wird, der irgendwann<br />
durch natürliche Selektion (grüner Pfeil) gestoppt wird<br />
An einem hypothetischen Beispiel lässt sich dieser Prozess verdeutlichen<br />
(Abb. 9.10). Nehmen wir an, in einer Population gibt es zwischen<br />
den Männchen Variation in einem beliebigen Merkmal, die eine genetische<br />
Grundlage hat. Bei Fischen könnten manche Männchen etwas auffälliger<br />
gefärbt sein als andere, oder bei Vögeln könnten sich Männchen in der<br />
Länge der Schwanzfedern unterscheiden (z. B. Andersson 1982). Zunächst<br />
muss erklärt werden, wie weibliche Präferenz und ein korrespondierendes<br />
Merkmal assoziiert werden. Dazu wird angenommen, dass entweder die<br />
Variabilität in der betreffenden Merkmalsausprägung der Männchen mit<br />
Qualitätsunterschieden korreliert war oder dass Männchen mit einer
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 355<br />
bestimmten Ausprägung des Merkmals eine präexistierende sensorische<br />
Neigung der Weibchen ausnutzten. Vogel-Männchen mit einem etwas längeren<br />
Schwanz könnten also beispielsweise aerodynamische Vorteile<br />
haben und damit effizienter Futter beschaffen oder besser Räubern entkommen.<br />
Oder ein Fisch-Männchen mit einer Rotfärbung könnte von<br />
Weibchen entweder besser detektiert werden, oder Weibchen besaßen<br />
schon eine Präferenz für alles Rote, weil sie sich häufig von rotem Futter<br />
ernähren. Man kann sich also vorstellen, dass sowohl die Häufigkeit eines<br />
Merkmals der Männchen als auch eine korrespondierende Präferenz der<br />
Weibchen für dieses Merkmal in einer Population entsprechend einer<br />
Normalverteilung existieren (Abb. 9.10a).<br />
Wenn nun Weibchen ihre Paarungspartner in Bezug auf dieses Merkmal<br />
(z. B. Schwanzlänge) wählen, kommt es zu einer Verbindung der genetischen<br />
Grundlagen dieser beiden Merkmale: Die Nachkommen der<br />
Weibchen mit einer Präferenz für überdurchschnittlich lange Schwänze<br />
haben sowohl die Gene für die Präferenz als auch für die Schwanzlänge.<br />
Das Gen für die Präferenz wird allerdings nur in den Töchtern exprimiert<br />
und das Gen für Schwanzlänge nur in den Söhnen. Solange sich die Häufigkeitsverteilung<br />
von Männchen und Weibchen in der Population mit bestimmten<br />
Merkmalsausprägungen nicht ändert, findet keine Selektion auf<br />
diese Merkmale statt; Präferenz und Merkmal bleiben in ihren relativen<br />
Häufigkeiten erhalten (Abb. 9.10b).<br />
Wenn es aber zum Beispiel durch genetische Drift dazu kommt, dass die<br />
Zahl der Weibchen mit einer Präferenz für längere (oder kürzere) Schwänze<br />
zunimmt, kommt es zu einem freilaufenden, sich selbst verstärkenden<br />
Prozess, in dessen Verlauf die Präferenz und das Merkmal in Richtung eines<br />
Extremwertes laufen. Wenn es beispielsweise mehr Weibchen gibt, die<br />
eine Präferenz für längere Schwänze haben, pflanzen sich Männchen mit<br />
überdurchschnittlich langen Schwänzen überproportional häufig fort.<br />
Weibchen selektieren also für längere Schwänze; der Populationsmittelwert<br />
erhöht sich. Da Männchen mit längeren Schwänzen aber auch Gene<br />
für extremere weibliche Präferenzen tragen, werden diese ebenfalls überproportional<br />
häufig weiter gegeben. In der nächsten Generation gibt es also<br />
noch mehr Weibchen, die eine Präferenz für längere Schwänze haben, und<br />
der Populations-Mittelwert der Präferenz ist ein Stückchen weiter zu längeren<br />
Schwänzen hin verschoben (Abb. 9.10c). Die Söhne dieser Weibchen<br />
haben jetzt wieder einen Vorteil, da sie überdurchschnittlich lange<br />
Schwänze haben und sich daraus für sie wieder ein Fortpflanzungsvorteil<br />
ergibt. Aufgrund dieser positiven Rückkoppelung wird die Schwanzlänge<br />
in einen Bereich selektiert, in dem die Nachteile in Bezug auf die Überlebenswahrscheinlichkeit,<br />
die sich aus diesem Merkmal ergeben, so groß
356 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
werden, dass natürliche Selektion dem Attraktivitätsvorteil durch Weibchenwahl<br />
Einhalt gebietet.<br />
Gibt es empirische Hinweise für die Existenz des Fisher-Prozesses?<br />
Bei Guppies (Poecilia reticulata) haben Paarungsexperimente Hinweise<br />
dafür geliefert, dass die Attraktivität der Männchen nicht damit erklärt<br />
werden kann, dass sie gute Gene besitzen. Vielmehr ist die gefundene negative<br />
Korrelation zwischen Attraktivität der Männchen und der Überlebensrate<br />
ihrer Nachkommen damit zu erklären, dass die der Attraktivität<br />
zugrunde liegenden Merkmale von Weibchen beachtet und bevorzugt werden,<br />
weil ihre Söhne dadurch attraktiver sind und nicht weil diese bessere<br />
Überlebenschancen hätten. Die Wahl der weiblichen Guppies basiert auf<br />
der Farbe, Körper- und Schwanzgröße der Männchen. Brooks (2000) hat<br />
gezeigt, dass attraktive Männchen auch attraktive Söhne haben und dass<br />
Attraktivität mit dem Ausmaß der Ornamentierung korreliert ist. Allerdings<br />
ist die Attraktivität der Männchen negativ mit ihrer Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
korreliert. Ebenso ist die Mortalitätswahrscheinlichkeit der<br />
Söhne, aber nicht die der Töchter, mit der Attraktivität der Väter korreliert.<br />
Welcher Aspekt der Ornamentierung für die erhöhte Sterblichkeit verantwortlich<br />
ist, konnte in diesem Fall nicht geklärt werden, da es sich um intrinsische<br />
Mortalitätsursachen handelte. Dieses Experiment zeigt, dass das<br />
von Weibchen bevorzugte Merkmal der Männchen außer der erhöhten<br />
Attraktivität der Söhne an keinen erkennbaren Vorteil gekoppelt ist und<br />
dass dieser Vorteil durch erhöhte Mortalität in Schach gehalten wird.<br />
Auch bei Stielaugenfliegen (Cyrtodiopsis dalmanni) scheint die Evolution<br />
eines auffälligen Merkmals davongelaufen zu sein. Bei diesen Fliegen<br />
sitzen die Augen auf langen Auswüchsen an der Kopfseite. Insbesondere<br />
bei Männchen ist die Spannweite zwischen den Augen übertrieben groß<br />
und stellt ein Ornament dar, für welches Weibchen eine Präferenz besitzen<br />
(Abb. 9.11). In einem Experiment wurden Fliegen unter drei Nahrungsbedingungen<br />
aufgezogen. Dabei zeigte sich, dass die Augenspannweite<br />
von Männchen unter schlechten Nahrungsbedingungen im Durchschnitt<br />
deutlich reduziert ist (David et al. 2000). Allerdings hatten Männchen mit<br />
bestimmten Genotypen unter allen Umweltbedingungen ähnlich große Ornamente.<br />
Dieser Effekt war unabhängig von Unterschieden in der Körpergröße<br />
und auf Männchen sowie auf dieses sexuell selektierte Merkmal beschränkt.<br />
Der Augenabstand von Weibchen sowie andere Merkmale wie<br />
Thorax- oder Flügellänge waren davon nicht betroffen. Die Augenspannweite<br />
der Männchen ist also ein sexuell selektiertes Merkmal, das zwar<br />
konditionsabhängig variiert, aber an sich keinen erkennbaren Vorteil mit<br />
sich bringt. Dieses Beispiel zeigt auch, dass eine Trennung von Fisher-<br />
Prozess und Gute-Gene-Selektion nicht immer einfach ist (siehe unten und<br />
Kokko 2001).
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 357<br />
Abb. 9.11. Bei Stielaugenfliegen hat der Fisher-Prozess zur Evolution eines extravaganten<br />
Ornamentes in einem zufälligen Merkmal – hier Augenabstand – geführt<br />
In einem weiteren Experiment mit Stielaugenfliegen wurde gezeigt, dass<br />
die Präferenz der Weibchen genetisch an das Merkmal der Männchen gekoppelt<br />
ist. Wilkinson u. Reillo (1994) haben dazu zwei Zuchtpopulationen<br />
hergestellt, in denen auf große bzw. kleine Augenspannweite selektiert<br />
wurde. Zu jeder Gruppe von Männchen wurden zufällig ausgewählte<br />
Weibchen gegeben. Nach 13 Generationen hatte sich die durchschnittliche<br />
Augenspannweite in den beiden Populationen vergrößert bzw. verkleinert.<br />
In Wahlexperimenten mit Weibchen der 13. Generation zeigten diejenigen<br />
aus der Gruppe, in der die Männchen auf verringerte Spannweite selektiert<br />
wurden, eine Präferenz für reduzierte Augenspannweite. Weibchen aus der<br />
anderen Gruppe sowie aus einer Kontrollgruppe ohne Selektion präferierten<br />
Männchen mit größerer Augenspannweite. Wie durch den Fisher-<br />
Prozess vorhergesagt, änderte sich die Präferenz der Weibchen in die Richtung<br />
genetischer Änderungen bei den Männchen; Merkmal und Präferenz<br />
sind also genetisch aneinander gekoppelt.<br />
9.5.2 Besserer Nachwuchs durch gute Gene<br />
Im Unterschied zum Fisher-Prozess gehen „Gute-Gene-Modelle“ davon<br />
aus, dass männliche Ornamente keine neutralen Merkmale ohne eigenen<br />
Überlebensvorteil sind, sondern dass sie Indikatoren der genetischen<br />
Qualität ihres Trägers sind. Durch die Wahl eines in diesem Sinne attraktiven<br />
Männchens erhält ein Weibchen also vorteilhafte Gene für seinen<br />
Nachwuchs. Weibchen können aber den Genotyp eines potentiellen Paarungspartners<br />
nicht direkt erkennen. Die Handicap-Hypothese (Zahavi
358 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
1975) löst dieses Problem, indem sie postuliert, dass die Produktion von<br />
aufwändigen Ornamenten mit hohen Kosten verbunden ist, so dass sich<br />
nur Männchen von hoher Qualität ein solches Merkmal leisten können.<br />
Ornamente sind also ehrliche Signale variabler männlicher Qualität (Grafen<br />
1990). Die plausibelste und am gründlichsten untersuchte Anwendung<br />
dieser allgemeinen Hypothese postuliert, dass Ornamente individuelle Resistenzfähigkeit<br />
gegen Pathogene reflektieren (Hamilton u. Zuk 1982).<br />
Männchen, die erfolgreich Parasiten und andere Pathogene abwehren, besitzen<br />
demnach auch Ornamente in gutem Zustand.<br />
Dort, wo gute Gene bei der Partnerwahl eine Rolle spielen, sollte es also<br />
(1) Variabilität zwischen Männchen in deren Ornamenten geben, (2) diese<br />
Unterschiede sollten mit Qualitätsunterschieden korreliert sein und eine<br />
genetische Grundlage haben. (3) Weibchen sollten diese Unterschiede<br />
wahrnehmen und präferieren können, und schließlich sollten (4) Weibchen,<br />
die Männchen hoher Qualität wählen, auch Nachkommen mit höherer<br />
Fitness produzieren. Die Überprüfung dieser Annahmen und Vorhersagen<br />
der Gute-Gene-Modelle ist seit etlichen Jahren eines der aktivsten<br />
Forschungsfelder der Verhaltensbiologie. Von der inzwischen unüberschaubaren<br />
Zahl an Untersuchungen sind im Folgenden einige Beispiele<br />
aufgeführt, die diese postulierten Zusammenhänge im Wesentlichen unterstützen.<br />
(1) Ornamente und Qualität. Die Qualität eines Männchens muss sich<br />
nach der Gute-Gene-Hypothese an der Ausprägung seiner Ornamente ablesen<br />
lassen. In den verschiedenen Tiergruppen werden ganz unterschiedliche<br />
Ornamente eingesetzt, um verschiedene Dimensionen von Qualität<br />
anzuzeigen. Ein entscheidendes Problem in diesem Zusammenhang besteht<br />
darin, sicherzustellen, dass Ornamente ehrliche Signale sind, also die wirkliche<br />
Qualität eines Männchens widerspiegeln. Ornamente können dabei<br />
prinzipiell auf zwei Arten als handicap wirken. Bei einem strategischen<br />
handicap sind Kosten für die Aufrechterhaltung der Ehrlichkeit notwendig.<br />
Bei einem offenbarenden (revealing) handicap sind die Kosten eines<br />
Signals oder Ornaments dagegen nicht für dessen Erhalt notwendig; vielmehr<br />
entstehen teure Signale, um die Wahrnehmung des bevorzugten<br />
Merkmals zu verbessern (Iwasa et al. 1991).<br />
Ornamente bestehen letztendlich aus akustischen, visuellen oder olfaktorischen<br />
Signalen, wobei manche Ornamente Signale in verschiedenen<br />
Modalitäten aussenden, manche Männchen multiple Ornamente besitzen<br />
und Weibchen auch mehrere Ornamente bei der Partnerwahl bewerten<br />
(Candolin 2003). Akustische Ornamente können in der Intensität, Dauer,<br />
Häufigkeit oder in ihren strukturellen Merkmalen variieren. Zudem kann<br />
die Größe des Repertoires diskreter Signale sich zwischen Individuen
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 359<br />
unterscheiden. Vor allem bei der Rufrate und Intensität treten Kosten in<br />
Form von erhöhtem Energiebedarf für die Lautproduktion auf. Die Rufdauer<br />
führt zu Kosten in Form von Zeit, die nicht für andere Aktivitäten<br />
zur Verfügung steht, oder in Form eines erhöhten Mortalitäsrisikos durch<br />
angelockte Räuber und Parasiten. Außerdem können akustische Signale Information<br />
über die aktuelle Verfassung des Senders sowie über seine Entwicklungsgeschichte<br />
enthalten.<br />
Diese Zusammenhänge wurden in Untersuchungen an mehreren Arten<br />
im Einzelnen bestätigt. So beeinflusst beispielsweise bei Feldgrillen (Gryllus<br />
campestris) die experimentelle Verbesserung des Nahrungsangebotes<br />
die Rufrate von Männchen, die damit über deren aktuelle Kondition Auskunft<br />
gibt (Scheuber et al. 2003). Die Grundfrequenz des Rufs ist außerdem<br />
negativ mit der Körpergröße korreliert und enthält damit Information<br />
über Körpergröße und die Verfassung während des Heranwachsens. In<br />
Wahlexperimenten bevorzugten Weibchen die Kombination dieser beiden<br />
Qualitätsindikatoren (niedere Frequenz und hohe Rufrate), wobei die<br />
Grundfrequenz das wichtigere Merkmal darstellt, wenn man Weibchen<br />
zwingt, zwischen beiden zu unterscheiden (Scheuber et al. 2004).<br />
Der Gesang der Männchen spielt auch bei Singvögeln eine wichtige<br />
Rolle bei der Partnerwahl (Catchpole 1987). Die Qualität der Männchen<br />
wird dabei offenbar entweder über die Gesangsrate oder die Repertoiregröße<br />
abgeschätzt (Gil u. Gahr 2002). Beim Dunkellaubsänger (Phylloscopus<br />
fuscatus) wurde außerdem gezeigt, dass auch die Amplitude des Gesangs<br />
von der Qualität der Männchen abhängt (Forstmeier et al. 2002).<br />
Männchen, die lauter singen, was physiologisch anstrengender ist, leben<br />
länger und haben größeren Erfolg bei EPCs. Stare (Sturnus vulgaris), die<br />
in der frühen Jugendphase regelmäßig experimentellem Nahrungsmangel<br />
ausgesetzt waren, sangen im darauf folgenden Frühjahr weniger und produzierten<br />
insgesamt weniger und kürzere Gesangsstrophen (Buchanan et al.<br />
2003). Damit enthält die Qualität und Quantität von Vogelgesang auch Information<br />
über individuelle Stresserfahrungen während der Entwicklung,<br />
die von den Weibchen zur Qualitätsbestimmung herangezogen werden<br />
könnte.<br />
Auch bei Säugetieren enthalten akustische Signale Informationen über<br />
die Qualitätsunterschiede zwischen Männchen. So unterscheiden sich bei<br />
Rothirschen (Cervus elaphus) Männchen während der Brunft in der Rate,<br />
mit der sie röhren. Die Fähigkeit, anhaltend mit großer Lautstärke und hoher<br />
Wiederholungsrate zu röhren, hängt mit Ausdauer und physiologischer<br />
Belastbarkeit zusammen und kann daher von Hirschkühen als Qualitätsanzeiger<br />
benutzt werden. In der Tat besitzen Weibchen eine Präferenz für<br />
Hirschbullen mit der höchsten Rufrate (McComb 1991).
360 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Bei visuellen Ornamenten kann die Information über die Qualität eines<br />
Männchens vor allem in der Farbe, Ornamentierung, Symmetrie, Körperbewegung<br />
oder Größe kodiert sein. Neben den energetischen Kosten der<br />
Produktion erzeugen visuelle Ornamente vor allem dadurch Kosten, dass<br />
sie ihre Träger auffälliger gegenüber Räubern oder Parasiten machen oder<br />
dass sie optimale Fortbewegungsmuster kompromittieren. Visuelle Ornamente<br />
können ebenfalls aktuelle Kondition oder Entwicklungsbedingungen<br />
reflektieren (Ausnahme: Dale 2000). Die Intensität gelber und roter Farben<br />
ist beispielsweise von der Menge aufgenommener Karotinoide abhängig,<br />
welche ihrerseits den Erfolg bei der Nahrungsaufnahme reflektiert. Da<br />
manche Parasiten die Resorption von Karotinoiden im Darm erschweren,<br />
könnten solche Farben ein (Kondition-) offenbarendes handicap darstellen<br />
(Milinski u. Bakker 1990). Karotenoid-abhängige Färbungen können saisonal<br />
schwanken, aber Unterschiede zwischen Individuen werden dabei<br />
beibehalten (Pérez-Rodríguez 2008). Die Größe eines Ornaments, wie zum<br />
Beispiel die Länge eines Schwanzes, oder auch die Größe des gesamten<br />
Körpers könnte dagegen als strategisches handicap funktionieren, da Produktion<br />
und Erhalt energetische Kosten beanspruchen.<br />
Ein guter Gesundheitszustand und die Abwesenheit von Parasiten zeigen<br />
sich im Zustand, insbesondere der Färbung, von Fell und Gefieder,<br />
aber auch in der Färbung von nackten Hautstellen (Box 9.4). Dieser Zu-<br />
Box 9.4<br />
Hamilton-Zuk-Hypothese<br />
Bei einem Vergleich von nordamerikanischen Singvögeln fanden Hamilton<br />
u. Zuk (1982), dass die Intensität der Gefiederfärbung zwischen Arten positiv<br />
mit dem Befall durch Blutparasiten korreliert. Parasiten befinden sich in einem<br />
ständigen evolutionären Wettrennen mit ihren Wirten. Da die Parasiten<br />
kürzere Generationsfolgen haben, können sie sich rasch an neue Resistenzmerkmale<br />
der Wirte anpassen. Die Wirte sind wiederum darauf angewiesen,<br />
mit Hilfe genetischer Veränderungen neue Resistenzen zu entwickeln, so<br />
dass dieser koevolutionäre Zyklus immer wieder andere Wirtsgenotypen vorteilhaft<br />
macht und so additive genetische Varianz für Parasitenresistenz erhält.<br />
Da Weibchen ein Interesse daran haben sollten, nicht-parasitierte Männchen<br />
zu bevorzugen (um selbst nicht infiziert zu werden und um ihren<br />
Jungen die genetischen Grundlagen erfolgreicher Resistenz zukommen zu<br />
lassen), ist Parasitenresistenz ein wichtiges, generelles Qualitätsmerkmal. Da<br />
Parasiten, insbesondere Endoparasiten, kaum sichtbar sind, benötigen Weibchen<br />
ein anderes Merkmal, das die Widerstandsfähigkeit und den Gesundheitszustand<br />
der potentiellen Partner zuverlässig anzeigt – in vielen Fällen<br />
durch visuelle Ornamente.
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 361<br />
sammenhang entsteht aufgrund des unvermeidlichen Trade-offs bei der<br />
Energie-Allokation ( Kap. 2.2); wenn limitierte Energie in die Aufrechterhaltung<br />
der Grundfunktionen (in diesem Fall: Krankheitsabwehr) investiert<br />
werden muss, steht sie für Reproduktion (in diesem Fall: qualitätsabhängige<br />
Ornamente) nicht zur Verfügung.<br />
Dieser Zusammenhang zwischen Parasitenbelastung und Qualität eines<br />
visuellen Ornaments ist nicht nur zwischen Arten zu erwarten, sondern vor<br />
allem beim Vergleich der Männchen einer Art. Paarungs- und Präferenzexperimente<br />
mit Stichlingen (Gasterosteus aculeatus, Abb. 9.12) haben<br />
gezeigt, dass sowohl die Intensität der Rotfärbung der Männchen, die bei<br />
der Partnerwahl eine Rolle spielt, als auch die Präferenz der Weibchen für<br />
Männchen mit unterschiedlich intensiver Rotfärbung additive genetische<br />
Varianz aufweisen. Die Intensität der Rotfärbung der Söhne ist dabei positiv<br />
mit der Stärke der Präferenz der Töchter für rote Männchen korreliert<br />
(Bakker 1993), was zeigt, dass Merkmal und Präferenz korreliert sind. Bei<br />
Stichlingen korreliert die Intensität der Rotfärbung der Männchen positiv<br />
mit deren körperlicher Verfassung; sie wird daher auch durch Parasitenbefall<br />
verringert. Dass Weibchen eine Präferenz für Männchen unter Berücksichtigung<br />
der Rotfärbung exekutieren, wurde dadurch demonstriert,<br />
dass bei Wahlversuchen unter grünem Licht, wo diese Information nicht<br />
mehr verfügbar ist, intensiv rot gefärbte Männchen nicht mehr bevorzugt<br />
werden (Milinski u. Bakker 1990).<br />
Auch die Asymmetrie von bilateral symmetrischen Merkmalen beinhaltet<br />
visuell vermittelte Information über die Fähigkeit eines Genotyps,<br />
nachteilige genetische und Umwelteinflüsse, die sich störend auf das<br />
gleichmäßige Wachstum bilateral symmetrischer Merkmale auswirken, zu<br />
kompensieren. Insofern reflektiert die resultierende fluktuierende Asymmetrie<br />
(FA, zufällige Abweichungen nach links oder rechts) ebenfalls die<br />
Abb. 9.12. Rotfärbung<br />
bei männlichen Stichlingen<br />
(Gasterosteus aculeatus).<br />
Dieses visuelle<br />
Ornament berücksichtigen<br />
Weibchen bei der<br />
Partnerwahl
362 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Abb. 9.13. Fluktuierende<br />
Asymmetrie<br />
der Schwanzfedern<br />
ist bei den<br />
männlichen Rauchschwalben<br />
negativ<br />
mit dem Fortpflanzungserfolg<br />
korreliert<br />
genetische Qualität eines Individuums (Thornhill u. Møller 1998). Weibchen<br />
sollten also möglichst symmetrische Männchen bevorzugen. Das<br />
Ausmaß der durchschnittlichen FA ist bei sekundären Geschlechtsmerkmalen<br />
größer als bei anderen Merkmalen, und in zumindest einem Fall<br />
wurde gezeigt, dass Männchen ihr Verhalten an ihr Maß an FA anpassen:<br />
Männliche Guppies mit asymmetrischer Farbverteilung präsentierten<br />
Weibchen beim Balzen häufiger die Körperseite mit mehr Farbe (Gross<br />
et al. 2007).<br />
Dass Weibchen eine generelle Präferenz für symmetrische Merkmale<br />
besitzen, zeigte ein Experiment mit Zebrafinken (Taeniopygia guttata), bei<br />
dem sie die Wahl zwischen Männchen hatten, die entweder an einem oder<br />
an beiden Beinen beringt waren (Swaddle u. Cuthill 1994). Zebrafinken-<br />
Weibchen zeigten eine klare Präferenz für Männchen mit dem symmetrischen<br />
arbiträren Ornament. Die Bedeutung von FA bei der Partnerwahl<br />
wurde auch in einer Reihe natürlicher Merkmale, wie zum Beispiel der<br />
Symmetrie der Schwanzfedern bei Vögeln, nachgewiesen (Thornhill u.<br />
Møller 1998). Männliche Rauchschwalben (Hirundo rustica, Abb. 9.13),<br />
denen die Länge und/oder die Symmetrie des Schwanzes experimentell<br />
verändert wurden, hatten unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg. Diejenigen<br />
mit den längsten und symmetrischsten Schwanzfedern verpaarten sich<br />
als Erste (wurden also zuerst gewählt) und hatten mehr Nachkommen als<br />
andere Männchen (Møller 1992).<br />
Bei olfaktorischen Ornamenten können die Konzentration eines Duftstoffs,<br />
die Häufigkeit, mit der er abgegeben wird, sowie die Anzahl und<br />
das Mischungsverhältnis verschiedener Duftkomponenten Qualitätsinformation<br />
enthalten. Wenn es sich um Stoffwechselabbauprodukte handelt,<br />
kann auch die Charakteristik eines Duftstoffes ein bestimmtes Qualitätsmerkmal<br />
kodieren. Da alle diese Aspekte olfaktorischer Signale von Stoff-
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 363<br />
wechselprozessen und Hormonen gesteuert sind, ist die Produktion eines<br />
bestimmten Signals schwerlich zu fälschen, da es für ein krankes Individuum<br />
physiologisch nicht möglich sein wird, den Geruch eines gesunden<br />
Individuums vorzutäuschen (Penn u. Potts 1998a). Da chemische Signale<br />
auch Informationen über die genetische Kompatibilität eines Individuums<br />
an Loci, welche die Immunerkennung von Parasiten kontrollieren, anzeigen,<br />
können diese Duftstoffe auch als olfaktorische Ornamente interpretiert<br />
werden, die ehrlich über den Gesundheitsstatus Auskunft geben<br />
(Martín et al. 2007).<br />
Wie kann der Geruch eines Männchens etwas über seinen Infektionsstatus<br />
aussagen? Diese Frage lässt sich noch nicht genau beantworten, aber<br />
es gibt einige offensichtliche Mechanismen (Penn 2002). Erstens kann eine<br />
Infektion die Zusammensetzung der Bakterienfauna, die letztendlich für<br />
den individuellen Duft verantwortlich ist, verändern. Zweitens kann die<br />
durch eine Infektion ausgelöste Immunreaktion den Individualgeruch verändern,<br />
da während einer Infektion die Expression von MHC-Genen erhöht<br />
wird. Außerdem kann durch die Aktivierung des Immunsystems die<br />
Ausscheidung von Hormonmetaboliten beeinflusst werden; kranke Tiere<br />
scheiden beispielsweise mehr Kortikosteron und weniger Androgene aus.<br />
In diesem Zusammenhang haben Folstad u. Karter (1992) darauf hingewiesen,<br />
dass Testosteron einen immunsuppressiven Effekt hat. Damit<br />
können insbesondere Testosteron-abhängige Signale ehrliche Hinweise<br />
auf den Gesundheitszustand eines Männchens geben: wenn Testosteron<br />
einerseits die Ausprägung von sekundären Geschlechtsmerkmalen kontrolliert<br />
und andererseits die Immunkompetenz reduziert, signalisieren Männchen<br />
mit hohen Testosteron-Konzentrationen, dass sie trotz dieses handicap<br />
eine Immunabwehr aufrechterhalten können, bzw. infizierte Männchen<br />
müssen ihre Testosteron-Konzentration und damit auch deren positive Effekte<br />
auf Ornamente reduzieren, um eine effektive Immunabwehr zu organisieren<br />
(Roberts et al. 2004).<br />
Damit liefern chemische Signale eine Möglichkeit, Informationen über<br />
einen funktional wichtigen Teil des Genoms zu bekommen. Warum kann<br />
es für Weibchen vorteilhaft sein, ihre Partnerwahl MHC-abhängig zu<br />
modifizieren? Erstens können sie direkte Vorteile daraus beziehen, wenn<br />
sie infizierte Männchen auf diese Weise erkennen und vermeiden können,<br />
so dass bei der Paarung keine Übertragung stattfindet (Kavaliers et al.<br />
2003). Zweitens können Weibchen die Resistenz ihrer Nachkommen gegenüber<br />
Parasiten verbessern, wenn sie diese durch die Wahl eines bestimmten<br />
Männchens an entscheidenden MHC-Loci mit einem Heterozygotenvorteil<br />
versehen können. Drittens können Informationen von<br />
MHC-Loci auch benutzt werden, um Verwandte zu erkennen und so Inzucht<br />
zu vermeiden (Penn u. Potts 1999; Kap. 9.2).
364 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Die Rolle des MHC bei der Partnerwahl wurde bislang vor allem an Labormäusen<br />
untersucht. Yamazaki et al. (1976) bemerkten als Erste, dass<br />
die Weibchen mancher Mäusestämme Männchen mit bestimmten MHC-<br />
Allelen vermieden. Die im Urin der Männchen enthaltene Information über<br />
den MHC-Genotyp eines potentiellen Paarungspartners werden mit einem<br />
template verglichen, das durch einen prägungsähnlichen Vorgang während<br />
der frühen Jugendphase unter dem Einfluss des Geruchs von Eltern und<br />
Geschwistern angelegt wird. Wenn man nämlich die Jungen zwischen<br />
Mäusefamilien mit unterschiedlichen MHC-Allelen austauscht, haben die<br />
Weibchen als Erwachsene eine Aversion gegenüber Männchen mit dem<br />
Box 9.5<br />
Elektrische Ornamente<br />
• Frage: Enthält das Entladungsmuster des elektrischen Organs Information<br />
über Männchen, die weibliche elektrische Fische unterscheiden können?<br />
• Hintergrund: Manche Fische besitzen ein elektrisches Organ, das ein<br />
dreidimensionales elektrisches Dipol-Feld erzeugt. Die Entladungsmuster<br />
(EOD) haben charakteristische Zeit-Amplituden-Verläufe und werden zur<br />
Orientierung und zur sozialen Kommunikation eingesetzt. Die Signaldauer<br />
der Männchen von Marcusenius pongolensis korreliert positiv mit der<br />
Größe.<br />
• Methode: EODs unterschiedlicher Länge wurden Weibchen einzeln oder<br />
gepaart vorgespielt und die Verhaltensreaktionen (Annäherung, „Kopfstoßen“)<br />
quantifiziert. Abb. A–E: Balz und Paarung.<br />
15<br />
Kopfstöße/min<br />
10<br />
5<br />
A B C<br />
0 104 204 308 396<br />
EOD Dauer [µs]<br />
D<br />
E<br />
• Ergebnis: Weibchen zeigten stärkere Verhaltensreaktionen (hier: Kopfstöße<br />
pro Min) als Reaktion auf längere EODs, egal ob diese alleine oder<br />
in Kombination mit einem kürzeren EOD präsentiert wurden.<br />
• Schlussfolgerung: Weibchen diskriminieren zwischen EODs von verschiedenen<br />
Männchen und bevorzugen solche von größeren Männchen.<br />
Auch ungewöhnliche artspezifische Signale können als qualitätsanzeigende<br />
Ornamente dienen.<br />
Machnik u. Kramer 2008
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 365<br />
Genotyp ihrer Stiefeltern-Familie (Penn u. Potts 1998b). Wenn männliche<br />
Hausmäuse experimentell mit Bakterien infiziert werden, reduziert dies ihre<br />
Markieraktivität sowie die Attraktivität ihres Urins für Weibchen (Zala<br />
et al. 2004); ein Hinweis auf die olfaktorische Vermittlung von MHCkorrelierter<br />
Information über die Männchen.<br />
Stichlings-Weibchen wählen Partner, welche die optimal komplementären<br />
MHC-Allele zu ihren MHC-Allelen bieten (Milinski et al. 2005).<br />
Stichlinge haben etwa sechs Loci im MHC der Klasse II, hätten also 12<br />
verschiedene Allele bei maximaler Heterozygotie. In natürlichen Populationen<br />
herrschen aber Stichlinge mit fünf bis sechs verschiedenen MHC-<br />
Allelen vor (Reusch et al. 2001). Diese Anzahl stellt ein immungenetisches<br />
Optimum dar. Parasitenfrei aufgezogene Stichlinge mit dieser Allelanzahl<br />
sind am resistentesten gegen Parasiten aus dem See ihrer Eltern (Wegner<br />
et al. 2003). In einem Strömungskanal bevorzugen Stichlings-Weibchen<br />
rein olfaktorisch diejenigen Männchen, mit denen sie Nachkommen mit<br />
dieser optimalen MHC-Allelanzahl erzeugen würden. Sie vergleichen dabei<br />
ihre eigenen MHC-Allele (self-reference) mit denen der potentiellen<br />
Partner (Aeschlimann et al. 2003).<br />
(2) Sind gute Gene wirklich gut? Die entscheidende Frage besteht darin,<br />
ob Weibchen, die Männchen hoher Qualität erkennen und wählen, auch<br />
Nachkommen mit höherer Fitness haben, d. h. erfahren sie tatsächlich indirekte<br />
Vorteile aus ihrer Partnerwahl? Der Nachweis eines solchen Effekts<br />
ist nicht einfach, da hierbei mütterliche Effekte kontrolliert werden müssen.<br />
Wenn es Unterschiede in weiblicher Fertilität oder Fekundität gibt,<br />
könnten diese väterliche Effekte übertünchen. Außerdem kann auch väterliche<br />
(oder elterliche) Fürsorge zu Unterschieden in der Überlebensrate der<br />
Jungen führen, die nichts mit dem genetischen Beitrag der Väter zu tun<br />
hat.<br />
Mehrere Studien haben diese potentiellen Störvariablen aber mit Hilfe<br />
eines eleganten experimentellen Designs kontrolliert und so tatsächlich einen<br />
Effekt guter Gene nachgewiesen. Beim Grauen Laubfrosch (Hyla versicolor)<br />
haben Weibchen eine Präferenz für Männchen mit langen Lockrufen.<br />
Indem Weibchen mit je einem Männchen mit langen bzw. kurzen<br />
Rufen verpaart wurden, konnten mütterliche Halbgeschwister hergestellt<br />
werden, die unter identischen Bedingungen (ohne elterliche Fürsorge)<br />
aufwuchsen. Die Kaulquappen mit Vätern mit langen Rufen unterschieden<br />
sich in mehreren fitnessrelevanten Wachstumsvariablen (Wachstumsgeschwindigkeit,<br />
Größe bei der Metamorphose etc.) von den anderen Individuen<br />
(Welch et al. 1998). In diesem Fall ist die Rufdauer also ein verlässlicher<br />
Indikator erblicher genetischer Qualität.
366 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Bei Stichlingen wurden in ähnlicher Weise mit In-vitro-Fertilisation<br />
mütterliche Halbgeschwister hergestellt, deren Väter sich in der Intensität<br />
der roten Körperfärbung unterschieden (Barber et al. 2001). Der Nachwuchs<br />
von leuchtend roten Männchen hatte zwar langsamere Wachstumsraten<br />
als die Jungen von unscheinbareren Männchen, aber sie reagierten<br />
auf experimentelle Infektionen mit einer höheren Immunkompetenz. Stichlings-Weibchen,<br />
die leuchtend rote Männchen auswählen, verbessern also<br />
die Krankheitsresistenz ihres Nachwuchses.<br />
9.5.3 Genetische Kompatibilität<br />
Gute-Gene-Modelle gehen davon aus, dass Ornamente konditionsabhängige<br />
Indikatoren männlicher Qualität sind und dass Weibchen bemüht<br />
sind, die Qualitäten von bevorzugten Männchen an ihren Nachwuchs<br />
weiterzugeben. Neben der Partnerwahl nach absoluten genetischen Merkmalen<br />
ist aber auch denkbar, dass Weibchen ihre Partner danach auswählen,<br />
ob ihre Gene adaptive Kombinationen mit den eigenen Genen<br />
ermöglichen und so beispielsweise ihren Jungen einen Heterozygotenvorteil<br />
zukommen lassen (Mays u. Hill 2004).<br />
Bei Arten mit sexueller Fortpflanzung entsteht der Genotyp von Nachkommen<br />
durch die Kombination von mütterlichen und väterlichen Gameten.<br />
Die Fitness der Nachkommen kann dadurch beeinflusst werden, dass<br />
bestimmte Allele an sich oder bestimmte Kombinationen von Allelen vorteilhaft<br />
sind. Die inhärent vorteilhaften Allele sollten von allen Weibchen<br />
bevorzugt werden, wobei die Träger den Besitz dieser „guten Gene“ durch<br />
Ornamentmerkmale anzeigen. In einem einfachen diploiden Ein-Locus-<br />
Modell sollten alle Weibchen diejenigen Männchen bevorzugen, die an<br />
diesem Locus zwei A-Allele (AA) besitzen (unter der Annahme, dass A<br />
besser ist als a). Eine Wahl zwischen Männchen kann sich für Weibchen<br />
allerdings auch in Bezug auf andere Allele lohnen. Durch eine bestimmte<br />
Kombination von mütterlichen und väterlichen Genen kann nämlich entweder<br />
an bestimmten Loci durch Dominanz ein rezessives, nachteiliges<br />
Allel unterdrückt werden oder ein genereller Heterozygotenvorteil (Heterosiseffekt)<br />
hervorgerufen werden. In den beiden letzten Fällen hängt die<br />
Fitness der Nachkommen also nicht nur vom haploiden väterlichen Beitrag,<br />
sondern vom kombinierten diploiden Beitrag beider Eltern ab. Um einen<br />
Dominanzvorteil zu erzielen, sollten in diesem Beispiel homozygot rezessive<br />
(aa) und heterozygote (Aa) Weibchen demnach AA-Männchen<br />
bevorzugen. Wenn heterozygote Nachkommen einen Vorteil haben, sollten<br />
dagegen AA-Weibchen aa-Männchen bzw. aa-Weibchen AA-Männchen
9.5 Indirekte Vorteile der Partnerwahl 367<br />
bevorzugen; für heterozygote Weibchen ist die Wahl in diesem Fall belanglos.<br />
Für die Partnerwahl nach genetischer Komplementarität stellen sich für<br />
Weibchen zwei gewichtige Probleme. Erstens wird die Wahl in den wenigsten<br />
Fällen auf einen einzigen Locus beschränkt sein. Gerade im Bereich<br />
der MHC-Gene, wo es Hinweise darauf gibt, dass mit interindividueller<br />
Diversität an den MHC-Loci ein Heterozygotenvorteil<br />
verbunden ist, gibt es eine riesige Anzahl von Allelen, die berücksichtigt<br />
werden müssen. Zweitens gibt es außer Geruchssignalen keine offensichtlichen<br />
phänotypischen Indikatoren genetischer Unähnlichkeit, an denen<br />
sich die Wahl der Weibchen orientieren könnte. Trotzdem gibt es zunehmend<br />
Hinweise dafür, dass Weibchen in verschiedenen Arten genetisch<br />
unterschiedliche Männchen bevorzugen (Tregenza u. Wedell 2000).<br />
Bei paarlebenden Singvögeln und anderen Arten mit einer Diskrepanz<br />
zwischen sozialem und genetischem Paarungssystem bieten extra-pair<br />
copulations (EPCs) eine elegante Möglichkeit, den Einfluss des väterlichen<br />
Genotyps auf die mütterliche Partnerwahl und Jungenfitness zu<br />
untersuchen, da die Jungen in einem Nest sowohl dieselbe Umgebung als<br />
auch den haploiden Satz an mütterlichen Genen teilen. Die Weibchen<br />
dieser Arten haben sich zwar für ein Männchen, ihren sozialen Partner,<br />
entschieden, dadurch aber auch ihre weiteren Wahlmöglichkeiten eingeschränkt.<br />
Durch Paarungen mit Männchen außerhalb des sozialen Paarverbundes,<br />
die häufig von den Weibchen initiiert werden (Double u. Cockburn<br />
2000), können Weibchen aber indirekte genetische Vorteile erfahren,<br />
die auch auf genetischer Kompatibilität beruhen können.<br />
Erstens können sie durch entsprechende Wahl von EPC-Partnern den<br />
Grad an Heterozygotie ihrer Jungen beeinflussen. Dabei stellt der männliche<br />
Genotyp kein absolutes Merkmal dar, sondern die Kombination von<br />
väterlichem und mütterlichem Genotyp ist entscheidend. Bei Blaumeisen<br />
wählen Weibchen sowohl Männchen, die nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft<br />
leben, als auch ihre Nachbarn für EPCs aus (Foerster et al. 2003).<br />
Aus Paarungen mit Nicht-Nachbarn entstehen Junge, die einen höheren<br />
Heterozygotie-Grad haben als Junge, die mit dem sozialen Partner gezeugt<br />
werden. Seitensprünge mit Nachbarn erhöhten den Heterozygotie-Grad im<br />
Durchschnitt ebenfalls nicht. Man kann diese Daten so interpretieren, dass<br />
weibliche Blaumeisen ihre unterschiedlichen Partner nach verschiedenen<br />
Kriterien auswählen. Beim primären, sozialen Partner könnten sowohl<br />
direkte als auch indirekte Vorteilsmerkmale ausschlaggebend sein. Bei<br />
EPC-Partnern werden Nachbarn nach bestimmten guten Genen gewählt<br />
(Kempenaers et al. 1997), wohingegen Nicht-Nachbarn in Bezug auf ihre<br />
genetische Komplementarität gewählt werden. Aktive Weibchenwahl, die<br />
zu erhöhter Heterozygosität führt, wurde sogar bei polygynen Pelzrobben
368 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
(Arctocephalus gazella) beschrieben (Hoffman et al. 2007), was die Bedeutung<br />
dieses Effekts unterstreicht.<br />
Zweitens können Weibchen durch entsprechende Wahl von EPC-<br />
Partnern ihren Jungen bestimmte gute Gene zukommen lassen, wobei die<br />
Qualität dieser Gene in Relation zum mütterlichen Genotyp bewertet wird.<br />
Durch einen Vergleich zwischen Jungen, die von einem sozialen Paar gezeugt<br />
werden (within-pair young, WPY), solchen, die von anderen Männchen<br />
gezeugt werden (extra-pair young, EPY), sowie den Jungen der EPC-<br />
Männchen mit deren sozialen Partnerinnen kann diese Hypothese getestet<br />
werden. Bei Blaukehlchen (Luscinia svecica) haben Junge, die durch EPCs<br />
entstehen, eine höhere Immunkompetenz als mit dem sozialen Partner gezeugte<br />
Junge (Johnsen et al. 2000). Diese EPY haben aber auch eine höhere<br />
Immunkompetenz als ihre väterlichen Halbgeschwister, was darauf hindeutet,<br />
dass der mütterliche Genotyp einen zusätzlichen Effekt auf die<br />
Fitness der Jungen hat. Diese Weibchen bekommen durch EPCs also keine<br />
guten Gene an sich, sondern kompatible Gene. Wie weit verbreitet solche<br />
indirekten genetischen Vorteile der Partnerwahl sind, ist allerdings noch<br />
unklar. Bei Tannenmeisen (Parus ater) fanden sich nämlich in großen<br />
Stichproben von WPY und EPY keine signifikanten Unterschiede in Überlebensraten<br />
und in ihrem Reproduktionserfolg im ersten Jahr (Schmoll<br />
et al. 2003). Variation in Ausmaß und Ursachen von EPCs müssen daher<br />
noch umfassender zwischen Arten und Populationen verglichen werden<br />
(Petrie u. Kempenaers 1998). Außerdem werfen solche Studien die Frage<br />
auf, nach welchen Kriterien eigentlich die sozialen Partner ausgewählt<br />
werden.<br />
9.6 Polyandrie<br />
Theorien der weiblichen Partnerwahl gehen implizit davon aus, dass sich<br />
Weibchen aufgrund von direkten oder indirekten Vorteilen mit einem<br />
bestimmten Männchen verpaaren sollten. Aufgrund der Bateman’schen<br />
Regel ( Kap. 7) ist außerdem zu erwarten, dass Weibchen durch mehrfache<br />
Verpaarungen ihren aktuellen Fortpflanzungserfolg nicht erhöhen<br />
können. Außerdem sind Kopulationen durchaus mit Kosten und Risiken<br />
behaftet, so dass es gute Gründe geben kann, deren Zahl gering zu halten.<br />
So nehmen Paarungen Zeit und Energie in Anspruch, die für andere Aktivitäten<br />
fehlen, sie beinhalten das Risiko, dass durch sie Geschlechtskrankheiten<br />
und Parasiten übertragen werden, sie verringern die Wachsamkeit<br />
und erhöhen die Auffälligkeit gegenüber Räubern. Außerdem können<br />
Kopulationen die Lebenserwartung und andere Fitnessdeterminanten der
9.6 Polyandrie 369<br />
Abb. 9.14. Polyandrie (ein Weibchen verpaart sich während eines Fortpflanzungszyklus<br />
mit mehreren Männchen) ist weit verbreitet, insbesondere bei Säugetieren<br />
(links: Grauer Mausmaki, Microcebus murinus; rechts: Fossa, Cryptoprocta ferox)<br />
Weibchen drastisch reduzieren ( Kap. 9.8). Empirische Beobachtungen<br />
zeigen aber, dass die große Mehrzahl der Arten nicht in lebenslanger Monogamie<br />
lebt und dass sich viele Weibchen sogar innerhalb eines Fortpflanzungszyklus<br />
mit mehreren Männchen (und/oder mehrfach mit demselben<br />
Männchen) verpaaren (Zeh u. Zeh 2003; Abb. 9.14). Wie lassen<br />
sich diese Variabilität im weiblichen Paarungsverhalten und insbesondere<br />
die weibliche Polyandrie erklären und mit den genannten theoretischen<br />
Grundlagen in Einklang bringen?<br />
Lange Zeit ging man davon aus, dass Polyandrie entweder von den<br />
Männchen erzwungen wird (Thornhill 1980) oder dass es sich um ein<br />
nicht-adaptives Nebenprodukt positiver Selektion auf Gene handelt, die bei<br />
Männchen zu promiskem Verhalten führen (Halliday u. Arnold 1987).<br />
Inzwischen ist aber deutlich geworden, dass in vielen Fällen die Initiative<br />
zu Mehrfachverpaarungen von den Weibchen ausgeht, wobei die Gelegenheit<br />
für Polyandrie durch ökologische (Owens 2002) oder Life history-<br />
Faktoren beeinflusst werden kann (Jones et al. 2001). Polyandrie für<br />
Weibchen sollte also mit direkten oder indirekten Vorteilen verbunden<br />
sein, welche die erwähnten Kosten und Nachteile von multiplen Kopulationen<br />
mehr als wettmachen (Abb. 9.15).<br />
Direkte Vorteile von weiblicher Polyandrie sind immer dann offensichtlich,<br />
wenn (1) die Kopulation selbst mit der Übertragung von Ressourcen<br />
verbunden ist. Durch die Nährstoffe, die in Samenflüssigkeiten,<br />
Spermatophoren oder „Brautgeschenken“ enthalten sind, wird vor allem<br />
die Fekundität von denjenigen Weibchen zusätzlich positiv beeinflusst, die
370 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Abb. 9.15. Potentielle Kosten und Vorteile multipler Verpaarungen von Weibchen<br />
sich mehrfach verpaaren (Wiklund et al. 2001). Bei Insekten gibt es auch<br />
zahlreiche Fälle, in denen (2) weibliche Fertilität durch zusätzliche Kopulationen<br />
erhöht wird, da die Spermien aus einer Kopulation offenbar nicht<br />
immer ausreichen, alle Eier eines Weibchens zu befruchten (Arnqvist u.<br />
Nilsson 2000). Obwohl Mehrfachverpaarungen teilweise massive Kosten<br />
für Insekten-Weibchen mit sich bringen ( Kap. 9.8), sind die direkten<br />
durchschnittlichen Fitnessgewinne von 30–70% durch multiple Paarungen<br />
größer als diese Kosten. Aufgrund dieser Vor- und Nachteile sollten (Insekten-)Weibchen<br />
daher eine relativ eng definierte optimale Paarungsrate<br />
haben. So wie Heckenbraunellen (Prunella vulgaris) können polyandrische<br />
Weibchen auch (3) zusätzliches väterliches Investment oder Zugang zu<br />
weiteren männlichen Territorien bekommen (Davies et al. 1996).<br />
Wenn (4) sexuelle Belästigung durch Männchen ein Problem darstellt<br />
und die Kosten des weiblichen Widerstands (z. B. vergeudete Zeit, Verletzungsrisiko,<br />
erhöhte Auffälligkeit gegenüber Raubfeinden) größer sind als<br />
die Kosten einer zusätzlichen Kopulation, können polyandrische Weibchen<br />
einen direkten Selektionsvorteil durch die Reduktion dieser Nachteile erfahren.<br />
Ein möglicherweise sehr spezieller direkter Vorteil polyandrischer<br />
Paarungen existiert bei einer Motte (Utetheisa ornatrix), bei der bei Kopulation<br />
von Männchen chemische Substanzen übertragen werden, die (5)<br />
den Schutz vor Raubfeinden verbessern (González et al. 1999). Schließlich<br />
ist es auch noch denkbar, dass (6) Kopulationen Bestandteil der Paarbildung<br />
sind und Weibchen einen neuen, besseren Partner finden können,<br />
wenn sie sich mehrfach verpaaren (Birkhead u. Pizzari 2002).
9.6 Polyandrie 371<br />
Indirekte Vorteile multipler Verpaarungen sind vor allem genetischer<br />
Art (Jennions u. Petrie 2000). Dabei ist zu unterscheiden zwischen Vorteilen,<br />
die auf intrinsischer Qualität von Männchen beruhen, und solchen,<br />
die aufgrund erhöhter Attraktivität der Söhne vorteilhaft sind (Tregenza u.<br />
Wedell 2000). Bei Arten, die mehr als ein Junges pro Fortpflanzungszyklus<br />
produzieren, kann durch Paarungen mit mehreren Männchen (1) die<br />
genetische Variabilität der Nachkommen erhöht werden. Dies ist langfristig<br />
von Vorteil, weil Weibchen dadurch bei sich verändernden Umweltbedingungen<br />
das geometrische Mittel ihrer Fitness erhöhen, indem sie<br />
ihr Risiko – d. h. schlecht angepasste Nachkommen – streuen (bethedging)<br />
(Fox u. Rauter 2003). So erhöhen weibliche Kängururatten (Dipodomys<br />
spectabilis) den durchschnittlichen Heterozygotiegrad ihrer Jungen<br />
durch Mehrfachverpaarungen (Waser u. De Woody 2006).<br />
Neben der genetischen Diversität des Nachwuchses kann auch (2)<br />
dessen Qualität durch Erhöhung der Kompatibilität zwischen Mutter und<br />
einem der zur Auswahl stehenden Väter verbessert werden. Wenn präkopulatorische<br />
Wahl schwierig oder Selektivität mit hohen Kosten verbunden<br />
ist, kann so nach multiplen Paarungen auf postkopulatorischer<br />
Ebene durch kryptische Mechanismen eine endgültige Wahl stattfinden<br />
(Zeh u. Zeh 2003). Bei Säugetieren gibt es Hinweise aus vergleichenden<br />
Untersuchungen, dass promiske Arten seltener frühe Verluste der sich<br />
entwickelnden Nachkommen erfahren; möglicherweise weil durch postkopulatorische<br />
Wahl Spermien gewählt werden, die eine möglichst gute<br />
genetische Komplementarität gewährleisten (Stockley 2003).<br />
Durch kryptische Weibchenwahl können auch (3) die Kosten von Inzucht<br />
vermieden werden, wenn Paarungen mit Verwandten aus bestimmten<br />
Gründen nicht verhindert werden können (Tregenza u. Wedell 2002).<br />
Durch Mehrfachverpaarungen lösen Weibchen außerdem Spermienkonkurrenz<br />
( Kap. 8.5) aus. Wenn die Vaterschaft alleine durch Spermienkonkurrenz<br />
entschieden wird, selektieren Weibchen dadurch Söhne<br />
mit erfolgreichen Spermien, so dass (4) polyandrische Weibchen mehr Enkel<br />
haben sollten als monandrische. Aus einem Paarungsexperiment mit<br />
Mehlkäfern (Tribolium castaneum) gibt es Hinweise auf einen solchen relativen<br />
Fitnessvorteil für Söhne aus multiplen Verpaarungen (Pai u. Yan<br />
2002). Außerdem können Weibchen in Arten, die anfällig für Infantizid<br />
sind, durch multiple Paarungen (5) die Vaterschaft verschleiern und damit<br />
das Infantizidrisiko verringern (Wolff u. Macdonald 2004); ein Vorteil, der<br />
bei Säugetieren weit verbreitet ist (z. B. Braunbären, Ursus arctos: Bellemain<br />
et al. 2006). Schließlich kann (6) die weibliche Fekundität durch<br />
Mehrfachverpaarungen auch ohne die Übertragung von Ressourcen positiv<br />
beeinflusst werden. Aus den Eiern von polyandrisch verpaarten Grillen<br />
(Allonemobius socius) schlüpften zum Beispiel doppelt so viele Nach-
372 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
kommen, die eine fast doppelt so hohe Überlebensrate hatten (Fedorka u.<br />
Mousseau 2002). Bei Breitfußbeutelmäusen (Antechinus stuartii) erhöht<br />
Polyandrie die Überlebensraten der Nachkommen (Box 9.6).<br />
Aufgrund der unterschiedlichen Baupläne und Life histories gibt es also<br />
unterschiedliche Erklärungen für weibliche Polyandrie in verschiedenen<br />
Taxa. Insekten schützen sich vor allem vor Fertilitätsverlusten, Vögel können<br />
innerhalb der Zwänge ihres Paarungssystems die genetische Qualität<br />
ihrer Nachkommen verbessern und Säugetiere verringern dadurch das Infantizidrisiko.<br />
Polyandrie liefert also ein weiteres Beispiel dafür, dass es in<br />
Box 9.6<br />
Konsequenzen der Polyandrie<br />
• Frage: Hat Polyandrie einen Effekt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
der Nachkommen?<br />
• Hintergrund: Positive Effekte der Polyandrie auf Juvenilsterblichkeit<br />
wurden bislang nur in Laborexperimenten gezeigt. Breitfußbeutelmäuse<br />
(Antechinus stuartii) sind semelpar: Die gesamte weibliche Fitness hängt<br />
also vom Schicksal eines Wurf ab.<br />
• Methode: Wildgefangene Weibchen wurden im Labor mit einem oder<br />
drei Männchen verpaart. Die Jungen wurden in einem Jahr im Labor<br />
aufgezogen und wuchsen im folgenden Jahr nach demselben Verpaarungsexeriment<br />
in freier Wildbahn auf.<br />
% Überlebensrate der Jungtiere<br />
1.0<br />
0.8<br />
0.6<br />
0.4<br />
0.2<br />
0<br />
wild (2003) gefangen (2004)<br />
Platzhalter<br />
• Ergebnis: Überlebensraten der Jungtiere waren in Gefangenschaft höher,<br />
aber unter beiden Bedingungen hatten Junge von polyandrisch verpaarten<br />
Weibchen höhere Überlebensraten.<br />
• Schlussfolgerung: Polyandrie erhöht auch in freier Wildbahn die weibliche<br />
Fitness. Mütterliche Kondition kann aufgrund von Semelparie als<br />
Ursache ausgeschlossen werden.<br />
Fisher et al. 2006
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen 373<br />
verschiedenen Taxa durchaus unterschiedliche Erklärungen für dasselbe<br />
Phänomen geben kann, dass außerdem dasselbe Verhalten für eine Art<br />
mehrere Vorteile mit sich bringen kann (East et al. 2003) und dass das<br />
Verhalten funktionell stark mit Aspekten der Life history verschränkt ist<br />
( Kap. 2).<br />
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen<br />
Entsprechend den traditionellen Geschlechterrollen sind Weibchen in den<br />
meisten Arten das vorwiegend wählerische Geschlecht ( Kap. 7.3).<br />
Genauso wie Männchen aber auch wählerisch sein können ( Kap. 8.8),<br />
beeinflussen Weibchen durch Konkurrenz untereinander ihren Fortpflanzungserfolg<br />
(Clutton-Brock et al. 2006). Da der weibliche Fortpflanzungserfolg<br />
stark vom Zugang zu Ressourcen abhängt, ist Konkurrenz zwischen<br />
Weibchen vor allem dann zu erwarten, wenn limitierende Ressourcen wie<br />
Nahrung knapp sind ( Kap. 5.4). Spezifischere Konkurrenz um den Zugang<br />
zu Männchen ist dann zu erwarten, wenn das operationale Geschlechterverhältnis<br />
stark zu Gunsten der Weibchen verschoben ist oder wenn es<br />
große Variabilität in der Qualität der Männchen gibt. Außerdem können<br />
Weibchen durch Konkurrenz ein Männchen für sich monopolisieren; ein<br />
Aspekt, der wichtig ist, wenn die Mithilfe des Männchens zur erfolgreichen<br />
Jungenaufzucht notwendig ist. Schließlich gibt es Arten, bei denen<br />
Weibchen untereinander um die Monopolisierung der Fortpflanzung konkurrieren.<br />
Diese Konkurrenz kann so weit gehen, dass die gesamte Fortpflanzung<br />
auf ein Weibchen beschränkt ist und alle anderen Weibchen steril<br />
sind.<br />
9.7.1 Reproductive skew<br />
In Gruppen lebende Arten unterscheiden sich in auffälliger Weise darin,<br />
über wie viele Weibchen die Fortpflanzung innerhalb der Gruppe verteilt<br />
ist. Diese kontinuierliche Spannbreite von Situationen, in denen die Fortpflanzung<br />
in einem Extremfall von einem dominanten Weibchen monopolisiert<br />
wird und im anderen Extremfall sich alle Weibchen gleichermaßen<br />
erfolgreich fortpflanzen, wird als reproduktive Ungleichverteilung<br />
(reproductive skew) bezeichnet (Vehrencamp 1983, Kap. 8.4). Immer<br />
dann, wenn mindestens ein Weibchen nicht am Reproduktionserfolg einer<br />
Gruppe partizipiert, könnte dies auf Konkurrenz zwischen den Weibchen<br />
zurückzuführen sein. Allerdings ist es auch denkbar, dass der Verzicht auf<br />
eigene Reproduktion unter bestimmten Bedingungen adaptiv sein kann.
374 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Die Voraussetzungen für solchen Verzicht finden sich unter anderem bei<br />
eusozialen Arten mit reproduktiver Arbeitsteilung sowie bei kooperativen<br />
Brütern (Keller u. Reeve 1994, Kap. 10.4); die Voraussetzungen für<br />
Konkurrenz sind dagegen praktisch immer gegeben. Ob Konkurrenz oder<br />
Verzicht letztendlich für ein bestimmtes Maß an reproduktiver Ungleichverteilung<br />
verantwortlich sind, wird von verschiedenen theoretischen Ansätzen<br />
unterschiedlich gewichtet (Johnstone 2000).<br />
Es gibt zwei Hauptklassen von Modellen, die erklären, wie Reproduktion<br />
innerhalb von Gruppen zwischen Dominanten und Subordinaten aufgeteilt<br />
wird. Transaktions-Modelle (transactional models) gehen generell<br />
davon aus, dass Gruppenmitglieder einander „Reproduktionsrechte“ für<br />
spezifische Zusagen abtreten. Innerhalb der Transaktions-Modelle werden<br />
zwei weitere Gruppen unterschieden. Konzessions-Modelle (concession<br />
models) gehen davon aus, dass dominante Individuen die Fortpflanzung<br />
von Subordinaten komplett kontrollieren können, ihnen aber aus verschiedenen<br />
Gründen limitierte eigene Fortpflanzung zugestehen (Keller u. Reeve<br />
1994). Das Ziel dieser Modelle besteht also darin, vorherzusagen, unter<br />
welchen Bedingungen Dominante den Subordinaten gerade so viel eigene<br />
Fortpflanzung zugestehen sollen, dass diese in der Gruppe bleiben und<br />
friedlich kooperieren. Zurückhaltungs-Modelle (restraint models) beschreiben<br />
Situationen, in denen die Dominanten zwar die Gruppenzugehörigkeit,<br />
die Subordinate(n) aber die Verteilung der Fortpflanzung kontrollieren<br />
(Johnstone u. Cant 2000). In diesem Fall nehmen Subordinierte<br />
gerade so viel der gesamten Fortpflanzung in Anspruch, dass sie von den<br />
Dominanten nicht aus der Gruppe verjagt werden; d. h. die Subordinate(n)<br />
müssen sich zurückhalten, nicht noch eigensüchtiger zu sein.<br />
Die zweite große Klasse von Modellen sind die Seilzieh-Modelle (tugof-war<br />
models). In diesem Fall haben sowohl Dominante als auch Subordinate<br />
nur limitierte Kontrolle über die Verteilung der Fortpflanzung<br />
(Reeve et al. 1998). Dafür, dass Dominante nur begrenzt Kontrolle über<br />
Subordinate ausüben und diese teilweise selbst über ihre Fortpflanzung<br />
entscheiden, gibt es zahlreiche Beispiele (Clutton-Brock 1998). Inzwischen<br />
gibt es Bestrebungen, beide großen Klassen von Modellen zu vereinigen<br />
(Reeve u. Shen 2006).<br />
Im Wesentlichen werden die Macht- und Konkurrenzverhältnisse zwischen<br />
dominanten und subordinaten Weibchen durch zwei Faktoren nachhaltig<br />
beeinflusst: Umweltfaktoren, die eigenständige Fortpflanzung mehr<br />
oder weniger erschweren, sowie der Verwandtschaftsgrad zwischen den<br />
Weibchen einer Gruppe. Die Bedeutung dieser Faktoren ist aus Sicht eines<br />
geschlechtsreif gewordenen Weibchens deutlich; für dieses Weibchen<br />
stellt sich nämlich die Frage, ob es seine Geburtsgruppe verlassen und mit<br />
der eigenen Fortpflanzung beginnen soll. Wenn dafür geeignete Ressour-
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen 375<br />
cen (z. B. Territorien) und Partner außerhalb der Geburtsgruppe zur Verfügung<br />
stehen, sollte es abwandern. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es die<br />
Option, in der Geburtsgruppe zu bleiben, den Eltern bei der Aufzucht weiterer<br />
Geschwister zu helfen und so lange auf eigene Fortpflanzung zu verzichten,<br />
bis sich innerhalb oder außerhalb der Gruppe Fortpflanzungsgelegenheiten<br />
ergeben (social queuing; Kokko u. Johnstone 1999). Die<br />
Entscheidung, zu bleiben und auf eigene Fortpflanzung zu verzichten, wird<br />
von Selektion deshalb positiv bewertet, weil Weibchen, die ihren Eltern<br />
oder anderen Verwandten bei der Jungenaufzucht helfen, ihre indirekte<br />
Fitness verbessern, da sie mit den Jungtieren abstammungsidentische Allele<br />
teilen (Reeve u. Keller 1996).<br />
In dieser Situation kann es nun zu interessanten Konflikten zwischen<br />
Dominanten und Subordinaten kommen. Wenn für die Subordinaten<br />
keine Option für eigene Fortpflanzung absehbar ist, könnten sie entscheiden,<br />
mit Dominanten um die Kontrolle, also um „alles-oder-nichts“, zu<br />
kämpfen. Da solche Kämpfe für beide riskant sind, sollten Dominante unter<br />
diesen Bedingungen nach den Konzessions-Modellen „Friedensanreize“<br />
(peace incentives) in Form von Reproduktionsanteilen anbieten.<br />
Ähnliches ist zu erwarten, wenn Dominante aus der Präsenz der Subordinaten<br />
einen Vorteil beziehen, z. B. in der Konkurrenz zwischen Gruppen<br />
oder bei der Prädationsvermeidung. In diesem Fall sollten Dominante<br />
ein „Bleibeangebot“ (staying incentive) machen und einen Teil ihres Reproduktionsmonopols<br />
abgeben. Es stellt sich daher letztendlich die Frage<br />
nach der relativen Machtverteilung zwischen Weibchen: wie sehr können<br />
Dominante mit Vertreibung und wie sehr können Subordinate mit Abwanderung<br />
drohen (Johnstone u. Cant 1999)?<br />
Die Intensität der Konkurrenz zwischen Weibchen sowie die daraus<br />
resultierende optimale reproduktive Ungleichverteilung hängen also von<br />
der Interaktion mehrerer Faktoren ab. Die ökologischen oder sozialen<br />
Zwänge, die selbständige Fortpflanzung von Subordinaten erschweren,<br />
können (1) als der erwartete Erfolg unabhängiger Fortpflanzung ausgedrückt<br />
werden. Je geringer der zu erwartende Erfolg ist, desto höher fällt<br />
die Machtasymmetrie zu Gunsten der Dominanten aus und desto geringer<br />
sind die staying incentives. Die Machtverhältnisse hängen (2) auch vom<br />
Verwandtschaftsgrad zwischen den Weibchen ab. Wenn die Subordinate<br />
nicht mit der Dominanten verwandt ist, müssen größere staying incentives<br />
ihre Bleibe-Kosten kompensieren bzw. nahe Verwandte benötigen geringere<br />
staying incentives, da sie über Verwandtenselektion automatisch größere<br />
indirekte Vorteile des Helfens beziehen ( Kap. 10.4). Schließlich ist (3)<br />
die Machtasymmetrie zwischen Weibchen entscheidend, also die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass eine Subordinate einen letalen Kampf unbeschädigt zu<br />
ihren Gunsten entscheiden kann. Mit zunehmender Stärke der Subordina-
376 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
ten sollten demnach die peace incentives der Dominanten, aber auch das<br />
Risiko eskalierender Kämpfe, größer werden (Box 9.7).<br />
Die Entwicklung von Modellen zur Erklärung von Variabilität im reproductive<br />
skew hat in den letzten 10 Jahren in einem Maße zugenommen,<br />
dass es für viele Modelle noch keine empirischen Überprüfungen gibt. Die<br />
Mehrzahl empirischer Untersuchungen der Ursachen und Konsequenzen<br />
von reproduktiver Ungleichverteilung hat sich bislang mit Weibchen und<br />
Box 9.7<br />
Eskalierende Konflikte zwischen Wespenköniginnen<br />
• Frage: Wann sollten subordinate Weibchen in Konflikte mit Dominanten<br />
investieren?<br />
• Hintergrund: Bei der Konkurrenz zwischen Weibchen sollten Subordinate<br />
umso eher in Kämpfe mit der Dominanten eskalieren, je mehr sie unterdrückt<br />
sind, je weniger sie sich in der Stärke unterscheiden und je geringer<br />
der Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen ist. Die Nester von Gallischen<br />
Feldwespen (Polistes dominulus) enthalten ein dominantes und bis zu zehn<br />
subordinate Weibchen.<br />
• Methode: Von 28 Nestern wurden die jeweils dominanten Weibchen für<br />
mehrere Tage entfernt und in einem Kühlschrank verwahrt. Nachdem sie<br />
an ihrem Nest wieder frei gelassen wurden, wurden alle aggressiven Interaktionen<br />
mit der neuen Dominanten beobachtet.<br />
• Ergebnis: In 27 Fällen (•) gewannen die ursprünglichen Dominanten den<br />
Kampf. Je länger sie entfernt waren, desto länger dauerten die Kämpfe.<br />
• Schlussfolgerung: Kämpfe eskalierten umso mehr, je länger die beiden<br />
Kontrahentinnen getrennt waren, vermutlich weil die Kondition der ursprünglich<br />
Dominanten mit zunehmender Zeit (im Kühlschrank) schlechter<br />
wurde. Das Kräfteverhältnis zwischen den Weibchen beeinflusst also<br />
deren Machtasymmetrie.<br />
Cant et al. 2006
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen 377<br />
dort vor allem mit sozialen Insekten beschäftigt, da die Bildung von sterilen<br />
Kasten mit extrem hohem reproductive skew gleichgesetzt werden<br />
kann (Reeve u. Keller 2001). Außerdem können bei Arten mit mehreren<br />
Königinnen Vorhersagen der verschiedenen Modelle besonders gut überprüft<br />
werden (Heinze u. Keller 2000). Bei Vögeln und einigen Säugetieren<br />
liefern Arten mit „Helfern-am-Nest“ eine Möglichkeit, den altruistischen<br />
Verzicht auf die eigene Fortpflanzung zu untersuchen (Clutton-Brock<br />
2002).<br />
Die Mechanismen der reproduktiven Konkurrenz sind nach den vorliegenden<br />
Untersuchungen nicht einheitlich. Theoretisch ist es denkbar,<br />
dass die reproduktive Unterdrückung der Subordinaten in den Händen der<br />
Dominanten liegt oder dass Subordinate aus eigenem Interesse auf Fortpflanzung<br />
verzichten. Bei Damaraland-Graumullen (Cryptomys damarensis)<br />
sind subordinate Weibchen in ihrer Fortpflanzungsaktivität physiologisch<br />
unterdrückt. Allerdings sind dafür weder Anwesenheit, Pheromone<br />
noch Aggression von Dominanten notwendig (Clarke et al. 2001). Vielmehr<br />
scheinen die Subordinaten sich selbst zurückzuhalten, vermutlich<br />
weil die meiste Zeit nur Verwandte als potentielle Partner zur Verfügung<br />
stehen ( Kap. 9.2). In der Mehrzahl der Arten untermauern Dominante<br />
ihre Position aber dadurch, dass sie vor allem über Pheromone die Fortpflanzungsaktivität<br />
von Subordinaten beeinträchtigen. Bei vielen Krallenaffenarten<br />
(Callitrichidae) unterdrückt das dominante Weibchen so die<br />
Ovulation von subordinaten Weibchen mit Hilfe von im Urin enthaltenen<br />
Pheromonen (Saltzman et al. 1996; Abb. 9.16). Bei Erdmännchen (Suricata<br />
suricatta) vertreibt das dominante Weibchen während der Trächtigkeit<br />
andere adulte Weibchen temporär aus der Gruppe. Die Ausgestoßenen<br />
leiden unter erhöhten Stresshormonwerten (Glukokortikoide) und physiologischer<br />
Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfunktionen (Young et al.<br />
Abb. 9.16. Bei den meisten<br />
südamerikanischen Krallenaffen<br />
(hier Braunrückentamarin,<br />
Saguinus fuscicollis,<br />
mit einem Jungtier<br />
auf dem Rücken) unterdrückt<br />
das dominante<br />
Weibchen die Fortpflanzung<br />
der anderen Weibchen in der<br />
Gruppe
378 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
2006). Solche Stresseffekte können durch Umweltfaktoren noch verstärkt<br />
werden (Rubenstein 2007).<br />
Schließlich kann es auch zu Infantizid zwischen Weibchen kommen.<br />
Bei Haussperlingen (Passer domesticus) werfen Weibchen, die ein Weibchen<br />
eines Paares ersetzen, die Jungen der Vorgängerin regelmäßig aus<br />
dem Nest (Veiga 2004). Bei Streifenmungos (Mungos mungo), einer Art<br />
mit kooperativer Jungenaufzucht, bei der die Fortpflanzung nicht komplett<br />
durch ein dominantes Weibchen monopolisiert wird, kommt es trotzdem<br />
regelmäßig zu Vertreibungen, induzierten Aborten und Infantizid durch<br />
Weibchen (Gilchrist 2006).<br />
9.7.2 Weibliche Ornamente<br />
Bei Männchen sind zahlreiche extravagante Ornamente entstanden, mit<br />
denen sie Rivalen und potentielle Partnerinnen gleichermaßen beeindrucken<br />
( Kap. 8.3). Es gibt auch zahlreiche Beispiele für Arten, in denen<br />
die Weibchen genauso auffällig oder noch stärker ornamentiert sind<br />
als Männchen. Bei Tukans, Papageien und Kolibris sind beide Geschlechter<br />
beispielsweise mit einem farbenprächtigen Gefieder ausgestattet, bei<br />
Antilopen und vielen anderen Ungulaten besitzen beide Geschlechter Hörner,<br />
und bei zahlreichen Fischen und Wirbellosen sind Weibchen genauso<br />
auffällig gefärbt wie die Männchen (Amundsen 2000).<br />
Da weibliche Ornamente vor allem in Arten auftreten, in denen die<br />
Männchen auch ornamentiert sind, wurde lange Zeit angenommen, dass sie<br />
ein funktionsloses Korrelat der genetischen Korrelation zwischen den Geschlechtern<br />
darstellen, welches nur durch starke Gegenselektion (z. B. für<br />
Krypsis) unterdrückt werden kann (Lande 1980). Da Ornamente aber in<br />
der Produktion und im Unterhalt mit Kosten verbunden sind, ist davon<br />
auszugehen, dass es gerade aufgrund der genetischen Korrelation zwischen<br />
den Geschlechtern Selektionsvorteile für die Expression dieser Merkmale<br />
geben muss. Dass genetische Korrelationen zwischen den Geschlechtern<br />
keinen Zwang für die Beibehaltung eines nachteiligen Merkmals darstellen,<br />
hat eine vergleichende Studie an Singvögeln gezeigt, bei denen es<br />
mehr als 150-mal zu evolutionären Übergängen zwischen Dimorphismus<br />
und Monomorphismus gekommen ist (Price u. Birch 1996).<br />
Manche weiblichen Ornamente werden bei der Konkurrenz zwischen<br />
Weibchen eingesetzt. Bei Vögeln gibt es beispielsweise in manchen Taxa<br />
einen Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von auffälligem Gefieder<br />
in beiden Geschlechtern und aggressiven Zurschaustellungen (displays),<br />
mit denen Nahrungsterritorien verteidigt werden (West-Eberhard<br />
1983). Innerhalb von Arten können unterschiedlich ausgeprägte weibliche
9.7 Konkurrenz zwischen Weibchen 379<br />
Ornamente Unterschiede im Dominanzstatus reflektieren und so als Statussignale<br />
fungieren. Bei Gallischen Feldwespen (Polistes dominulus) befindet<br />
sich beispielsweise am Kopfschild ein hochvariables Muster von<br />
Flecken, deren Gesamtfläche positiv mit dem Dominanzrang korreliert<br />
(Tibbetts u. Dale 2004). Bei einer Cichlidenart (Neochromis omnicaeruleus)<br />
gibt es drei weibliche Farbmorphen, die durch Konkurrenz zwischen<br />
gleichartigen Weibchen aufrechterhalten werden (Dijkstra et al. 2008).<br />
Neben Ressourcen und Dominanz konkurrieren Weibchen auch direkt<br />
um Männchen. Ein dabei weit verbreiteter Mechanismus besteht im gegenseitigen<br />
Stören und Unterbrechen von Kopulationen. Direkte Konkurrenz<br />
um Männchen ist vor allem dann zu erwarten, wenn Männchen einen<br />
wichtigen Beitrag zur Jungenaufzucht leisten. Bei Arten mit flexiblem Paarungssystem<br />
wie z. B. Heckenbraunellen (Prunella vulgaris) kann es dazu<br />
kommen, dass Weibchen versuchen, ein zweites Männchen zur Mitarbeit<br />
an einem Gelege zu bewegen, so dass es dadurch zu Konkurrenz zwischen<br />
Weibchen um Zweit-Männchen kommt (Davies et al. 1996). Wenn die<br />
Jungenfürsorge ganz oder großteils von Männchen geleistet wird, limitieren<br />
sie die potentielle Fortpflanzungsrate der Weibchen. In diesem Fall<br />
kommt es zu einer Umkehrung der typischen Geschlechterrollen (sex role<br />
reversal). Bei Seenadeln (Syngnathidae: Jones et al. 2001), Seepferdchen<br />
(Hippocampus spp.: Wilson et al. 2003) und einigen Strandläufern (Calidris<br />
spp.: Owens 2002) kommt es dabei regelmäßig zu direkter Konkurrenz<br />
zwischen Weibchen um Zugang zu Männchen.<br />
Andere weibliche Ornamente haben eine Funktion in der Partnerwahl<br />
durch Männchen. Die Partnerwahl kann dabei weitgehend einseitig verlaufen,<br />
wie bei Arten mit vertauschten Geschlechterrollen, oder es findet eine<br />
gegenseitige Wahl statt. Bei Arten mit unbegrenztem Wachstum (Wirbellose,<br />
Fische, Amphibien, Reptilien), bei denen die weibliche Fekundität<br />
Abb. 9.17. Den Sexualschwellungen<br />
von Pavianen<br />
(Papio ursinus) und anderen<br />
Altweltprimaten wird eine<br />
Funktion als sexuell selektiertes<br />
Ornament zugeschrieben<br />
(links weiblicher Pavian<br />
mit Sexualschwellung, rechts<br />
männliches Tier)
380 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
stark zwischen Individuen variiert, und bei Arten, bei denen beide Eltern in<br />
die Jungenaufzucht investieren, sollten Männchen wählerisch sein und<br />
Weibchen ihre Qualitätsunterschiede dementsprechend signalisieren<br />
(Cunningham u. Birkhead 1998). Bei Vögeln gibt es einige Hinweise dafür,<br />
dass Männchen Weibchen mit experimentell vergrößertem Ornament<br />
(Jones u. Hunter 1999) oder mit einem auffälligeren natürlichen Ornament<br />
attraktiver finden (Amundsen et al. 1997). Ob Ornamente bei Weibchen<br />
konditionsabhängig variieren, ist noch kaum untersucht. Eine solche Funktion<br />
wurde beispielsweise den auffälligen Sexualschwellungen von Pavianen<br />
zugesprochen (Domb u. Pagel 2001; Abb. 9.17). Bei Arten mit vertauschten<br />
Geschlechterrollen sind es häufig die Weibchen, die stärker<br />
ornamentiert sind. Bei ihnen ist die Bedeutung der Ornamente bei der Partnerwahl<br />
auch schon in einzelnen Fällen nachgewiesen (Amundsen u.<br />
Forsgren 2001).<br />
9.8 Sexueller Konflikt<br />
Die genetischen Interessen von Männchen und Weibchen sind in den seltensten<br />
Fällen kongruent. Anisogamie und ihre Folgen führen dazu, dass es<br />
aufgrund von geschlechtsspezifischen Anpassungen zur individuellen<br />
Maximierung des Fortpflanzungserfolgs zu einem evolutionären Konflikt<br />
zwischen den Geschlechtern kommt. Immer wenn Anpassungen eines Geschlechts<br />
die Fitness der Mitglieder des anderen Geschlechts beeinträchtigen,<br />
sollte dies zu Gegenanpassung im betroffenen Geschlecht führen.<br />
Wenn diese Gegenanpassungen erfolgreich sind, leitet dies ein evolutionäres<br />
Wettrennen zwischen den Geschlechtern ein (Parker 1979). Dieser<br />
Konflikt ist immer dann zu erwarten, wenn die Geschlechter sich nicht in<br />
lebenslanger Monogamie fortpflanzen, wenn sie sich genetisch unterscheiden<br />
und wenn diese Unterschiede zu verschiedenen optimalen Ausgängen<br />
führen. Da andererseits die Fitness von Männchen und Weibchen nicht unabhängig<br />
voneinander evoluiert (Arnqvist 2004), schaden sich beide Geschlechter<br />
jeweils auch indirekt selbst, wenn sie ihre Fitness auf Kosten<br />
des jeweils anderen erhöhen. Vor diesem Hintergrund gibt es eine Reihe<br />
von Mechanismen, mit denen beide Geschlechter diesen Konflikt austragen,<br />
die zum Teil weitreichende Konsequenzen für Verhalten, Morphologie<br />
und Physiologie bis hin zur Artbildung haben (Chapman et al. 2003).
9.8 Sexueller Konflikt 381<br />
9.8.1 Theorie sexueller Konflikte<br />
Wie kann Selektion Merkmale fördern, mit denen Männchen die Fitness<br />
ihrer Partnerinnen reduzieren? Eigentlich sollte sich die Fitness eines<br />
Männchens eher verringern als erhöhen, wenn seine Partnerin reduzierte<br />
Überlebenswahrscheinlichkeit und Fekundität aufweist. Die Antwort auf<br />
diese Frage hängt vom Paarungssystem ab (Abb. 9.18). Wenn sich Männchen<br />
und Weibchen zu lebenslanger Monogamie zusammenschließen, gibt<br />
es eine perfekte positive Korrelation zwischen ihrer Fitness und damit kein<br />
Potential für einen evolutionären Konflikt zwischen ihnen. Jede Abweichung<br />
von lebenslanger Monogamie reduziert aber die Korrelation der Gesamtfitness<br />
der beiden Geschlechter und vergrößert das Potential für<br />
sexuelle Konflikte (Rice 2000).<br />
Bei vielen Arten verpaaren sich Männchen und Weibchen mit mehreren<br />
Partnern, Männchen leisten keine väterliche Fürsorge in ihren Nachwuchs,<br />
die Geschlechter bleiben nur für kurze Zeit um die Kopulation herum zusammen<br />
und Weibchen können Spermien für bestimmte Zeit speichern. In<br />
dieser Situation wird die Fitness eines Männchens durch die Zahl der<br />
Weibchen, mit denen es sich verpaart, sowie der Zahl der Jungen pro<br />
Weibchen, die von ihm gezeugt werden, bestimmt. Aus männlicher Sicht<br />
sind polyandrische Verpaarungen von Weibchen daher die Wurzel allen<br />
Übels. Sobald sich ein Weibchen mit einem zweiten Männchen paart,<br />
kommt es zu Spermienkonkurrenz, und das erste Männchen verliert einen<br />
Abb. 9.18. Fitnesskorrelationen zwischen den Geschlechtern. Bei lebenslanger<br />
Monogamie (gelb) sind männliche und weibliche Fitness eng positiv korreliert.<br />
Bei milder (grün) und starker (rot) Polygynie nimmt diese Korrelation ab und das<br />
Potential für intersexuellen Konflikt zu
382 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Teil der Vaterschaft. Mit jedem weiteren verpaarten Konkurrenten verringert<br />
sich die Vaterschaftswahrscheinlichkeit weiter. Selektion wird daher<br />
Merkmale der Männchen belohnen, die dazu führen, dass sich Weibchen<br />
gar nicht mehr, seltener oder erst später mit anderen verpaaren. Eine<br />
Art, dies zu erreichen, besteht darin, die Paarungen selbst mit Kosten für<br />
die Weibchen zu belegen. Merkmale der Männchen, welche die Fitness der<br />
Weibchen reduzieren, sind dabei im Lauf der Evolution entstanden, obwohl<br />
sie Weibchen schädigen, nicht weil sie es tun (Morrow et al. 2003).<br />
Weibchen werden dagegen von Selektion dafür belohnt, ihre lebenslange<br />
und nicht ihre kurzfristige Fekundität zu maximieren. Außerdem haben<br />
sie eine optimale Wiederverpaarungsrate, die größer als 0 ist. Diese<br />
Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der optimalen Fekundität und<br />
Wiederverpaarungsrate liefern daher die Grundlage für die evolutionäre<br />
antagonistische Koevolution zwischen den Geschlechtern.<br />
Es werden zwei Formen des sexuellen Konflikts unterschieden. Ein<br />
Intralokus-Konflikt existiert immer dann, wenn die Variation der Allele<br />
an einem Genort ein Merkmal in beiden Geschlechtern beeinflusst und<br />
beide Geschlechter unterschiedliche Fitnessoptima für diese Allele besitzen.<br />
Dadurch, dass es an diesem Lokus eine genetische Korrelation<br />
zwischen den Geschlechtern gibt und Männchen und Weibchen antagonistische<br />
Interessen verfolgen, behindern sich die Geschlechter gezwungenermaßen<br />
gegenseitig in der optimalen Ausprägung des betroffenen<br />
Merkmals. Bei der Taufliege Drosophila melanogaster wurde beispielsweise<br />
gezeigt, dass es eine starke positive genetische Korrelation zwischen<br />
männlicher und weiblicher Fitness im Larvenstadium (solange ihre Interessen<br />
noch übereinstimmen) gibt, wohingegen die Korrelation für geschlechtsreife<br />
Individuen (wenn Männchen und Weibchen unterschiedliche<br />
Interessen haben) stark negativ ist (Chippindale et al. 2001). Es gibt also<br />
erhebliche antagonistische Variation in der Fitness der Adulten, wobei Gene,<br />
die für Weibchen vorteilhaft sind, für Männchen nachteilig sind und<br />
umgekehrt. Ein ähnlicher Effekt wurde bei Rothirschen (Cervus elaphus)<br />
dokumentiert, wo Bullen mit relativ hoher Fitness im Durchschnitt Töchter<br />
mit relativ geringer Fitness zeugen (Foerster et al. 2007).<br />
Ein Interlokus-Konflikt liegt dagegen immer dann vor, wenn es einen<br />
Konflikt über den Ausgang von Interaktionen zwischen den Geschlechtern<br />
gibt. Obwohl der Konflikt zwischen den Geschlechtern ausgetragen wird,<br />
sind verschiedene Genloci die eigentlichen genetischen Einheiten, die antagonistisch<br />
koevoluieren und dem Phänomen den Namen geben. Dabei<br />
kann grundsätzlich zwischen einem Paarungs- und einem Befruchtungskonflikt<br />
unterschieden werden. Ein weiterer Konflikt kann sich über das<br />
Ausmaß des elterlichen Investments in die Jungen ( Kap. 10.3) ergeben.<br />
Der Paarungskonflikt findet vor allem präkopulatorisch statt, wohingegen
9.8 Sexueller Konflikt 383<br />
der Konflikt über die anstehende Fertilisation postkopulatorisch ausgetragen<br />
wird.<br />
Die Fitnessinteressen eines Männchens werden am besten dadurch bedient,<br />
dass es 100% der Eier aller Weibchen, denen es begegnet, befruchtet.<br />
Jedes Merkmal eines Weibchens, das zu einer Präferenz für ein bestimmtes<br />
Männchen auf Kosten eines anderen führt, löst einen sexuellen<br />
Konflikt mit dem abgelehnten Männchen aus. D. h. Partnerwahl durch die<br />
Weibchen verursacht sexuellen Konflikt, aber sexueller Konflikt kann<br />
auch zur Evolution von Partnerwahlmechanismen führen, durch die direkte,<br />
von den Männchen verursachte Kosten durch entsprechende Partnerwahl<br />
der Weibchen reduziert werden (Gavrilets et al. 2001). Dieser zweite<br />
Prozess berücksichtigt auch Aspekte des Konflikts, die mit natürlicher Selektion<br />
verknüpft sind, wie z. B. Kosten durch erhöhte Mortalität oder reduzierte<br />
Fekundität, die sich als Konsequenz der Einflüsse bestimmter<br />
männlicher Merkmale ergeben (siehe unten). Deshalb ist zu erwarten, dass<br />
Selektion Mechanismen fördert, mit denen Weibchen diese schädlichen<br />
Einflüsse reduzieren können; es gibt also Selektion für weiblichen Widerstand,<br />
der sich in Form von Partnerpräferenzen äußern kann. In diesem<br />
Fall werden wiederum Männchen erfolgreich sein, die diesen Widerstand<br />
überwinden können. Es kommt also zu einem evolutionären Zyklus von<br />
Resistenz und Überwindung derselben, der als Chase-away-Selektion bezeichnet<br />
wird (Holland u. Rice 1998).<br />
Diese Form der antagonistischen Koevolution zwischen den Geschlechtern<br />
kann besonders anschaulich verdeutlicht werden, wenn Partnerpräferenzen<br />
auf der proximaten Ebene über Ornamente und sensorische<br />
Empfindlichkeiten geregelt werden. Wenn demnach Weibchen aufgrund<br />
einer sensorischen Präferenz Männchen mit einem bestimmten Ornament<br />
bevorzugen, steigt deren Attraktivität. Wenn diese Männchen aber Weibchen<br />
zu suboptimalem Paarungsverhalten verleiten, sie sich also z. B. zu<br />
selten oder zu lange verpaaren, entwickeln die Weibchen Resistenzen (im<br />
Gegensatz zu Präferenzen!) gegenüber Männchen mit diesem Ornament.<br />
Die Männchen werden nun darauf selektiert, diesen erhöhten Widerstand<br />
zu überwinden, indem sie intensivere, aufwändigere Ornamente entwickeln,<br />
welche die sensorische Empfindlichkeit der Weibchen (trotzdem)<br />
ansprechen (Holland u. Rice 1998).<br />
Dieses Wettrüsten führt dazu, dass die Männchen immer extremere<br />
Ornamente entwickeln, bis deren Kosten natürliche Selektion dazu bringen,<br />
den Wettlauf anzuhalten. Am Ende haben Männchen dann möglicherweise<br />
übertriebene Ornamente, welche die Weibchen aber nicht mehr<br />
ausreichend stimulieren; Weibchen sollten diese Art von Wettrennen also<br />
gewinnen. Dieses evolutionäre Wettrennen zwischen den Geschlechtern<br />
wird aber dadurch kompliziert, dass Weibchen durch besonders attraktive
384 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
Männchen zwar hohe Kosten der Paarung in Kauf nehmen müssen,<br />
andererseits aber auch besonders attraktive Söhne produzieren (Cordero u.<br />
Eberhard 2003). Wie sich diese Interlokus-Konflikte in das traditionelle<br />
Theoriengebäude der sexuellen Selektion einfügen, ist in mancherlei Hinsicht<br />
aber noch unklar (Zeh u. Zeh 2003).<br />
9.8.2 Beispiele für sexuellen Konflikt<br />
Dass Interlokus-Konflikte zwischen den Geschlechtern in der postulierten<br />
Art und Weise auftreten, wurde von Bill Rice (1996) mit einem genialen<br />
Experiment nachgewiesen. Er unterbrach die Koevolution zwischen den<br />
Geschlechtern, indem er mit Hilfe genetischer Werkzeuge und entsprechenden<br />
Paarungs-Regimes Drosophila-Populationen kreierte, in denen<br />
Männchen sich an die Weibchen anpassen konnten, die Weibchen aber<br />
nicht mit den Männchen koevoluieren konnten. Nach nur 30 Generationen<br />
hatten die Männchen in diesem Wettrennen einen Vorsprung, der ihre Fitness<br />
um 25% erhöhte. Diese Verbesserung der Männchen ging mit einer<br />
deutlichen Reduktion der Überlebensrate der Weibchen einher. Die Überlebensrate<br />
der Weibchen wurde dadurch verringert, dass Männchen sich<br />
immer häufiger wiederverpaaren konnten und dadurch mehr schädliche<br />
Samenflüssigkeit übertragen konnten.<br />
Durch experimentell erzwungene Monogamie von natürlicherweise<br />
promisken D. melanogaster konnte in einem weiteren Experiment gezeigt<br />
werden, dass antagonistische Koevolution zwischen den Geschlechtern<br />
umgekehrt und durch mutualistische Koevolution ersetzt wird. Indem Taufliegen<br />
in zufällig zusammengesetzten Paaren über viele Generationen gezüchtet<br />
wurden, waren Partnerwahl, Männchenkonkurrenz, Spermienkonkurrenz<br />
und kryptische Weibchenwahl eliminiert. Die so gezüchteten<br />
Männchen waren am Ende des Experiments weniger schädlich gegenüber<br />
ihren Weibchen (Holland u. Rice 1999), investierten weniger in Spermienkonkurrenz,<br />
und ihre Weibchen hatten höhere Fortpflanzungsraten und<br />
mehr überlebende Junge (Pitnick et al. 2001). Merkmale, welche die Konkurrenzfähigkeit<br />
zwischen Männchen unter normalen Bedingungen erhöhen,<br />
reduzieren also den reproduktiven Output der Weibchen.<br />
Männchen können das Verhalten der Weibchen in der für sie vorteilhaften<br />
Weise auf mehrere Arten beeinflussen (Johnstone u. Keller 2000). Wie<br />
schon erwähnt, enthält die Samenflüssigkeit bei Drosophila toxische Substanzen,<br />
die dazu führen, dass Weibchen, die sich häufiger verpaaren, früher<br />
sterben (Chapman et al. 1995). Proteine der akzessorischen Drüsen, die<br />
in der Samenflüssigkeit enthalten sind, haben eine Vielzahl anderer Konsequenzen,<br />
die allesamt den Fortpflanzungserfolg des ersten Männchens
9.8 Sexueller Konflikt 385<br />
erhöhen. Sie erhöhen unter anderem die Ovipositionsrate der Weibchen,<br />
verbessern die Spermienspeicherung, inaktivieren Spermien anderer<br />
Männchen und reduzieren die Rezeptivität der Weibchen (Stockley 1997).<br />
Beim Rapsweißling (Pieris napi) übertragen die Männchen bei der Paarung<br />
eine flüchtige Substanz an die Weibchen, die auf andere Männchen<br />
als Anti-Aphrodisiakum wirkt und weitere Verpaarungen der Weibchen<br />
weitgehend verhindert (Andersson et al. 2000). Männchen können bei der<br />
Paarung auch die Genitalien der Weibchen beschädigen und sie so von<br />
weiteren Paarungen abhalten (Blanckenhorn et al. 2002). Die durch Stacheln<br />
oder andere Anhänge des männlichen Fortpflanzungsorgans verursachten<br />
Verletzungen können die Mortalitätswahrscheinlichkeit der Weibchen<br />
erhöhen (Crudgington u. Siva-Jothy 2000). Die nach erfolgter<br />
Kopulation in vielen Arten deponierten Vaginalpropfen aus Sekreten der<br />
akzessorischen Drüsen versiegeln in manchen Fällen (z. B. bei Hummeln,<br />
Bombus terrestris: Sauter et al. 2001) den weiblichen Genitaltrakt effektiv,<br />
so dass zusätzliche Paarungen zunächst verhindert werden. Bei simultanen<br />
Hermaphroditen, bei denen die männlichen und weiblichen Funktionen<br />
zwischen Individuen einen Konflikt darüber austragen, wer Spermien<br />
überträgt und empfängt, finden sich viele vergleichbare Anpassungen, wie<br />
die Liebespfeile der Landschnecken (Koene u. Schulenburg 2005).<br />
Sexueller Konflikt manifestiert sich auch im Verhalten von Arten mit<br />
variablem Paarungssystem. Heckenbraunellen (Prunella vulgaris) leben<br />
wie die meisten Singvögel in Paaren, die gemeinsam ihre Jungen versorgen.<br />
Männchen könnten davon profitieren, ein weiteres Weibchen in ihrem<br />
Territorium zu haben. Zwar würde nicht allen Jungen dasselbe Maß an<br />
väterlicher Fürsorge zuteil, aber unter dem Strich könnten sie so mehr<br />
Nachwuchs produzieren. Die Weibchen könnten dagegen von der Hilfe eines<br />
weiteren Männchens bei der Jungenaufzucht profitieren. Die Interessen<br />
der Geschlechter sind also genau entgegengesetzt und reflektieren sich im<br />
Verhalten gegenüber gleich- und gegengeschlechtlichen Artgenossen (Davies<br />
2000).<br />
Schließlich gibt es auch Fälle von sexuellem Konflikt, bei denen es um<br />
Leben und Tod geht. Sexueller Kannibalismus, bei dem Männchen während<br />
der Paarung vom Weibchen gefressen werden, liefert ein Beispiel dafür,<br />
dass bei Spinnen und Gottesanbeterinnen gut untersucht ist. Der Konflikt<br />
besteht hier darin, dass Weibchen aus dieser Mahlzeit direkte<br />
Fekunditätsvorteile beziehen können, wohingegen die Fortpflanzungskarriere<br />
der Männchen beendet wird. Männchen sollten daher versuchen,<br />
kannibalistische Weibchen zu vermeiden. So könnte man die oft winzige<br />
Größe von Spinnenmännchen vor diesem Hintergrund interpretieren, da sie<br />
so ihre Attraktivität als Opfer des Kannibalismus reduzieren können. Eine
386 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
andere Möglichkeit besteht darin, sich opportunistisch mit fressenden<br />
Weibchen zu verpaaren (Fromhage u. Schneider 2004).<br />
9.8.3 Konsequenzen sexuellen Konflikts<br />
Sexueller Konflikt führt zu Koevolution zwischen den Geschlechtern, die<br />
Konsequenzen für eine Reihe von Merkmalen und Prozessen hat. Davon<br />
kann die Struktur der Genitalien ( Kap. 9.1) betroffen sein. Beim Vierfleckigen<br />
Bohnenkäfer (Callosobruchus maculatus) fügen Männchen mit<br />
ihrem komplex geformten Penis (Abb. 9.3) Weibchen bei der Kopulation<br />
schwere innere Verletzungen zu (Edvardsson u. Tregenza 2005). Auch die<br />
Entwicklung von Angriffs- und Abwehrwaffen kann auf sexuellen Konflikt<br />
zurückzuführen sein. Bei Wasserläufern (Gerridae) findet vor der Paarung<br />
ein regelrechter Ringkampf zwischen den Geschlechtern statt, bei<br />
dem Weibchen versuchen, Männchen abzuschütteln. Dabei sind auf beiden<br />
Seiten morphologische Strukturen und Verhaltensweisen beteiligt, die<br />
beim Vergleich zwischen Arten bildlich gesprochen auf einer Geraden zu<br />
liegen kommen. Wenn sich dieses Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern<br />
verschiebt, ändert sich die Paarungshäufigkeit, über die vermutlich ein<br />
starker Konflikt existiert (Arnqvist u. Rowe 2002).<br />
Wenn antagonistische Koevolution zwischen den Geschlechtern sich auf<br />
physiologische oder morphologische Merkmale, die direkt mit der Fortpflanzung<br />
assoziiert sind, konzentriert, kann es aufgrund der damit verbundenen<br />
hohen Geschwindigkeit dieses Prozesses zur Isolation zwischen<br />
allopatrischen Populationen und damit zur Artbildung kommen (Parker u.<br />
Partridge 1998). Indirekte Unterstützung für diese Hypothese liefert die<br />
Beobachtung, dass beim Vergleich von Paaren von Insektenarten mit unterschiedlichem<br />
Potential für postkopulatorischen sexuellen Konflikt polyandrische<br />
Taxa vierfach höhere Speziationsraten haben als monandrische<br />
Taxa (Arnqvist et al. 2000). Bei einem experimentellen Vergleich von<br />
Fliegen-Populationen unterschiedlicher Größe und damit unterschiedlicher<br />
Intensität von sexuellem Konflikt zeigte sich die erwartete höhere Divergenz<br />
in der größeren Gruppe (Martin u. Hosken 2003).<br />
9.8.4 Sexuelle Nötigung<br />
Wenn es zwischen den Geschlechtern einen Konflikt über das Paarungsverhalten<br />
gibt, kann ein Geschlecht – typischerweise die Männchen –<br />
durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt seine Wahrscheinlichkeit<br />
erhöhen, zu einer fertilen Paarung zu gelangen. Diese Form von<br />
Zwang wird als sexuelle Nötigung (sexual coercion) bezeichnet (Smuts u.
9.8 Sexueller Konflikt 387<br />
Smuts 1993). Sexuelle Nötigung ist dadurch charakterisiert, dass Männchen<br />
Weibchen dazu manipulieren, ein für sie nachteiliges Verhalten zu<br />
zeigen, welches aber den Männchen nutzt (Box 9.8). Die Beziehung zwischen<br />
Konflikt und Nötigung ist also zirkulär: Konflikt kann zu Nötigung<br />
führen, und Nötigung fördert Konflikt. Bei Hühnern (Gallus gallus) sind<br />
beispielsweise die meisten Kopulationen von Männchen erzwungen. Wenn<br />
sie zu Paarungen mit subordinierten Männchen gezwungen wurden, kön-<br />
Box 9.8<br />
Sexuelle Nötigung durch männliche Schimpansen<br />
• Frage: Schränkt Aggression durch Männchen die weibliche Partnerwahl<br />
ein?<br />
• Hintergrund: Bei Primaten mit promiskem Paarungssystem wie Schimpansen<br />
(Pan troglodytes) tritt regelmäßig männliche Aggression gegen<br />
Weibchen auf. Wenn es sich dabei um sexuelle Nötigung handelt, sollte<br />
sich diese Aggression verstärkt gegen rezeptive Weibchen richten und in<br />
erhöhten Paarungsraten mit den betroffenen Weibchen resultieren.<br />
• Methode: Langzeit-Beobachtungsdaten einer Schimpansen-Population in<br />
Uganda wurden im Hinblick auf die Verteilung von Aggressions- und<br />
Kopulationshäufigkeiten ausgewertet.<br />
erhaltene Aggression/h<br />
0.14<br />
0.12<br />
0.10<br />
0.08<br />
0.06<br />
0.04<br />
0.02<br />
C.M. Gomez<br />
0<br />
AL AR BL EK FG JO KL LP NL OU TG<br />
Weibchen<br />
• Ergebnis: Weibchen, die sich bereits erfolgreich fortgepflanzt hatten, erfuhren<br />
in den Zeiten ihrer Rezeptivität ( ) signifikant häufiger Aggression<br />
von Männchen als zu anderen Zeiten ( ). Männchen kopulierten<br />
auch signifikant häufiger mit Weibchen, denen überdurchschnittlich häufig<br />
ihre Aggression zuteil wurde.<br />
• Schlussfolgerung: Männliche Schimpansen nötigen rezeptive Weibchen<br />
durch Aggression zu zusätzlichen Paarungen. Nötigung kann als männliche<br />
Gegenstrategie zum weiblichen Interesse, durch polyandrische Verpaarungen<br />
das Infantizidrisiko zu verschleiern, interpretiert werden.<br />
Muller et al. 2007
388 9 Intersexuelle Selektion: was Weibchen wollen<br />
nen sie allerdings selektiv deren Spermien wieder ausstoßen (Pizzari u.<br />
Birkhead 2000).<br />
Sexuelle Nötigung kann auch mit sexueller Belästigung (sexual<br />
harassment) einhergehen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass persistente<br />
Werbe- und Paarungsversuche Weibchen in ihrem Verhalten beeinträchtigen.<br />
Solche Belästigung kann zu reduzierter Nahrungsaufnahme (Schlupp<br />
et al. 2001) sowie erhöhtem Energieverbrauch und Räuberrisiko führen.<br />
Für Weibchen beinhaltet Belästigung oft auch eine Erhöhung des Verletzungsrisikos.<br />
Mehrere Beispiele, von Dungfliegen bis hin zu See-Elefanten,<br />
zeigen, dass Weibchen in solchen Interaktionen sogar getötet werden<br />
können, insbesondere dann, wenn sie von mehreren Männchen gleichzeitig<br />
belästigt werden (Smuts u. Smuts 1993). Außerdem können Weibchen<br />
durch Nachgeben zusätzliche Nachteile entstehen, z. B. wenn es große<br />
Qualitätsunterschiede zwischen Männchen gibt und sie sich mit einem<br />
Männchen relativ geringer Qualität einlassen.<br />
Durch diese unterschiedlichen Interessen und Zwänge sind die Voraussetzungen<br />
für einen Zermürbungskrieg (war of attrition) zwischen den<br />
Geschlechtern gegeben. Es geht also darum, ob die Männchen mit der Belästigung<br />
aufhören, bevor die Weibchen nachgeben, oder umgekehrt. Der<br />
Ausgang dieses Konflikts hängt vor allem von den Weibchen ab, da die<br />
Männchen in der Regel sehr viel größeren potentiellen Nutzen und geringere<br />
Kosten haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es in den meisten<br />
Fällen zu erzwungenen Kopulationen kommt. Beispiele dafür gibt es<br />
von Skorpionsfliegen (Panorpa vulgaris: Thornhill 1980), Enten (Anatidae:<br />
McKinney et al. 1983) und Orang-Utans (Pongo abelii), die, wenn sie<br />
von vagabundierenden Männchen belästigt werden, sich in der Nähe eines<br />
dominanten Männchens aufhalten, wo sie seltener belästigt werden (Fox<br />
2002).<br />
9.9 Zusammenfassung<br />
Da Männchen sich in ihrer Qualität unterscheiden, belohnt sexuelle<br />
Selektion diejenigen Weibchen, die sich nicht zufällig verpaaren. Ein<br />
erster Schritt bei der Wahl eines Partners besteht darin, zwei Klassen<br />
von Männchen zu erkennen und zu vermeiden: Mitglieder anderer Arten<br />
und nahe Verwandte. Bei der Auswahl eines geeigneten Mitglieds<br />
der eigenen Art kann man zwischen dem „Wie?“ und dem „Warum?“<br />
unterscheiden. Bevor Weibchen in Paarungen einwilligen, können sie<br />
mit Hilfe unterschiedlicher Verhaltenstaktiken präferierte Partner
Literatur 389<br />
auswählen, wobei sie sich häufig von sensorischen Reizen, die von<br />
Männchen ausgehen, leiten lassen. Falls es zu Paarungen mit zwei<br />
oder mehr Männchen kommt, können kryptische, physiologische Prozesse<br />
im Genitaltrakt der Weibchen die Fertilisationschancen von<br />
Männchen beeinflussen. Mit diesen Prozessen kann erklärt werden,<br />
wie Weibchen bestimmte Männchen vor und nach der Kopulation als<br />
Vater ihrer Nachkommen auswählen. Warum sie überhaupt wählerisch<br />
sein sollten, hat zwei Gründe. Zum einen können sie aus der<br />
Wahl eines bestimmten Männchens für sich direkte Vorteile beziehen,<br />
die sich entweder auf ihren unmittelbaren Fortpflanzungserfolg auswirken<br />
oder die aufgrund bestimmter Eigenschaften der Männchen für<br />
sie vorteilhaft sind. Zum anderen können Weibchen durch die Produktion<br />
von Nachwuchs mit besseren Überlebens- oder Fortpflanzungschancen<br />
indirekt profitieren. In diesem Zusammenhang kann es zur<br />
Produktion von besonders attraktiven Söhnen oder von Jungen kommen,<br />
die durch besonders gute oder gut passende Gene erfolgreich an<br />
Pathogene angepasst sind. Für die meisten Weibchen ist es nicht ausreichend,<br />
ein gutes Männchen zu finden. Paarungen mit mehreren<br />
Männchen können nämlich die Fertilität der Weibchen oder die genetische<br />
Qualität des Nachwuchses verbessern sowie das Infantizidrisiko<br />
senken. Weibchen sind nicht nur das wählende Geschlecht,<br />
sondern sie können auch durch Konkurrenz untereinander ihren Fortpflanzungserfolg<br />
beeinflussen oder ihre Qualität an wählerische<br />
Männchen signalisieren. Die reproduktiven Interessen der Geschlechter<br />
stimmen aber nur im Fall der lebenslangen Monogamie überein; in<br />
allen anderen Situationen gibt es ein Potential für sexuellen Konflikt,<br />
der häufig in einem evolutionären Wettrennen zwischen den Geschlechtern<br />
mündet. Um einen möglichst hohen Fortpflanzungserfolg<br />
zu erzielen, müssen Weibchen also zahlreiche Faktoren gleichzeitig<br />
bewerten und gegeneinander abwägen.<br />
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IV JUNGENAUFZUCHT<br />
In den vorangegangenen Kapiteln wurden drei der grundlegenden Probleme<br />
vorgestellt, die Individuen erfolgreich meistern müssen, um nicht<br />
als Belanglosigkeiten der Evolution zu enden. Um erfolgreich Kopien der<br />
eigenen Gene in die nächste Generation zu bringen und so den Gang der<br />
Evolution mit zu beeinflussen, reicht es nicht, erfolgreich zu überleben und<br />
einen Fortpflanzungspartner zu finden. Wenn nämlich die eigenen Nachkommen<br />
nicht erfolgreich überleben und geschlechtsreif werden, erzielen<br />
die betreffenden Individuen trotzdem keinen Fitnessgewinn. Diese Determinante<br />
ihrer Fitness können Tiere aber mitbeeinflussen, indem sie Zeit<br />
und Energie investieren, um die Überlebenschancen ihrer Nachkommen zu<br />
verbessern. Die Art und Quantität der elterlichen Fürsorge wird dabei<br />
maßgeblich von Kosten-Nutzen-Aspekten, der Life history und dem Geschlecht<br />
des Elters bestimmt. In diesem Kontext entsteht ein spannender<br />
evolutionärer Konflikt zwischen den unterschiedlichen genetischen Interessen<br />
von Eltern und Nachkommen. Da abstammungsidentische Allele<br />
auch durch Verwandte weitergegeben werden, können Individuen durch<br />
die Mithilfe bei der Aufzucht der Jungen von Verwandten ihre indirekte<br />
Fitnesskomponente erhöhen. Die frühe Phase der Entwicklung bis zum<br />
Erreichen der Geschlechtsreife stellt außerdem einen wichtigen und<br />
prägenden Lebensabschnitt dar, in dem sich spannende Fragen zur<br />
Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens stellen. Im folgenden Kapitel<br />
werden diese Themen, welche die Jungtiere und ihr Verhalten betreffen,<br />
im Zusammenhang vorgestellt.
10 Elterliche Fürsorge<br />
10.1 Life history und Fürsorge<br />
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge<br />
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt<br />
10.3.1 Sexueller Konflikt über elterliches Investment<br />
10.3.2 Eltern-Kind-Konflikt<br />
10.3.3 Geschwister-Konflikt<br />
10.3.4 Brutparasitismus<br />
10.4 Fürsorge und Kooperation<br />
10.4.1 Eusozialität und reproduktiver Altruismus<br />
10.4.2 Helfersysteme<br />
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens<br />
10.5.1 Gene und Verhalten<br />
10.5.2 Umwelt, Erfahrung und Verhalten<br />
10.6 Zusammenfassung<br />
Elterliche Fürsorge (parental care) kann als jegliches Verhalten eines Elters,<br />
das zur Erhöhung der Fitness seiner Nachkommen beiträgt, definiert<br />
werden (Clutton-Brock 1991). Diese Fürsorge kann schon vor der Geburt<br />
beginnen, indem ein Nest oder eine Höhle angelegt wird, in denen die Eier<br />
oder Nachkommen heranwachsen. Bei der Fortpflanzung können Mütter<br />
durch die Produktion von möglichst großen, nährstoffreichen Eiern oder<br />
großen lebend geborenen Jungen deren Entwicklungs- und Überlebenschancen<br />
positiv beeinflussen (Mousseau u. Fox 1998). Dieser Aspekt der<br />
Brutfürsorge ist als einziger unabhängig vom Verhalten; vielmehr handelt<br />
es sich um eine grundlegende Life history-Entscheidung, welche die Anzahl<br />
und Größe der Nachkommen betrifft ( Kap. 2.3). Die Versorgung<br />
der Eier bzw. der sich entwickelnden Jungtiere mit Nährstoffen stellt eine<br />
weitere Variable der Brutpflege dar. Schließlich sind manche Jungtiere<br />
nach dem Schlüpfen oder nach der Geburt noch so unselbständig, dass ihr<br />
Überleben entscheidend von elterlicher Versorgung abhängt. Ob und welche<br />
Form elterlicher Fürsorge stattfindet, hängt vom Verhältnis der damit<br />
zusammenhängenden Vor- und Nachteile ab. Die Vorteile der Fürsorge be-
406 10 Elterliche Fürsorge<br />
stehen aus positiven Effekten auf Überleben, Wachstum und Fortpflanzungserfolg<br />
der Nachkommen, wobei letzterer durch erhöhte Attraktivität<br />
vermittelt sein kann (Qvarnström u. Price 2001). Die somatischen und ökologischen<br />
Kosten der Fürsorge können sich in Form von reduzierter Überlebenswahrscheinlichkeit,<br />
reduzierter Fekundität bei der nächsten Fortpflanzungsrunde<br />
sowie reduzierter Fitness der nächsten Nachkommen<br />
niederschlagen. Die Höhe dieser Kosten hängt stark von aktuellen Umweltbedingungen<br />
und der Verfassung des betreffenden Elters ab. Verschiedene<br />
Tiergruppen und Arten sowie Geschlechter und Individuen unterscheiden<br />
sich bezüglich Form und Intensität der Fürsorge in vielfacher<br />
Hinsicht. In den ersten vier Abschnitten dieses Kapitels werden die wichtigsten<br />
Ursachen dieser Variabilität besprochen.<br />
10.1 Life history und Fürsorge<br />
Ob und wie Eltern sich um ihre Brut kümmern, ist wesentlich von mehreren<br />
Life history-Merkmalen und Aspekten des Bauplans bestimmt. Das<br />
Auftreten elterlicher Fürsorge ist generell negativ mit der Zahl der Jungen<br />
korreliert. Arten, die viele Junge pro Fortpflanzungsereignis produzieren,<br />
kümmern sich nicht weiter um diese, wohingegen Fürsorge häufig in Arten<br />
mit vergleichsweise geringen Wurfgrößen zu finden ist. Die Formen elterlicher<br />
Fürsorge unterscheiden sich am deutlichsten zwischen Mitgliedern<br />
höherer Taxa, vor allem zwischen Stämmen und Klassen. Bestimmte Formen<br />
der Fürsorge sind nur möglich bzw. unmöglich, weil es mit dem Bauplan<br />
der betreffenden Gruppe verbundene Variation in Life history-Merkmalen<br />
gibt, die ausschlaggebende Reaktionsnormen definieren.<br />
Die entscheidenden Merkmale sind zwar in der Regel Merkmale höherer<br />
taxonomischer Gruppen, aber es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />
Gruppe per se, die von Bedeutung ist, da manche Merkmale<br />
mehrfach unabhängig entstanden sind. Ein triviales Beispiel liefern Säugetiere,<br />
die als einzige obligate mütterliche Fürsorge in Form von Laktation<br />
besitzen, welche aber auch ein definierendes Merkmal der Säuger darstellt.<br />
Die Geburt lebender Nachkommen (Viviparie), die ebenfalls wichtige<br />
Konsequenzen für die Form elterlicher Fürsorge hat, ist aber beispielsweise<br />
mehrfach unabhängig entstanden (Abb. 10.1): 10-mal bei Knorpelfischen,<br />
12-mal bei Knochenfischen, einmal bei Amphibien, zweimal bei<br />
Säugern und über 100-mal bei Schlangen und Eidechsen (Squamata)<br />
(Reynolds et al. 2002). Bei Wirbellosen sind noch keine entsprechenden<br />
Schätzungen dieser Häufigkeiten möglich, da die für eine solche Rekonstruktion<br />
notwendigen Daten nur für wenige Gruppen vorliegen. Im ersten
10.1 Life history und Fürsorge 407<br />
Abb. 10.1. Ob Eier gelegt oder lebende Junge geboren werden, hat wichtige Konsequenzen<br />
für die Möglichkeit und Notwendigkeit elterlicher Fürsorge. An einem<br />
schematischen Stammbaum der Wirbeltiere ist zu erkennen, dass Viviparie mehrfach<br />
unabhängig entstanden ist. Viviparie (blaue Linie), Oviparie (rote Linie)<br />
Abschnitt diskutiere ich diese und andere wichtige Merkmale, die elterliche<br />
Fürsorge nachhaltig beeinflussen, in ihrem evolutionären Kontext.<br />
(1) Unterschiede zwischen höheren Taxa. Ein Merkmal, das Unterschiede<br />
zwischen Taxa in der Art und Intensität der elterlichen Fürsorge beeinflusst,<br />
betrifft den Entwicklungszustand der Nachkommen bei der<br />
körperlichen Trennung von der Mutter. Die ursprünglichste Form der Fortpflanzung<br />
besteht darin, Eier zu legen (Oviparie), die intern oder extern<br />
befruchtet werden. Während der Embryonalentwicklung ernähren sich die<br />
Jungen von Eidotter. Ovipare Tiere, also Vögel sowie die meisten Reptilien,<br />
Amphibien, Fische und Wirbellosen, können die Qualität ihres Nachwuchses<br />
im Wesentlichen durch die Vergrößerung der Ei- bzw. Dottergröße<br />
erhöhen (Bernardo 1996). Die relative Eigröße variiert stark zwischen<br />
Arten, aber auch zwischen Individuen und innerhalb von Gelegen (Christians<br />
2002). Bei Bachforellen (Salmo trutta) wurde gezeigt, dass sich Juvenile,<br />
die aus den größten oder kleinsten Eiern desselben Geleges stammen,<br />
in fitnessrelevanten Wachstums- und Überlebensparametern jeweils in der<br />
erwarteten Weise unterscheiden (Einum u. Fleming 1999). Bei Arten mit
408 10 Elterliche Fürsorge<br />
elterlicher Fürsorge gibt es zudem eine Interaktion zwischen Eigröße und<br />
Fürsorge bei der Bestimmung der Fitnesskorrelate der Nachkommen (Bize<br />
et al. 2002). Selbst Variation in Bestandteilen der Eier kann zu messbaren<br />
Fitnesskonsequenzen führen: Mehlschwalben (Hirundo rustica), bei denen<br />
der Karotinoid-Anteil im Eidotter experimentell erhöht wurde, hatten als<br />
Adulte eine bessere T-Zellen-vermittelte Immunantwort als Kontrolltiere<br />
(Saino et al. 2003) und damit vermutlich bessere Überlebenschancen.<br />
Bei Arten mit Ovoviviparie entwickeln sich die Eier im Körper der<br />
Mutter nach interner Fertilisation und die Jungtiere schlüpfen im Mutterleib<br />
oder kurz nach der Eiablage. Ovovivipare Arten, zu denen manche<br />
Spinnen und Insekten, viele Echinodermen, die meisten Knorpelfische sowie<br />
manche Knochenfische und Reptilien gehören, sind also durch vergleichsweise<br />
höheres mütterliches Investment in den Nachwuchs charakterisiert.<br />
Der Unterschied zur Viviparie, bei der die Nachkommen nach<br />
interner Befruchtung komplett im Mutterleib heranwachsen und lebend<br />
geboren werden (Abb. 10.2), ist nicht immer ganz einfach zu erkennen,<br />
wenn man nur den Zeitpunkt um die Geburt herum betrachtet. Ovovivipare<br />
Jungtiere sind allerdings ausschließlich auf die im Dotter enthaltene Energie<br />
angewiesen, wohingegen vivipare Junge über eine Plazenta direkt mit<br />
Nährstoffen versorgt werden. Die Theria und manche Haie (z. B. Hammerhaie:<br />
Sphyrnidae) sind demnach die einzigen plazentalen Viviparen; alle<br />
anderen lebendgebärenden Arten sind ovovivipar.<br />
Über die Evolution von (Ovo-)Viviparie und die damit assoziierten<br />
Anpassungen gibt es zwei Hypothesen. Eine Hypothese fokussiert auf die<br />
elterliche Fitness. Demnach ist Viviparie entstanden, weil die Überlebenschancen<br />
der Nachkommen durch den zusätzlichen Schutz aufgrund des<br />
längeren Verbleibes im mütterlichen Körper verbessert werden (Clutton-<br />
Abb. 10.2. Australische Tannenzapfenechsen<br />
(Tiliqua rugosa)<br />
repräsentieren eine der<br />
zahlreichen Reptiliengruppen,<br />
bei denen Viviparie entstanden<br />
ist. Hier ist ein Weibchen mit<br />
seinen beiden Neugeborenen<br />
zu sehen
10.1 Life history und Fürsorge 409<br />
Brock 1991). Dies ist vor allen Dingen dann von Vorteil, wenn unvorteilhafte<br />
abiotische Bedingungen herrschen (z. B. extreme Temperatur, osmotischer<br />
Stress, Trockenheit) oder Prädations- und Parasitenrisiko hoch sind.<br />
Dabei scheint es nicht so zu sein, dass der Vorteil der Viviparie darin besteht,<br />
die spezifischen Nachteile der Unvorhersagbarkeit von Temperaturschwankungen<br />
zu minimieren (Shine 2002). Eine zweite Hypothese betont<br />
die Interessen der Jungen (Crespi u. Semeniuk 2004); speziell deren Vorteile<br />
in ihrem Konflikt mit den Müttern (siehe unten) bei viviparen Wirbeltieren.<br />
Diese Vorteile bestehen darin, dass sie die riskante Eiphase vermeiden<br />
und bei der Geburt vergleichsweise groß und aktiv sind. Insbesondere<br />
haben Jungtiere bei histophagen (Embryo ernährt sich von mütterlichen<br />
Sekretionen) und plazentalen (Nährstofftransfer über eine Plazenta) Arten<br />
die Möglichkeit, die mütterliche Physiologie durch die Abgabe von Hormonen<br />
und anderen Wirkstoffen zu ihrem Vorteil zu manipulieren. Die<br />
Nachteile der Viviparie tragen dagegen die Mütter: Fortbewegung wird<br />
energetisch teurer, Auffälligkeit gegenüber Räubern nimmt zu, Fluchtgeschwindigkeiten<br />
sind reduziert ( Kap. 3.2) und die Fekundität ist limitiert.<br />
Die Tatsache, dass Viviparie und verschiedene Formen der Plazentation<br />
so häufig unabhängig voneinander entstanden sind, kann so interpretiert<br />
werden, dass der Eltern-Kind-Konflikt ( Kap. 10.3) in all diesen<br />
Fällen von den Jungen gewonnen wurde.<br />
Eier und lebend geborene Jungtiere ermöglichen und benötigen teilweise<br />
unterschiedliche Formen der Brutpflege, wobei es aber auch große Variabilität<br />
innerhalb der betreffenden Gruppen gibt. Die Eier der meisten<br />
Wirbellosen entwickeln sich beispielsweise ohne weiteres Zutun der Eltern,<br />
teilweise über Larven oder andere Zwischenformen, zu Adulten, wohingegen<br />
die Eier der Vögel konstant bebrütet werden müssen. Diese Form<br />
der elterlichen Fürsorge bei Vögeln wurde erst mit der Koevolution von<br />
Endothermie möglich (Farmer 2000), ein weiteres Beispiel dafür, wie stark<br />
die Art der Jungenfürsorge von Bauplan-Merkmalen abhängt. Ähnliche<br />
Variation gibt es innerhalb der viviparen Arten. Die lebend geborenen<br />
Embryonen und Larven von Fischen benötigen von ihren Eltern keine<br />
Wärme oder Nahrung, wohingegen diese Zuwendungen für junge Säugetiere<br />
unersetzlich sind.<br />
Bei (Ovo-)Viviparie wird die Fekundität der Weibchen dadurch begrenzt,<br />
dass alle Nachkommen im Körper der Mutter Platz finden müssen.<br />
Dementsprechend ist die durchschnittliche Anzahl der möglichen Nachkommen<br />
bei Arten mit Oviparie höher, wohingegen deren Größe geringer<br />
ist. Über alle Arten hinweg gibt es die Tendenz, dass das Ausmaß an elterlicher<br />
Fürsorge negativ mit der Zahl der Nachkommen und positiv mit der<br />
Eigröße korreliert (Clutton-Brock 1991).
410 10 Elterliche Fürsorge<br />
Eine weitere Variable in der Bedürftigkeit der Jungen betrifft deren<br />
Entwicklungszustand bei der Geburt bzw. nach dem Schlüpfen. Unabhängig<br />
davon, ob sie ovipar oder vivipar sind, gibt es bei Vögeln (Starck u.<br />
Ricklefs 1998) und Säugetieren (Derrickson 1992) eine Unterscheidung<br />
zwischen Nesthockern und Nestflüchtern. Erstere sind zunächst völlig<br />
hilflos, teilweise mit noch geschlossenen Augen und Ohren ausgestattet,<br />
und thermoregulatorisch noch nicht autark, wohingegen Nestflüchter so<br />
weit entwickelt sind, dass sie sich sofort selbständig bewegen und ernähren<br />
können ( Abb. 2.12). An die elterliche Fürsorge stellen diese beiden Typen<br />
von Jungtieren völlig unterschiedliche Ansprüche. Nesthocker sind<br />
zunächst komplett auf elterliche Fürsorge angewiesen, bei Säugetieren vor<br />
allem in Form von Milch und Wärme, wohingegen Nestflüchter rasch damit<br />
beginnen, zusätzlich feste Nahrung zu sich zu nehmen. Trotzdem haben<br />
Mütter von nestflüchtenden Jungen nicht unbedingt geringere energetische<br />
Kosten der Laktation (Künkele u. Trillmich 1997).<br />
(2) Unterschiede zwischen Arten. Elterliche Fürsorge ist dort entstanden,<br />
wo widrige Umweltbedingungen, hohes Prädationsrisiko oder starke Konkurrenz<br />
mit adulten Artgenossen die Vorteile der Fürsorge besonders<br />
wertvoll machen (Clutton-Brock 1991). Unter diesen Bedingungen wird<br />
die Größe der Eier erhöht, finden die Übergänge zum Lebendgebären statt,<br />
werden die Eier bewacht und die Jungen gefüttert. Eng damit verbunden<br />
sind Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit und der relativen<br />
Dauer einzelner Lebensphasen. Eine Theorie geht davon aus, dass die Zeit<br />
in der gefährlichsten Entwicklungsstufe minimiert wird, so dass Life histories<br />
mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten letztendlich Unterschiede in<br />
altersabhängigen Mortalitätsraten zugrunde liegen ( Kap. 2.3). Nah miteinander<br />
verwandte Arten, die sich in ihrem Fürsorgeverhalten unterscheiden,<br />
sind besonders dazu geeignet, diese kausalen Zusammenhänge aufzudecken,<br />
da nur so möglichst viele andere Merkmale des Bauplans bei<br />
Vergleichen konstant gehalten werden. So produzieren Meerschweinchen<br />
(Cavia spp.) zum Beispiel für kleine Nagetiere außergewöhnlich wenige<br />
und weitentwickelte Jungtiere, die relativ rasch geschlechtsreif werden und<br />
wenig elterliche Fürsorge benötigen (Laurien-Kehnen u. Trillmich 2003).<br />
Diese Besonderheit ihrer Life history lässt sich auf vergleichsweise hohe<br />
Mortalitätsraten der Adulten zurückführen (Kraus et al. 2005).
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge 411<br />
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge<br />
Bei der Klassifizierung von Arten in Bezug auf elterliche Fürsorge betrifft<br />
die grundlegendste Unterscheidung die zwischen Arten mit und ohne Fürsorge.<br />
Wenn elterliche Fürsorge geleistet wird, kann dies nur durch die<br />
Mutter, nur durch den Vater oder durch beide Eltern gemeinsam erfolgen.<br />
Welche Form der Fürsorge findet sich bei welchen Taxa und welche Faktoren<br />
erklären diese Variabilität?<br />
Uniparentale Fürsorge sollte generell dann entstehen, wenn ein Elternteil<br />
den anderen verlassen kann, ohne dadurch die Fitness der gemeinsamen<br />
Jungen allzu sehr zu beeinträchtigen. Prinzipiell sollte ein Elter den<br />
anderen nur verlassen, wenn es weitere Paarungsgelegenheiten gibt und so<br />
der individuelle Fortpflanzungserfolg weiter erhöht werden kann. Welcher<br />
Elternteil den anderen sitzen lässt, hängt primär von der Art der Fertilisation<br />
und dem Zeitpunkt der Eiablage ab. Wenn die Fertilisation intern erfolgt,<br />
verstreicht notwendigerweise eine bestimmte Zeitspanne, bis die Eier<br />
oder die Jungen den Körper der Mutter verlassen, in der das Männchen<br />
kein Fürsorgeverhalten zeigen kann. In dieser Situation ist es für Männchen<br />
möglich, Weibchen zu verlassen und sich nach weiteren Paarungsgelegenheiten<br />
umzusehen. In diesem Fall fällt die Last der elterlichen Fürsorge<br />
allein auf das Weibchen. Bei externer Fertilisation sind die Rollen<br />
zwischen den Geschlechtern prinzipiell vertauscht. In diesem Fall erfolgt<br />
die Eiablage vor der Fertilisation, so dass hier die Weibchen die Option<br />
besitzen, das Männchen mit den befruchteten Eiern zurückzulassen. Neben<br />
diesen Zwängen des Bauplans kann es aber auch Geschlechtsunterschiede<br />
in der Sicherheit der Vaterschaft, der Wiederverpaarungsgelegenheiten<br />
sowie im Kosten/Nutzen-Verhältnis der Fürsorge geben, die das Verhalten<br />
der beiden Geschlechter mit beeinflussen (Sheldon 2002). Biparentale<br />
Fürsorge ist dementsprechend dann zu erwarten, wenn die Jungen mehr<br />
Fürsorge benötigen, als von einem Elter zu leisten ist, oder wenn es keine<br />
weiteren aktuellen alternativen Paarungsgelegenheiten gibt.<br />
Eine interessante evolutionäre Frage in diesem Zusammenhang betrifft<br />
die evolutionären Übergänge zwischen den verschiedenen Zuständen.<br />
Wenn man annimmt, dass die Abwesenheit von Fürsorge ursprünglich ist,<br />
stellt sich die Frage, ob alle Übergänge gleich wahrscheinlich sind bzw.<br />
welche Faktoren den Gang der Evolution in die eine oder andere Richtung<br />
beeinflusst haben. Insgesamt gibt es theoretisch zwischen den vier Zuständen<br />
(keine, männliche, weibliche, biparentale Fürsorge) 12 mögliche Übergänge<br />
(Abb. 10.3). Aus der Beobachtung, dass scheinbar nicht alle Übergänge<br />
verwirklicht sind, sowie aus der genaueren Betrachtung, welche<br />
Übergänge in welchen Taxa verwirklicht sind, lassen sich grundlegende
412 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.3. In Bezug auf elterliche Fürsorge lassen sich vier Kategorien unterscheiden:<br />
Arten ohne Fürsorge, rein väterliche, rein mütterliche oder biparentale<br />
Fürsorge. Zwischen diesen Zuständen sind theoretisch 12 evolutionäre Übergänge<br />
möglich. Insgesamt sind aber nur fünf Übergänge regelmäßig verwirklicht (durchgehende<br />
Pfeile), wobei manche Übergänge gruppenspezifisch sind. Die anderen<br />
Übergänge (gestrichelte Pfeile) sind extrem selten oder treten gar nicht auf. Die<br />
vier Kategorien elterlicher Fürsorge sind ungleichmäßig über die Großgruppen des<br />
Tierreichs verteilt. Angedeutet ist jeweils die modale Häufigkeit der Fürsorgeform.<br />
* Bei Knochenfischen ist „keine Fürsorge“ am häufigsten; wenn sie auftritt,<br />
ist allerdings rein väterliche Fürsorge am weitesten verbreitet<br />
geschlechtsspezifische Determinanten des Fürsorgeverhaltens ableiten<br />
(Reynolds et al. 2002).<br />
Die Life history-Anpassungen und das Fürsorgeverhalten der zahlreichen<br />
Wirbellosen sind noch so unvollständig bekannt, dass quantitative<br />
Abschätzungen verschiedener Merkmals-Kombinationen derzeit nur<br />
schwierig möglich sind. Die große Mehrzahl der Arten legt (viele) Eier<br />
und kümmert sich nicht weiter um das Schicksal der sich daraus entwickelnden<br />
Nachkommen. Bei manchen Gruppen werden die Eier von den<br />
Weibchen zumindest mit Substrat bedeckt und so geschützt; andere bewachen<br />
und pflegen die Gelege oder sie legen ihre Eier in oder auf eigens erbeutete<br />
Tiere, von denen sich die sich entwickelnden Jungen ernähren.
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge 413<br />
Bienenwölfe (Philantus triangulum) platzieren beispielsweise Honigbienen<br />
(Apis mellifera) in eigens gegrabene Brutkammern und legen ihre<br />
Eier darauf ab (Strohm u. Marliani 2002).<br />
Bei mehreren marinen Invertebraten (z. B. Echinodermen und Mollusken)<br />
werden lebende Junge geboren und anschließend mit Nahrung versorgt<br />
oder in anderer Weise umsorgt. Bei mindestens einer Tintenfischart<br />
(Gonatus onxy) tragen Adulte Tausende von Eiern am Körper bis zum<br />
Schlüpfen (Seibel et al. 2005). Unter den Arthropoden sind Lebendgeburten<br />
vor allem bei Zweiflüglern (Diptera) überaus häufig. Wenn bei Wirbellosen<br />
elterliche Fürsorge auftritt, wird sie zumeist von Weibchen geleistet<br />
(Zeh u. Smith 1985); vermutlich weil interne Fertilisation weit verbreitet<br />
ist. Exklusive väterliche Fürsorge ist aber bei Arthropoden mindestens<br />
achtmal unabhängig entstanden, möglicherweise aufgrund von weiblichen<br />
Präferenzen für Männchen, die Gelege bewachen (Tallamy 2000). Biparentale<br />
Fürsorge ist bei Wirbellosen ebenfalls mehrfach entstanden; vor<br />
allem bei Arten, die für ihren Nachwuchs Nester bauen und bewachen, wie<br />
zum Beispiel die Wüstenassel (Hemilepistus reaumuri: Linsenmair u. Linsenmair<br />
1971) oder Totengräber (Nicrophorus spp.), die Aas für ihre Jungen<br />
verteidigen (Eggert et al. 1998). Schließlich werden bei den zahlreichen<br />
staatenbildenden Hymenopteren die Bruten ebenfalls intensiv<br />
umsorgt und gefüttert; allerdings in vielen Fällen nicht von den Eltern,<br />
sondern von den Arbeiterinnen einer Kolonie, bei denen es sich um Geschwister<br />
der nachwachsenden Jungenkohorte handelt ( Kap. 10.3).<br />
Bei Knochenfischen gibt es in 80% der Familien keine elterliche Fürsorge.<br />
Wenn sie stattfindet, ist väterliche Fürsorge am häufigsten. Darin<br />
unterscheiden sich Fische von allen anderen Wirbeltieren. Externe Fertilisation,<br />
in Kombination mit Territorialität und hoher Vaterschaftssicherheit,<br />
hat vermutlich den Übergang zwischen fehlender und väterlicher Fürsorge<br />
erleichtert (Ah-King et al. 2005). Biparentale Fürsorge kommt bei<br />
Knochenfischen auch regelmäßig vor, trotz externer Fertilisation (DeWoody<br />
et al. 2000). Bei Knorpelfischen, von denen viele lebendgebärend sind,<br />
gibt es, im Unterschied zu anderen viviparen Arten, keine Hinweise für zusätzliche<br />
mütterliche Fürsorge (Dulvy u. Reynolds 1997).<br />
Bei Blaukiemen-Sonnenbarschen (Lepomis macrochirus) wurde die<br />
Bedeutung der Vaterschaftssicherheit für das väterliche Fürsorgeverhalten<br />
experimentell überprüft. Zum einen wurden Männchen, die mit laichbereiten<br />
Weibchen zusammen gehalten wurden, Satelliten-Männchen<br />
( Kap. 8.7) in ihren Aquarien in durchsichtigen Behältern präsentiert,<br />
worauf sie, im Vergleich zu Kontrollen, weniger väterliche Fürsorge zeigten<br />
(Neff 2003). In ähnlicher Weise reagierten Männchen, denen ein Teil<br />
des Geleges gegen Eier, die von fremden Männchen befruchtet wurden,<br />
ausgetauscht wurde. Diese Männchen haben vermutlich am Geruch des
414 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.4. Der Blaukiemen-<br />
Sonnenbarsch (Lepomis macrochirus)<br />
ist einer von zahlreichen<br />
Knochenfischen mit väterlicher<br />
Fürsorge<br />
Urins der Fischlarven festgestellt, dass der durchschnittliche genetische<br />
Verwandtschaftsgrad reduziert war.<br />
Unter den Fischen zeigen neben maulbrütenden Cichliden (Goodwin<br />
et al. 1998) vor allem Seepferdchen und Seenadeln (Syngnathidae) bemerkenswerte<br />
Anpassungen an väterliche Jungenfürsorge. Während der Paarung<br />
übertragen die Weibchen ihre Eier in spezialisierte morphologische<br />
Strukturen (Bruttaschen) am Bauch oder Schwanz des Männchens. Nach<br />
der Fertilisation, die aufgrund dieser Besonderheit mit exklusiver Vaterschaftssicherheit<br />
einhergeht (Jones u. Avise 2001), werden die Jungen vom<br />
Vater bei der Osmoregulation unterstützt und mit zusätzlichem Sauerstoff<br />
versorgt (Wilson et al. 2001). Trotz dieser Investition in den Nachwuchs<br />
haben männliche Seepferdchen aber nicht unbedingt langsamere potentielle<br />
Fortpflanzungsraten als Weibchen und konkurrieren dementsprechend<br />
um diese (Masonjones u. Lewis 2000).<br />
Bei Amphibien ist elterliche Fürsorge sehr selten (< 10% der Gattungen),<br />
und sie äußert sich in der Bewachung von Eiern oder Kaulquappen.<br />
Bei Fröschen findet sie sich vor allem bei Arten mit relativ großen Eiern,<br />
wobei die evolutionäre Vergrößerung der Eier dem Auftreten von elterlicher<br />
Fürsorge vorausging (Summers et al. 2006). Bei Geburtshelferkröten<br />
(Alytes spp.) tragen die Männchen ein Paket von Eiern für mehrere Wochen<br />
auf dem Rücken (Bush 1996); in außergewöhnlichen Fällen werden<br />
auch die Jungtiere nach der Metamorphose vom Vater getragen (Bickford<br />
2002). Biparentale Fürsorge findet sich ebenfalls bei manchen Fröschen<br />
(Pröhl u. Hödl 1999), wodurch die übergeordnete Bedeutung der vermuteten<br />
kausalen Beziehungen zwischen externer Fertilisation und männlicher<br />
Fürsorge allerdings in Frage gestellt wird (Beck 1998). Die Versorgung<br />
der Brut erfolgt bei manchen Fröschen auch alternativ durch beide Geschlechter.<br />
In der Regenzeit, wenn es mehr an zusätzlichen Paarungs-
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge 415<br />
Abb. 10.5. Elterliche<br />
Fürsorge ist negativ mit der<br />
Gelegegröße korreliert. Amphibien,<br />
die große Mengen<br />
an Laich produzieren (hier<br />
Grasfrosch, Rana temporaria),<br />
zeigen keine elterliche<br />
Fürsorge<br />
gelegenheiten gibt, reduzieren die Männchen eines südamerikanischen<br />
Räuberfrosches (Eleutherodactylus johnstonei) ihren Fürsorgeaufwand, der<br />
dann von den Weibchen kompensiert wird. Während der Trockenzeit<br />
kümmern sich aber ausschließlich die Männchen um die Brut (Bourne<br />
1998). Schutz der Eier vor Austrocknung und Prädation sind die wichtigsten<br />
allgemeinen Vorteile der Fürsorge bei Fröschen (Bickford 2004).<br />
Bei Reptilien unterscheiden sich die Großgruppen in der Art der Jungenfürsorge.<br />
In 97% der Gattungen von Eidechsen und Schlangen werden<br />
die Eier zwar versteckt, aber es gibt keine weitere Form der elterlichen<br />
Fürsorge. Bei den wenigen Arten, bei denen Eier bewacht werden, wird<br />
dies immer von den Weibchen getan. Bei Königspythons (Python regius)<br />
bewachen Weibchen ihr Gelege für zwei Monate und reduzieren dabei vor<br />
allem den Wasserverlust der Eier, was sich positiv auf die Überlebensrate<br />
der Jungen auswirkt (Aubret et al. 2003). Bei Krokodilen werden dagegen<br />
bei allen Arten die Eier von der Mutter oder beiden Eltern für mehrere<br />
Monate bewacht. Sie schützen ihre Gelege dabei vor Nesträubern und graben<br />
die geschlüpften Jungen aus (Platt u. Thorbjarnarson 2000).<br />
Bei allen der ca. 9 600 Vogelarten findet eine Form der elterlichen Fürsorge<br />
statt. In mehr als 90% der Arten wird die Fürsorge von beiden Eltern<br />
geleistet; rein weibliche Fürsorge tritt bei etlichen Arten auf; rein männliche<br />
Fürsorge ist am seltensten (Reynolds et al. 2002). Die Kombination<br />
von sozialer Monogamie und biparentaler Fürsorge bei Vögeln unterscheidet<br />
sich komplett von der Kombination promisker Paarungen und weitgehend<br />
fehlender Fürsorge bei Reptilien, der Gruppe, in der Vögel ihren<br />
evolutionären Ursprung haben. Für die Erklärung dieses Übergangs gibt es<br />
zwei Hypothesen. Basierend auf phylogenetischen Rekonstruktionen der<br />
verschiedenen Formen von Fürsorge auf mehreren alternativen Phylogenien<br />
der Vögel kommen manche Autoren zu dem Schluss, dass mütterliche
416 10 Elterliche Fürsorge<br />
Fürsorge für (nestflüchtende) Vögel ursprünglich war und später in biparentale<br />
Fürsorge (nesthockender Jungen) überging (Burley u. Johnson<br />
2002; Tullberg et al. 2002). Andere (Wesolowski 2004) gehen dagegen<br />
davon aus, dass väterliche Fürsorge ursprünglich war. Diese Einschätzung<br />
basiert aber möglicherweise darauf, dass die Ratiten (Strauße, Kiwis und<br />
Rheas), die väterliche Fürsorge besitzen, von diesen Autoren als basale<br />
Gruppe der Vögel angesehen werden (Vehrencamp 2000). Die basale Stellung<br />
der Ratiten wurde in umfassenden phylogenomischen Analysen allerdings<br />
bestätigt (Hackett et al. 2008).<br />
Exklusiv väterliche Fürsorge ist in insgesamt 12 Familien entstanden.<br />
Diese unterscheiden sich von Familien mit exklusiver mütterlicher Fürsorge<br />
weder in ihren Fertilitätsraten noch der relativen Größe der Eier. Sie<br />
brüten aber in viel geringeren Dichten, so dass es für die Männchen weniger<br />
Gelegenheiten für zusätzliche Verpaarungen und damit zum Verlassen<br />
des Geleges gibt (Owens 2002). Bei diesen Arten sowie bei Arten mit biparentaler<br />
Fürsorge scheint die Vaterschaftssicherheit die wichtigste Determinante<br />
des männlichen Fürsorgeverhaltens zu sein (Møller u. Cuervo<br />
2000). Dementsprechend kovariiert der männliche Beitrag zur gemeinsamen<br />
Fürsorge positiv mit der Häufigkeit des Auftretens von fremden<br />
Vaterschaften (extra-pair paternity; Møller 2000).<br />
Wenn Männchen experimentell während der Jungenaufzucht entfernt<br />
werden, lassen sich über die durchschnittliche Reduktion des Fortpflanzungserfolgs<br />
der relative Anteil der Männchen an der Gesamtfürsorge sowie<br />
das Kompensationsvermögen der Weibchen abschätzen. Proximat<br />
wird der männliche Fürsorgeaufwand an die Gelegegröße angepasst. Wenn<br />
man beispielsweise bei Staren (Sturnus vulgaris) die Gelegegröße experimentell<br />
erhöht, verbringen die Männchen mehr Zeit mit Brüten und weniger<br />
Zeit mit der Suche nach Kopulationsgelegenheiten mit anderen Weib-<br />
Abb. 10.6. Elterliche Fürsorge in<br />
Form von Brüten und Füttern findet<br />
sich bei allen Vogelarten mit nesthockenden<br />
Jungen
10.2 Geschlechtsspezifische Fürsorge 417<br />
chen (Komdeur et al. 2002). Generell wird die Größe des Geleges von den<br />
artspezifischen Life history-Strategien ( Kap. 2.3) und noch nicht genauer<br />
bekannten Faktoren bestimmt. Variation in der durchschnittlichen Gelegegröße<br />
zwischen Singvögeln der Nord- und Südhalbkugel lässt sich nämlich<br />
weder durch unterschiedliches Räuberrisiko noch durch andere<br />
Faktoren erklären (Martin et al. 2000).<br />
Bei allen Säugetieren existiert eine Form der mütterlichen Fürsorge,<br />
wobei Laktation das herausragende Merkmal darstellt (Abb. 10.7). Sie ist<br />
vermutlich deswegen evoluiert, weil laktierende Weibchen ihre Jungen unabhängig<br />
von aktuellen Nahrungsbedingungen ausreichend füttern können<br />
(Dall u. Boyd 2004). Die Monotremata sind zwar eierlegend, nach dem<br />
Schlüpfen der Jungen stellen die Weibchen ihnen aber Milch auf einem<br />
Drüsenfeld bereit, von welchem die Milch aufgeleckt wird. Die Marsupialia<br />
waren ursprünglich ebenfalls eierlegend (Zeller 1999). Rezente Arten<br />
sind aber durch Lebendgeburten nach sehr kurzen Tragzeiten charakterisiert.<br />
Ihre „lebend geborenen Embryonen“ wandern nach der Geburt in den<br />
mütterlichen Beutel, wo sie sich an einer Milchdrüse verankern. Beuteltiere<br />
können bis zu drei Jungtiere unterschiedlichen Alters gleichzeitig versorgen:<br />
ein frisch geborenes Jungtier kann neben einem älteren Geschwister<br />
säugen und gleichzeitig können Mütter einen Embryo tragen (Jarman<br />
2000). Väterliche Fürsorge ist bei beiden Gruppen ursprünglicher Säugetiere<br />
nicht bekannt.<br />
Bei den Plazentalia verbringen die Jungtiere einen relativ längeren Anteil<br />
ihrer Entwicklungszeit im mütterlichen Körper und werden nach der<br />
Geburt von der Mutter mit Milch versorgt. Dadurch, dass funktionale<br />
Milchdrüsen mit Ausnahme einer malaysischen Flughundart (Dyacopterus<br />
spadiceus: Francis et al. 1994) auf Weibchen beschränkt sind, können sich<br />
männliche Säugetiere nur eingeschränkt an der Jungenaufzucht beteiligen.<br />
Abb. 10.7. Laktation stellt eine obligate<br />
Form mütterlicher Fürsorge aller Säugetiere<br />
dar
418 10 Elterliche Fürsorge<br />
Biparentale Jungenfürsorge findet sich daher nur bei circa 10% der Säugetierarten.<br />
Männchen beteiligen sich bei ihnen an der Aufzucht der Jungen,<br />
indem sie diese wärmen, bewachen, tragen oder mit fester Nahrung versorgen<br />
(Woodroffe u. Vincent 1994). Väterliches Fürsorgeverhalten geht<br />
oft mit charakteristischen endokrinen Veränderungen wie der Erhöhung<br />
des Prolaktinspiegels einher, die auch mütterliches Verhalten begleiten<br />
(Wynne-Edwards u. Reburn 2000). Bei Arten mit Post-partum-Östrus<br />
kann das zu diesem Zeitpunkt in hohen Konzentrationen vorliegende Testosteron<br />
in Östradiol umgewandelt werden, welches seinerseits männliches<br />
Pflegeverhalten auslöst (Trainor u. Marler 2002).<br />
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt<br />
Robert Trivers (1972) definierte elterliches Investment als „jegliches Investment<br />
durch den Elter in einen individuellen Nachkommen, das die<br />
Überlebenswahrscheinlichkeit (und folglich den Reproduktionserfolg) des<br />
Nachkommen zu Lasten der Fähigkeit des Elters erhöht, in andere Nachkommen<br />
zu investieren“. Dieses Investment berücksichtigt alle Merkmale,<br />
die zur erhöhten Fitness der Nachkommen beitragen. Dazu zählen neben<br />
zeit- und energieaufwändigen Verhaltensweisen auch somatische Aufwendungen<br />
für die Qualität der Nachkommen sowie Risiken, welche die Eltern<br />
in diesem Zusammenhang auf sich nehmen. Da elterliches Investment<br />
demnach durch Kosten limitiert wird, ergeben sich automatisch mehrere<br />
grundlegende Konflikte. Sowohl zwischen den Eltern als auch zwischen<br />
Eltern und Nachkommen, aber auch zwischen Geschwistern, können<br />
Konflikte über die Maximierung des elterlichen Investments entstehen<br />
Abb. 10.8. Innerhalb einer Familie/Fortpflanzungsgemeinschaft existieren theoretisch<br />
drei Konflikte über das elterliche Investment: zwischen den Eltern, den<br />
Eltern und den Jungen sowie zwischen Geschwistern
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 419<br />
(Abb. 10.8). Ein Problem, sowohl für Individuen als auch für Evolutionsbiologen,<br />
besteht darin, dass alle drei Konflikte gleichzeitig gelöst werden<br />
müssen (Parker et al. 2002). Schließlich versuchen manche Arten die Kosten<br />
des elterlichen Investments dadurch zu reduzieren, dass sie Mitglieder<br />
anderer Arten parasitieren, was zu einem Konflikt und evolutionärem<br />
Wettrennen zwischen den betroffenen Arten führt.<br />
10.3.1 Sexueller Konflikt über elterliches Investment<br />
Da elterliches Investment mit Kosten verbunden ist, kann es bei Arten mit<br />
biparentaler Jungenfürsorge zu einem Konflikt zwischen den Eltern über<br />
das individuelle Maß an Investment kommen ( Kap. 9.8). Die Ursache<br />
dieses Konflikts besteht darin, dass jeder Elter einen Teil seines Investments<br />
zurückhalten könnte, um mit einem anderen Partner in zusätzliche<br />
Nachkommen zu investieren. Wenn ein gewisses Maß an Investment zur<br />
erfolgreichen Jungenaufzucht notwendig ist, könnte also ein Elter sein Investment<br />
auf Kosten des anderen Elters reduzieren und so einen Konflikt<br />
zwischen beiden heraufbeschwören.<br />
Dieser Konflikt zwischen den Geschlechtern kann schon im Vorfeld der<br />
Fortpflanzung bei der Partnerwahl entschärft werden. Väterliche Fürsorge<br />
ist einer der wichtigsten direkten Vorteile der Partnerwahl ( Kap. 9.4),<br />
und Weibchen können über diesen Mechanismus starke Selektion auf die<br />
Bereitschaft der Männchen, Fürsorge zu leisten, ausüben. Bei Vogelarten,<br />
bei denen indirekte Vorteile der Partnerwahl im Vordergrund stehen, sind<br />
es tatsächlich die Weibchen, die im Durchschnitt ein größeres elterliches<br />
Investment leisten (Møller u. Thornhill 1998).<br />
Aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit und der gemeinsamen Interessen<br />
beider Eltern können deren Investmentstrategien mit Hilfe von ESS-<br />
Modellen ( Kap. 1.4) vorhergesagt werden. Entsprechende Modelle haben<br />
gezeigt, dass biparentale Fürsorge nur dann stabil ist, wenn die Reduktion<br />
des Investments durch einen Elter nicht komplett durch den anderen<br />
kompensiert wird (Parker 1985). Wenn nämlich komplette Kompensation<br />
stattfände, gäbe es keinen Grund, einen Partner nicht zu verlassen. Im Fall<br />
der inkompletten Kompensation kann die individuelle Anpassung des Investments<br />
als Ergebnis eines iterativen Verhandlungsprozesses zwischen<br />
den Geschlechtern betrachtet werden, bei dem beide Eltern entweder die<br />
Anstrengung oder die Kondition des anderen permanent verfolgen und ihr<br />
Verhalten dynamisch daran anpassen (Chase 1980). Eine alternative Möglichkeit<br />
besteht darin, dass die beiden Beteiligten sich durch die Anwendung<br />
bestimmter Regeln auf einen bestimmten Ausgang der „Verhandlungen“<br />
einigen und nicht auf jede Aktion des anderen unmittelbar reagieren,
420 10 Elterliche Fürsorge<br />
sondern ein vorgewähltes Maß an Investment leisten (McNamara et al.<br />
1999).<br />
Eine Möglichkeit, diesen Konflikt zwischen Eltern empirisch zu untersuchen,<br />
besteht darin, einen Elter zu entfernen und die Kompensation des<br />
anderen zu quantifizieren (Wright u. Cuthill 1989). In der Regel kompensieren<br />
„Alleinerziehende“ die Fürsorge des fehlenden Partners tatsächlich<br />
Box 10.1<br />
Sexueller Konflikt und die Kompensation elterlicher Fürsorge<br />
• Frage: Unterscheidet sich das elterliche Investment pro Jungtier, wenn Eltern<br />
(Zebrafinken, Taeniopygia guttata) sich alleine oder zu zweit um die<br />
Jungenaufzucht kümmern?<br />
• Hintergrund: Wenn es im Kontext der Jungenfürsorge einen Konflikt<br />
zwischen den Eltern gibt, ist zu erwarten, dass weniger investiert wird,<br />
wenn beide sich an der Aufzucht beteiligen.<br />
• Methode: In 14 Paaren wurde elterliches Investment unter zwei Bedingungen<br />
gemessen: Entweder zogen beide Eltern zunächst gemeinsam vier<br />
Junge auf und anschließend das Weibchen alleine zwei Jungen oder umgekehrt.<br />
Investment wurde als die Masse gefütterter Samen operationalisiert.<br />
Elterliches Investment<br />
pro Junges [g]<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10 Alleine Paar<br />
• Ergebnis: Weibchen, die alleine zwei Jungen aufzogen, fütterten diese im<br />
Durchschnitt signifikant mehr als wenn sie durch den Vater unterstützt<br />
wurden*.<br />
• Schlussfolgerung: Unter identischer Pro-Kopf-Belastung investierten<br />
Weibchen mehr, wenn sie sich als „Alleinerziehende“ um die Jungen<br />
kümmerten. Es gibt also einen sexuellen Konflikt über das elterliche Investment,<br />
der sich darin äußert, dass mögliches Investment zurückgehalten<br />
wird.<br />
Royle et al. 2002a<br />
* jede Linie verbindet die beiden Datenpunkte eines Weibchens unter den beiden Bedingungen
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 421<br />
nicht komplett (z. B. bei Nektarvögeln: Markman et al. 1996). Allerdings<br />
gibt es Hinweise auf qualitative Unterschiede der Fürsorge von Eltern,<br />
die experimentell zur alleinigen Aufzucht der Jungen gezwungen werden<br />
(Box 10.1).<br />
Entfernungsexperimente zeigen, welche Kompensationsmöglichkeiten<br />
existieren, aber sie können nichts über die Mechanismen der Konfliktbewältigung<br />
zwischen den Eltern aussagen. In anderen Experimenten<br />
wurden Eltern daher in ihrem Investment behindert, z. B. dadurch, dass ihnen<br />
einige Federn gekürzt oder kleine Gewichte angehängt wurden. Die<br />
Ergebnisse dieser Untersuchungen sind sehr heterogen: die komplette<br />
Spannweite von fehlender über partielle bis hin zu kompletter Kompensation<br />
wurde beobachtet, wobei bei manchen Arten geschlechtsspezifische<br />
Reaktionen zu verzeichnen waren (z. B. Sanz et al. 2000). In Bezug auf die<br />
Frage, ob der eigene Aufwand dynamisch an Veränderungen des Aufwandes<br />
des Partners angepasst wird oder ob es ein bestimmtes festes Maß an<br />
Investment gibt, zeigte eine Untersuchung an Haussperlingen (Passer domesticus),<br />
dass beide Geschlechter weder während noch nach der Behinderung<br />
ihres Partners ihre Fütterungsraten an die temporären Veränderungen<br />
dessen Verhaltens anpassten (Schwagmeyer et al. 2002). Stattdessen zeigten<br />
alle Individuen weitgehend konstante Fütterungsraten, was darauf hindeutet,<br />
dass jeder Elter einen festen Einsatz leistet und dass die Anpassungen<br />
offenbar auf evolutionärer Ebene stattfinden (McNamara et al. 1999).<br />
Neben dem Konflikt über das relative elterliche Investment kann es<br />
zwischen den Geschlechtern auch einen Konflikt darüber geben, ob ein<br />
Partner den anderen verlässt. Dieses Problem des Verlassens (mate desertion)<br />
entscheidet darüber, ob bi- oder uniparentale Fürsorge stattfindet,<br />
und es hat weitreichende Konsequenzen für das Paarungssystem einer Art<br />
( Kap. 11.2). Die Frage, ob bei Arten mit biparentaler Fürsorge ein Geschlecht<br />
das andere mit der Brut verlassen sollte, wurde in theoretischen<br />
Arbeiten ausgiebig modelliert. Diese Entscheidung hängt sowohl vom<br />
Verhältnis der Vorteile der Investition in die aktuelle Brut als auch von der<br />
Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Verpaarungen ab (Wade u. Shuster 2002).<br />
Eine vergleichende Studie an Vögeln zeigte, dass die Gelegenheit für weitere<br />
Paarungsgelegenheiten tatsächlich am besten erklärt, warum bei nesthockenden<br />
Arten der eine oder andere Elter weniger investiert (Olson et al.<br />
2008).<br />
Die Chancen zusätzlicher Verpaarungen hängen ihrerseits stark vom<br />
Verhalten der anderen Mitglieder einer Population ab. Nur wenn relativ<br />
viele Individuen nicht verpaart sind oder bereit sind, in ein weiteres Reproduktionsereignis<br />
zu investieren, lohnt es sich, zu desertieren. In diesem<br />
Fall scheinen auch Fähigkeiten bezüglich der individuellen Einschätzungen<br />
des Risikos, verlassen zu werden, entstanden zu sein. Steinsperlinge
422 10 Elterliche Fürsorge<br />
(Passer petronia), denen durch experimentelle Eingriffe vorgegaukelt<br />
wurde, dass ihre Partnerinnen sie demnächst verlassen könnten, desertierten<br />
nämlich nicht selber zuerst, sondern erhöhten sowohl ihr Investment in<br />
die gemeinsame Brut als auch ihr Balzverhalten gegenüber ihren Partnerinnen<br />
(Griggio et al. 2005). Das Verhalten von Eltern in diesem Spannungsfeld<br />
hängt schließlich auch von ihren Energiereserven ab (Barta et al.<br />
2002). Wenn also ein Elter noch viel Investment leisten kann, wird es für<br />
den anderen Elter leichter zu desertieren und den anderen das fehlende Investment<br />
kompensieren zu lassen.<br />
10.3.2 Eltern-Kind-Konflikt<br />
Bei Arten mit sexueller Fortpflanzung und uni- oder biparentaler Fürsorge<br />
kommt es aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse der Beteiligten sowohl<br />
zwischen Eltern und Jungen als auch zwischen Geschwistern zu Konflikten<br />
über das elterliche Investment. Um die Ursachen dieser Konflikte in<br />
den lange Zeit als harmonisch betrachteten Familienbeziehungen zu verstehen,<br />
müssen zunächst deren genetische Grundlagen betrachtet werden.<br />
(1) Verwandtschaft, Verhalten und Evolution. Durch Meiose kommt es<br />
zur Produktion haploider Gameten, die einen mütterlichen (Eier) oder väterlichen<br />
(Spermien) Chromosomensatz enthalten. Dabei hat jedes Allel<br />
eines elterlichen Genoms eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, in eine entstehende<br />
Keimzelle zu gelangen. Bei der Fusion der Gameten bekommt jede<br />
Zygote und die sich daraus entwickelnden Nachkommen daher je die Hälfte<br />
ihrer Gene von den beiden Eltern. Diese Wahrscheinlichkeit, identische<br />
Allele mit anderen Individuen zu teilen, variiert generell zwischen 0 und 1<br />
und wird durch den Verwandtschaftskoeffizienten (r) ausgedrückt. Da<br />
jede Zygote unterschiedliche 50% ihrer Gene von den Eltern bekommt, teilen<br />
Geschwister im Durchschnitt ebenfalls 50% ihrer Erbinformation miteinander.<br />
Das heißt, der Verwandtschaftskoeffizient beträgt sowohl zwischen<br />
Eltern und Kindern als auch zwischen Geschwistern 0,5. Mit jeder<br />
zusätzlichen Generation verringert sich r weiter um die Hälfte; bei eineiigen<br />
Zwillingen ist r = 1, bei Nicht-Verwandten ist r = 0.<br />
Der Verwandtschaftskoeffizient ist bei evolutionären Betrachtungen des<br />
Verhaltens bedeutsam, weil Evolution letztendlich aus Veränderungen von<br />
Allelhäufigkeiten innerhalb von Populationen besteht. Gene kodieren die<br />
Synthese von Proteinen, die ihrerseits unter anderem den Aufbau von Nervensystem,<br />
Hormondrüsen, Sinnesorganen, Muskeln und dem Bewegungsapparat<br />
eines Individuums kontrollieren und so das Verhalten mit
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 423<br />
beeinflussen. Die meisten Gene kommen in zwei oder mehr Allelen vor,<br />
die leicht unterschiedliche Proteinvarianten kodieren. Unter anderem aus<br />
Untersuchungen an meiotischen Drive-Genen, die sich bei der Bildung von<br />
Gameten einen unfairen Vorteil verschaffen, B-Chromosomen und Transposons<br />
ist bekannt, dass zwischen den verschiedenen Allelen Konkurrenz<br />
über die limitierten Plätze an einem Genlokus herrscht (Hurst u. Werren<br />
2001). Durch den differenziellen Überlebens- und Fortpflanzungserfolg<br />
von Individuen kommt es aufgrund von natürlicher und sexueller Selektion<br />
zur differentiellen Weitergabe von Allelen in die nächste Generation – und<br />
damit zu Evolution. Da Individuen in den allermeisten Fällen weniger als<br />
100% ihrer Allele teilen, haben sie keine identischen genetischen Interessen<br />
und versuchen ihre eigenen „selbstsüchtigen“ Gene (selfish genes)<br />
weiterzugeben. Etwas pointiert kann man Individuen daher auch als Vehikel<br />
betrachten, die von egoistischen Genen lediglich zu deren Replikation<br />
und Weitergabe benötigt und benutzt werden (Dawkins 1976).<br />
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie in<br />
diesem Zusammenhang stammt von William Hamilton. Er erkannte nämlich,<br />
dass es zwei Möglichkeiten gibt, die Häufigkeit der eigenen Allele in<br />
der nächsten Generation zu erhöhen: durch direkte eigene Fortpflanzung<br />
sowie durch erfolgreiche Fortpflanzung von Verwandten, mit denen ein<br />
Individuum abstammungsgleiche Allele mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit<br />
teilt (Hamilton 1964). Die Summe der direkten und indirekten Fitnesskomponenten<br />
wird als Gesamtfitness (inclusive fitness) bezeichnet.<br />
Bei der Analyse der Fitnesskonsequenzen von Interaktionen zwischen<br />
zwei Individuen muss man daher neben den Vor- und Nachteilen einer<br />
Verhaltensweise für den Handelnden und den Empfänger auch den Verwandtschaftskoeffizienten<br />
zwischen beiden berücksichtigen. Selektion, die<br />
dazu führt, dass Verhaltensweisen und andere Merkmale, die den Überlebens-<br />
oder Fortpflanzungserfolg von Verwandten erhöhen, in einer Population<br />
zunehmen, wurde von Maynard Smith (1964) als Verwandtenselektion<br />
(kin selection) bezeichnet. Verwandtenselektion dient als eine von<br />
mehreren theoretischen Grundlagen zur Erklärung von Altruismus, also<br />
dem Phänomen, dass Individuen durch bestimmte Verhaltensweisen die<br />
Fitness von Artgenossen erhöhen und dadurch aber ihre eigene Fitness verringern<br />
( Kap. 11.3).<br />
Altruistische Merkmale setzen sich im Laufe der Evolution durch, wenn<br />
Hamiltons Ungleichung (rb – c > 0) erfüllt ist (Hamilton 1964). Dabei<br />
bezeichnet r den Verwandtschaftskoeffizienten, b die Vorteile (benefits)<br />
einer Verhaltensweise oder eines anderen Merkmals für den Empfänger<br />
und c deren Kosten (costs) für den Akteur. Bei einem vergleichsweise<br />
hohen Verwandtschaftsgrad von 0,5 müssen die Vorteile einer Verhaltensweise<br />
für den Empfänger also mehr als doppelt so groß sein wie die
424 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.9. Abhängigkeit des minimalen Kosten/Nutzen-Verhältnisses eines altruistischen<br />
Merkmals vom Verwandtschaftskoeffizienten zwischen den Akteuren.<br />
Zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern müssen die Vorteile<br />
für den Empfänger mehr als zweimal so groß sein wie die Nachteile für den<br />
Akteur, um Hamiltons Ungleichung zu erfüllen. Mit abnehmendem Verwandtschaftskoeffizienten<br />
nimmt dieses kritische Verhältnis exponentiell zu<br />
Kosten für den Akteur, damit diese Ungleichung erfüllt ist. Mit abnehmendem<br />
Verwandtschaftskoeffizienten nehmen diese kritischen Kosten/Nutzen-Verhältnisse<br />
exponentiell zu (Abb. 10.9).<br />
Elterliches Investment stellt die häufigste Form altruistischen Verhaltens<br />
dar. Eltern investieren Zeit und Energie und nehmen Risiken in Kauf, um<br />
ihren Jungen Nahrung, Schutz, Wärme und andere Vorteile zukommen zu<br />
lassen. Da die Nachkommen Kopien der elterlichen Gene tragen und weitergeben,<br />
ist das Verhalten der Eltern genetisch eigennützig und wird<br />
durch Verwandtenselektion gefördert. Auch die Beteiligung von Helfern<br />
bei der Jungenaufzucht sowie Konflikte zwischen Geschwistern können<br />
durch Verwandtenselektion erklärt werden ( Kap. 10.4).<br />
(2) Ursachen des Eltern-Kind-Konflikts. Vor dem Hintergrund der Verwandtenselektion<br />
wird verständlich, warum es zu einem Konflikt zwischen<br />
Eltern und Nachkommen kommt. Da Eltern und Kinder im Durchschnitt<br />
nur die Hälfte ihrer Allele teilen, haben sie divergierende genetische Interessen.<br />
Eltern sind mit allen Nachkommen gleichermaßen verwandt und<br />
haben daher ein Interesse daran, sowohl in den aktuellen als auch ihren zu-
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 425<br />
künftigen Nachwuchs gleichermaßen zu investieren. Jedes einzelne Junge<br />
sollte dagegen versuchen, so viel elterliches Investment wie möglich auf<br />
sich zu ziehen, da es von Investment in seine Geschwister nur bedingt profitiert.<br />
Der Vorteil von elterlichem Investment in Vollgeschwister ist aus<br />
Sicht eines Jungen nur halb so groß, wie wenn dieses Investment an es<br />
selbst gegangen wäre, da dieser Vorteil mit dem Verwandtschaftskoeffizienten<br />
von 0,5 gewichtet wird. Wenn es selber Investment erhält, wird<br />
dessen Vorteil theoretisch mit 1,0 multipliziert, da jedes Individuum sozusagen<br />
mit sich selbst zu 100% verwandt ist. Nur wenn eine Einheit elterlichen<br />
Investments mehr als zweimal so wertvoll für ein Geschwister ist,<br />
sollte ein Individuum darauf verzichten, weil es dann über indirekte Fitness<br />
eine größere Gesamtfitness erfährt. Immer wenn Junge egoistischer<br />
sind, als dies für die Eltern optimal wäre, kommt es zu einem Konflikt<br />
zwischen ihnen (Trivers 1972).<br />
Aus dieser Perspektive betrachtet sind Nachkommen keine passiven<br />
Empfänger elterlichen Investments, sondern aktive Spieler in einem evolutionären<br />
Konflikt, in dem sie eigene Interessen verfolgen. Man kann also<br />
erwarten, dass natürliche Selektion Merkmale der Jungtiere gefördert hat,<br />
die ihren Anteil an elterlichem Investment erhöhen, wohingegen im Gegenzug<br />
elterliche Strategien koevoluiert sind, die diesem eigennützigen<br />
Verhalten entgegenwirken (Godfray 1995). Wenn Mütter einer Ressourcenknappheit<br />
ausgesetzt sind, hat ihre eigene Kondition in der Tat Vorrang<br />
vor ihrer Investition in den aktuellen Nachwuchs (Therrien et al. 2007).<br />
Aufgrund der Asymmetrien in Größe und Stärke müssen sich Jungtiere anderer<br />
Mechanismen bedienen, um von den Eltern zu bekommen, was sie<br />
wollen. Dabei handelt es sich vor allem um Verhaltensweisen (Trivers<br />
1972). Bei viviparen Arten spielen außerdem genetische und physiologische<br />
Mechanismen vor der Geburt in diesem Kontext eine wichtige Rolle<br />
(Crespi u. Semeniuk 2004).<br />
(3) Mechanismen des Eltern-Kind-Konflikts. Bei viviparen Arten stellt<br />
der Mutter-Fötus-Konflikt eine besondere Form des Eltern-Kind-Konflikts<br />
dar. Aufgrund des mütterlichen Investments in die heranwachsenden<br />
Föten über die Plazenta existieren, im Unterscheid zu oviparen Arten, die<br />
Voraussetzungen für Konflikte zwischen Fötus und Mutter sowie zwischen<br />
Geschwistern (Crespi u. Semeniuk 2004). Wenn gleichzeitig mehr als ein<br />
Fötus heranwächst und die Mutter sich polyandrisch verpaart hat, entsteht<br />
zusätzlich ein intragenomischer Konflikt zwischen den mütterlichen und<br />
väterlichen Allelen innerhalb eines heranwachsenden Individuums. Dieser<br />
Konflikt entsteht, weil Geschwister in diesem Fall dieselbe Mutter, aber<br />
verschiedene Väter haben. Wenn die Väter untereinander nicht verwandt<br />
sind, haben die von verschiedenen Männchen stammenden väterlichen Al-
426 10 Elterliche Fürsorge<br />
lele untereinander einen Verwandtschaftskoeffizienten von 0, wohingegen<br />
r für mütterliche Allele 0,5 beträgt. Mütterliche Allele, welche die Ressourcenaufnahme<br />
des Fötus kontrollieren, sollten daher die egoistischen<br />
Interessen eines Fötus mit denen seiner Geschwister balancieren. Allele<br />
mit väterlicher Abstammung haben dagegen keine abstammungsidentischen<br />
Kopien in anderen Föten und sollten daher darauf hinwirken, mehr<br />
Ressourcen zu extrahieren als dies für die mütterlichen Allele optimal ist.<br />
Dieser intragenomische Konflikt kann nur stattfinden, wenn es einen Mechanismus<br />
gibt, der es Allelen ermöglicht, als Funktion des elterlichen Ursprungs<br />
unterschiedlich exprimiert zu werden. Dieser als genomische Prägung<br />
(genomic imprinting) bezeichnete Mechanismus wurde tatsächlich<br />
bei Säugetieren nachgewiesen. In diesem Fall sind bestimmte autosomale<br />
Allele unterschiedlich methyliert, so dass sie selektiv an- oder abgeschaltet<br />
werden können (Haig 1997). In Zuchtexperimenten mit Mäusen konnte<br />
beispielsweise gezeigt werden, dass die Wurfgröße unter dem Einfluss väterlicher<br />
Gene steht, wohingegen die Versorgung mit Milch durch mütterliche<br />
Gene kontrolliert wird (Hager u. Johnstone 2003).<br />
Nach der Geburt sind Jungtiere vor allem auf Verhaltensweisen angewiesen,<br />
um ihre Eltern zu manipulieren. Dabei kann es sich um Verhaltensweisen<br />
handeln, mit denen sie den Eltern Fehlinformationen über ihre<br />
Bedürfnisse zukommen lassen. Da Eltern nicht riskieren können, solche<br />
Signale der Bedürftigkeit komplett zu ignorieren, könnten Junge auf diese<br />
Art einen grundsätzlichen Vorteil in diesem Konflikt aufrechterhalten.<br />
Diese Signale können aber auch dazu dienen, mit Geschwistern zu konkurrieren<br />
oder den Eltern den eigenen Wert zu signalisieren (Wells 2003).<br />
Andererseits ist das Betteln von Nestlingen auch durch Kosten limitiert:<br />
Betteln lockt Nesträuber an (Haskell 1994), und der mit dem Betteln verbundene<br />
erhöhte Energieverbrauch verzögert das Wachstum der Jungen<br />
(Kilner 2001). Das würde dafür sprechen, dass nur ehrliche Bedürfnisse<br />
kommuniziert werden (Kilner u. Johnstone 1997), aber die Vorhersagen<br />
dieser Hypothese (honest signalling of need) sind größtenteils identisch<br />
mit Vorhersagen der alternativen Hypothese, dass Geschwister untereinander<br />
um elterliches Investment konkurrieren (sibling scramble competition,<br />
Royle et al. 2002b).<br />
Bettelverhalten von Jungvögeln wurde bislang hauptsächlich mit Hinblick<br />
auf deren ehrliche Bedürftigkeit interpretiert (Abb. 10.10). Für Eltern<br />
ist es vorteilhaft, auf unterschiedliches Bettelverhalten einzelner Jungtiere<br />
zu reagieren, weil sie so am ehesten eine gleichmäßige Fütterung bewerkstelligen<br />
(Grodzinski u. Lotem 2007). Der gelb bis rot gefärbte Rachen der<br />
Nestlinge löst elterliche Fürsorge (Füttern) aus und ist beispielsweise bei<br />
Kanarienvögeln (Serinus canaria) mit zunehmendem Hunger intensiver<br />
gefärbt (Kilner 1997). Ultraviolette Farben spielen dabei eine bislang un-
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 427<br />
Abb. 10.10. Das Betteln<br />
von Jungvögeln ist ein Signal<br />
der Bedürftigkeit, das<br />
elterliche Fürsorge auslöst;<br />
hier bei Geradschnabelkrähen<br />
(Corvus moneduloides)<br />
geahnte Rolle (Hunt et al. 2003). Bei Ringschnabelmöwen (Larus delawarensis)<br />
nimmt die Häufigkeit und Intensität von Bettelrufen der Jungen<br />
proportional mit ihrem Hungerstatus zu, so dass es sich ebenfalls um prinzipiell<br />
ehrliche Signale der Bedürftigkeit handelt (Iacovides u. Evans<br />
1998). Bei Sumpfschwalben (Tachycineta bicolor) können Eltern auch die<br />
Bettelrufe von mehr oder weniger hungrigen Jungen unterscheiden und<br />
füttern präferentiell hungrige Junge (Leonard u. Horn 2001). In einem Experiment<br />
mit Kohlmeisen (Parus major), bei dem die Gelegegröße variiert<br />
wurde, beobachtete man aber, dass, trotz kompletter elterlicher Kompensation<br />
der unterschiedlichen Brutgrößen, die Intensität des Bettelns mit der<br />
Zahl der Nestlinge zunahm (Neuenschwander et al. 2003). Diese Studie<br />
zeigt, dass es auch Ausbeutungskonkurrenz ( Kap. 5.4) zwischen bettelnden<br />
Geschwistern gibt.<br />
Alle Beispiele, bei denen elterliches Investment nicht gleichmäßig über<br />
alle Junge verteilt wird, können dahingehend interpretiert werden, dass<br />
diejenigen Jungen, die mehr Investment bekommen, diesen Konflikt mit<br />
ihren Eltern gewonnen haben. Diese Interpretation basiert aber auf bislang<br />
kaum überprüften Annahmen (Ausnahme: Agrawal et al. 2001) über die<br />
genetischen Mechanismen (Kölliker u. Richner 2001), die Angebot und<br />
Nachfrage der Futterzuteilung kontrollieren (Royle et al. 2004).<br />
Bei Säugetieren kann der Entwöhnungskonflikt zwischen Mutter und<br />
Jungen ebenfalls vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Wenn die<br />
Versorgung der wachsenden Jungen zunehmend teurer wird, sollten Mütter<br />
die Laktation beenden, wenn das Verhältnis von Nutzen und Kosten aus<br />
ihrer Sicht in Bezug auf ihr Fortpflanzungspotential kleiner als 1 wird. An<br />
diesem Punkt sollten sie mit der Produktion des nächsten Wurfs beginnen.<br />
Ein Experiment mit Meerschweinchen (Cavia aperea), bei dem ältere<br />
Würfe und Neugeborene zwischen Müttern ausgetauscht wurden, zeigte,
428 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.11. Der zeitliche Verlauf des hypothetischen Nutzen/Kosten-Verhältnisses<br />
eines elterlichen Fürsorgeverhaltens (z. B. Säugen) zeigt, dass die Mutter<br />
zum Zeitpunkt M das Investment einstellen sollte, da das Verhältnis kleiner als 1<br />
wird. Aufgrund des Verwandtschaftskoeffizienten von 0,5 sind die Nachkommen<br />
selektiert, Investment bis zum Zeitpunkt K 1/2 zu empfangen. Die Zeit dazwischen<br />
(orange) markiert die Dauer des Entwöhnungskonflikts. Wenn die nächsten Geschwister<br />
einen anderen Vater haben und damit nur Halbgeschwister sind, sollte<br />
der Konflikt durch die Nachkommen sogar bis zum Zeitpunkt K 1/4 hinausgezögert<br />
werden (gelb)<br />
dass die mütterliche Verfassung und nicht der Bedarf der Jungen den Zeitpunkt<br />
der Entwöhnung bestimmt (Rehling u. Trillmich 2007). Die Jungen<br />
sollten dagegen generell auf weiteres Investment bestehen, bis die Kosten<br />
doppelt so groß sind wie die Vorteile, da sie erst dann durch die Verhinderung<br />
der Produktion weiterer Geschwister ihre indirekte Fitness stärker<br />
schmälern, als sie ihre direkte Fitness erhöhen (Trivers 1974). Wenn die<br />
nächsten Geschwister nicht denselben Vater haben, sollten die Jungen den<br />
Konflikt noch weiter hinauszögern und zusätzliches mütterliches Investment<br />
verlangen (Abb. 10.11).<br />
(4) Differentielles Investment. Die Theorie des Eltern-Kind-Konflikts<br />
geht davon aus, dass Eltern und insbesondere Mütter in alle Nachkommen<br />
gleichermaßen investieren sollten, da sie mit allen in gleicher Weise verwandt<br />
sind. Kannibalismus und Brutreduktion lieferten zwei Beispiele extremer<br />
Ungleichbehandlung. Subtilere Variation im Investment zwischen
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 429<br />
verschiedenen Gelegen oder Würfen ist aber auch dann zu erwarten, wenn<br />
sich deren Qualität oder Größe oder der verbleibende elterliche Reproduktionswert<br />
unterscheiden. Differentielles Investment innerhalb von Würfen<br />
oder Gelegen ist vor allem in Abhängigkeit vom Geschlecht der Jungen zu<br />
erwarten.<br />
Eine Grundannahme der Life history-Theorie geht davon aus, dass Individuen<br />
ihren Reproduktionsaufwand über die gesamte Lebensspanne optimieren<br />
( Kap. 2.3). Iteropare Organismen, bei denen Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
und Fekundität mit zunehmendem Alter abnehmen, sollten<br />
daher ihren Reproduktionsaufwand, also auch ihr elterliches Investment,<br />
mit steigendem Alter erhöhen, da die Wahrscheinlichkeit, sich noch einmal<br />
fortpflanzen zu können, stetig abnimmt (Williams 1966). Bei diesem<br />
terminalen Investment (Clutton-Brock 1984) sollte mit abnehmendem<br />
verbleibendem Reproduktionswert der Mutter der Konflikt über elterliches<br />
Investment mit den Nachkommen an Intensität verlieren. Daher sollten<br />
spät im Leben produzierte Nachkommen von ihrer Mutter mehr Investment<br />
erhalten als früh produzierte. Für diese Vorhersage gibt es aber wenig<br />
überzeugende empirische Hinweise (Weladji et al. 2002), und wenn es<br />
entsprechende Effekte gibt, können alternative Erklärungen, wie z. B. größere<br />
mütterliche Erfahrung, nicht ausgeschlossen werden (Cameron et al.<br />
2000).<br />
Ein weiterer Grund für differentielle Behandlung von Jungen aus unterschiedlichen<br />
Gelegen könnte darin bestehen, dass sich diese in ihrer Qualität<br />
unterscheiden. Solche Qualitätsunterschiede sind besonders dann zu<br />
erwarten, wenn Weibchen aus der Partnerwahl indirekte Vorteile beziehen<br />
( Kap. 9.5). Nach Verpaarungen mit Männchen hoher Qualität sind<br />
Erhöhungen des mütterlichen Investments zu erwarten (Burley 1988). In<br />
der Tat produzieren beispielsweise Stockenten (Anas platyrhynchos: Cunningham<br />
u. Russell 2000) oder Kardinalfische (Pterapogon kauderni:<br />
Kolm 2001) größere Eier, wenn sie sich mit präferierten Männchen verpaaren.<br />
Zebrafinken (Taeniopygia guttata) deponieren mehr Testosteron in<br />
ihren Eiern, wenn sie sich mit attraktiveren Männchen gepaart haben (Gil<br />
et al. 1999), was dazu führt, dass die Jungen intensiver betteln und schneller<br />
wachsen. Ob das postnatale Investment allerdings auch zwischen<br />
Gelegen oder Würfen unterschiedlicher Qualität variiert, ist bislang kaum<br />
untersucht.<br />
Da der Lebensfortpflanzungserfolg eines Individuums wesentlich über<br />
die Gesamtzahl der direkt produzierten und erfolgreich überlebenden<br />
Jungtiere definiert wird, sollten vor allem Eltern in Arten mit hohen Fortpflanzungsraten<br />
ihr Investment für große Würfe oder Gelege nach oben<br />
anpassen. Der Fürsorgeaufwand kann auch je nach artspezifischen Besonderheiten<br />
des Fürsorgeverhaltens mit größerer Nachkommenzahl zuneh-
430 10 Elterliche Fürsorge<br />
men. In beiden Fällen ist größeres elterliches Investment zu erwarten. Tatsächlich<br />
variiert bei einigen Vögeln die Intensität der Verteidigung einer<br />
Brut positiv mit deren Größe. Im Extremfall werden Bruten sogar ganz<br />
aufgegeben, zum Beispiel nachdem Räuber oder Krankheit einen Großteil<br />
der Brut vernichtet haben. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber<br />
die Frage, ob das elterliche Investment proportional zu Änderungen der<br />
Brutgröße angepasst wird oder ob Junge in größeren Bruten ein höheres<br />
Pro-Kopf-Investment erfahren. Bei Vögeln lässt sich diese Frage durch experimentelle<br />
Änderungen der Gelegegröße elegant untersuchen (Nur 1984).<br />
(5) Geschlechtsspezifisches Investment. Innerhalb eines Reproduktionsereignisses<br />
kann neben der Größe und Anzahl auch das Geschlechterverhältnis<br />
(sex ratio) der Jungen einer Brut variieren. Das primäre Geschlechterverhältnis<br />
bezieht sich auf das Verhältnis männlicher und weiblicher<br />
Zygoten; in der Praxis kann es aber zumeist erst bei frisch geschlüpften<br />
oder gerade geborenen Nachkommen bestimmt werden. Bei den meisten<br />
Arten ist die Zahl von Männchen und Weibchen auf Populationsebene zu<br />
Beginn jeder Generation ausgeglichen, was sowohl mit der evolutionären<br />
Stabilität (Fisher 1930; Kap. 7.4) als auch mit den häufigsten Mechanismen<br />
der Geschlechterbestimmung (siehe unten) zu tun hat.<br />
Darwin ging noch davon aus, dass es keinen Unterschied macht, ob ein<br />
Individuum 10 Söhne, 10 Töchter oder 5 Nachkommen von jedem Geschlecht<br />
produziert. Spätestens seit Bateman (1948) ist aber klar, dass sich<br />
das Reproduktionspotential der Geschlechter in den meisten Arten deutlich<br />
unterscheidet ( Kap. 7.3). Gibt es daher doch Gründe und Möglichkeiten<br />
für Eltern, Söhne und Töchter in einem bestimmten Verhältnis zu produzieren?<br />
Das ausgeglichene Geschlechterverhältnis nach Fisher bezieht sich<br />
ja auf die Ebene von Populationen und nicht auf die der Individuen. Selbst<br />
wenn Eltern das Geschlecht ihrer Nachkommen nicht adaptiv manipulieren<br />
(können), könnten sie in Söhne und Töchter unterschiedlich viel investieren,<br />
wenn sie dadurch ihre Fitness verbessern. Für beide Formen geschlechtsspezifischen<br />
Investments gibt es inzwischen zahlreiche Hinweise<br />
und Beispiele.<br />
Ob Eltern das Verhältnis von Söhnen und Töchtern beeinflussen können,<br />
hängt zunächst vom Mechanismus der Geschlechtsdetermination ab.<br />
Bei Tieren gibt es drei Klassen von Prozessen, die das Geschlecht einer<br />
Zygote oder eines Embryos festlegen. Bei genetischer Geschlechtsbestimmung<br />
wird die Entwicklung eines Geschlechts durch die An- oder<br />
Abwesenheit von kritischen genetischen Faktoren festgelegt. In den meisten<br />
Fällen wird das Geschlecht dabei durch ein segregierendes Paar von<br />
Geschlechtschromosomen bestimmt. Säugetiere, aber auch Eidechsen so-
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 431<br />
wie viele Fische, Insekten, Krebse, Spinnen und Nematoden besitzen ein<br />
XX/XY-System, bei dem die Männchen das heterogame (XY) und Weibchen<br />
das homogame (XX) Geschlecht sind. Bei Vögeln, Schlangen sowie<br />
manchen Fischen, Insekten und Krebsen sind die Weibchen das heterogame<br />
(ZW) und Männchen das homogame (ZZ) Geschlecht. Bei Arten mit<br />
Haplodiploidie, also bei Hymenopteren und einigen anderen Arthropoden,<br />
wird das Geschlecht genetisch über die Befruchtung der Eier geregelt: aus<br />
unbefruchteten Eiern entwickeln sich haploide Männchen (Arrenotokie),<br />
wohingegen diploide Weibchen aus befruchteten Eiern entstehen. Bei wenigen<br />
Arten ist nachgewiesen, dass neue Königinnen auch durch die Verschmelzung<br />
von zwei haploiden Eizellkernen (Thelytokie) entstehen können<br />
(Pearcy et al. 2004).<br />
Bei Arten mit ökologischer Geschlechtsbestimmung entscheidet ein<br />
Umweltfaktor über das Geschlecht, wobei unterhalb eines kritischen Werts<br />
das eine Geschlecht und oberhalb dieses Werts das andere Geschlecht entsteht.<br />
Am häufigsten handelt es sich bei dem entscheidenden Umweltfaktor<br />
um die Umgebungstemperatur, die bei Schildkröten, Krokodilen sowie<br />
manchen Fischen und Insekten über eine temperatursensitive Produktion<br />
von Östrogenen das Geschlecht festlegt. Dabei scheint durch die jeweilige<br />
Bruttemperatur für beide Geschlechter so festgelegt zu sein, dass männliche<br />
und weibliche Nachkommen, die genau bei diesen Temperaturen entstanden<br />
sind, als Adulte die höchste Fitness erzielen (Warner u. Shine<br />
2008). Bei einigen Crustaceen existiert schließlich eine cytoplasmatische<br />
Geschlechtsdetermination, bei der die Präsenz oder das Fehlen eines<br />
durch Infektion erworbenen cytoplasmatischen Faktors das eine oder andere<br />
Geschlecht hervorbringt.<br />
Die Annahmen der Fisher’schen Erklärung von ausgeglichenen Geschlechterverhältnissen<br />
auf Populationsebene, wie z. B. elterliche Kontrolle<br />
der Geschlechtsdetermination und Zufallspaarungen in unendlich großen<br />
Populationen, sind nicht immer realistisch. Neben anderen Mechanismen<br />
der Geschlechtsdetermination gibt es nämlich auch stark strukturierte Populationen,<br />
in denen Paarungen nicht zufällig erfolgen. Zudem ignoriert<br />
Fishers Erklärung mögliche Unterschiede in den Kosten der Produktion<br />
von Töchtern und Söhnen; bei manchen Arten unterscheiden sie sich beispielsweise<br />
in der Größe und erfordern daher unterschiedliches Investment.<br />
Wenn also die Produktion eines Sohnes beispielsweise doppelt so<br />
viel kostet wie die einer Tochter, wäre ein Enkel, der über Söhne produziert<br />
wird, doppelt so teuer wie ein Enkel, der über Töchter entsteht. Eltern<br />
sollten unter diesen Umständen also mehr Töchter produzieren. Wenn das<br />
Verhältnis genau 1:2 zugunsten der Töchter ist, produziert ein durchschnittlicher<br />
Sohn genau doppelt so viele Enkel wie eine durchschnittliche<br />
Tochter. Söhne kosten dann also doppelt so viel, aber sie bringen auch den
432 10 Elterliche Fürsorge<br />
doppelten Ertrag in Form von Enkeln. Aus Sicht der Eltern erhalten sie in<br />
diesem Fall also pro Einheit an Investment von beiden Geschlechtern dieselbe<br />
Rendite. Eltern sollten also ihren Gesamtaufwand bei der Produktion<br />
von Söhnen und Töchtern und nicht nur deren Zahlenverhältnis berücksichtigen.<br />
Umgekehrt kann man daraus schließen, dass Eltern ihr Investment oder<br />
das Geschlechterverhältnis an unterschiedliche Kosten und Nutzen der<br />
Produktion von Söhnen und Töchtern anpassen sollten (sex allocation<br />
theory). Das analoge Problem stellt sich übrigens für Hermaphroditen, die<br />
entscheiden müssen, wie viele Ressourcen sie in männliche und weibliche<br />
Funktionen investieren (Charnov 1982). Die Theorie der geschlechtsabhängigen<br />
Investition unterscheidet zwischen drei häufigen Fällen: (1) Eltern<br />
sollten mehr in das Geschlecht mit dem höheren Fortpflanzungspotential<br />
investieren (Trivers u. Willard 1973), (2) Eltern sollten differentiell in<br />
Abhängigkeit von späteren Vor- oder Nachteilen aus Interaktionen mit ihrem<br />
Nachwuchs in das eine oder andere Geschlecht investieren (Clark<br />
1978), und (3) Eltern sollten das Geschlechterverhältnis an die Verwandtschaftsbeziehungen<br />
zwischen den Mitgliedern einer lokalen Fortpflanzungseinheit<br />
anpassen (Hamilton 1967).<br />
Es sind auch andere Kontexte und Korrelate von Geschlechterallokation<br />
beschrieben worden, vor allem bei Vögeln (Hasselqvist u. Kempenaers<br />
2002), wo das Geschlechterverhältnis beispielsweise mit der Reihenfolge<br />
der Eiablage variiert (Badyaev et al. 2002), aber diese können bislang selten<br />
mit den gängigen Hypothesen erklärt werden (Komdeur u. Pen 2002).<br />
Neben genetischen Zwängen scheint auch die Vorhersagbarkeit von Umweltbedingungen<br />
einen wichtigen einschränkenden Effekt auf die Manipulation<br />
des Geschlechterverhältnisses zu haben (West u. Sheldon 2002).<br />
Manche halten daher scheinbar adaptive Anpassung der Geschlechterverhältnisse<br />
bei Vögeln und Säugetieren für ein Epiphänomen, zumal manipulative<br />
Mechanismen bei deren Form der genetischen Geschlechtsbestimmung<br />
nicht offensichtlich sind (Krackow 2002).<br />
Eine klare Vorhersage in Bezug auf geschlechtsabhängiges Investment<br />
lässt sich für polygyne Arten machen, bei denen Männchen die größere<br />
Varianz in der Fortpflanzung besitzen. Die Trivers-Willard-Hypothese<br />
besagt, dass, wenn der Fortpflanzungserfolg von Männchen von deren<br />
Kondition abhängt und die Kondition am Ende des elterlichen Investments<br />
positiv mit der Kondition der Adulten korreliert, Mütter mehr in Söhne investieren<br />
sollten, da sie so Aussicht auf mehr Enkel haben. Da die Intensität<br />
des dafür notwendigen Investments von der Qualität der Mutter abhängt,<br />
sollte man erwarten, dass Mütter in guter körperlicher Verfassung<br />
mehr Söhne produzieren oder mehr in Söhne investieren, wohingegen
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 433<br />
Abb. 10.12. Bei Rothirschen<br />
(Cervus elaphus)<br />
und anderen<br />
polygynen Huftieren<br />
sollten Kühe in guter<br />
Verfassung mehr Söhne<br />
produzieren oder<br />
mehr in Söhne investieren<br />
Mütter in schlechter Verfassung mehr in Töchter investieren (Trivers u.<br />
Willard 1973).<br />
Diese Hypothese ist vor allem bei polygynen Huftieren intensiv untersucht<br />
worden (Abb. 10.12). Für die verschiedenen Annahmen und Vorhersagen<br />
gibt es sowohl unterstützende als auch einige widersprüchliche<br />
Hinweise (Hewison u. Gaillard 1999). So hat die Mehrzahl der Untersuchungen<br />
keine Hinweise dafür geliefert, dass Mütter in guter Kondition<br />
mehr Söhne produzieren (z. B. Krüger et al. 2005). Wenn allerdings alle<br />
Säugetiere verglichen werden, zeigt sich der vorhergesagte Effekt der mütterlichen<br />
Kondition (Cameron 2004). Zwar liefert der genetische Mechanismus<br />
der Geschlechterdetermination bei Säugetieren keine offensichtliche<br />
Erklärung dafür, aber der hohe Blutzuckergehalt von Müttern in guter<br />
Kondition könnte einen Mechanismus darstellen, der direkt mit der Kondition<br />
gekoppelt ist (Cameron et al. 2008). Die Kondition der Mütter ist auch<br />
von ökologischen Faktoren wie der Populationsdichte abhängig. Dementsprechend<br />
sinkt bei hoher Populationsdichte auch der Anteil an Söhnen<br />
(Kruuk et al. 1999). Der Zeitpunkt der Fortpflanzung bei saisonalen Arten<br />
kann – möglicherweise über einen ähnlichen Mechanismus – ebenfalls<br />
einen Einfluss auf das Geschlechterverhältnis haben (Box 10.2).<br />
Wenn Mitglieder eines Geschlechts von ihrem Geburtsort abwandern,<br />
verbleiben die Mitglieder des anderen Geschlechts bei ihren Eltern, mit<br />
denen sie um Ressourcen konkurrieren. Wenn diese Konkurrenz intensiv<br />
ist, kann sie dazu führen, dass im Fall von weiblicher Philopatrie Weibchen<br />
mehr Söhne produzieren, um so die lokale Ressourcenkonkurrenz<br />
(local resource competition) mit ihren Töchtern zu reduzieren (Clark<br />
1978). Bei Possums (Trichosurus vulpecula) teilen Mütter ihre Schlafhöhlen<br />
in großen Bäumen mit ihren philopatrischen Töchtern. Populationen,<br />
die Gegenden mit wenig großen Bäumen pro Weibchen bewohnen, haben
434 10 Elterliche Fürsorge<br />
Box 10.2<br />
Zeitpunkt der Konzeption und Geschlechterverhältnis bei saisonalen<br />
polygynen Ungulaten<br />
• Frage: Hat der Zeitpunkt der Konzeption bei polygynen Huftieren (hier:<br />
Rentiere, Rangifer tarandus) Einfluss auf das Geschlechterverhältnis der<br />
Jungtiere?<br />
• Hintergrund: Bei saisonaler Fortpflanzung gibt es einen optimalen Zeitpunkt<br />
der Fortpflanzung, der den Jungtieren eine bestmögliche postnatale<br />
Entwicklung ermöglicht. Bei polygynen Huftieren mit saisonaler Fortpflanzung<br />
sollten nach dem Trivers-Willard-Modell unter den später in der<br />
Saison konzipierten Jungen weniger Söhne sein.<br />
• Methode: Eine Herde von über 100 weiblichen Rentieren wurde in zwei<br />
Hälften geteilt. Die eine Gruppe (A) wurde zu Beginn der Brunftzeit mit<br />
vasektomierten Männchen gehalten; die andere Gruppe (B) mit intakten<br />
Männchen. Einen Ovulationszyklus später wurden die Weibchen von<br />
Gruppe A mit denselben intakten Männchen verpaart.<br />
• Ergebnis: 60,5% der Weibchen aus Gruppe A, die bei ihrer ersten Ovulation<br />
empfingen, produzierten Söhne; bei Weibchen der Gruppe B waren<br />
es nur 31,3%. Weibchen beider Gruppen waren zum Zeitpunkt der zweiten<br />
Ovulation in schlechterer körperlicher Verfassung.<br />
• Schlussfolgerung: Eine (experimentelle) Verzögerung des Konzeptionszeitpunktes<br />
resultierte in einer Umkehrung der sex ratio von Jungtieren.<br />
Diese Anpassung entspricht den Vorhersagen der Theorie des geschlechtsabhängigen<br />
Investments bei polygynen Arten.<br />
Holand et al. 2006<br />
stark zugunsten von Söhnen verschobene Geschlechterverhältnisse, was als<br />
Anpassung an lokale Ressourcenkonkurrenz interpretiert werden kann<br />
(Johnson et al. 2001). Obwohl diese Hypothese mehrfach überprüft wurde,<br />
fanden sich bislang insgesamt aber wenig unterstützende Hinweise dafür,
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 435<br />
weder bei Vögeln (Budden u. Beissinger 2004) noch bei Säugetieren<br />
(Nunn u. Pereira 2000).<br />
Für die umgekehrte Situation, nämlich dass dasjenige Geschlecht, dessen<br />
Mitglieder den philopatrischen Eltern später Vorteile zukommen lassen<br />
(local resource enhancement), indem sie beispielsweise bei der Aufzucht<br />
weiterer Nachkommen helfen oder die Größe von Koalitionen vergrößern,<br />
überproduziert wird, gibt es dagegen einige Hinweise (Frank 1990). Ein<br />
faszinierendes Beispiel stammt von Seychellen-Rohrsängern (Acrocephalus<br />
sechellensis), bei denen Töchter ihren Eltern bei der Aufzucht der<br />
nächsten Geschwister helfen. Dieser positive Effekt existiert allerdings nur<br />
auf guten Territorien mit ausreichend Nahrung; in schlechten Territorien<br />
konkurrieren die Töchter mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern um<br />
Nahrung. Die Eltern passen das primäre Geschlechterverhältnis an diese<br />
Umweltvariabilität an: In guten Territorien werden mehr Töchter produziert,<br />
in schlechten Territorien mehr Söhne (Komdeur et al. 1997). Bei<br />
Wildhunden (Lycaon pictus) helfen Söhne mehr bei der Aufzucht ihrer<br />
jüngeren Geschwister und werden tatsächlich auch überproduziert (McNutt<br />
u. Silk 2008). Eine Meta-Analyse an über 100 Primatenarten demonstrierte<br />
einen vergleichbaren Effekt für Arten mit kooperativer Jungenaufzucht<br />
(Silk u. Brown 2008).<br />
Lokale Fortpflanzungseinheiten sind manchmal hoch strukturiert und erlauben<br />
keine Zufallspaarungen, zum Beispiel wenn Weibchen isolierte Gelege<br />
absetzen und alle Paarungen später zwischen Geschwistern stattfinden.<br />
In diesem Fall konkurrieren Brüder um Paarungsgelegenheiten mit<br />
ihren Schwestern. Dieses Phänomen wurde von Hamilton (1967) als lokale<br />
Partnerkonkurrenz (local mate competition) bezeichnet. Da theoretisch ein<br />
Männchen ausreicht, um alle seine Schwestern zu befruchten, sollten Mütter<br />
das Geschlechterverhältnis zugunsten von Töchtern verschieben und so<br />
ihre Zahl an Enkeln maximieren. Dieser Effekt der lokalen Partnerkonkurrenz<br />
auf das Geschlechterverhältnis ist insbesondere bei Arten mit haplodiploider<br />
Geschlechtsbestimmung zu erwarten, da Weibchen das Geschlecht<br />
ihrer Nachkommen direkt kontrollieren können.<br />
Bei Feigenwespen (Agaonidae) legen Weibchen beispielsweise ihre Eier<br />
in sich entwickelnde Feigen, wo sich die oft flügellosen Männchen mit<br />
ihren Schwestern verpaaren, bevor diese abwandern (Weiblen 2002). Tatsächlich<br />
haben Gelege, die nur aus Eiern einer Mutter bestehen, die<br />
extremsten Geschlechterverhältnisse (Herre 1985), wobei zunächst nur<br />
Männchen produziert werden (Raja et al. 2008). Andere Beispiele stammen<br />
von parasitierenden Wespen, die ihre Eier in Fliegenlarven oder ähnliche<br />
Substrate legen und ebenfalls das Verhältnis von befruchteten und<br />
unbefruchteten Eiern an die Größe des Substrats, die Größe ihres Geleges
436 10 Elterliche Fürsorge<br />
sowie die Zahl der Gelege von anderen Weibchen anpassen (Flanagan<br />
et al. 1998).<br />
Bei Hymenopteren, die durch Befruchten oder Nicht-Befruchten von<br />
Eiern das Geschlechterverhältnis selber direkt beeinflussen können, gibt es<br />
einen Interessenskonflikt zwischen Königin und Arbeiterinnen über<br />
das Geschlechterverhältnis der Brut (Abb. 10.13). Die Ursachen dieses<br />
Konflikts liegen in unterschiedlichen genetischen Interessen begründet.<br />
Königinnen, die als einzige Eier legen, sind mit Söhnen und Töchtern gleichermaßen<br />
verwandt. Arbeiterinnen sind dagegen mit ihren Schwestern<br />
näher verwandt als mit ihren Brüdern. Wenn sich eine Königin nämlich<br />
nur einmal verpaart hat, bekommen Schwestern dieselben väterlichen Allele,<br />
da Männchen haploid sind und damit nur einen (identischen) Chromosomensatz<br />
an alle Nachkommen weitergeben können. Damit haben alle<br />
Töchter einer Königin bereits 50% ihrer Allele über die väterliche Seite<br />
gemeinsam. Da die Königin, wie alle Weibchen, diploid ist, haben die<br />
Töchter eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, identische mütterliche Allele zu<br />
bekommen. Töchter einer Königin, die sich nur mit einem Männchen verpaart<br />
hat, teilen daher im Durchschnitt 75% ihrer Allele. Mit ihren Brüdern<br />
sind sie aber nur zu 50% verwandt, da sie mit ihnen ja nur den mütterlichen<br />
Satz an Genen teilen.<br />
Für die Königin wäre daher ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis<br />
optimal; für die Arbeiterinnen, die ja die Brutpflege und damit de facto das<br />
wesentliche elterliche Investment betreiben, wäre dagegen ein Verhältnis<br />
von drei Schwestern zu einem Bruder optimal (Trivers u. Hare 1976). Da<br />
bei den allermeisten Hymenopteren das Geschlechterverhältnis zugunsten<br />
der Weibchen verschoben ist, scheinen die Arbeiterinnen diesen Konflikt<br />
in den meisten Fällen zu gewinnen. Untersuchungen an Kolonien, in denen<br />
sich Königinnen mit mehreren Männchen verpaaren und Arbeiterinnen<br />
Abb. 10.13. Bei Hymenopteren,<br />
wie bei diesen Wespen, kommt es<br />
aufgrund der unterschiedlichen<br />
genetischen Interessen von Königin<br />
und Arbeiterinnen zu einem<br />
Interessenskonflikt über das Geschlechterverhältnis<br />
der Brut
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 437<br />
dadurch im Durchschnitt sehr viel weniger miteinander verwandt sind,<br />
haben gezeigt, dass das Geschlechterverhältnis sich in diesen Situationen<br />
einem Verhältnis 1:1 annähert (Sundström 1994). In seltenen Fällen, wie<br />
bei der Ameisenart Cardiocondyla obscurior, bei der sowohl eine variable<br />
Anzahl von Königinnen als auch Männchen, die sich entweder inner- oder<br />
außerhalb ihre Kolonie verpaaren, existiert, konnte gezeigt werden, dass<br />
Königinnen das Geschlechterverhältnis ihrer Bruten sowohl an lokale<br />
Partnerkonkurrenz als auch an den Konflikt zwischen Königin(nen) und<br />
Arbeiterinnen anpassen (Cremer u. Heinze 2002).<br />
10.3.3 Geschwister-Konflikt<br />
Konflikt zwischen Geschwistern entsteht immer dann, wenn die Mitglieder<br />
einer Brut mehr Ressourcen und Investment verlangen, als von den Eltern<br />
bereitgestellt werden kann. Dieser Konflikt tritt vor allem dann auf, wenn<br />
die Mitglieder einer Brut gezwungenermaßen zusammen sind, also beispielsweise<br />
im Körper der Mutter, einem Bau oder Nest. Die Mitglieder<br />
einer Brut sind zwar nah miteinander verwandt, da sie zumindest im<br />
Durchschnitt die Hälfte der mütterlichen Allele teilen, aber sie sind primär<br />
an ihrem eigenen Überleben und Wohlergehen interessiert. Wenn die Geschwister<br />
einen gemeinsamen Vater haben, teilen sie die Hälfte ihrer Gene<br />
miteinander. Von daher sollte in dieser Situation jedes Individuum die<br />
nächste Einheit elterlichen Investments so lange für sich beanspruchen, bis<br />
diese Einheit für ein Vollgeschwister mehr als doppelt so wertvoll ist (oder<br />
mehr als viermal so wertvoll für Halbgeschwister; Parker et al. 1989).<br />
Die Konkurrenz zwischen Geschwistern kann verschiedene Formen annehmen.<br />
So kann es Rangeleien um eine besonders vorteilhafte Position,<br />
zum Beispiel in der Nähe des Eingangs des Baues oder der Nesthöhle,<br />
durch den die Eltern zu den Jungen kommen, geben. Da bei Säugetieren in<br />
der Regel die Zahl der Zitzen an die Wurfgröße angepasst ist, tritt diese<br />
Form der Konkurrenz seltener auf, aber es kann zu Konkurrenz um die<br />
beste der Zitzen kommen, wenn diese sich in ihrer Ergiebigkeit unterscheiden.<br />
Bei Vögeln kann es zu Pickereien zwischen den Nestlingen und<br />
so zur Ausbildung von Dominanzbeziehungen kommen, die dazu führen,<br />
dass dominante Junge häufiger gefüttert werden. Im Extremfall kann eskalierende<br />
Aggression zwischen Nestgenossen, in Kombination mit reduzierter<br />
Versorgung durch die Eltern, zur Schwächung und zum Tod führen.<br />
Diese Geschwistertötung (Siblizid) tritt bei manchen Vögeln (bestimmte<br />
Adler, Pelikane und Tölpel) sogar obligat auf (Abb. 10.14). Bei anderen<br />
Arten erfolgt Siblizid fakultativ, vermutlich in Abhängigkeit von der Ressourcenlage<br />
(Lougheed u. Anderson 1999).
438 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.14. Bei Blaufußtölpeln<br />
(Sula nebouxii)<br />
kommt es bei Nahrungsknappheit<br />
obligat zu Siblizid:<br />
Das jüngere Geschwister wird<br />
vom anderen Jungen getötet<br />
Ein extremes Beispiel von Siblizid wurde bei einer parasitierenden<br />
Wespenart (Copidosoma floridanum) beobachtet. Deren Weibchen legen je<br />
ein männliches und ein weibliches Ei in eine Raupe, welche für die Jungen<br />
eine limitierte Nahrungsressource darstellt. Durch Klonierung (Polyembryonie)<br />
entstehen aus den beiden Eiern rasch hunderte von Zwillingsgeschwistern.<br />
Ungefähr 50 Weibchen entwickeln sich schneller als alle anderen<br />
Geschwister zu Larven ohne Geschlechtsorgane, aber mit riesigen<br />
Kiefern. Sie suchen und kannibalisieren ihre Brüder (Grbic et al. 1992).<br />
Dieses Verhalten ist erklärbar, wenn man weiß, dass die Männchen ihre<br />
eigenen Schwestern schon vor der Verpuppung befruchten. Da sie mit den<br />
Schwestern dreimal mehr abstammungsidentische Allele teilen und selbst<br />
nicht zur Fortpflanzung befähigt sind, ist ein möglichst zugunsten der<br />
Schwestern verschobenes Geschlechterverhältnis in ihrem genetischen Interesse.<br />
Außerdem wird so mehr von der limitierten Nahrung für ihre<br />
Schwestern verfügbar.<br />
Bei Säugetieren sind einige Beispiele von fakultativem Siblizid bekannt.<br />
Ferkel (Sus scrofa) sind vermutlich aus diesem Grund schon von Geburt an<br />
mit Zähnen ausgestattet (Fraser u. Thompson 1991). Bei Tüpfelhyänen<br />
(Crocuta crocuta) kommt es zwischen den ebenfalls mit einem kompletten<br />
Gebiss ausgestatteten Jungen zu intensiver Konkurrenz und regelmäßig<br />
(9% der Würfe) zum Siblizid, vor allem dann, wenn die Nahrungsversorgung<br />
schlecht ist (Hofer u. East 2008).<br />
Wie lassen sich diese Beobachtungen mit den Interessen der Eltern vereinbaren?<br />
Solche Brutreduktion ist offenbar in manchen Fällen für die Eltern<br />
vorteilhaft. Vorteile müssen zumindest für Fälle angenommen werden,<br />
in denen es zu mütterlichem Kannibalismus kommt oder in denen die Mutter<br />
Geschwisterkannibalismus aktiv unterstützt. Bei vielen Nagetieren und<br />
einigen Vögeln fressen nämlich Mütter einige ihrer Jungen oder lassen
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 439<br />
manche gezielt verhungern (Elgar u. Crespi 1992). Beim Sandtigerhai<br />
(Carcharias taurus) entwickeln dagegen die Embryos rasch Zähne und beginnen<br />
„in utero“ ihre Geschwister zu fressen, wobei die Mutter über Monate<br />
Tausende weitere befruchtete Eier produziert, die dem einzigen übrig<br />
bleibenden Jungen als Nahrung dienen (Gilmore 1993). Worin die Vorteile<br />
der Mütter in diesem kannibalistischen Verhalten liegen, ist nicht bekannt.<br />
In anderen Fällen wird daher argumentiert, dass durch die „Überproduktion“<br />
von Eiern oder Jungen die Möglichkeit besteht, durch Brutreduktion<br />
flexibel auf unvorhersagbare Ressourcenschwankungen zu reagieren oder<br />
dass sie eine Art Versicherung gegen extrinsische Mortalität einzelner<br />
Jungtiere darstellt (Mock u. Parker 1998). Auf der proximaten Ebene spielt<br />
die aktuelle Kondition der Eltern eine wichtige Rolle dabei, wie sie ihr<br />
Fürsorgeverhalten modulieren (Markman et al. 2002). Außerdem variiert<br />
die Fähigkeit von Eltern, Fürsorge zu leisten auch als Funktion ihrer genetischen<br />
Qualität (Senar et al. 2002).<br />
10.3.4 Brutparasitismus<br />
Bei oviparen Arten mit elterlicher Fürsorge existiert die theoretische Möglichkeit,<br />
eigene Eier zu einem Gelege oder in ein Nest eines anderen Individuums<br />
zu legen. Die Wirte solcher Brutparasiten können derselben<br />
oder einer anderen Art angehören. Die Brutparasiten haben dabei den Vorteil,<br />
dass ihre Jungen von anderen aufgezogen werden, ohne dass sie selbst<br />
die Kosten des elterlichen Investments tragen müssen. Das Risiko dieser<br />
Strategie besteht allerdings darin, dass der Wirt den Betrug bemerkt und<br />
die Eier oder die Jungen vernichtet. Für den Wirt ist diese Strategie dagegen<br />
nur mit Nachteilen verbunden, da er in fremde Junge investiert. Daher<br />
sind Abwehrstrategien der betroffenen Wirte zu erwarten, die wiederum zu<br />
Gegenstrategien bei den Brutparasiten führen sollten. Diese evolutionären<br />
Wettrennen finden tatsächlich sowohl innerhalb als auch zwischen Arten<br />
statt. Die bekanntesten Beispiele stammen dabei von Insekten und Vögeln.<br />
Interspezifischer Brutparasitismus ist eine obligate Fortpflanzungsstrategie<br />
von ungefähr einem Prozent aller Vogelarten (Winfree 1999). Die<br />
beiden in dieser Hinsicht am besten untersuchten Arten, der Europäische<br />
Kuckuck (Cuculus canorus) und der amerikanische Braunkopf-Kuhstärling<br />
(Molothrus ater), verfolgen dabei völlig unterschiedliche Strategien. Obwohl<br />
der Kuckuck über sein gesamtes Verbreitungsgebiet mehr als 100<br />
verschiedene Arten parasitiert, sind es an einem gegebenen Ort nur ganz<br />
wenige Arten, die betroffen sind. Jedes individuelle Weibchen ist auf eine<br />
einzige Wirtsart spezialisiert, wobei die verschiedenen Weibchen unterschiedlich<br />
gefärbte und gemusterte Eier legen, die denen ihrer Wirte äußerlich<br />
sehr ähnlich sind (Soler u. Møller 1996). Diese Variabilität im Aus-
440 10 Elterliche Fürsorge<br />
sehen der Kuckuckseier ist vermutlich das Ergebnis von Gegenselektion<br />
durch den Wirt in Form von verbesserter Diskriminierung von Eiern anhand<br />
deren Aussehens (Davies u. Brooke 1989). Das Aussehen der<br />
Kuckuckseier wird dabei von Genen auf dem mütterlichen W-Chromosom<br />
kontrolliert (Gibbs et al. 2000). Die Anpassungen der Eierfarbe an spezifische<br />
Wirte entstanden dabei erst, nachdem die parasitische Fortpflanzungsweise<br />
entstanden war (Krüger u. Davies 2002).<br />
Wenn ein Kuckucks-Weibchen ein Wirtsnest ausgespäht hat, nutzt es<br />
einen kurzen Moment, in dem das Nest unbewacht ist, entfernt eines der<br />
schon gelegten Eier und legt ein eigenes dazu – alles in weniger als 10 Sekunden<br />
(Davies 2000). Wenn der Betrug von den Wirtseltern nicht bemerkt<br />
wird, profitiert der junge Kuckuck von seiner viel rascheren Entwicklung<br />
und schlüpft als Erster. Wenige Stunden nach dem Schlüpfen<br />
befördert das noch nackte und blinde Junge nacheinander alle Eier seiner<br />
Wirte aus dem Nest. Von da an wird der junge Kuckuck unablässig gefüttert,<br />
selbst wenn er schon ein Vielfaches der Körpergröße der Eltern erreicht<br />
hat (Abb. 10.15). Nach dem Schlüpfen besteht theoretisch noch<br />
einmal das Risiko, dass der Schwindel auffliegt, da die Wirtseltern Unterschiede<br />
in der Rachenfärbung und in den Bettelrufen zu ihren eigenen Jungen<br />
bemerken könnten. Der junge Kuckuck sendet aber scheinbar unwiderstehliche<br />
Signale aus, mit denen er seine Wirtseltern zum Füttern<br />
Abb. 10.15. Ein Drosselrohrsänger<br />
(Acrocephalus arundinaceus) füttert<br />
sein „Kuckuckskind“
10.3 Fürsorge, Investment und Konflikt 441<br />
animiert (Kilner et al. 1999). Dabei kompensiert er sein mangelhaftes Rachenmuster<br />
durch einen besonders effektiven Bettelruf, der die Wirtseltern<br />
dazu veranlasst, genauso viel Futter herbeizuschaffen, wie sie es normalerweise<br />
für die gesamte eigene Brut tun. Bei einer anderen Kuckucksart<br />
(Cuculus fugax) sind die Innenseiten der Flügel so gefärbt, dass sie wie zusätzliche<br />
aufgesperrte Rachen aussehen. Wenn man dieses Muster experimentell<br />
durch Übermalen verschwinden lässt, nimmt die Fütterungsrate<br />
der Gasteltern tatsächlich ab (Tanaka u. Ueda 2005).<br />
Vom Kuhstärling sind über 200 Wirtsarten bekannt, wobei jedes Weibchen<br />
zahlreiche Arten parasitiert. Diese Generalisten versuchen nicht, ihre<br />
Eier an die des Wirts anzupassen. Trotzdem werden sie von Wirten zumeist<br />
nicht entfernt. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass die jungen<br />
Kuhstärlinge ihre artfremden Nestgenossen nicht aus dem Nest werfen und<br />
der Reproduktionserfolg der Wirte damit nicht komplett in Frage gestellt<br />
wird. Dadurch ist möglicherweise die Selektion auf die Fähigkeit, fremde<br />
Eier zu erkennen, nicht so stark wie beim Kuckuck. Eine andere Erklärung<br />
für dieses Brutparasiten-Wirt-System besteht darin, dass das evolutionäre<br />
Wettrennen noch in einem relativ frühen Stadium ist, da Kuhstärlinge erst<br />
vor wenigen hunderttausend Jahren nach Nordamerika gekommen sind<br />
(Takasu 1998).<br />
Einer sehr viel schwierigeren Verteidigung gegenüber Brutparasiten sehen<br />
sich Individuen gegenüber, die von Mitgliedern der eigenen Art parasitiert<br />
werden. In diesem Fall ist es sehr schwierig, fremde Eier zu erkennen<br />
und gegen sie zu diskriminieren. Dadurch dass Brutparasitismus<br />
zusätzlich zu eigenem Brüten eingesetzt wird, kann der Fortpflanzungserfolg<br />
bis zum Doppelten ansteigen (Ahlund u. Andersson 2001). Der Erfolg<br />
dieser Strategie ist aber häufigkeitsabhängig und stellt Weibchen theoretisch<br />
vor die Frage, wie sie ihre Eier über das eigene und andere Nester<br />
verteilen sollen (Ruxton u. Broom 2002). Neben einigen Insekten zeigen<br />
auch mehr als 200 Vogelarten dieses Verhalten. Interessanterweise ist innerartlicher<br />
Brutparasitismus nicht zufällig über alle Vogelarten verteilt,<br />
sondern tritt besonders gehäuft bei Entenvögeln (Anseriformes) auf (Lyon<br />
u. Eadie 2000). Diese besitzen das für Vögel ungewöhnliche Merkmal der<br />
weiblichen Philopatrie. Wenn die Ergebnisse der Untersuchungen an einer<br />
Art (Andersson u. Ahlund 2000) in dieser Hinsicht generalisierbar sind,<br />
wäre es möglich, dass zumindest bei diesen Arten parasitierende Weibchen<br />
einen Teil ihrer Eier in die Nester von nahen Verwandten legen und so die<br />
Kosten des Brutparasitismus durch Verwandtenselektion abgemildert werden.<br />
In dieser Situation wären damit die theoretischen Voraussetzungen<br />
dafür geschaffen, dass das parasitierende Weibchen am Nest bleibt und<br />
dem betroffenen Wirts-Weibchen bei der Aufzucht einer gemeinsamen<br />
Brut assistiert (Zink 2000). Modellierungen haben gezeigt, dass diese Be-
442 10 Elterliche Fürsorge<br />
ziehung zwischen Wirt und Parasit unter Berücksichtigung der inklusiven<br />
Fitness der Beteiligten als evolutionäres Spiel analysiert werden kann, aber<br />
über die dabei entscheidenden Vor- und Nachteile der beiden Rollen ist<br />
bislang noch wenig bekannt (Andersson 2001).<br />
10.4 Fürsorge und Kooperation<br />
Fürsorge und Investment sind nicht nur durch verschiedene Konkurrenzbeziehungen<br />
charakterisiert, sondern sie bieten auch einmalige Möglichkeiten,<br />
bei der Jungenaufzucht mit anderen zu kooperieren. Kooperation ist<br />
dabei allgemein als eine Verhaltensweise definiert, die einem Artgenossen<br />
einen Vorteil verschafft. Wenn der Akteur oder Träger zusätzlich einen<br />
persönlichen Nachteil durch dieses Verhalten oder Merkmal in Kauf<br />
nimmt, handelt es sich per Definition um Altruismus. Im Zusammenhang<br />
der Jungenfürsorge ist reproduktiver Altruismus weit verbreitet. Dabei<br />
verzichten Individuen für begrenzte Zeit oder permanent auf eigene Fortpflanzung<br />
und helfen anderen Artgenossen bei der Aufzucht ihrer Jungen.<br />
Verzicht auf eigene Fortpflanzung stellt ein herausragendes Paradoxon<br />
der Evolutionsbiologie dar, dessen Erklärung schon Darwin (1859) große<br />
Probleme machte. Wie kann natürliche Selektion ein Merkmal fördern,<br />
dessen Träger sich gar nicht fortpflanzen? Zum einen ist es paradox, weil<br />
diese Individuen scheinbar nicht darauf bedacht sind, Kopien der eigenen<br />
Gene in die nächste Generation weiterzugeben. Zum anderen ist nicht unmittelbar<br />
klar, wie sich die genetischen Grundlagen solcher Merkmale<br />
ausbreiten können, wenn sich die Träger dieses Merkmals selber gar nicht<br />
fortpflanzen. Bei Insekten, Vögeln und Säugetieren, bei denen die meisten<br />
Fälle von reproduktivem Altruismus auftreten, ist dieses Paradoxon von<br />
William Hamilton (1964) mit Verwandtenselektion erklärt worden; allerdings<br />
wurden in neuerer Zeit zusätzliche Faktoren als bedeutsam identifiziert<br />
(Clutton-Brock 2002). Bei Systemen, in denen reproduktiver Altruismus<br />
auftritt, existiert ein Kontinuum in der Dauer des Verzichts auf eigene<br />
Fortpflanzung und der damit verbundenen Varianz im Fortpflanzungserfolg<br />
zwischen Gruppenmitgliedern, innerhalb dessen gewöhnlich zwischen<br />
eusozialen Arten und solchen mit Helfern am Nest unterschieden wird<br />
(Sherman et al. 1995).<br />
10.4.1 Eusozialität und reproduktiver Altruismus<br />
Kooperative Brutfürsorge ist ein definierendes Merkmal von eusozialen<br />
Gesellschaften. Eusozialität ist außerdem durch reproduktive Arbeitsteilung<br />
und überlappende Generationen definiert (Hölldobler u. Wilson
10.4 Fürsorge und Kooperation 443<br />
1990). Überlappende Generationen sind deswegen Bestandteil dieser Definition,<br />
weil sie die Voraussetzung dafür darstellen, dass sich Mitglieder der<br />
älteren Generationen an der Aufzucht jüngerer Geschwister beteiligen<br />
können. Die reproduktive Arbeitsteilung liegt darin begründet, dass die<br />
Fortpflanzungsaktivität auf eine oder wenige Königinnen beschränkt ist.<br />
Königinnen entstehen unter dem Einfluss von bestimmten Umweltfaktoren<br />
aus befruchteten Eiern, wobei bei manchen Arten genetische Faktoren diese<br />
Entwicklung begünstigen (Volny u. Gordon 2002). Bei einigen Arten<br />
sind Arbeiterinnen allerdings auch in der Lage, unbefruchtete Eier zu legen.<br />
Innerhalb der Arbeiterinnen gibt es häufig zusätzliche Arbeitsteilung,<br />
die dadurch charakterisiert ist, dass ein stabiles Verteilungsmuster der Gesamtaufgaben<br />
einer Kolonie existiert, indem jede Arbeiterin sich auf eine<br />
Reihe von Spezialaufgaben aus dem Gesamtrepertoire der Aufgaben konzentriert<br />
(Beshers u. Fewell 2001). Diese Arbeitsteilung kann zeitlich organisiert<br />
sein, so dass jedes Individuum im Laufe seines Lebens nacheinander<br />
verschiedene Aufgaben wahrnimmt. Häufig kümmern sich junge<br />
Arbeiterinnen beispielsweise um die Brutfürsorge und andere Aufgaben<br />
innerhalb der Kolonie, wohingegen ältere Tiere sich außerhalb der Kolonie<br />
um die Verteidigung und Nahrungsbeschaffung kümmern. Bei Termiten<br />
und manchen Ameisen gibt es außerdem einen morphologischen Polyethismus,<br />
d. h. verschiedene Kasten von Arbeiterinnen mit unterschiedlichen<br />
Aufgaben unterscheiden sich in ihrer Körperform und -größe.<br />
Diese Kombination von Merkmalen findet sich bei allen Ameisen<br />
(Hölldobler u. Wilson 1990) und Termiten (Thorne 1997) sowie den meisten<br />
Bienen und Wespen (Abb. 10.16). In den letzten Jahren wurde Eusozialität<br />
außerdem bei einigen Arten von Blasenläusen (Pemphigidae: Aoki<br />
1977), Thripsen (Thysanoptera: Crespi 1992), Schwammgarnelen (Synal-<br />
Abb. 10.16. Ameisen sind die<br />
ökologisch erfolgreichsten eusozialen<br />
Insekten
444 10 Elterliche Fürsorge<br />
Tabelle 10.1. Durchschnittliche Verwandtschaftsverhältnisse bei haplodiploiden<br />
und diploiden Arten<br />
Haplodiploidie<br />
Sohn Tochter Bruder Schwester Nichte Neffe<br />
Weibchen 0,5 0,5 0,25 0,75 0,375 0,375<br />
Männchen 0,0 1,0 0,5 0,5 0,25 0,25<br />
Diploidie<br />
Sohn Tochter Bruder Schwester Nichte Neffe<br />
Weibchen 0,5 0,5 0,5 0,5 0,25 0,25<br />
Männchen 0,5 0,5 0,5 0,5 0,25 0,25<br />
pheus spp.: Duffy 1996), Rüsselkäfern (Curculionidae: Kent u. Simpson<br />
1992) sowie Sandgräbern (Bathyergidae: Jarvis 1981) entdeckt. Die große<br />
Mehrzahl der eusozialen Arten (d. h. die Hymenoptera und Thysanoptera)<br />
teilen das Merkmal der Haplodiploidie ( Kap. 7.3). Dabei teilen<br />
Schwestern im Durchschnitt 75% ihrer Gene, wohingegen Weibchen nur<br />
50% ihrer Gene mit ihren eigenen Töchtern oder Söhnen gemeinsam haben<br />
(Tabelle 10.1). Weibchen dieser Arten können daher außerordentlich hohe<br />
indirekte Fitnessgewinne erzielen, wenn sie ihrer Mutter dabei helfen,<br />
weibliche Geschwister zu produzieren (Hamilton 1964). Ein ähnlich hoher<br />
durchschnittlicher Verwandtschaftsgrad findet sich auch zwischen den<br />
Mitgliedern der Kolonien von Thripsen (Chapman et al. 2000), aber nicht<br />
bei Nacktmullen (Braude 2000). Blasenläuse pflanzen sich zum Großteil<br />
parthenogenetisch fort und sind daher genetisch identisch; die anderen eusozialen<br />
Arten sind diploid.<br />
(1) Verwandtenselektion und Eusozialität. Der Verwandtschaftsgrad<br />
wird als eine notwendige evolutionäre Ursache von Eusozialität betrachtet.<br />
Eine vergleichende Studie des Paarungssystems von 267 Hymenopterenarten<br />
zeigte, dass Paarungen der Königin mit einem Männchen, welche den<br />
Verwandtschaftskoeffizienten zwischen den Nachkommen maximieren, in
10.4 Fürsorge und Kooperation 445<br />
allen unabhängig entstandenen eusozialen Gruppen den ursprünglichen<br />
Zustand darstellen (Hughes et al. 2008). Innerhalb der eusozialen Insekten<br />
gibt es aber neben den verschiedenen dominierenden genetischen Systemen<br />
(> 12 000 haplodiploide Hymenopterenarten und > 2 000 diploide<br />
Termitenarten) interessante Variabilität in der Zahl der Königinnen und<br />
deren Reproduktionsmonopol, den Aufgaben der Arbeiterinnen, dem<br />
Ausmaß der Kastenbildung, der Koloniegröße sowie der Gründung von<br />
neuen Kolonien. Zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von<br />
Eusozialität müssen daher neben genetischen auch ökologische Faktoren<br />
berücksichtigt werden (Korb u. Heinze 2008).<br />
Die Bedeutung der genetischen Verwandtschaft für die Evolution von<br />
Eusozialität wird deutlich, wenn die Produktion von weiteren Schwestern<br />
durch Arbeiterinnen betrachtet wird. Zu ihren Brüdern sind Arbeiterinnen<br />
allerdings nur zu ¼ verwandt, so dass ihre durchschnittliche Verwandtschaft<br />
zu allen Geschwistern nur ½ beträgt, wenn diese im Verhältnis 1:1<br />
produziert werden, was im Interesse der Königin ist. Da das Geschlechterverhältnis<br />
auf Populationsebene 1:1 sein sollte, kann Eusozialität daher nur<br />
dann entstehen, wenn das Geschlechterverhältnis in manchen Kolonien<br />
oder zu manchen Zeiten zugunsten von Weibchen verschoben ist; aus Sicht<br />
der Arbeiterinnen im Verhältnis 3:1.<br />
Diese einfachste Situation wird aber durch zwei Faktoren kompliziert.<br />
Wenn sich Königinnen nämlich mit mehr als einem Männchen verpaaren,<br />
reduziert sich der durchschnittliche Verwandtschaftsgrad zwischen<br />
Schwestern. Derselbe Effekt entsteht, wenn eine Kolonie mehrere Königinnen<br />
enthält. In manchen Arten existiert Variabilität in beiden Faktoren<br />
innerhalb einer Population. In diesem Fall kommt es zu gespaltenen Geschlechterverhältnissen<br />
(split sex ratios): Kolonien mit einer Königin oder<br />
mit einer nur einfach verpaarten Königin produzieren mehr Töchter, die<br />
anderen produzieren mehr Söhne. Allerdings gibt es auch immer mehr dokumentierte<br />
Abweichungen von diesen Vorhersagen, für die es noch keine<br />
schlüssige Erklärung gibt (Korb u. Heinze 2004).<br />
Genetische Faktoren komplizieren auch die Entscheidungen der Arbeiterinnen<br />
in denjenigen Hymenopterenarten, in denen die Weibchen die Fähigkeit<br />
beibehalten haben, zumindest unbefruchtete Eier zu legen. Sie sind<br />
nämlich mit ihren Söhnen oder sogar mit ihren Neffen näher verwandt als<br />
mit ihren Brüdern (Tabelle 10.1). Diese Arbeiterinnen könnten also durch<br />
die Produktion eigener Söhne oder durch die Hilfe bei der Aufzucht der<br />
Söhne ihrer Schwestern ihre inklusive Fitness stärker erhöhen, als wenn sie<br />
in die Söhne der Königin investieren. Die Königin ist aber mit ihren Söhnen<br />
näher verwandt als mit ihren Enkelsöhnen und sollte daher die Fortpflanzung<br />
von Arbeiterinnen unterbinden. Der Ausgang dieses Konflikts<br />
hängt im Wesentlichen von der Koloniegröße ab. In kleinen Kolonien sind
446 10 Elterliche Fürsorge<br />
Königinnen besser in der Lage, Arbeiterinnen zu kontrollieren und gegebenenfalls<br />
durch Aggression oder Fressen der Eier der Arbeiterinnen ihre<br />
Interessen durchzusetzen (queen policing, Ratnieks 1988), als in großen<br />
Kolonien. Mehrfachverpaarungen der Königin stellen einen weiteren<br />
Trumpf der Königin in diesem Konflikt dar, da dadurch Arbeiterinnen im<br />
Durchschnitt näher mit ihren Brüdern verwandt sind als mit den Söhnen<br />
ihrer Schwestern und sich gegenseitig die Eier zerstören (worker policing,<br />
Foster u. Ratnieks 2001). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Königinnen<br />
in den meisten Arten diesen Konflikt für sich entschieden haben<br />
(Korb u. Heinze 2004).<br />
(2) Nicht-genetische Faktoren. Da eigenständige Reproduktion für Weibchen<br />
in manchen eusozialen Arten zumindest eine theoretische Option darstellt,<br />
müssen also auch nicht-genetische Faktoren an der Entstehung von<br />
Eusozialität beteiligt gewesen sein. Außerdem tritt Eusozialität auch bei<br />
diploiden Termiten sowie Nackt- und Graumullen auf, wo die erwähnten<br />
genetischen Vorteile in dieser Stärke nicht existieren können. Die unabhängige<br />
eigene Fortpflanzung stellt die grundsätzliche Alternative zum<br />
Helfen bei der Aufzucht von Nachkommen der Mutter dar. Zwischen diesen<br />
solitären und den eusozialen Arten gibt es bei Insekten einige Abstufungen,<br />
die Hinweise auf entscheidende Schritte und zusätzliche Faktoren<br />
bei der Evolution der Eusozialität geben können.<br />
Subsoziale Arten unterscheiden sich von solitären Arten dadurch, dass<br />
die Adulten wenigstens zeitweise Fürsorge für die eigene Brut leisten. Bei<br />
kommunalen Arten nutzen mehrere Weibchen ein gemeinsames Nest, aber<br />
es gibt keine Kooperation bei der Brutfürsorge. Bei quasisozialen Arten<br />
findet kooperative Brutfürsorge in einem gemeinsamen Nest statt. Semisoziale<br />
Arten besitzen zusätzlich eine Arbeiterinnenkaste, also reproduktive<br />
Arbeitsteilung. Bei eusozialen Arten kommen überlappende Generationen<br />
als zusätzliches Merkmal dazu. Was sind also die Vor- und Nachteile des<br />
gemeinsamen bzw. des solitären Brütens und welche Zwänge schränken<br />
diese Entscheidung möglicherweise ein?<br />
Der wichtigste Vorteil der kooperativen Jungenaufzucht besteht in<br />
der verbesserten Effizienz und Produktivität aufgrund der Arbeitsteilung<br />
bei der Fortpflanzung. Ein Vergleich von nahverwandten Wespenarten<br />
(Ammophila spp.) mit und ohne Brutfürsorge zeigte, dass Brutfürsorge sowohl<br />
das Risiko als auch die Kosten von Parasiteninfektionen der Brut reduziert<br />
(Field u. Brace 2004). Vergleichende Untersuchungen der eusozialen<br />
Schwammgarnelen haben außerdem gezeigt, dass diese tatsächlich eine<br />
höhere Produktivität und damit verbesserte ökologische Konkurrenzfähigkeit<br />
haben als solitäre Arten (Duffy et al. 2000).
10.4 Fürsorge und Kooperation 447<br />
Zudem gibt es ökologische Vorteile: Termiten, Thripse, Gallläuse und<br />
Nacktmulle leben in „Befestigungen“, in denen sie auch ihre Nahrung finden.<br />
Hymenopteren müssen dagegen außerhalb ihrer Behausungen nach<br />
Nahrung suchen, was zwar mit einem höheren Mortalitätsrisiko behaftet<br />
ist, aber infolge der Präsenz mehrerer Arbeiterinnen durch eine Art Lebensversicherung<br />
für die Juvenilen abgesichert ist. Durch Entfernung von<br />
Helfern einer Wespenart (Liostenogaster flavolineata) konnte dieser positive<br />
Effekt experimentell nachgewiesen werden (Field et al. 2000). Ein<br />
weiterer Vorteil des kooperativen Brütens besteht in der Aussicht, selbst in<br />
die Fortpflanzungsrolle zu gelangen, wenn es ein hohes externes Mortalitätsrisiko<br />
gibt. Aus diesem Grund können bei manchen Wespen (z. B.<br />
Polistes dominulus) sogar Nicht-Verwandte bei der Brutfürsorge miteinander<br />
kooperieren (Queller et al. 2000). Die Subordinaten passen dabei sogar<br />
die Intensität ihres Fürsorgeverhaltens an die Wahrscheinlichkeit an, dass<br />
sie die Fortpflanzungsrolle übernehmen (Cant u. Field 2001). Die Kosten<br />
des Helfens bestehen hauptsächlich im Verzicht auf eigene Reproduktion.<br />
Direkte Fortpflanzung wäre umgekehrt der größte Vorteil der eigenen<br />
Reproduktion, aber vor allem ökologische Zwänge, wie die Schwierigkeit,<br />
einen geeigneten Nistplatz zu finden und sich dort erfolgreich mit einer<br />
eigenen Brut zu etablieren, stehen dem im Wege (Bourke u. Heinze 1994).<br />
Die Vor- und Nachteile der eigenen Reproduktion werden mit Hilfe<br />
von Reproductive-skew-Modellen analysiert ( Kap. 9.7). Drei Parameter<br />
beeinflussen die Verteilung der Fortpflanzung zwischen Individuen und<br />
damit die Entscheidung, alleine zu brüten oder die gesamte oder einen Teil<br />
der Fortpflanzung zugunsten kooperativer Jungenaufzucht zu opfern: (1)<br />
die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den betroffenen Individuen, (2)<br />
die Gesamtproduktivität aller Individuen, wenn Subordinate kooperieren,<br />
und (3) die Chancen erfolgreicher selbständiger Fortpflanzung durch Subordinate.<br />
Im Unterschied zu Vögeln (siehe unten) gibt es bislang aber nur<br />
einige wenige Hinweise darauf, dass ökologische Zwänge die eigenständige<br />
Fortpflanzung von Insekten limitieren (Bourke u. Heinze 1994). Bei Arten<br />
mit kooperativer Brutpflege scheint dagegen die Erfolgsrate der Jungenaufzucht<br />
wesentlich höher zu sein als bei solitären Arten (Queller<br />
1989). Die genetischen Voraussetzungen für die Evolution von Eusozialität<br />
sind bei haplodiploiden Arten am besten erfüllt, wenn Töchter mit ihren<br />
Müttern kooperieren, da in diesem Fall starker und stabiler reproductive<br />
skew zugunsten der Mutter erwartet wird (Reeve u. Keller 1995).<br />
(3) Eusozialität ohne Haplodiploidie. Bei diploiden Termiten werden<br />
ökologische und Life history-Faktoren bei der Evolution von Eusozialität<br />
als wichtig erachtet (Thorne 1997). Dazu zählen Vorteile der Philopatrie in<br />
Habitaten mit reichhaltigem Nahrungsangebot in Kombination mit hohen
448 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.17. Nacktmulle<br />
(Heterocephalus glaber)<br />
gehören zu den wenigen<br />
eusozialen Säugetierarten<br />
Risiken der Abwanderung, langsame Individualentwicklung mit überlappenden<br />
Generationen, Iteroparie, Vorteile der gemeinsamen Nestverteidigung<br />
sowie eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Nestübernahme durch<br />
philopatrische Individuen (Thorne et al. 2003). Da praktisch alle rezenten<br />
Termitenarten diese Kombination von Merkmalen aufweisen, ist es<br />
schwierig, die Evolution von Eusozialität in dieser Ordnung über Zwischenstufen<br />
zu rekonstruieren. Phylogenetische Rekonstruktionen legen in<br />
der Tat nahe, dass Eusozialität nur einmal früh in der evolutionären Geschichte<br />
entstanden ist (Thompson et al. 2000).<br />
Bei Sandgräbern ist Eusozialität mindestens zweimal entstanden. Bei<br />
diesen von unterirdischen Geophyten lebenden Nagetieren reproduziert<br />
sich in jeder Kolonie nur eine Königin, die morphologische Anpassungen<br />
in Form von Wirbelverlängerungen an diese Rolle entwickelt (O’Riain et al.<br />
2000a). Reproduktive Aktivität in anderen Weibchen kann aber durch die<br />
Präsenz von nicht-verwandten Männchen ausgelöst werden (Cooney u.<br />
Bennett 2000). Als Ursachen der Eusozialität werden neben hohen Verwandtschaftskoeffizienten<br />
aufgrund des monogamen Paarungssystems und<br />
der limitierten Abwanderungsmöglichkeiten (Burda et al. 2000) auch ökologische<br />
Faktoren diskutiert. Insbesondere das Vorkommen von geklumpter<br />
Nahrung in Gegenden mit wenigen, aber variablen Niederschlägen wird<br />
als wichtiger Zwang angesehen, der die Kosten der Abwanderung und der<br />
eigenständigen Fortpflanzung erhöht (Faulkes et al. 1997). Da es bei Sandgräbern<br />
auch solitäre und in nicht-eusozialen Gruppen lebende Arten gibt,<br />
können die Ursachen und Erhaltungsmechanismen von Eusozialität in dieser<br />
Familie durch vergleichende Untersuchungen bestimmt werden (Faulkes<br />
u. Bennett 2001).
10.4 Fürsorge und Kooperation 449<br />
10.4.2 Helfersysteme<br />
Bei zahlreichen Vogel- und Säugetierarten existieren Individuen, die sich<br />
selber nicht fortpflanzen und anderen bei der Aufzucht von deren Nachkommen<br />
helfen. Im Unterschied zu eusozialen Arten ist der reproduktive<br />
Altruismus allerdings nicht permanent und irreversibel, so dass man bei<br />
der gleichzeitigen Betrachtung beider Phänomene auch von einem Eusozialität-Kontinuum<br />
sprechen kann (Sherman et al. 1995). Für Arten mit<br />
Helfern am Nest können die genetischen Vorteile von haplodiploiden<br />
Arten in Bezug auf ihre inklusive Fitness nicht in gleicher Weise zutreffen.<br />
Hier sind es neben anderen Vorteilen vor allem Aspekte der Ökologie und<br />
Life history, die diese Form der Kooperation wahrscheinlicher machen.<br />
(1) Genetische Vorteile. In den allermeisten Fällen, in denen Vögel oder<br />
Säugetiere den Beginn ihrer eigenen Fortpflanzung verzögern und anderen<br />
Artgenossen bei der Jungenaufzucht helfen, handelt es sich bei den Nutznießern<br />
um die eigenen Eltern oder andere Verwandte (Russell et al.<br />
2007). Diese helfenden Individuen werden als primäre Helfer bezeichnet<br />
und von sekundären Helfern unterschieden, die Nicht-Verwandten bei der<br />
Jungenaufzucht helfen. Die Entscheidung, fremden Tieren bei der Jungenaufzucht<br />
zu helfen, kann damit erklärt werden, dass sie sich dadurch die<br />
Toleranz der Dominanten und damit die Gruppenmitgliedschaft „erkaufen“,<br />
in der Hoffung, später eine Fortpflanzungsposition in dieser Gruppe<br />
zu übernehmen (Pay-to-stay-Hypothese; Hamilton u. Taborsky 2005). Bei<br />
Helfern am eigenen Nest scheint diese Perspektive aber nicht bedeutsam<br />
zu sein (Komdeur u. Edelaar 2001). Eine dritte Option für Individuen, die<br />
keine Gelegenheit zur eigenen Fortpflanzung haben, besteht darin, niemandem<br />
zu helfen und auf eigene Fortpflanzungsgelegenheiten zu warten.<br />
Was sind die Vor- und Nachteile dieser drei Taktiken? Primäre Helfer erfahren<br />
durch ihr Verhalten genetische Vorteile, indem sie ihre inklusive<br />
Fitness erhöhen. Durch ihre Mithilfe bei der Versorgung und beim Schutz<br />
jüngerer Geschwister ermöglichen sie den Eltern mehr Junge aufzuziehen<br />
als ohne diese Hilfe. Bei Florida-Buschhähern (Aphelocoma coerulescens)<br />
führt die Mithilfe von 1–2 Helfern bei unerfahrenen Brutpaaren zu einer<br />
Verdoppelung des Fortpflanzungserfolgs; bei erfahrenen Brutpaaren erhöht<br />
sich der Fortpflanzungserfolg um immerhin 58%. Wenn man die Helfer<br />
experimentell entfernt, sinkt der Fortpflanzungserfolg des Brutpaares um<br />
mehr als 50% im Vergleich zu Kontrollpaaren (Mumme 1992). Da sekundäre<br />
Helfer und Nicht-Helfer diese Vorteile nicht erfahren, muss Helfen<br />
auch mit Nachteilen verbunden sein, ansonsten gäbe es keinen Grund,<br />
nicht zu helfen. Energetische Kosten und ein erhöhtes Mortalitätsrisiko gehören<br />
zu den wichtigsten Kosten des Helfens (Heinsohn u. Legge 1999).
450 10 Elterliche Fürsorge<br />
Inklusive Fitness männlicher Graufischer<br />
1. Jahr 2. Jahr<br />
Taktik Z r w N r p(s) p(F) w<br />
1 2<br />
primäre Helfer<br />
1,8<br />
0,32<br />
0,58<br />
2,5<br />
0,5<br />
0,54<br />
0,60<br />
0,41<br />
sekundäre Helfer<br />
1,3<br />
0<br />
0<br />
2,5<br />
0,5<br />
0,74<br />
0,91<br />
0,84<br />
Nicht-Helfer<br />
0<br />
0<br />
0<br />
2,5<br />
0,5<br />
0,70<br />
0,33<br />
0,29<br />
Abb. 10.18. Vergleich der inklusiven Fitnessgewinne von männlichen Graufischern<br />
(Ceryle rudis) mit unterschiedlichen Helfer-Taktiken im 1. und 2. Lebensjahr.<br />
Z = Zugewinn der Eltern durch Helfer; r = Verwandtschaftskoeffizient<br />
zwischen Helfer und Geschwister (1. Jahr) und eigenen Jungen (2. Jahr); w 1 (w 2 ) =<br />
Fitness im 1. und 2. Jahr; N = Anzahl der eigenen Nachkommen; p(s) = Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
vom 1. in das 2. Jahr; p(F) = Wahrscheinlichkeit, im<br />
2. Jahr einen Fortpflanzungspartner zu finden. Die Fitness im 1. und 2. Jahr berechnet<br />
sich als das Produkt der zugehörigen Parameter<br />
Die Kosten des Helfens hat Uli Reyer (1984) an Graufischern (Ceryle<br />
rudis) quantifiziert. Primäre Helfer haben bei dieser Art nur eine 54%ige<br />
Chance, die nächste Paarungszeit zu erleben, wohingegen 74% der sekundären<br />
Helfer und 70% der Nicht-Helfer ihr zweites Lebensjahr erreichen.<br />
Dieser Unterschied lässt sich dadurch erklären, dass primäre Helfer mehr<br />
als dreimal so viele Kalorien herbeischaffen als sekundäre Helfer; sie verausgaben<br />
sich also viel stärker und haben aufgrund der höheren Aktivität<br />
und ihrer höheren Beteiligung an der Nestverteidigung vermutlich ein höheres<br />
extrinsisches Mortalitätsrisiko. Zudem beginnt ein geringerer Anteil<br />
der primären Helfer im folgenden Jahr mit der eigenen Fortpflanzung,<br />
hauptsächlich weil mehr sekundäre Helfer eine frei gewordene Brutposition<br />
in ihrer „Gastfamilie“ füllen konnten.<br />
Mit diesen Daten lassen sich die direkten und indirekten Fitnessgewinne<br />
für die drei Taktiken berechnen und vergleichen (Abb. 10.18). Primäre<br />
Helfer trugen im Durchschnitt zur Produktion von 1,8 zusätzlichen Geschwistern<br />
bei. Da in manchen Fällen einer ihrer Eltern ersetzt wurde,<br />
waren sie mit diesem im Durchschnitt von nur 0,32 verwandt. Daraus ergeben<br />
sich im ersten Jahr 0,58 indirekte Fitnesseinheiten, wohingegen die<br />
beiden anderen Taktiken im ersten Jahr zu keinem Fitnessgewinn führten.<br />
Wenn man nun im 2. Jahr nur Tiere vergleicht, die ihre Brut ohne Helfer<br />
aufzogen, hatten alle im Durchschnitt 2,5 flügge Junge, mit denen sie die
10.4 Fürsorge und Kooperation 451<br />
Hälfte ihrer Gene teilen. Durch unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, das<br />
2. Jahr zu erleben und dann einen Partner zur Fortpflanzung zu finden, ergaben<br />
sich die höchsten Fitnessgewinne für sekundäre Helfer. Da der Fitnessunterschied<br />
zwischen primären und sekundären Helfern im 2. Jahr geringer<br />
ist als der Fitnessgewinn der primären Helfer im 1. Jahr, haben sie<br />
insgesamt die beste Bilanz.<br />
Primäre Helfer opfern also einen Teil ihrer zukünftigen eigenen Fortpflanzung<br />
für die indirekten Fitnessgewinne des Helfens. Außerdem verlängern<br />
sie durch ihr Helfen die Lebenserwartung ihrer Eltern, so dass diese<br />
zusätzliche Geschwister produzieren können und damit die indirekte<br />
Fitness der primären Helfer weiter erhöhen. Das Verhalten der primären<br />
Helfer kann bei Graufischern also durch Verwandtenselektion erklärt werden.<br />
In Ausnahmefällen, wie beim Blauen Staffelschwanz (Malurus cyaneus),<br />
können männliche Helfer sich auch direkt fortpflanzen, indem sie<br />
einen stattlichen Anteil von Extra-pair-Vaterschaften mit Nachbarinnen,<br />
die eigentlich den Territoriumsinhaber aufsuchen wollten, für sich verbuchen<br />
(Double u. Cockburn 2003).<br />
(2) Ökologische und Life history-Zwänge. Die grundlegende Alternative<br />
zu Beteiligung an kooperativer Jungenaufzucht besteht in der eigenen<br />
Fortpflanzung. Zur Erklärung des Phänomens des Helfens am Nest kann<br />
man daher entweder auf die Vorteile des Helfens oder aber auf die Gründe,<br />
die die eigene Fortpflanzung verhindern, fokussieren (Koenig et al. 1992).<br />
Erfolgreiche eigene Fortpflanzung erfordert bei vielen Vogelarten Zugang<br />
zu einem Territorium. Wenn in dieser Hinsicht Habitatsättigung vorliegt,<br />
haben Jungvögel aus diesem Grund keine Möglichkeit, mit der eigenen<br />
Fortpflanzung zu beginnen. In dieser Situation ist es am sinnvollsten, im<br />
vertrauten Gebiet der Geburtsgruppe zu bleiben. In manchen Fällen können<br />
auch die Kosten der Abwanderung so hoch sein, dass Bleiben vorteilhaft<br />
ist (Russell 2001). Wenn man in der Geburtsgruppe bleibt, kann<br />
eigene Fortpflanzung aus Gründen der Inzestvermeidung, aus ökologischen<br />
(Ressourcenknappheit) oder sozioendokrinologischen Gründen (Unterdrückung<br />
durch Eltern oder Dominante) unterbunden werden. Bleiben im<br />
elterlichen Revier bzw. verzögerte Abwanderung in ein eigenes Brutgebiet<br />
führt aber nicht zwangsläufig zum Helfen. Bei Graufischern und anderen<br />
Arten gibt es ja Individuen, die nicht abwandern, aber auch nicht helfen.<br />
Umgekehrt ist Bleiben aber eine Voraussetzung für kooperatives Brüten.<br />
Warum bleiben also manche Jungtiere in ihrer Geburtsgruppe? Bei<br />
manchen Arten scheint in der Tat die Knappheit an geeigneten Brutterritorien<br />
dazu zu führen, dass Jungvögel im elterlichen Territorium verbleiben<br />
(Emlen 1995). Untersuchungen an Seychellen-Rohrsängern (Acrocephalus<br />
sechellensis) haben diese Hypothese am eindrucksvollsten bestätigt. Diese
452 10 Elterliche Fürsorge<br />
kleinen Singvögel waren bis Ende der 1980er Jahre in ihrer Verbreitung<br />
auf eine Insel des Seychellen-Archipels beschränkt. Die gesamte Insel war<br />
mit Territorien belegt, und die meisten Töchter blieben daher im elterlichen<br />
Territorium und halfen ihren Eltern bei der Aufzucht weiterer Geschwister<br />
(Komdeur 1992). Aufgrund dieses Vorteils variierten Eltern das<br />
Geschlechterverhältnis sogar zugunsten von Töchtern (Komdeur 2003).<br />
Dann transferierte Jan Komdeur 58 Vögel auf zwei benachbarte bis dahin<br />
von dieser Art nicht bewohnte Inseln. Dadurch wurden auf der Ursprungsinsel<br />
zahlreiche Territorien frei, und die Rohrsänger stellten das Helferverhalten<br />
umgehend ein. Auf den beiden anderen Inseln gab es anfangs noch<br />
viele freie Territorien und dort blieb zunächst auch keiner der Jungvögel<br />
im elterlichen Territorium. Junge Vögel scheinen somit nicht deswegen im<br />
elterlichen Territorium zu bleiben, weil sie damit rechnen können, dieses<br />
in absehbarer Zeit übernehmen zu können (Kokko u. Ekman 2002).<br />
Vergleichende Untersuchungen der Ökologie von Vogelarten mit und<br />
ohne Helfer-am-Nest zeigten, dass Helfen mit bestimmten ökologischen<br />
Faktoren wie geringer Nahrungs- oder Nistplatzverfügbarkeit korreliert<br />
(Rubenstein u. Lovette 2007). Diese Einschränkungen treffen aber nicht<br />
auf alle Arten mit kooperativer Jungenfürsorge zu. Andere vergleichende<br />
Untersuchungen konzentrierten sich daher auf die Identifikation von Life<br />
history-Merkmalen, die Arten mit Helfern auszeichnen. Diese Studien<br />
zeigten, dass vergleichsweise geringe Mortalitätsraten für diese Arten<br />
charakteristisch sind (Arnold u. Owens 1999). Durch die geringe Mortalität<br />
der Altvögel kommt es zu reduziertem turn-over in der Population und<br />
geeignete Territorien bleiben lange besetzt. Wenn dies unter entsprechenden<br />
ökologischen Bedingungen geschieht, haben die Jungvögel kaum Gelegenheiten,<br />
rasch mit eigener Fortpflanzung zu beginnen und verzögern<br />
daher ihre Abwanderung, was die entscheidende Voraussetzung für das<br />
Helfen darstellt (Hatchwell u. Komdeur 2000). Diese Untersuchungen zeigen<br />
auch eindrucksvoll, dass entgegengesetzte Faktoren zum selben Ergebnis<br />
führen können. Bei eusozialen Insekten nimmt man an, dass hohe<br />
Mortalitätschancen der Dominanten in manchen Arten Subordinate dazu<br />
veranlassen zu helfen, in der Hoffnung, dass sie die Fortpflanzungsrolle<br />
selbst in absehbarer Zeit übernehmen können. Bei Vögeln sind dagegen<br />
geringe Mortalitätswahrscheinlichkeiten der Brüter der letztendlich ausschlaggebende<br />
Faktor dafür, zu bleiben und zu helfen.<br />
(3) Helfer bei Säugetieren. Wie der Name schon impliziert, wurde Helfen-am-Nest<br />
vor allem bei Vögeln untersucht. Helfer-Systeme mit hohem<br />
reproductive skew gibt es aber auch bei Säugetieren, z. B. bei Krallenaffen<br />
und einigen Karnivoren, insbesondere bei Raubtieren, bei denen Helfer oft,<br />
aber nicht immer (Woodroffe u. Macdonald 2000) dazu beitragen, dass
10.4 Fürsorge und Kooperation 453<br />
Abb. 10.19. Erdmännchen<br />
(Suricata suricatta)<br />
verfügen über das am<br />
besten untersuchte Helfersystem<br />
bei Säugetieren.<br />
Die Jungen profitieren<br />
von der Wachsamkeit<br />
der Helfer und werden<br />
von diesen auch<br />
gefüttert<br />
mehr Junge aufwachsen (Mitani u. Watts 1997). Da es insgesamt wenige,<br />
aber taxonomisch geklumpte Beispiele für Helfersysteme bei Säugetieren<br />
gibt, könnten bestimmte Kombinationen von gemeinsamen intrinsischen<br />
und ökologischen Merkmalen diese Arten zum Verzicht auf eigene Fortpflanzung<br />
und Beteiligung an der Aufzucht der Jungen der Dominanten<br />
disponieren.<br />
Von diesen Arten sind Erdmännchen (Suricata suricatta; Abb. 10.19)<br />
am gründlichsten untersucht. Bei diesen kleinen afrikanischen Raubtieren<br />
werden die Jungen eines dominanten Paares von den anderen Gruppenmitgliedern<br />
bewacht und gefüttert (Clutton-Brock et al. 1999). In der Regel<br />
pflanzt sich nur ein dominantes Paar fort (Griffin et al. 2003). Die Fortpflanzungsaktivität<br />
der anderen Gruppenmitglieder ist durch Inzestvermeidung<br />
und Unterdrückung durch die Dominanten unterbunden (O’Riain<br />
et al. 2000b). Helfer haben einen positiven Effekt auf das Wachstum, den<br />
Erfolg bei der Nahrungssuche und das Überleben der Jungen (Clutton-<br />
Brock et al. 2001). Außerdem wirken sich Präsenz und Anzahl von Helfern<br />
positiv auf die Kondition der züchtenden Weibchen aus, was sich wiederum<br />
in erhöhter Wurfgröße und Geburtsgewichten niederschlägt (Russell<br />
et al. 2003). Schließlich reduzieren Helfer durch ihren Beitrag die Laktationskosten<br />
der Mütter beträchtlich (Scantlebury et al. 2002). Der Fürsorgeaufwand<br />
der Helfer ist dabei aber unabhängig von ihrem Verwandtschaftsgrad<br />
zu den Jungen (Clutton-Brock et al. 2000), so dass Vorteile<br />
durch Verwandtenselektion nicht ausreichend sind, um Helfen zu erklären.<br />
Allerdings helfen weibliche Helfer mehr als männliche, vermutlich weil sie<br />
als das philopatrische Geschlecht stärker von den Vorteilen erhöhter Gruppengröße<br />
aufgrund der Effekte des Helfens profitieren (Clutton-Brock<br />
et al. 2002). Helfen ist mit direkten Kosten für die Helfer verbunden (Clutton-Brock<br />
et al. 1998) – manche fressen beispielsweise 24 h nichts, solan-
454 10 Elterliche Fürsorge<br />
ge sie den Bau mit den Jungen bewachen – aber diese Kosten werden über<br />
aufeinander folgende Helferzeiten verrechnet (Russell et al. 2003). Bei<br />
Erdmännchen erklärt also eine Kombination von Faktoren (indirekte genetische<br />
Vorteile, ökologische Zwänge, mutualistische und egoistische Vorteile<br />
sowie physiologische Mechanismen), warum Subordinate helfen und<br />
sich nicht selber fortpflanzen.<br />
(4) Andere Vor- und Nachteile des Helfens. Neben genetischen Vorteilen<br />
und diversen Zwängen können eine Reihe zusätzlicher Vorteile die<br />
Evolution von Helfer-Systemen bei Wirbeltieren begünstigt haben. Obwohl<br />
genetische Vorteile lange Zeit im Mittelpunkt adaptiver Erklärungen<br />
standen, sind diese wohl überschätzt worden, z. B. weil geschlechtsspezifische<br />
Helfer- und Fortpflanzungsstrategien nicht ausreichend differenziert<br />
wurden (Cockburn 1998). Inzwischen wurde deutlich, dass die Vorteile<br />
von Verwandtenselektion auch durch unvermeidbare Konkurrenz zwischen<br />
Verwandten in anderen Verhaltensdomänen geschwächt werden können<br />
(West et al. 2002). Ebenso wurden möglicherweise die Kosten des Helfens<br />
in manchen Fällen überschätzt. So können nullipare Tiere durch das<br />
Verbleiben in der Geburtsgruppe Erfahrungen in der Jungenaufzucht sammeln<br />
oder allgemeine Vorteile des Gruppenlebens in Anspruch nehmen<br />
und durch ihre Beiträge zur Gruppenverteidigung gegenüber Nachbarn und<br />
Räubern letztendlich egoistische Ziele verfolgen, die quasi als Nebenprodukt<br />
für andere von Vorteil sind (by-product mutualism; Clutton-Brock<br />
2002). Bei anderen Aspekten kann es sich um wahren Mutualismus handeln,<br />
d. h. alle Beteiligten haben unmittelbare oder verzögerte Vorteile von<br />
einer bestimmten Verhaltensweise. Die Erhöhung der Gruppengröße ist ein<br />
solcher Faktor, der besonders in kleinen Gruppen positive Effekte auf die<br />
Überlebenschancen ( Kap. 6.3) aller Mitglieder hat und der Helferverhalten<br />
in Arten mit geringen durchschnittlichen Verwandtschaftsgraden erklären<br />
kann (Kokko et al. 2001). Bei einer solchen weiter gefassten Betrachtung<br />
der Vor- und Nachteile von kooperativer Brutfürsorge wird deutlich,<br />
dass es nicht nur eine Ursache gibt und dass taxonspezifische Merkmale<br />
des Fortpflanzungssystems, der Ökologie und der Life history berücksichtigt<br />
werden müssen (Pen u. Weissing 2000).<br />
(5) Andere Formen des Helfens. Fürsorge in Nachkommen durch Individuen,<br />
die nicht die Eltern sind (alloparenting), ist insgesamt selten im<br />
Tierreich. Dort wo diese Form von Kooperation auftritt, kann anhand der<br />
Anzahl der sich fortpflanzenden Mitglieder einer Gruppe eine Unterscheidung<br />
in zwei Kategorien getroffen werden. Wenn ein Individuum die Gene,<br />
alle anderen Gruppenmitglieder aber nur Fürsorge für die Nachkommen<br />
in einer Gruppe beitragen, handelt es sich um ein Helfer-am-Nest-
10.4 Fürsorge und Kooperation 455<br />
Abb. 10.20. Bei Hausmäusen<br />
(Mus musculus) ziehen in der<br />
Regel zwei verwandte Weibchen<br />
ihre Jungen gemeinsam<br />
auf und säugen die Mitglieder<br />
beider Würfe<br />
System, das durch hohen reproductive skew charakterisiert ist. Wenn dagegen<br />
alle oder die meisten Individuen Gene und Fürsorge beisteuern,<br />
handelt es sich um ein System mit gemeinsamer Fürsorge (communal care<br />
oder communal breeding) mit geringem reproductive skew.<br />
Diese Form der Jungenfürsorge ist vor allem bei Säugetieren verbreitet<br />
und untersucht. Die betroffenen Jungen profitieren von Schutz, Wärmen,<br />
Füttern oder sogar Säugen durch andere Weibchen als die Mutter (König<br />
1997; Abb. 10.20). Im Unterschied zu Helfern am Nest verzichten diese<br />
Weibchen nicht auf eigene Fortpflanzung, solange sie in die Jungen anderer<br />
investieren. Kooperation schmälert die direkte Fitness in diesem Fall<br />
also nicht. Trotzdem ist dieses Verhalten mit Kosten und Risiken verbunden.<br />
Zum einen haben laktierende Weibchen schon hohe direkte Kosten<br />
der Fortpflanzung durch die Milchproduktion für die eigenen Jungen. Zum<br />
anderen existiert die Möglichkeit des Betrügens, d. h. es wäre eigentlich<br />
vorteilhaft, die eigenen Jungen zusätzlich von anderen versorgen zu lassen,<br />
ohne selbst in die Jungen der anderen zu investieren. Bei Löwen (Panthera<br />
leo) tragen daher vermutlich nur Weibchen, die gerade selber Junge haben,<br />
zur gemeinsamen Fürsorge bei (Packer et al. 2001).<br />
Gemeinsame Jungenaufzucht kann mit oder ohne gemeinsamem Säugen<br />
auftreten (Hayes 2000). Für das Säugen aller Jungen in einer Gruppe, ohne<br />
zwischen eigenen und fremden Jungtieren zu unterscheiden, gibt es eine<br />
Reihe von adaptiven, nicht-adaptiven und proximaten Erklärungen (Roulin<br />
2002), für die aus verschiedenen Arten unterstützende Beobachtungen vorliegen.<br />
Die gemeinsame Fürsorge kann durch Verwandtenselektion gefördert<br />
werden, da es sich bei den betreffenden Weibchen häufig um Mütter<br />
und Töchter bzw. Schwestern handelt. In experimentellen Studien hatten<br />
beispielsweise Paare von laktierenden Präriewühlmäusen (Microtus ochrogaster)<br />
einen größeren Fortpflanzungserfolg als Paare, in denen nur ein
456 10 Elterliche Fürsorge<br />
Weibchen Junge hatte, oder als Mütter, die ihre Jungen allein aufzogen<br />
(Hayes u. Solomon 2004).<br />
Ein weiterer Vorteil der gemeinsamen Fürsorge zwischen Verwandten<br />
besteht in der gegenseitigen Rückversicherung durch Adoption der Jungen<br />
der Partnerin im Todesfall (Avital et al. 1998). Bei Arten mit hohem Mortalitätsrisiko<br />
kann dieser Fall relativ häufig eintreten (Eberle u. Kappeler<br />
2006). In einigen wenigen Arten wird Fürsorge in fremde Junge teilweise<br />
durch postreproduktive Weibchen geleistet, bei denen dadurch keine Beschränkungen<br />
der eigenen Fortpflanzung mehr auftreten können. Bei Pavianen<br />
und Löwen unterstützen alte Weibchen beispielsweise ihre Töchter<br />
bei der Jungenaufzucht, aber sie erzielen dadurch keinen messbaren Fitnessgewinn<br />
(Packer et al. 1998).<br />
Bei Vögeln gibt es einige Arten, bei denen zwei oder mehr Weibchen<br />
ihre Eier in ein gemeinsames Nest legen und diese dann von Männchen<br />
bebrütet werden (Vehrencamp 2000). Bestimmte Merkmale der Life history,<br />
wie relativ kleine Eier und hohe energetische Kosten der Eiproduktion,<br />
haben die Evolution dieses Fürsorgesystems gefördert. Aufgrund der<br />
physiologischen Zwänge der Laktation gibt es dazu bei Säugetieren kein<br />
Gegenstück. Bei manchen Fischen mit elterlicher Fürsorge kommt es auch<br />
dazu, dass mehrere Weibchen gemeinsam ablaichen und Adulte anschließend<br />
in fremde Junge investieren (Wisenden 1999). Es gibt schließlich<br />
auch einige Vogelarten, wie z. B. Tasmanische Hühner (Gallinula mortierii),<br />
die kooperative Polyandrie betreiben, d. h. zwei Männchen kümmern<br />
sich gemeinsam um die Brut eines Weibchens (Goldizen et al. 1998).<br />
Dieses seltene System wird aber instabil, sobald zusätzliche Weibchen<br />
zur Verfügung stehen. Bei Säugetieren ist kooperative Polyandrie auf<br />
einige Gattungen südamerikanischer Krallenaffen beschränkt (Callitrichidae:<br />
Heymann 2000). Die Fortpflanzung ist zumeist auf ein Weibchen pro<br />
Gruppe beschränkt, welches Zwillinge produziert (Löttker et al. 2004). Die<br />
Männchen und anderen Mitglieder einer Gruppe tragen die Jungen teilweise<br />
von Geburt an, was energetisch teuer ist (Sanchez et al. 1999), und<br />
geben sie nur kurzfristig zum Säugen an die Mütter ab. Die Verwandtschaftskoeffizienten<br />
innerhalb von Gruppen sind hoch, was auf mögliche<br />
Vorteile von Helfern durch Verwandtenselektion hinweist, aber Männchen<br />
tragen auch Junge, die sie nicht gezeugt haben (Huck et al. 2004), so dass<br />
ihr Verhalten auch noch durch andere Faktoren beeinflusst sein muss.
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 457<br />
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens<br />
Eine der vier grundsätzlichen von Niko Tinbergen (1963) aufgeworfenen<br />
Fragen über das Verhalten betrifft dessen Entwicklung im Laufe der Ontogenese<br />
( Kap. 1.3). Untersuchungen der Entwicklung des Verhaltens<br />
haben eine lange Geschichte, die bis in die klassische Ethologie zurück<br />
reicht. Heute werden Probleme der Verhaltensentwicklung zunehmend<br />
von Neurowissenschaftlern und Verhaltensgenetikern, die sich für molekulare<br />
Grundlagen und physiologische Konsequenzen von Erfahrungen bzw.<br />
die genetische Kontrolle des Verhaltens interessieren, behandelt (Bolhuis<br />
1999). Während der frühen Individualentwicklung beginnen frisch geschlüpfte<br />
oder neugeborene Jungtiere durch ihr Verhalten mit ihrer belebten<br />
und unbelebten Umwelt zu interagieren. Vom ersten Moment an werden<br />
die Fähigkeiten, ihre grundlegenden Körperfunktionen zu stabilisieren,<br />
für das energetisch kostspielige Wachstum ausreichend Nahrung zu gewinnen<br />
und nicht gefressen zu werden, von natürlicher Selektion bewertet.<br />
Verhaltensweisen, die diese Fähigkeiten beeinflussen, sollten daher weitestgehend<br />
abrufbereit vorliegen, also einer genetischen Kontrolle unterliegen.<br />
Ein Beispiel dafür liefert die angeborene Erkennung von Raubfeinden<br />
(Veen et al. 2000). Andere Verhaltensweisen sind artspezifisch, treten nur<br />
bei einem Geschlecht oder nur zu bestimmten Phasen der Individualentwicklung<br />
auf, was ebenfalls auf einen genetischen Einfluss hindeutet. Mit<br />
zunehmendem Alter nimmt aber auch die individuelle Erfahrung zu, so<br />
dass es im Laufe der Individualentwicklung zu Modifikation und Anpassung<br />
des Verhaltens durch verschiedene Lernprozesse kommt. Diese beiden<br />
Prozesse werfen grundlegende Fragen über die Kontrolle des Verhaltens<br />
auf, die zunehmend interdisziplinär von Genetikern, Neurobiologen<br />
und Verhaltensforschern bearbeitet werden (Robinson 1999).<br />
10.5.1 Gene und Verhalten<br />
Praktisch alle Ausführungen und Beispiele in den vorangegangenen Kapiteln<br />
basieren auf der Annahme, dass Verhalten evoluiert. Damit Selektion<br />
das Verhalten von Individuen bewerten kann, muss es genetisch kodiert<br />
und replizierbar abgerufen werden. Diejenigen Individuen, die erfolgreich<br />
überleben, sich fortpflanzen und gegebenenfalls ihre Jungen bis zu deren<br />
Unabhängigkeit umsorgen, geben ihre Gene in den Genpool der nächsten<br />
Generation weiter. Die genetischen Grundlagen von Verhaltensweisen, die<br />
positiv zu diesen Fertigkeiten beitragen, werden selektiert und beibehalten.<br />
Die Weitergabe von genetischen Grundlagen erfolgreicher Verhaltensweisen<br />
hat den Vorteil, dass ein Individuum sich auf einen bewährten Satz an
458 10 Elterliche Fürsorge<br />
Lösungsvorgaben für grundlegende Probleme verlassen kann. Andererseits<br />
können starre Vorgaben unter sich ändernden sozialen oder ökologischen<br />
Bedingungen nachteilig sein. Um zu verstehen, wie Evolution diesen Trade-off<br />
zwischen Kontinuität und Flexibilität gelöst hat, ist es notwendig, zu<br />
verstehen, wie Gene, Erfahrung und Verhalten proximat miteinander verknüpft<br />
sind. In Bezug auf andere Merkmale wird die Verbindung zwischen<br />
Entwicklung und Evolution in der evolutionären Entwicklungsbiologie<br />
(evo-devo) untersucht (Arthur 2002).<br />
Vom Genotyp zum Phänotyp. Alle erblichen Merkmale sind in der Basensequenz<br />
der DNA kodiert. Die zugrunde liegenden Informationen sind<br />
in funktionale DNA-Abschnitte (Gene) kodiert, die in mehreren Allelen<br />
vorliegen können. Die in den Genen enthaltene Information wird abgelesen<br />
und in Proteine übersetzt. Gene kodieren also nicht für Verhalten, sondern<br />
für Proteine. Proteine sind aber auch noch kein Verhalten, sondern Enzyme,<br />
Transmitter oder am Aufbau verschiedener Organe beteiligte Strukturelemente.<br />
Obwohl diese Genprodukte und ihre Funktion teilweise bis in<br />
molekulare Details verstanden sind, vernebelt sich unser derzeitiges Verständnis<br />
der kausalen Beziehung zwischen spezifischen Genen und Verhaltensweisen<br />
aber auf der Ebene der Genprodukte.<br />
Generell beginnt man langsam zu verstehen, dass es viele und komplex<br />
interagierende Zwischenstufen zwischen DNA-Sequenzen und der Ausprägung<br />
bestimmter Verhaltensweisen gibt (Abb. 10.21). Diese Interaktionen<br />
finden einerseits zwischen den Genen und ihren direkten Produkten<br />
statt, welche die Aktivität anderer Gene regulieren und diese nach<br />
Bedarf oder Entwicklungsstadium an- oder abschalten, sowie zwischen<br />
dem Organismus und seiner Umwelt (Sokolowski 2001). Weit verbreitete<br />
Pleiotropie und Polygenie potenzieren die Komplexität der Zusammenhänge<br />
zusätzlich.<br />
Wie morphologische Merkmale im Laufe der Entwicklung durch genetische<br />
Prozesse gesteuert werden, beginnt man zunehmend zu verstehen<br />
(z. B. Kopp et al. 2000). Proteine sind zwar wesentlich an Aufbau und<br />
Funktion von Bewegungsapparat, Nervensystem, Sinnesorganen und chemischen<br />
Botenstoffen im Körper beteiligt, aber diese Proteine können das<br />
Verhalten allein nicht kontrollieren. Zwar sind inzwischen auch Funktionsweisen<br />
von Muskel-, Sinnes-, Drüsen- und Nervenzellen sowie deren<br />
Entwicklung und Verknüpfungen bis in kleinste molekulare und physiologische<br />
Details verstanden (z. B. Neumann u. Nuesslein-Volhard 2000),<br />
so dass wir viel über die neuronalen und endokrinen Grundlagen und Kontrollmechanismen<br />
des Verhaltens wissen (Heldmaier u. Neuweiler 2004),<br />
aber über welche Kaskaden molekularer und physiologischer Prozesse eine<br />
bestimmte angeborene Verhaltensweise ausgelöst wird, ist nicht bekannt.
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 459<br />
Abb. 10.21. Vom Genotyp zum Verhalten. Genetische Information über Verhaltensweisen<br />
ist in der Sequenz der DNA-Basen kodiert und wird in Proteine übersetzt.<br />
Proteine haben vielfältige Funktionen (Enzyme, Hormone etc.), die unter<br />
anderem direkt oder indirekt mit der Kontrolle des Verhaltens zu tun haben. Wie<br />
aber spezifische angeborene Verhaltensweisen über diese Kaskade ausgelöst und<br />
kontrolliert werden, ist noch nicht bekannt, da es zahlreiche Pleiotropien und Polygenien<br />
(blaue Pfeile) gibt und manche Genprodukte eine regulierende Rückkoppelungsfunktion<br />
auf die DNA ausüben (rote Pfeile). Aus Gründen der Übersicht<br />
sind nur einige wenige der möglichen funktionalen Verbindungen schematisch<br />
dargestellt<br />
Durch entsprechende physiologische Messungen könnte man zwar im<br />
Detail beschreiben, was beispielsweise in einem frisch geschlüpften<br />
Kuckuck passiert, wenn er, selbst noch blind und nackt, ohne Gelegenheit<br />
von einem Artgenossen etwas gelernt zu haben, ein fremdes Ei nach dem<br />
anderen aus dem Nest seiner Wirtseltern befördert. Dabei handelt es sich<br />
eindeutig um ein genetisch kontrolliertes, adaptives Verhalten, aber wir<br />
können es funktional nicht in Bezug zu bestimmten DNA-Sequenzen und<br />
deren Aktivität setzen. In sehr viel besser bearbeitbaren Arten wie Drosophila<br />
kennt man inzwischen schon Effekte verschiedener Mutationen<br />
einzelner, an der synaptischen Übertragung beteiligter Enzyme auf verschiedene<br />
Lernprozesse (Putz et al. 2004). Aber wie sich scheue und bissige<br />
Füchse (Vulpes vulpes) nach nur 40 Jahren Selektion von ihren neugierigen<br />
und kuschelbedürftigen Nachfahren genetisch unterscheiden (Trut<br />
1999) oder durch welche genetischen Mechanismen Richtung und Zeit-
460 10 Elterliche Fürsorge<br />
punkt der Herbstwanderung von Mönchsgrasmücken (Sylvia atricapilla)<br />
wie verändert werden (Pulido et al. 2001), entzieht sich bislang noch komplett<br />
unserem Verständnis.<br />
Die Untersuchung der genetischen Grundlagen des Verhaltens ist aus<br />
mehreren Gründen schwierig (Sokolowski 2001). Erstens ist es nicht einfach,<br />
bearbeitbare Grundeinheiten des Verhaltens zu identifizieren. Selbst<br />
stereotype Verhaltensweisen, wie die Balz männlicher Taufliegen, deren<br />
genetische Kontrolle schon lange bekannt ist (Belote u. Baker 1987), können<br />
in viele Einzelbestandteile zerlegt werden. An diesem Beispiel wird<br />
ein zweites, grundsätzliches Problem deutlich: beim Balzen findet ein ständiger<br />
Austausch olfaktorischer, mechanischer und visueller Signale statt,<br />
die einerseits Einzelbestandteile dieses Verhaltens sind und andererseits<br />
die Ausführung des nächsten Elements unmittelbar beeinflussen können.<br />
Drittens existiert interindividuelle Variabilität im Verhalten in Abhängigkeit<br />
von Alter, Geschlecht, Erfahrung, Fortpflanzungszustand und Umweltbedingungen,<br />
die kontrolliert werden muss. Von daher ist es nicht<br />
verwunderlich, dass ein Großteil der bisherigen Untersuchungen der genetischen<br />
Grundlagen des Verhaltens an Drosophila oder noch einfacheren<br />
Organismen durchgeführt wurden. Die Beschreibung von komplexen Verhaltensweisen<br />
in Mikroorganismen, die keine Neurone oder Nervensysteme<br />
besitzen, eröffnet beispielsweise neue Möglichkeiten in diese Richtung<br />
(Crespi 2001). Klassische Methoden der Verhaltensgenetik umfassen Mutationsanalysen,<br />
Kreuzungen von Populationen oder Arten sowie Kaspar-<br />
Hauser-Experimente, bei denen Individuen isoliert aufgezogen werden. Sie<br />
können aber nur zeigen, dass und gegebenenfalls welche Gene an der Kontrolle<br />
bestimmter Verhaltensweisen beteiligt sind, aber nicht wie sie proximat<br />
Verhalten kontrollieren.<br />
Untersuchungen der molekulargenetischen Grundlagen des Verhaltens<br />
von Drosophila haben sich auf circadiane Rhythmen, Balz- und Fressverhalten<br />
sowie auf Lernen und Gedächtnisleistungen konzentriert (Sokolowski<br />
2001). Dabei konnten einzelne Gene identifiziert werden, die mit einzelnen<br />
Verhaltenselementen aus diesen Verhaltenskontexten assoziiert sind<br />
(z. B. Manoli et al. 2005). Außerdem sind in allen diesen Fällen die molekularen<br />
Funktionen der Genprodukte, z. B. als Enzyme, Transkriptionsfaktoren<br />
oder in Ionenkanälen und Hormonrezeptoren, bekannt. In vielen<br />
Fällen wurde ein Polymorphismus für Gene gefunden, die Verhalten in bestimmten<br />
Situationen steuern. Verschiedene Allele desselben Gens werden<br />
unter verschiedenen Umweltbedingungen durch frequenzabhängige<br />
Selektion beibehalten (Fitzpatrick et al. 2007). Eine weitere wichtige<br />
Erkenntnis besteht darin, dass alle diese Gene pleiotrope Effekte auf mehrere<br />
Verhaltensweisen sowie auf andere morphologische und physiologische<br />
Merkmale haben. Das heißt, es gibt kein Gen für das Verhalten X
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 461<br />
oder Y. Vielmehr beeinflussen Gene die Entwicklung und Funktion von<br />
Verhaltensweisen, indem sie zum Aufbau und der Funktion der Bestandteile<br />
des Nervensystems und Bewegungsapparates beitragen, die für die Ausführung<br />
eines Verhaltens notwendig sind. Letztendlich gilt es also zu verstehen,<br />
wie genetisch basierte Signale neuronale Netzwerke aufbauen und<br />
steuern.<br />
Verallgemeinerungen von Funktionsprinzipien in diesem Zusammenhang<br />
sind dadurch möglich, dass in den letzten Jahren eine Reihe von<br />
Kandidaten-Genen (candidate genes) identifiziert wurden. Dabei handelt<br />
es sich um Gene, deren Funktion von Nematoden bis zu Säugetieren weitgehend<br />
identisch ist (Fitzpatrick et al. 2005). So existiert bei Drosophila<br />
ein Gen, das über die Aktivität der korrespondierenden Kinase kontrolliert,<br />
wie eine Larve nach Nahrung sucht (Osborne et al. 1997). Das orthologe<br />
Gen kontrolliert bei Honigbienen (Apis mellifera) unter Beteiligung derselben<br />
Kinase den Übergang zwischen der Phase zu Beginn des Lebens, in<br />
der Arbeiterinnen sich im Stock um die Brut kümmern, und der darauf<br />
folgenden Zeit als Nahrungssammlerin außerhalb des Stocks (Ben-Shahar<br />
et al. 2002). Auch der Vergleich Gen-basierter Unterschiede zwischen<br />
nahverwandten Arten kann Aufschluss über die genetische Kontrolle von<br />
Verhalten ergeben. Bei Wühlmäusen (Microtus spp.) fand man beispielsweise,<br />
dass sich monogame und promiske Arten in der Verteilung eines<br />
Vasopressin-Rezeptors in einem bestimmten Gehirn-Areal unterscheiden<br />
(Young et al. 1999). Vasopressin und andere Neuropeptide, die nur aus<br />
neun Aminosäuren bestehen, werden mit anderen Geschlechts- und Artunterschieden<br />
im Sozialverhalten in Verbindung gebracht (Insel u. Young<br />
2000). So ist Oxytozin bei Mäusen beispielsweise notwendig, um ein soziales<br />
Gedächtnis zu entwickeln (Ferguson et al. 2002).<br />
Ob und wie stark bestimmte Verhaltensweisen durch genetische Faktoren<br />
kontrolliert werden, wurde im Laufe der Domestikation verschiedener<br />
Haustiere deutlich. Bei Nutztieren sind Kenntnisse über genetisch basierte<br />
Verhaltensweisen heutzutage wichtig für deren artgerechte Haltung und sie<br />
haben weitreichende ökonomische Konsequenzen (Schutz u. Pajor 2001).<br />
Unterschiedliche Hunderassen unterscheiden sich auch unter anderem systematisch<br />
in bestimmten Aspekten ihres Verhaltens, die grobe genetische<br />
Korrelate besitzen (Parker et al. 2004). Domestikation hat auch bei anderen<br />
Arten, z. B. bei Meerschweinchen, zu einer Reduktion von Aggression und<br />
Zunahme sozialer Toleranz geführt (Sachser 1998).<br />
Die in dieser Hinsicht beeindruckendsten Daten stammen von einem<br />
Domestikationsexperiment mit Silberfüchsen (Vulpes vulpes; Abb. 10.22).<br />
1959 begann Dmitry Belyaev damit, Füchse selektiv zu züchten (Trut<br />
1999). Das einzige Selektionskriterium war ein Verhaltensmerkmal:<br />
Zahmheit gegenüber Menschen, die versuchten, sie von Hand zu füttern
462 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.22. Silberfüchse<br />
(Vulpes vulpes)<br />
wurden innerhalb<br />
weniger Generationen<br />
erfolgreich auf<br />
Zahmheit selektiert<br />
und zu streicheln. Bei einer Reihe von Tests bis zum Erreichen der Geschlechtsreife<br />
wurden junge Füchse diesbezüglich in vier Kategorien eingeteilt<br />
und jedes Jahr 5% der Männchen mit 20% der Weibchen aus der<br />
höchsten Kategorie verpaart. Die Heritabilität für dieses Merkmal betrug<br />
0,35, d. h. 35% der Varianz in diesem Merkmal sind genetisch bedingt, der<br />
Rest ist umweltbedingt. Nach 10 Generationen zählten bereits 18% der<br />
Jungtiere zur höchsten Kategorie, nach 20 Generationen 35%, und nach 40<br />
Generationen waren es bereits 80%. Heute konkurrieren die jungen Füchse<br />
untereinander, um mit einem Menschen Körperkontakt zu bekommen, den<br />
sie an Händen und Gesicht ablecken.<br />
Das Verhaltensmerkmal „Zahmheit“ hat also eine genetische Basis, die<br />
auf Selektion reagiert. Soweit nichts Außergewöhnliches; es gibt zahlreiche<br />
andere Beispiele dafür, dass verschiedene Verhaltensmerkmale rasch<br />
auf direkte Selektion reagieren. Das Besondere an der Studie an Silberfüchsen<br />
liegt darin, dass auch Änderungen in anderen Merkmalen sorgfältig<br />
dokumentiert wurden. Wohlgemerkt: Zahmheit war das einzige Selektionskriterium.<br />
40 Jahre später unterscheiden sich die zahmen Füchse<br />
von ihren Vorfahren in zahlreichen anderen Merkmalen. Augen und Ohren<br />
öffnen sich inzwischen mehrere Tage früher, ein Anstieg in Kortikosteroiden,<br />
der mit einer Furchtreaktion korreliert, ist um Wochen verzögert.<br />
Fellfarbe, Ohrenform, Schwanz- und Beinlänge änderten sich genauso<br />
wie Schädelproportionen hin zu infantileren Ausprägungen. Zahme<br />
Füchse werden früher geschlechtsreif, haben größere Würfe und eine verlängerte<br />
Paarungszeit. Selektion auf eine Verhaltensweise hat also generell<br />
zu Verschiebungen im timing von Entwicklungsprozessen geführt, die<br />
damit erklärt werden können, dass pleiotrope Gene, die in der Hierarchie<br />
des Genoms weit oben stehen, durch diese künstliche Selektion bewertet<br />
wurden. Diese Studie liefert auch eines der anschaulichsten Beispiele
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 463<br />
dafür, wie sehr Verhalten, Morphologie und Life history miteinander<br />
verzahnt sind ( Kap. 2), hin bis zur genetischen Kontrolle, und wie wichtig<br />
es ist, den gesamten Organismus und seine Entwicklung zu studieren<br />
(Bateson 2005).<br />
10.5.2 Umwelt, Erfahrung und Verhalten<br />
Das Verhalten eines Organismus wird von den frühesten Phasen der Entwicklung<br />
an durch verschiedene Umwelteinflüsse modifiziert. Je nach<br />
Entwicklungsplan können verschiedene Phasen der Individualentwicklung<br />
zwischen der Zygote und dem adulten Individuum unterschieden werden.<br />
Auf Eier, Larven, Puppen, Embryonen und Imagines wirken dabei im Laufe<br />
ihrer Entwicklung zahlreiche interne und externe Stimuli ein, die ihr<br />
unmittelbares Verhalten oder ihr Verhalten in späteren Entwicklungsphasen<br />
beeinflussen. Vom ersten Moment an existiert daher ein intensiver<br />
Dialog zwischen dem sich exprimierenden Genotyp eines Individuums und<br />
seiner inneren und äußeren Umwelt.<br />
In den frühen Entwicklungsphasen manifestieren sich vorwiegend biochemische<br />
Einflüsse in Form von organisierenden Effekten auf proximate<br />
Mechanismen der Verhaltenssteuerung, also beispielsweise auf die Gehirnoder<br />
Gonadenentwicklung. Für weiter entwickelte, aktive Individuen, also<br />
z. B. Larven oder frisch geschlüpfte Jungvögel, sind es primär von der unbelebten<br />
oder sozialen Umwelt aufgenommene Sinnesreize, die zu Veränderungen<br />
und Anpassungen des Verhaltens führen und deren Effekte bis<br />
ins Adultstadium anhalten. Bei Prägungsprozessen existieren dabei mehr<br />
oder weniger starre genetische Vorgaben darüber, was wann von einem<br />
Individuum gelernt wird. Auch jenseits der Juvenilphase findet Lernen<br />
statt; es kommt also zu „relativ permanenten Verhaltensänderungen auf-<br />
Tabelle 10.2. Übersicht über die wichtigsten Lernmechanismen<br />
Individuelles Lernen<br />
• Prägung<br />
• Sensitivierung und Habituation<br />
• Konditionierung<br />
Soziales Lernen<br />
• lokale Verstärkung<br />
• Reizverstärkung<br />
• Stimmungsübertragung<br />
• Beobachtungs-Konditionierung<br />
• Imitation<br />
• Unterrichten
464 10 Elterliche Fürsorge<br />
grund von Erfahrungen“ (Shettleworth 1998), wobei zwischen individuellem<br />
und sozialem Lernen unterschieden wird (Tabelle 10.2).<br />
(1) Frühe organisierende Effekte. Geschlechtsunterschiede im Verhalten<br />
liefern deutliche Beispiele dafür, wie Verhalten früh in der Entwicklung<br />
durch organisierende Effekte beeinflusst wird. Bei Wirbeltieren initiiert<br />
der Genotyp die Entwicklung von Ovarien oder Hoden, die geschlechtsspezifische<br />
Steroidhormone produzieren, welche ihrerseits wichtige organisierende<br />
Effekte sowohl auf die weitere Genaktivität als auch auf die<br />
Entwicklung von sekundären Geschlechtsmerkmalen haben. Bei oviparen<br />
Arten variieren die Eier im Gehalt an Dotter und verschiedenen, für die<br />
Entwicklung wichtigen Substanzen. Bei Vögeln gelangt bei der Eiproduktion<br />
beispielsweise mütterliches Testosteron in den Dotter, was die Entwicklung<br />
der Jungen nachhaltig beeinflusst. Bei Kanarienvögeln (Serinus<br />
canaria) ist der Testosterongehalt der Eier sowohl positiv mit der Reihenfolge,<br />
in der sie gelegt wurden, als auch mit dem späteren Dominanzrang<br />
der daraus schlüpfenden Vögel korreliert (Schwabl 1993). Bei Haussperlingen<br />
(Passer domesticus) wurde durch experimentelle Erhöhungen des<br />
Testosterongehalts der Eier ebenfalls eine verbesserte Konkurrenzfähigkeit<br />
der daraus geschlüpften Vögel dokumentiert und damit der direkte Zusammenhang<br />
zwischen der Hormonkonzentration im Ei und dem Verhalten<br />
des adulten Individuums nachgewiesen (Strasser u. Schwabl 2004).<br />
Bei viviparen Arten besteht durch den intimen Kontakt zwischen Mutter<br />
und Jungen über die Plazenta, aber auch zwischen Jungen innerhalb des<br />
Uterus, ebenfalls die Möglichkeit der gegenseitigen Beeinflussung durch<br />
Hormone während der frühen Entwicklung. Untersuchungen an Nagern<br />
haben gezeigt, dass bei polytoken Arten die Position eines Fötus im<br />
Uterus in Abhängigkeit vom Geschlecht seiner benachbarten Geschwister<br />
mehrere geschlechtsspezifische Merkmale im späteren Leben beeinflusst<br />
(Ryan u. Vandenbergh 2002). Der entscheidende Mechanismus dabei ist<br />
der Transfer von Testosteron zwischen männlichen Föten und ihren benachbart<br />
gelegenen Geschwistern. Weibliche Föten, die sich zwischen<br />
zwei Brüdern entwickeln, sind später sehr viel maskuliner als solche mit<br />
einem bzw. keinem benachbarten Bruder. Derselbe Effekt existiert bei<br />
Männchen. Bei Wüstenrennmäusen (Meriones unguiculatus) zeigen Männchen,<br />
die zwischen zwei Brüdern herangewachsen sind, beispielsweise höhere<br />
Häufigkeiten an Markierverhalten, und sie kopulieren früher und ejakulieren<br />
schneller als andere Männchen (Clark et al. 1990). Umgekehrt<br />
zeigen Männchen, die zwischen zwei Schwestern herangewachsen sind, als<br />
Adulte teilweise sehr niedrige Testosteronkonzentrationen und haben kein<br />
Interesse an östrischen Weibchen. Stattdessen helfen sie ihren Müttern bei<br />
der Aufzucht weiterer Geschwister (Clark u. Galef 2000). Bei diesen Un-
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 465<br />
tersuchungen werden die Jungen übrigens kurz vor dem Geburtstermin<br />
durch Kaiserschnitt entbunden und dabei ihre Position im Uterus bestimmt.<br />
(2) Prägung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Verhalten<br />
und Gene während der Entwicklung aufeinander abgestimmt sind, stellt<br />
das Phänomen der Prägung (imprinting) dar. Es handelt sich dabei um einen<br />
Prozess, bei dem innerhalb eines genetisch festgelegten Zeitfensters,<br />
einer sensiblen Phase, bestimmte Reize nachhaltige, oft irreversible Verhaltensmuster<br />
induzieren (Immelmann 1972). Hier wird dem Organismus<br />
sozusagen genetisch vorgegeben, wann er was lernen kann. Prägung wurde<br />
hauptsächlich bei Vögeln untersucht, wo sie in drei Kontexten eine wichtige<br />
Funktion hat.<br />
Das bekannteste Beispiel, die Nachfolgeprägung (filial imprinting),<br />
wurde von Konrad Lorenz an Graugänsen ausführlich beschrieben. Bei<br />
diesen und vielen anderen Vögeln mit nestflüchtenden Jungen erfolgt kurz<br />
nach dem Schlüpfen eine Prägung auf das erste sich bewegende Objekt,<br />
dem die jungen Vögel dann unaufhörlich nachfolgen (Abb. 10.23). Damit<br />
wird unter natürlichen Bedingungen sichergestellt, dass die Jungen für geraume<br />
Zeit während ihrer frühen Entwicklung in der Nähe der Mutter bleiben.<br />
Dass die frisch geschlüpften Jungen keine Vorstellung vom Aussehen<br />
der eigenen Art haben, zeigen Unfälle oder Experimente, in denen just<br />
zum Zeitpunkt des Schlüpfens ein Mitglied einer anderen Art vor Ort ist<br />
und die Nachfolgeprägung auslöst. In der aktuellen Forschungslandschaft<br />
stellt Nachfolgeprägung ein Paradigma dar, an dem neuronale Grundlagen<br />
des Lernens untersucht werden (Bolhuis et al. 2000).<br />
Durch sexuelle Prägung werden spätere Partnerpräferenzen in einem<br />
frühen Alter festgelegt. Dabei dienen die eigenen Eltern in der Regel als<br />
Abb. 10.23. Frisch geschlüpfte<br />
Küken (hier<br />
Stockenten, Anas platyrhynchos)<br />
bleiben aufgrund<br />
einer Nachfolgeprägung<br />
immer nah bei<br />
ihrer Mutter
466 10 Elterliche Fürsorge<br />
Modell, um artspezifische Merkmale zu lernen, die später die Arterkennung<br />
bei der Partnerwahl erleichtern oder ermöglichen (Irwin u. Price<br />
1999). Die wichtigste Bedeutung sexueller Prägung besteht daher darin,<br />
unter natürlichen Bedingungen Mitglieder der eigenen Art in einem ersten<br />
Selektionsschritt bei der Partnerwahl ( Kap. 9.3) als solche zu erken-<br />
Box 10.3<br />
Sexuelle Prägung und Partnerwahl<br />
• Frage: Welche Bedeutung hat sexuelle Prägung als Nestling auf die spätere<br />
Partnerwahl?<br />
• Hintergrund: Sexuelle Prägung ist bei Vögeln weit verbreitet, aber die relative<br />
Bedeutung vererbter und erlernter Informationen für die Partnerwahl<br />
ist in natürlichen Populationen kaum untersucht.<br />
• Methode: In einem Austauschexperiment wurden die Gelege zwischen<br />
Kohlmeisen (KM, Parus major), Blaumeisen (BM, Cyanistes caeruleus)<br />
und Tannenmeisen (TM, Periparus ater) ausgetauscht*. Im darauf folgenden<br />
Jahr wurde ermittelt, wie viele der so aufgewachsenen Jungvögel<br />
sich mit Partnern welcher Art verpaarten.<br />
% Paarungserfolg<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
20<br />
100 18 100 100<br />
82<br />
0 Junge<br />
Eltern<br />
N<br />
KM<br />
BM<br />
11<br />
*<br />
KM<br />
KM<br />
20<br />
BM<br />
KM<br />
17<br />
*<br />
BM<br />
TM<br />
5<br />
*<br />
BM<br />
BM<br />
11<br />
• Ergebnis: Im Vergleich zu Kontrollen ( ) beeinträchtigte die Umsetzung<br />
nur den Paarungserfolg von Kohlmeisen. Alle der wenigen fremd aufgezogenen<br />
Kohlmeisen, die sich verpaarten, taten dies mit Blaumeisen; bei<br />
Blaumeisen waren es nur 82% ( ); der Rest verpaarte sich mit Kohlmeisen.<br />
• Schlussfolgerung: Die Bedeutung sexueller Prägung für die spätere Partnerwahl<br />
variiert zwischen Arten. Mit Blaumeisen aufgezogene Kohlmeisen<br />
können sich nicht erfolgreich verpaaren, wohingegen der Effekt auf<br />
Blaumeisen sehr viel schwächer ist. Die Ursachen und Funktion dieses<br />
Artunterschiedes sind nicht bekannt.<br />
Slagsvold et al. 2002<br />
* aus praktischen Gründen sind nicht alle denkbaren Kombinationen möglich
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 467<br />
nen, um so Hybridisierungen zu vermeiden (Immelmann 1972). Bei sehr<br />
ähnlichen und nah miteinander verwandten Arten wie z. B. Galapagos-<br />
Finken (Geospiza spp.) können diese Prägungsmechanismen aber nicht<br />
spezifisch genug sein, um heterospezifische Paarungen zu verhindern<br />
(Grant u. Grant 1997). Ein Umsetzungsexperiment zwischen Arten zeigte,<br />
dass die Bedeutung sexueller Prägung sich auch zwischen nah verwandten<br />
Arten unterscheidet (Box 10.3).<br />
In den meisten Ordnungen der Vögel sind Vokalisationen angeboren.<br />
Bei vielen Singvögeln (Passeriformes) und manchen Mitgliedern von drei<br />
nah verwandten Ordnungen (Kolibris, Spechte und Papageien) wird der<br />
Gesang von Artgenossen gelernt. Gesangslernen umfasst zwei getrennte<br />
Prozesse, einen sensorischen und einen motorischen, die manchmal Monate<br />
auseinander liegen. Der sensorische Prozess erfolgt meist während einer<br />
sensitiven Phase, in der ein junger Vogel über Gesangsprägung den artspezifischen<br />
Gesang erwirbt. Junge Männchen lernen dabei bevorzugt den<br />
Gesang der eigenen Art, den sie in der Regel von ihrem Vater hören (Marler<br />
1997). Es folgt eine Phase von Wochen oder Monaten, in denen der<br />
junge Vogel selbst nicht singt. Erst danach folgt die motorische Phase, in<br />
der die Tiere zu singen beginnen, allerdings auf eine noch recht variable<br />
Art und Weise (Tchernichovski et al. 2001). Während dieser Übungsphase<br />
müssen die Tiere in der Lage sein, sich selbst singen zu hören, um sich in<br />
der nachfolgenden Kristallisationsphase auf einen Gesang festzulegen, der<br />
dem Gesang des während der sensiblen Phase gehörten Tutors weitgehend<br />
entspricht (Janik u. Slater 2000). Dabei scheinen bestimmte Vorgaben darüber,<br />
wie einzelne Gesangselemente strukturiert sein müssen, angeboren<br />
zu sein (Gardner et al. 2005).<br />
Prägungsähnliche Lernvorgänge wurden bei anderen Arten auch in weiteren<br />
Funktionszusammenhängen beschrieben. Pazifische Lachse (Oncorhynchus<br />
spp.) werden über den Geruch auf das Gewässer geprägt, das sie<br />
nach Jahren im offenen Ozean zur eigenen Eiablage wieder aufsuchen<br />
(Dittman u. Quinn 1996; Kap. 4.3). Bei der Entwicklung von Präferenzen<br />
von Insekten, Vögeln und Säugetieren für bestimmte Habitattypen<br />
( Kap. 5.1) oder Nahrung ( Kap. 5.3) sind vermutlich ebenfalls prägungsähnliche<br />
Vorgänge beteiligt. So finden Kuckucks-Weibchen (Cuculus<br />
canorus) möglicherweise ihren spezifischen Wirt, indem sie auf dessen<br />
Nisthabitat geprägt werden (Teuschl et al. 1998), und Springspinnen (Oxyopes<br />
salticus) können auf einen bestimmten Beutetyp geprägt werden<br />
(Punzo 2002). Schließlich wird bei Ziegen und anderen Huftieren in den<br />
ersten Stunden nach jeder Geburt von den Müttern durch intensives Belecken<br />
eine irreversible Bindung an das eigene Jungtier hergestellt, welche<br />
anschließend eine eindeutige individuelle Erkennung erlaubt (Klopfer et al.<br />
1964).
468 10 Elterliche Fürsorge<br />
(3) Individuelles Lernen. Verschiedene Formen individuellen Lernens<br />
wurden vor allem unter kontrollierten Laborbedingungen untersucht.<br />
Diese Untersuchungen charakterisierten die Arbeiten der Behavioristen<br />
( Kap. 1.3), die davon ausgehen, dass jegliches Verhalten das Ergebnis<br />
von Erfahrungen darstellt. Im einfachsten Fall modifizieren Tiere ihr Verhalten<br />
als Reaktion auf einen bestimmten Reiz. Wenn dieser Reiz wiederholt<br />
geboten wird, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Tiere schenken<br />
ihm zunehmend mehr oder weniger an Aufmerksamkeit. Im ersten Fall<br />
handelt es sich um Sensitivierung; im zweiten Fall um Habituation. Beide<br />
Prozesse sind vor allem bei experimentellen Untersuchungen, in denen<br />
Tiere mehrfach denselben Reizen ausgesetzt sind, von praktischer Bedeutung,<br />
da sie „natürliche“ Reaktionen verstärken oder abschwächen können.<br />
Man versucht daher häufig, Habituation zu vermeiden, indem man die Rate<br />
der Reizpräsentation reduziert. Habituation kann aber auch elegant in Experimenten<br />
eingesetzt werden, in denen man das Unterscheidungsvermögen<br />
für bestimmte Reize ermitteln will. In diesem Fall wird ein Reiz präsentiert<br />
und die darauf folgende Reaktion gemessen. Danach wird die<br />
Präsentation solange wiederholt, bis keine Reaktion mehr messbar ist, also<br />
bis komplette Habituation stattgefunden hat. Dann kann man einen zweiten<br />
Reiz präsentieren. Wenn die beiden Reize unterschieden werden können,<br />
ist nun eine erneute starke Reaktion zu erwarten – es findet eine Dishabituation<br />
statt. Mit dieser Methode kann man beispielsweise untersuchen, ob<br />
Tiere einander am Geruch unterscheiden können (Zenuto u. Fanjul 2002).<br />
Durch die Kombination von zwei Reizen ist es möglich, eine klassische<br />
Konditionierung herbeizuführen. In diesem Fall wird ein zunächst neutraler<br />
Reiz mit einem unbedingten Reiz (unconditioned stimulus) in zeitlicher<br />
Nähe kombiniert. Unbedingte Reize sind solche, die spontan stark positive<br />
(appetitive) oder negative (aversive) Reaktionen auslösen, wie z. B. der<br />
Anblick von Futter bzw. eines Raubfeindes. Wenn die Tiere eine Verbindung<br />
zwischen beiden Reizen herstellen und schon der neutrale Reiz ausreicht,<br />
eine entsprechende Reaktion auszulösen, ist der neutrale Reiz zu<br />
einem bedingten Reiz (conditioned stimulus) geworden und es hat eine<br />
klassische Konditionierung stattgefunden. Dieser Lernmechanismus wurde<br />
von Ivan Pavlov bei Hunden entdeckt, denen er mit einem Lichtreiz die<br />
unmittelbar bevorstehende Gabe von Futter signalisierte. Die klassische<br />
Konditionierung kann sowohl mit einem belohnenden Reiz (z. B. Futter)<br />
als auch mit einem Strafreiz (z. B. Stromstoß) hergestellt werden; es findet<br />
also eine positive bzw. negative Verstärkung (reinforcement) statt. Im Unterschied<br />
zur Prägung kann eine klassische Konditionierung auch wieder<br />
gelöscht werden, indem man den zeitlichen Abstand zwischen beiden Reizen<br />
vergrößert (extinction).
10.5 Entwicklung und Kontrolle des Verhaltens 469<br />
Bei der operanten Konditionierung wird dem Versuchstier kein Reiz<br />
vorgegeben. Stattdessen wird ein spontan gezeigtes Verhalten sofort belohnt<br />
oder bestraft. Die Fähigkeit von Ratten und Tauben, den Zusammenhang<br />
zwischen dem Drücken oder Picken eines Hebels mit einer Futterbelohnung<br />
in Verbindung zu bringen, wurde in Skinner-Boxen ausgiebig<br />
untersucht. Da Tiere bei beiden Formen der Konditionierung eine mentale<br />
Verbindung zwischen zwei Ereignissen herstellen müssen, werden sie auch<br />
als assoziatives Lernen bezeichnet. Über die Bedeutung von assoziativem<br />
Lernen unter natürlichen Bedingungen ist bislang wenig bekannt (siehe<br />
aber Hammer u. Menzel 1995). Man kann diese assoziativen Prozesse aber<br />
so weit abstrahieren, dass man das Lernen von Zusammenhängen zwischen<br />
Reizen und das Lernen der Konsequenzen des eigenen Verhaltens als diejenigen<br />
Ereignisse definiert, die den Großteil der Vorhersagbarkeit unserer<br />
Welt darstellen (Brembs et al. 2002).<br />
(4) Soziales Lernen. Wenn Tiere ihr Verhalten aufgrund von Interaktionen<br />
mit Artgenossen modifizieren, spricht man von sozialem Lernen, welches<br />
auf mehreren Mechanismen basieren kann, die nicht immer alle leicht<br />
voneinander zu unterscheiden sind. Bei einer lokalen Verstärkung (local<br />
enhancement) wird die Aufmerksamkeit eines Individuums von Artgenossen<br />
zunächst primär auf einen Ort gelenkt. Dort beobachtet es den oder die<br />
Artgenossen bei einer Aktivität, die dabei gelernt wird. Tiere, die eine ergiebige<br />
Nahrungsquelle gefunden haben, locken beispielsweise Artgenossen<br />
an, die vor Ort lernen, dass es sich an dieser Stelle lohnt, selbst nach<br />
Nahrung zu suchen. Wenn ein Artgenosse dagegen die Aufmerksamkeit<br />
eines anderen auf ein bestimmtes Objekt richtet, wird dies als Reizverstärkung<br />
(stimulus enhancement) bezeichnet. Dieser Mechanismus könnte<br />
dem Kopieren von Partnerwahlentscheidungen (mate copying; Kap. 9.3)<br />
zugrunde liegen. In manchen Fällen ist es weder der Ort noch ein Objekt,<br />
sondern das Verhalten an sich, das von Artgenossen gezeigt wird und das<br />
in einem Tier dieselbe Aktivität auslöst. Solche Stimmungsübertragung<br />
(contagion) findet beispielsweise statt, wenn ein Tier andere auf der Flucht<br />
sieht und sich ihnen anschließt. Mobbing von Raubfeinden ( Kap. 6.3) ist<br />
ein anderes Beispiel für Stimmungsübertragung.<br />
Wenn Tiere beobachten, dass eine bestimmte Verhaltensweise für einen<br />
Artgenossen mit einer Konsequenz verbunden ist, kann es durch Beobachtungskonditionierung<br />
(observational conditioning) aus dieser Beobachtung<br />
lernen und das entsprechende Verhalten übernehmen oder vermeiden.<br />
Rhesusaffen (Macaca mulatta), die in Gefangenschaft aufgewachsen sind,<br />
haben weder Angst vor einer Schlange noch zeigen sie eine besondere<br />
Reaktion auf einen ängstlichen Artgenossen (Abb. 10.24). Wenn allerdings<br />
ein in freier Wildbahn geborener Affe eine Angstreaktion auf eine Schlan-
470 10 Elterliche Fürsorge<br />
Abb. 10.24. In Gefangenschaft<br />
geborene Rhesusaffen (Macaca<br />
mulatta) können durch Beobachtungskonditionierung<br />
adaptive<br />
Angstreaktionen von Artgenossen<br />
lernen<br />
ge zeigt, können sie diese lernen (Mineka et al. 1984). Auch bei Derbywallabies<br />
(Macropus eugenii) wurde experimentell gezeigt, dass sie so von<br />
Artgenossen Informationen über Raubfeinde erlernen (Griffin u. Evans<br />
2003). Beobachtungskonditionierung wird aber auch in anderen Kontexten<br />
eingesetzt; Hühner können auf diese Weise beispielsweise eine Futterpräferenz<br />
entwickeln (Sherwin et al. 2002).<br />
Imitation findet statt, wenn von einem Tier eine neue Verhaltensweise<br />
kopiert wird, die nicht zum artspezifischen Repertoire gehört (Zentall<br />
2001). Das erfolgreiche Kopieren kann dabei voraussetzen, dass das beobachtende<br />
Tier die Zielgerichtetheit der Handlung des Akteurs verstehen<br />
muss, um die betreffende Verhaltensweise zu imitieren. Verschiedene Problemlösungsaufgaben<br />
für Vögel und Primaten stellen ein beliebtes Paradigma<br />
dar, an dem verschiedene Aspekte und Grundlagen (z. B. Motivation)<br />
von Imitation im Labor untersucht werden (Heyes 2001).<br />
Die bisher erwähnten Mechanismen des sozialen Lernens basieren auf<br />
Beobachtung. Bei aktivem Unterrichten (teaching) muss dagegen ein<br />
„Lehrer“ durch die Modifikation seines Verhaltens in der Präsenz eines<br />
„Schülers“ bei diesem den Erwerb einer Verhaltensweise oder von Wissen<br />
beschleunigen, ohne dass der Lehrer selbst einen unmittelbaren Vorteil<br />
durch dieses Verhalten erfährt (Caro u. Hauser 1992). Eine Katzenmutter,<br />
die ihren Jungen eine lebende Maus bringt und dafür sorgt, dass diese mit<br />
ihr „spielen“ können, könnte eine Form des Unterrichtens darstellen, die<br />
man in ähnlicher Form bei Geparden (Acinonyx jubatus) beobachtet hat<br />
(Caro 1994). Bei Arten, die Werkzeuge einsetzen, um an Nahrung zu gelangen,<br />
ist Unterrichten in manchen Fällen notwendig für effizientes Lernen<br />
der dafür notwendigen Techniken. Schimpansen (Pan troglodytes), die<br />
mit Steinen und Stöcken harte Nüsse knacken, unterrichten ihre Jungen in<br />
dieser Fertigkeit (Boesch 1991). Allerdings gibt es auch einfachere Me-
10.6 Zusammenfassung 471<br />
chanismen für den Erwerb der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen. Von<br />
Hand aufgezogene Geradschnabelkrähen (Corvus moneduloides) stellen<br />
Werkzeuge spontan her und benutzen sie korrekt, ohne jemals einen Tutor<br />
dabei gesehen zu haben (Kenward et al. 2005). Auch die auf Galapagos<br />
lebenden Spechtfinken (Cactospiza pallida) benutzen einen Zweig oder<br />
Kaktusstachel als Werkzeug bei der Nahrungssuche, unabhängig davon, ob<br />
sie als Juvenile Gelegenheit hatten, dies bei einem Artgenossen zu beobachten<br />
(Tebbich et al. 2001).<br />
10.6 Zusammenfassung<br />
Individuen, die Zeit und Energie in die Fürsorge ihres Nachwuchses<br />
investieren, können dadurch dessen Qualität und Überlebenschancen,<br />
und damit ihre Fitness, verbessern. Ob Brutfürsorge auftritt oder nicht<br />
und welche Form sie annimmt, hängt von Zwängen des Bauplans und<br />
der jeweiligen Life history ab. Die Art der Fertilisation (intern oder<br />
extern) ist eine wichtige Determinante dafür, welcher Elter die Brutfürsorge<br />
leistet. Da elterliches Investment mit Kosten verbunden ist,<br />
ergeben sich drei Konflikte. Zum einen entsteht ein Konflikt zwischen<br />
den Eltern, wenn die Option besteht, aktuelles Investment zu reduzieren,<br />
um mit einem anderen Partner weitere Nachkommen zu produzieren.<br />
Zum anderen entsteht ein Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen<br />
aufgrund ihrer unterschiedlichen genetischen Interessen.<br />
Eltern sollten in alle ihre Jungen gleichermaßen investieren, wohingegen<br />
Junge ein Interesse daran haben, mehr Investment zu bekommen<br />
als ihre zukünftigen Geschwister. Wenn die Produktionskosten und<br />
der erwartete Fitnessgewinn sich zwischen Nachkommen unterscheiden,<br />
können Eltern aber auch differenziert investieren und beispielsweise<br />
das Geschlechterverhältnis der Nachkommen manipulieren.<br />
Schließlich kann es auch Konflikte über die Verteilung des limitierten<br />
elterlichen Investments zwischen Geschwistern geben. Die Kosten des<br />
elterlichen Investments haben auch dazu geführt, dass manche Arten<br />
die Bruten von Artgenossen oder von anderen Arten parasitieren und<br />
ihre Jungen von diesen aufziehen lassen.<br />
Im Kontext der Jungenfürsorge finden sich auch die extremsten<br />
Beispiele für Kooperation im Tierreich. Bei eusozialen Arten verzichten<br />
die meisten Individuen auf eigene Fortpflanzung und investieren<br />
stattdessen in den Nachwuchs anderer. Bei haplodiploiden Arten kann<br />
dies mit dem außergewöhnlich hohen Zugewinn an indirekter Fitness
472 10 Elterliche Fürsorge<br />
durch Verwandtenselektion erklärt werden. Vor allem bei Vögeln und<br />
Säugern gibt es Individuen (Helfer-am-Nest), die temporär auf eigene<br />
Fortpflanzung verzichten und anderen bei der Jungenfürsorge helfen.<br />
Obwohl diese Hilfe häufig Verwandten zugute kommt, wird die Entscheidung<br />
zu helfen auch von eigenen Vorteilen und verschiedenen<br />
ökologischen und Life history-Zwängen beeinflusst.<br />
Das Verhalten der heranwachsenden Jungtiere wird durch permanente<br />
Interaktion zwischen genetischen und Umweltfaktoren bestimmt.<br />
Die genetische Grundlage ermöglicht die Evolution von Verhalten,<br />
aber die Mechanismen der proximaten Umsetzung von<br />
genetischer Information in Verhalten sind nur ansatzweise verstanden.<br />
Ein viel differenzierteres Wissen existiert über die verschiedenen Mechanismen<br />
individuellen und sozialen Lernens, die zu nachhaltigen<br />
Anpassungen des Verhaltens an individuelle Erfahrungen führen.<br />
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V SOZIALE EVOLUTION<br />
Der rote Faden der ersten drei Abschnitte dieses Buches bestand darin, die<br />
Determinanten individueller Fitness (Überleben, Fortpflanzung und Jungenfürsorge)<br />
zu betrachten. Viele Aspekte dieser einzelnen Fitnessdeterminanten<br />
haben eine soziale Komponente, die ich in diesem letzten Abschnitt<br />
explizit beleuchten möchte. Dabei ist es nicht immer offensichtlich,<br />
was Ursache und Konsequenz oder entscheidender Vor- oder Nachteil ist.<br />
So können Individuen beispielsweise durch die Bildung von Gruppen<br />
zwar ihr individuelles Prädationsrisiko verringern ( Kap. 6.3), andererseits<br />
dadurch aber auch intensiverer Nahrungskonkurrenz ausgesetzt sein<br />
( Kap. 5.4). Ein ähnliches Spannungsfeld entsteht, wenn sich Verwandte<br />
zusammenschließen, weil sich dann einerseits Möglichkeiten der Kooperation<br />
ergeben, die indirekte Fitness zu erhöhen ( Kap. 10.4). Andererseits<br />
erhöht sich aber das Risiko, individuelle Fortpflanzungsmöglichkeiten aufgrund<br />
von Inzestvermeidung ( Kap. 9.2) oder Konkurrenz ( Kap. 9.7)<br />
einzubüßen. Die Diversität der Sozialsysteme ist enorm, wobei die Spannbreite<br />
von kurzlebigen Wirbellosen, die nur einmal im Leben einen Artgenossen<br />
zur Paarung treffen, bis hin zu großen Säugetieren, die Jahrzehnte<br />
mit denselben Individuen in großen Gruppen verbringen, reicht. Es muss<br />
also Selektion für verschiedene Formen des Zusammenlebens geben. Welche<br />
Ursachen und Konsequenzen diese Variabilität hat, bespreche ich in<br />
diesem letzten Abschnitt.
11 Sozialsysteme<br />
11.1 Soziale Organsiation<br />
11.1.1 Sozioökologie<br />
11.1.2 Organisationsformen<br />
11.1.3 Abwanderung und Philopatrie<br />
11.2 Paarungssysteme<br />
11.2.1 Diversität der Paarungssysteme<br />
11.2.2 Konsequenzen<br />
11.3 Sozialstruktur<br />
11.3.1 Kommunikation<br />
11.3.2 Koordination<br />
11.3.3 Konkurrenz<br />
11.3.4 Kooperation<br />
11.3.5 Kognition<br />
11.3.6 Kultur<br />
11.4 Zusammenfassung<br />
Analysen von Sozialsystemen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Gesellschaftsformen<br />
(societies), die als Menge von Individuen, die regelmäßig<br />
miteinander interagieren und dies häufiger miteinander tun als mit<br />
Mitgliedern anderer Gesellschaften, definiert werden können. Die zunächst<br />
unüberschaubare Vielfalt der Sozialsysteme kann aus heuristischen Gründen<br />
in drei Bestandteile zerlegt werden (Abb. 11.1). Dabei charakterisiert<br />
die soziale Organisation ( Kap. 11.1), wie Individuen in Raum und Zeit<br />
verteilt sind, welche Alters- und Geschlechterzusammensetzung soziale<br />
Einheiten haben und welche genetische Struktur diese besitzen. Die soziale<br />
Struktur ( Kap. 11.3) beschreibt das Muster sozialer Interaktionen und<br />
der daraus resultierenden Beziehungen der Mitglieder einer Gesellschaft.<br />
Davon getrennt wird das Paarungssystem ( Kap. 11.2) betrachtet, um zu<br />
analysieren, wer sich mit wem wie häufig verpaart. Wenn diese Beschreibungen<br />
durch genetische Vaterschaftsanalysen ergänzt werden, lässt sich<br />
auch das Fortpflanzungssystem bestimmen, also wer sich tatsächlich fortgepflanzt<br />
hat.
490 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.1. Sozialsysteme können in drei Komponenten zerlegt werden. Soziale<br />
Organisation beschreibt die Zusammensetzung einer Gesellschaft. Das Paarungssystem<br />
drückt aus, wer sich mit wem verpaart; daraus ergibt sich, wer sich letztendlich<br />
mit wem fortpflanzt. Alle anderen sozialen Interaktionen charakterisieren<br />
die Sozialstruktur<br />
Um zu verstehen, wie es zu Diversität in Sozialsystemen kommt, ist es<br />
zunächst notwenig, die Einheiten und Mechanismen der relevanten Selektionskräfte<br />
zu klären. Sozialsysteme sind nicht das Ergebnis von Selektion<br />
für bestimmte Gruppeneigenschaften, auch wenn Einheiten höherer Ordnung,<br />
wie Gruppen oder Arten, gut an ihre Umwelt angepasst sind. Zu Zeiten<br />
der klassischen Ethologie ( Kap. 1.3) lieferte Gruppenselektion eine<br />
weithin akzeptierte Erklärung für bestimmte Aspekte von Sozialsystemen,<br />
die mit individuellen Nachteilen verbunden sind (Wynne-Edwards 1962).<br />
Demnach hätten Individuen in manchen Situationen das Wohl der gesamten<br />
sozialen Einheit im Sinn und würden ihr Verhalten dementsprechend<br />
zum Wohle der Gruppe oder Art anpassen und dafür auch individuelle<br />
Nachteile in Kauf nehmen. Ein solcher, auf freiwillige individuelle Nachteile<br />
basierter Altruismus, kann sich in der Evolution aber nicht durchsetzen,<br />
da er immer von egoistischen Individuen verdrängt wird.<br />
Dies lässt sich an einem hypothetischen Beispiel verdeutlichen. Nehmen<br />
wir an, dass eine Art die Tragfähigkeit ihres Habitats erreicht hat und dass<br />
eine weitere Zunahme der Population die nachhaltige Nutzung wichtiger<br />
Ressourcen unmöglich machen würde, so dass die Population zusammenbrechen<br />
würde. Gruppenselektionisten haben eine in dieser Situation zu
11 Sozialsysteme 491<br />
beobachtende Reduktion der Nachkommenzahl ( Kap. 6.1; z. B. Schneeschuh-Hasen,<br />
Lepus americanus und Luchse, Lynx lynx) so interpretiert,<br />
dass Individuen zum Wohl der Art ihre Fortpflanzung einschränken und<br />
damit das Populationswachstum und den Druck auf die Ressourcen verringern.<br />
In dieser Situation würde aber eine Mutante, die dieses Verhalten<br />
nicht zeigt und sich stärker vermehrt, rasch in der Population zunehmen<br />
und die Altruisten verdrängen. Gruppenselektion kann also keine Verhaltensstrategien<br />
hervorbringen, die evolutionär stabil sind und sich gegenüber<br />
individuellen Strategien behaupten können (Williams 1966).<br />
Eine zweite Form von Gruppenselektion, die man besser als Merkmalsgruppen-Selektion<br />
(trait group selection oder multilevel selection)<br />
bezeichnet, wird heutzutage wieder diskutiert, vor allem in Bezug auf<br />
menschlichen Altruismus (Bergstrom 2002). Diese Form der Selektion<br />
kann nur wirken, wenn Individuen in scharf abgegrenzten sozialen Einheiten<br />
leben, die Fitness aller Individuen einer Einheit gegenseitig abhängig<br />
ist und es Selektion innerhalb und zwischen Gruppen gibt (Sober u. Wilson<br />
1998). Unter diesen restriktiven Bedingungen kann man theoretisch zeigen,<br />
dass Vorteile, die sich beim Vergleich zwischen Gruppen offenbaren,<br />
Nachteile von Verhaltensweisen innerhalb von Gruppen übertreffen können<br />
(Korb u. Heinze 2004).<br />
Alarmrufe gegenüber Raubfeinden ( Kap. 6.3) liefern ein eingängiges<br />
Beispiel zur Veranschaulichung dieses Prozesses. Individuen, die Artgenossen<br />
vor Raubfeinden warnen, haben von diesem Verhalten zunächst<br />
keinen erkennbaren Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil. Ganz im Gegenteil:<br />
Rufende Tiere werden womöglich leichter entdeckt und häufiger<br />
erbeutet. Wie kann sich ein solches Verhalten ausbreiten? Rufer könnten<br />
direkt oder indirekt davon profitieren, dass beim nächsten Angriff ein anderer<br />
Artgenosse warnt (reziproker Altruismus Kap. 11.3) bzw. dass<br />
Verwandte aufgrund ihrer Rufe ein reduziertes Mortalitätsrisiko haben<br />
(Verwandtenselektion). Man kann sich theoretisch aber auch vorstellen,<br />
dass Gruppen mit Rufern langfristig insgesamt erfolgreicher sind als<br />
Gruppen mit weniger oder keinen Rufern. Bislang gibt es aber kein überzeugendes<br />
Beispiel für Merkmalsgruppen-Selektion, bei dem alle notwendigen<br />
Voraussetzungen erfüllt sind.<br />
Heutzutage geht man davon aus, dass Sozialsysteme und ihre Komponenten<br />
das Ergebnis zahlreicher individueller Entscheidungen darstellen,<br />
die durch natürliche und sexuelle Selektion auf Individuen bewertet<br />
werden. Es ist also die Summe der Verhaltensentscheidungen aller einzelnen<br />
Individuen, die bestimmt, ob sich Gruppen bilden, welche Größe und<br />
Zusammensetzung diese haben und wer mit wem interagiert und kopuliert<br />
(Cahan et al. 2002). Es handelt sich dabei aber nicht um bewusste Entscheidungen,<br />
sondern um das Ergebnis eines Ausleseprozesses: Indivi-
492 11 Sozialsysteme<br />
duen, die sich in einer bestimmten Weise verhalten, erzielen unter den<br />
vorherrschenden Bedingungen im Durchschnitt höhere Fitness als solche,<br />
die sich anders verhalten. Es sind vor allem Interaktionen zwischen ökologischen<br />
(Ressourcenverteilung, Räuberrisiko), intrinsischen (Körpergröße,<br />
Aktivitätsphase) und sozialen (Zugang zu Geschlechtspartnern, Philopatrie,<br />
eigene Fortpflanzung, Jungenfürsorge, Infantizidrisiko) Faktoren, die<br />
in verschiedenen Kombinationen die Überlebens- und Fortpflanzungschancen<br />
von Individuen maximieren, wenn sie in einer bestimmten Form organisiert<br />
sind und miteinander interagieren.<br />
11.1 Soziale Organisation<br />
Die Verteilung von Individuen in Raum und Zeit unterscheidet sich zwischen<br />
Arten und manchmal auch zwischen Populationen innerhalb von<br />
Arten. Webervögel liefern ein klassisches Beispiel für solche Variabilität<br />
in der sozialen Organisation innerhalb einer Gruppe nah verwandter Arten<br />
( Abb. 1.5). Da sympatrische Schwesterarten sich diesbezüglich grundlegend<br />
voneinander unterscheiden können, ist soziale Organisation nur in<br />
geringem Maße durch phylogenetische Zwänge eingeschränkt. Vielmehr<br />
erfolgt eine flexible Anpassung an lokale ökologische und soziale Bedingungen.<br />
Die Selektionsfaktoren, welche die Verteilung von Individuen<br />
dabei letztendlich beeinflussen, werden im sozioökologischen Modell logisch<br />
zusammengeführt. Die grundlegendste Entscheidung, die Individuen<br />
in diesem Zusammenhang treffen können, ist die zwischen einem solitären<br />
Leben und dem Leben in Gruppen. Die wichtigsten Mechanismen, mit denen<br />
die Größe und Zusammensetzung von sozialen Einheiten modifiziert<br />
werden können, sind die Zu- bzw. Abwanderung, die auch weitreichende<br />
Konsequenzen für die genetische Struktur und das Paarungssystem haben.<br />
11.1.1 Sozioökologie<br />
Der Einfluss von grundlegenden Selektionsfaktoren auf den Überlebensund<br />
Fortpflanzungserfolg von Individuen wird durch das sozioökologische<br />
Modell beschrieben (Abb. 11.2). Der individuelle Überlebenserfolg beider<br />
Geschlechter wird demnach maßgeblich von Strategien zur Reduktion des<br />
Prädationsrisikos bestimmt. Je nach der Lebensweise potentieller Beutetiere<br />
und den Jagdstrategien ihrer wichtigsten Räuber kann es für Tiere<br />
entweder vorteilhaft sein, möglichst kryptisch und damit einzelgängerisch<br />
zu sein, oder sich zu Gruppen zusammenzuschließen. Der individuelle<br />
Fortpflanzungserfolg wird dagegen von geschlechtsspezifischen Faktoren
11.1 Soziale Organisation 493<br />
Abb. 11.2. Grundzüge des sozioökologischen Modells. Die Verteilung von Ressourcen<br />
und Risiken bestimmt die Verteilung der Weibchen, welche die Verteilung<br />
der Männchen maßgeblich beeinflusst (rote Pfeile). Infantizidrisiko und Jungenfürsorge<br />
haben bei manchen Arten einen zusätzlichen Einfluss auf die<br />
Verteilung der Geschlechter (schwarze Pfeile). Ökologische Faktoren sind für<br />
Männchen von nachgeordneter Bedeutung (gestrichelte Pfeile)<br />
bestimmt. Für Weibchen ist der Zugang zu Ressourcen in der Regel der die<br />
Fortpflanzung limitierende Faktor, wohingegen der Fortpflanzungserfolg<br />
von Männchen durch den Zugang zu rezeptiven Weibchen begrenzt wird.<br />
Das sozioökologische Modell geht daher davon aus, dass sich das Verhalten<br />
von Weibchen primär in Bezug auf die ökologischen Faktoren Ressourcenverteilung<br />
und Prädationsrisiko ausrichtet und dass die Verteilung<br />
der Männchen sich in einem zweiten Schritt der gegebenen Verteilung der<br />
Weibchen anpasst (Emlen u. Oring 1977). Männchen können sich außerdem<br />
aufgrund von zwei sozialen Gründen permanent mit Weibchen zusammenschließen:<br />
entweder hat väterliche Jungenfürsorge einen positiven<br />
Einfluss auf den männlichen Fortpflanzungserfolg oder sie können dadurch<br />
das Infantizidrisiko für ihren Nachwuchs reduzieren.<br />
Eine Grundannahme des sozioökologischen Modells über die Bedeutung<br />
der vielfältigen Vorteile der Gruppenbildung in Bezug auf die Reduktion<br />
des Prädationsrisikos wurde bereits ausführlich besprochen ( Kap. 6.3).<br />
Eine zweite Grundannahme betrifft die Beziehung zwischen Ressourcenverteilung<br />
und der daran angepassten Verteilung von Individuen. Hierzu<br />
gibt es zwei Hypothesen. Die erste basiert auf Überlegungen zur optimalen<br />
Territoriumsgröße ( Kap. 5.5). Nahrung, Wasser sowie Schutzund<br />
Ruheplätze stellen demnach die entscheidenden Ressourcen dar, deren
494 11 Sozialsysteme<br />
Verteilung in Raum und Zeit dafür ausschlaggebend sind, ob Tiere allein,<br />
in Paaren oder in größeren Gruppen ein Territorium verteidigen, das für<br />
alle ausreichend Ressourcen bereithält (Johnson et al. 2002). Dabei ist die<br />
gleichzeitige Betrachtung der Verteilung der Ressourcen sowohl im Raum<br />
als auch in der Zeit notwendig.<br />
Eine zentrale Annahme dieser Ressourcendispersions-Hypothese besteht<br />
darin, dass es bei fleckenhafter Verteilung einer Ressource für ein<br />
Individuum notwendig ist, eine größere Gesamtfläche zu verteidigen, als<br />
dies für die Befriedigung des eigenen Bedarfs notwendig ist. Daher ist es<br />
ohne wesentlich größere Kosten für ein zweites Individuum möglich, im<br />
selben Gebiet Zugang zu ausreichend vielen Ressourcen zu gewinnen. Die<br />
Territoriumsgröße wird demnach also durch die Ressourcenverteilung<br />
bestimmt, wohingegen die Gruppengröße unabhängig davon durch die<br />
Ressourcenqualität festgelegt wird. Nach dieser Hypothese kann Gruppenleben<br />
zunächst ohne besondere Vorteile entstehen, weil durch diesen Zusammenhang<br />
die Kosten des Zusammenlebens entscheidend reduziert<br />
werden. In einem Experiment mit Heckenbraunellen (Prunella modularis)<br />
führte räumlich-zeitlich unvorhersagbare Zusatzfütterung tatsächlich dazu,<br />
dass Weibchen kleine, exklusive Territorien aufgaben und mit 1–3 anderen<br />
Weibchen ein gemeinsames Gebiet nutzten (Davies u. Hartley 1996).<br />
Eine zweite einflussreiche Hypothese (female-bonding-Hypothese)<br />
stellt die Vorteile der gemeinsamen Ressourcenverteidigung in den Mittelpunkt.<br />
Demnach ist es bei bestimmten Kombinationen von Ressourceneigenschaften<br />
vorteilhaft, diese zu verteidigen. Dabei handelt es sich vor<br />
allem um mittelgroße, hoch konzentrierte Nahrung, die räumlich und zeitlich<br />
ungleichmäßig und unvorhersagbar verteilt ist und Interferenzkonkurrenz<br />
wahrscheinlich macht ( Kap. 5.4). Wenn die gemeinsame Verteidigung<br />
von Ressourcen durch mehrere Weibchen in dieser Situation<br />
vorteilhaft ist, bilden sich Gruppen von Weibchen (female-bonded groups;<br />
Wrangham 1980), da Gruppen kooperierender Weibchen besser in der<br />
Lage sind, diese Ressourcen zu monopolisieren, als solitäre oder nichtkooperierende<br />
Weibchen. Die resultierenden Kosten der Nahrungskonkurrenz<br />
innerhalb der Gruppe werden demnach durch die Vorteile aufgewogen,<br />
die aus der gemeinsamen Verteidigung der Nahrung gegenüber<br />
anderen Gruppen entstehen. Die Vorteile der gemeinsamen Verteidigung<br />
werden durch Verwandtenselektion verstärkt, wenn sich verwandte Tiere<br />
zusammenschließen. Indirekte Tests dieser Hypothese fokussierten vor<br />
allem auf die Bedeutung der Konkurrenz zwischen Gruppen bei Primaten<br />
und Raubtieren (Wrangham et al. 1993) sowie auf die Populationswachstumsrate,<br />
mit der man die Effekte von Konkurrenz innerhalb und zwischen<br />
Gruppen vergleichen kann (van Schaik 1983).
11.1 Soziale Organisation 495<br />
Die Annahmen des sozioökologischen Modells über geschlechtsspezifische<br />
Determinanten von Verteilungsmustern wurden experimentell an<br />
Graurötelmäusen (Clethrionomys rufocanus) untersucht, indem die Verteilung<br />
von Individuen und Ressourcen manipuliert wurde (Ims 1988). Dazu<br />
wurden auf einer kleinen Insel zunächst die Aktionsräume von Männchen<br />
und Weibchen bestimmt. Als danach zusätzliches Futter an bestimmten<br />
Stellen ausgebracht wurde, kollabierten die Streifgebiete der weiblichen<br />
Graurötelmäuse um diese Futterstellen herum. Die Männchen verlagerten<br />
ihre Streifgebiete aber auch in dieselben Gebiete. Um herauszufinden, ob<br />
die Männchen den Weibchen folgten oder ob sie ebenfalls durch das Futter<br />
angelockt wurden, verteilte Ims entweder Männchen oder Weibchen in unterschiedlichen<br />
Mustern in Drahtkäfigen über die Insel, während die Mitglieder<br />
des anderen Geschlechts beobachtet wurden. Wenn Weibchen in<br />
Käfigen weiträumig verteilt wurden, folgten die Männchen und überlagerten<br />
ihre Aktivitätsgebiete mit denen der Weibchen. Wenn die Weibchen nahe<br />
beieinander aufgestellt wurden, konzentrierten sich die Aktivitäten der<br />
Männchen auf diese Stellen. Als dagegen die Verteilung der Männchen<br />
manipuliert wurde, änderte sich die räumliche Aktivität der Weibchen<br />
nicht. Diese Weibchen orientieren sich in ihrer räumlichen Verteilung also<br />
tatsächlich an der Verteilung der Ressourcen, wohingegen Männchen der<br />
Verteilung der Weibchen folgen.<br />
11.1.2 Organisationsformen<br />
Die Vielfalt sozialer Organisationsformen kann in drei Kategorien eingeteilt<br />
werden: Tiere können solitär, in Paaren oder in Gruppen leben. Eine<br />
grundsätzliche Unterscheidung besteht darin, einzelgängerische Tiere von<br />
allen anderen zu unterscheiden, bei denen mindestens zwei Artgenossen<br />
dauerhaft assoziiert sind. Dabei liegt das Augenmerk immer auf den Adulten,<br />
da Gruppen aus Elter(n) und Nachkommen häufig nur temporär sind<br />
und einzig aus Gründen der Brutpflege existieren. Paare aus einem Männchen<br />
und einem Weibchen kann man zwar als kleinste Gruppe betrachten,<br />
aber sie bilden sich aus anderen Gründen als größere Gruppen (siehe unten),<br />
so dass es sinnvoll ist, sie getrennt zu klassifizieren. Gruppen aus<br />
mehr als zwei Individuen weisen extreme Variabilität in ihrer Größe, Kohäsion,<br />
Zusammensetzung und Anonymität auf, die vielfältige Untergruppierungen<br />
zulässt. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Vor- und<br />
Nachteile dieser Organisationsformen besprechen, um einen Eindruck darüber<br />
zu vermitteln, warum sie im Laufe der Evolution in den verschiedensten<br />
Taxa immer wieder unabhängig voneinander entstanden sind.
496 11 Sozialsysteme<br />
(1) Solitäre Arten. Wenn Individuen während ihrer Aktivitätsphase nicht<br />
permanent mit Artgenossen assoziiert sind und ihre Bewegungen nicht<br />
direkt mit anderen koordinieren, werden sie als einzelgängerisch oder solitär<br />
bezeichnet. Natürlich kommunizieren und interagieren diese Tiere regelmäßig<br />
mit Artgenossen oder sie gruppieren sich während der Inaktivitätsphase,<br />
aber sie werden in der Regel allein angetroffen. Damit<br />
unterscheiden sie sich grundlegend von (nicht-sessilen) Tieren, die immer<br />
in Gruppen anzutreffen sind. Die Mehrzahl der Tierarten ist solitär; nennenswerte<br />
Ausnahmen finden sich aber in manchen Insektenordnungen,<br />
bei Fischen, Vögeln und manchen Säugetieren.<br />
Ein traditioneller Schwerpunkt der Verhaltensökologie bestand darin, zu<br />
erklären, warum Tiere in Gruppen leben (Bertram 1978). Dabei wurde implizit<br />
der Vergleich mit solitären Arten angestellt, aber die Evolution des<br />
Einzelgängertums wurde bislang kaum explizit untersucht. Stattdessen<br />
wird zumeist angenommen, dass entweder die potentiellen Vor- und<br />
Nachteile des Gruppenlebens zu gering bzw. zu hoch sind. Ein solitäres<br />
Leben kann aber auch unabhängige Gründe haben, da eine solitäre Lebensweise<br />
auch sekundär (d. h. von gruppenlebenden Vorfahren) entstand<br />
(Wcislo u. Danforth 1997). In Arten mit eingeschränkter Lokomotionsfähigkeit,<br />
wie z. B. Chamäleons (Chameleon chameleon: Cuadrado et al.<br />
2001), kann eine solitäre Lebensweise beispielsweise durchaus zur verbesserten<br />
Krypsis beitragen. In anderen Fällen sind dagegen potentielle Vorteile<br />
des Gruppenlebens nicht zutreffend. Für nachtaktive Arten ist erhöhte<br />
Sicherheit durch verbesserte Wachsamkeit z. B. kein Grund, Gruppen zu<br />
bilden, da Räuber von mehreren Tieren bei Nacht nicht eher oder besser<br />
entdeckt werden. Andere Arten, wie die Top-Prädatoren (Macdonald<br />
1983), sind vermutlich deshalb solitär, weil sie aufgrund ihrer Größe oder<br />
anderer Schutzmechanismen praktisch immun vor Räubern sind. Es können<br />
auch Eigenschaften der wichtigsten Nahrung eine solitäre Lebensweise<br />
fördern, wenn diese Nahrung nur allein erfolgreich aufgenommen werden<br />
kann (Carr u. Macdonald 1986). Dieser Grund trifft z. B. auf primär insektivore<br />
Arten zu, bei denen die Nahrung in der Regel nicht geteilt werden<br />
kann und Artgenossen sich bei der Suche und beim Fang eher stören, so<br />
dass eine solitäre Nahrungssuche (solitary foraging) vorteilhaft ist.<br />
Die räumliche Verteilung von solitären Tieren ist durch ein variables<br />
Maß an gegenseitiger Streifgebietsüberlappung gekennzeichnet. Die<br />
Spannbreite reicht von exklusiver Territorialität bis hin zu multiplen Überlappungen<br />
der Streifgebiete mehrerer Artgenossen (Abb. 11.3). Überlappungen<br />
zwischen den Streifgebieten von Männchen und Weibchen sowie<br />
die Existenz von exklusiven Kerngebieten sind weit verbreitet, wenn keine<br />
strikte Territorialität vorliegt (z. B. Kerr u. Bull 2006). Da bei vielen Arten<br />
die Mitglieder eines Geschlechts in ihrem Geburtsgebiet verbleiben,
11.1 Soziale Organisation 497<br />
N<br />
100 0 100<br />
Abb. 11.3. Madame Berthes Mausmaki (Microcebus berthae), der kleinste Primat<br />
der Welt, lebt nachtaktiv und solitär (Dammhahn u. Kappeler 2005). Die Streifgebiete<br />
von Männchen (blau) und Weibchen (rot) überlappen sich teilweise<br />
kommt es zu einer räumlichen Anhäufung von Verwandten, die mit genetischen<br />
Analysen erkannt werden können (z. B. McEachern et al. 2007).<br />
Selbst wenn keine strikte Philopatrie vorliegt, kann es zu einer genetischen<br />
Struktur auf Populationsebene kommen, d. h. Individuen sind<br />
nicht zufällig verteilt, sondern räumliche und genetische Abstände zwischen<br />
Individuen sind miteinander korreliert (z. B. Matocq u. Lacey 2004).<br />
(2) Paare. Die kleinste soziale Einheit besteht aus einem Männchen und<br />
einem Weibchen, die sich assoziieren und ihre Aktivitäten und Bewegungen<br />
miteinander koordinieren (Abb. 11.4). Bei Insekten sind Paare in der<br />
Regel meist kurzlebig (Prokopy u. Roitberg 2001); bei anderen Arten können<br />
Paare aber lebenslang zusammen bleiben (z. B. Albatrosse: Bried et al.<br />
2003). Eine weitere Unterscheidung existiert zwischen seriellen und permanenten<br />
Paaren, je nachdem ob Paare nur für eine Saison oder mehrere<br />
Brutzyklen zusammenbleiben. Serielle Paarbildung ist bei einem verschobenen<br />
operationalen Geschlechterverhältnis und bei großer Variabilität in<br />
der Partnerqualität zu erwarten (Maness u. Anderson 2007). „Scheidungen“<br />
können aber auch durch Vertreibungen durch Dritte erfolgen (Jeschke<br />
et al. 2007). Auf der Verhaltensebene gibt es zudem Variabilität in der Kohäsion<br />
der Paarpartner, da es neben räumlich kohäsiven auch disperse Paare<br />
gibt, die zwar gemeinsam ein Territorium verteidigen, aber selten zusammen<br />
anzutreffen sind (Schülke u. Kappeler 2003). Paarlebende Arten<br />
sind häufig territorial und zeigen die Paarbindung durch stereotype Verhaltensweisen<br />
an, wie zum Beispiel durch vokale Duette (Logue 2007).
498 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.4. Fettschwanzmakis<br />
(Cheirogaleus medius)<br />
sind paarlebende Lemuren,<br />
die viele konvergente<br />
Anpassungen an das Paarleben<br />
zeigen, die für andere<br />
paarlebende Säugetiere<br />
charakteristisch sind<br />
Da Paare eine Fortpflanzungseinheit darstellen, werden die Ursachen<br />
des Paarlebens zumeist direkt oder indirekt mit Fortpflanzungsvorteilen in<br />
Zusammenhang gebracht. Trotzdem muss konsequent zwischen Paarleben<br />
und Monogamie unterschieden werden, da es bei vielen paarlebenden Arten<br />
regelmäßig zu Kopulationen außerhalb des Paarverbundes (extra-pair<br />
copulations Kap. 11.2) kommt (Petrie u. Kempenaers 1998). Aufgrund<br />
der Konsequenzen der Anisogamie ( Kap. 7.3), ist Paarleben aus Sicht<br />
der Männchen erklärungsbedürftig. Um die Frage nach den selektiven<br />
Zwängen, die ein Leben in Paaren begünstigen, zu beantworten, wurden<br />
mehrere Hypothesen postuliert. Allerdings herrscht über die relative Bedeutung<br />
einzelner Faktoren noch wenig Klarheit. Folglich ist zu erwarten,<br />
dass nicht nur verschiedene Arten aus unterschiedlichen Gründen paarlebend<br />
sind, sondern dass auch die Geschlechter einer Art aus unterschiedlichen<br />
Gründen sich in dieser Art und Weise organisieren.<br />
Als wichtiger Grund, warum sich Männchen auf nur eine Sozial- bzw.<br />
Paarungspartnerin beschränken, wird angenommen, dass die direkte elterliche<br />
Fürsorge beider Paarpartner für das Überleben des Nachwuchses<br />
essentiell ist (Fische: DeWoody et al. 2000; Vögel: Møller 2000). Dieser<br />
Aspekt ist insbesondere in Bezug auf männliche Jungenfürsorge entscheidend,<br />
da diese bei Arten mit interner Fertilisation nicht zu erwarten ist<br />
( Kap. 10.2). Männchen sollten ihre Partnerin und Brut nicht verlassen,<br />
um in eine weitere Brut zu investieren, wenn die resultierende Reduktion<br />
des Fortpflanzungserfolgs mit der aktuellen Brut größer ist als mögliche<br />
Zugewinne mit einer weiteren Brut. Obligate biparentale Jungenfürsorge<br />
und hohe Hürden für das Verlassen der Brut können Paarleben daher<br />
prinzipiell erklären (Gubernick 1994). Bei Vögeln leben die meisten Arten<br />
(> 92%) vermutlich aus diesem Grund in Paaren. Bei paarlebenden Säugetieren<br />
gibt es dafür aber bislang meist nur indirekte Befunde (Gubernick u.<br />
Teferi 2000). So haben zum Beispiel paarlebende Caniden im Vergleich zu
11.1 Soziale Organisation 499<br />
nicht paarlebenden Arten eine durchschnittlich höhere Anzahl an Nachkommen<br />
(Geffen et al. 1996). Die inhaltlich damit zusammenhängende<br />
Ressourcenverteidigungs-Hypothese geht davon aus, dass Männchen indirekt<br />
die Überlebenschancen der Nachkommen erhöhen, indem sie maßgeblich<br />
ein Territorium und die darin enthaltenen Ressourcen für den<br />
Nachwuchs und die Paarpartnerin verteidigen.<br />
Als weitere Ursache des Paarlebens wird die aus Sicht der Männchen<br />
ungünstige Verteilung rezeptiver Weibchen in Raum und Zeit angesehen.<br />
Wenn Weibchen räumlich weit verteilt sind, hat ein Männchen aufgrund<br />
des ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses der Verteidigung nicht die<br />
Möglichkeit, mehr als ein Weibchen zu monopolisieren. Die Mateguarding-Hypothese<br />
geht davon aus, dass die Paarbildung dadurch zustande<br />
kommt, dass Männchen sich einem Weibchen anschließen, um<br />
dieses gegen Rivalen zu verteidigen (Komers u. Brotherton 1997). Bei<br />
einer verstreuten Weibchenverteilung sollte die Monopolisierung eines<br />
Weibchens die beste Strategie zur Maximierung des männlichen Reproduktionserfolges<br />
sein. Insbesondere bei einem zu Gunsten der Männchen<br />
verschobenen Geschlechterverhältnis könnten Männchen so Extra-pair-<br />
Kopulationen der Weibchen verhindern oder zumindest die Möglichkeit<br />
der Weibchen, Informationen über fremde Männchen zu erhalten, vermindern.<br />
Diese Hypothese postuliert keine Vorteile für die Weibchen. Es<br />
wird stattdessen angenommen, dass Weibchen die Präsenz der Männchen<br />
tolerieren, weil diese Toleranz weniger aufwändig ist, als Männchen andauernd<br />
zu vertreiben (Fuentes 2000). Bei manchen Arten (z. B. Tannenzapfenechsen,<br />
Tiliqua rugosa) ist die Bewachung, und damit das Paarleben,<br />
nur auf ein paar Wochen vor der jährlichen Paarungszeit beschränkt<br />
(Bull 2000).<br />
Auch bei starker Synchronität der Fortpflanzungsaktivität der Weibchen<br />
können Männchen gezwungen sein, sich auf ein Weibchen zu beschränken<br />
(Weatherhead u. Yezerinac 1998). Hier entsteht für Männchen<br />
mit zunehmender Synchronität der Fortpflanzungsaktivität benachbarter<br />
Weibchen ein Dilemma, weil sie ihre Paarpartnerin nicht unbewacht lassen<br />
können, ohne selbst eine Fremdvaterschaft zu riskieren (Kokko u. Morell<br />
2005). Die Bewachung von Weibchen kann auch zur permanenten Assoziation<br />
von Paarpartnern führen, wenn die Rezeptivität der Weibchen, wie<br />
bei Knallkrebsen (Alpheus angulatus), lange andauert (Mathews 2002).<br />
Die Infantizid-Hypothese postuliert, dass sich Männchen mit einem<br />
Weibchen assoziieren, um den gemeinsamen Nachwuchs vor Infantizid<br />
durch fremde Männchen zu schützen (van Schaik u. Kappeler 1997). Für<br />
Männchen kann die Strategie, bei einem Weibchen zu bleiben und deren<br />
abhängigen Nachwuchs zu verteidigen, bei einer hohen Vaterschaftswahrscheinlichkeit<br />
durchaus vorteilhaft sein (Palombit 1999). Die Infantizid-
500 11 Sozialsysteme<br />
Hypothese wurde zur Erklärung von Paarleben bei Gibbons (Hylobatidae)<br />
plausibel diskutiert (Reichard 2003).<br />
Die Optimale-Gruppengröße-Hypothese geht schließlich davon aus,<br />
dass Paarleben unter bestimmten ökologischen Gegebenheiten den besten<br />
Kompromiss zwischen erhöhter Sicherheit gegenüber Räuberdruck einerseits<br />
und Kosten in der Effizienz der Nahrungsbeschaffung andererseits<br />
darstellt. Große Gruppen bieten zwar einen verbesserten Schutz gegenüber<br />
Prädatoren, aber gleichzeitig steigt die Nahrungskonkurrenz innerhalb der<br />
Gruppe. So sollten vor allem bei gleichmäßig verteilten kleinen Ressourcen<br />
und relativ geringem Prädationsdruck die Gruppen klein sein, um lange<br />
Wanderstrecken und Konflikte innerhalb der Gruppe zu minimieren<br />
(Janson u. Goldsmith 1995).<br />
(3) Gruppen. Arten, bei denen drei oder mehr adulte Individuen permanent<br />
assoziiert sind, werden als gruppenlebend bezeichnet. Innerhalb der<br />
gruppenlebenden Arten kann man in Bezug auf deren Stabilität und Anonymität<br />
mehrere Kategorien unterscheiden. Gruppen können sich bilden,<br />
weil Tiere durch Wind- oder Wasserströmungen passiv an bestimmte Orte<br />
verdriftet werden, ohne dass dies mit besonderen Vorteilen verbunden ist.<br />
Ebenso können sie durch andere Außenfaktoren temporär an einem Ort<br />
angehäuft werden (z. B. Geier an einem Aas). Diese Gruppen werden<br />
als Konglobationen bezeichnet. Wenn es zu temporären Ansammlungen<br />
kommt, in denen sich Individuen nicht individuell kennen, handelt es sich<br />
um anonyme Zweckgemeinschaften oder Aggregationen, die ökologische<br />
oder soziale Ursachen haben können. Möwen, die an einer dafür besonders<br />
geeigneten Stelle brüten (Rissa tridactyla: Danchin et al. 1998), und Frösche,<br />
die sich an einem Teich zur Paarung treffen (Physalaemus pustulosus:<br />
Marsh et al. 2000), sind Beispiele für diese Ursachen. In Gesellschaften<br />
findet ständig reziproke Kommunikation zwischen individuell<br />
bekannten Tieren statt. Ihre Mitglieder sind auch häufig durch Kooperation<br />
und Brutpflege charakterisiert und beziehen Vorteile daraus, dass sich stabile<br />
Dominanzbeziehungen etablieren können (Barber u. Ruxton 2000).<br />
Viele gruppenlebende Säugetiere fallen in diese Kategorie. Die Kolonien<br />
eusozialer Arten können davon unterschieden werden, da sie zusätzlich<br />
durch Arbeitsteilung charakterisiert sind (Costa u. Fitzgerald 1996).<br />
Das Leben in Gruppen hat mehrere Vorteile, die als ultimate Faktoren in<br />
verschiedenen Kombinationen zur vielfach unabhängigen Evolution dieser<br />
Form der sozialen Organisation geführt haben. Die wichtigsten Vorteile<br />
des Gruppenlebens wurden im Kontext des Nahrungsverhaltens und Räubervermeidungsverhaltens<br />
bereits ausführlich besprochen ( Kap. 5 und 6).<br />
Sie werden daher an dieser Stelle nur kurz in diesem Zusammenhang<br />
erwähnt und ergänzt (Tabelle 11.1). Die wichtigsten Vorteile basieren auf
11.1 Soziale Organisation 501<br />
Tabelle 11.1. Die wichtigsten Vor- und Nachteile des Gruppenlebens<br />
Leben in Gruppen<br />
Vorteile<br />
• Verdünnungseffekt<br />
• Verwirrungseffekt<br />
• Räuberentdeckung<br />
• geteilte Wachsamkeit<br />
• Räuberabwehr<br />
• Nahrungssuche<br />
• Ressourcenverteidigung<br />
• Informationstransfer<br />
• Energie sparen<br />
• Kooperation<br />
Nachteile<br />
• Auffälligkeit<br />
• Nahrungskonkurrenz<br />
• größere Streifgebiete<br />
• Fortpflanzungskonkurrenz<br />
• Pathogentransfer<br />
• Verwandtenkonkurrenz<br />
mehreren Mechanismen zur Verringerung des Prädationsrisikos. Aufgrund<br />
des Verdünnungseffekts reduziert sich das individuelle Risiko, von einem<br />
Räuber ausgewählt zu werden, umgekehrt proportional zur Gruppengröße<br />
(Sword et al. 2005). Angreifende Räuber können auch durch die Vielzahl<br />
der potentiellen Beutetiere verwirrt werden (Schradin 2000). Mit zunehmender<br />
Gruppengröße steigt die Zahl der Augen und Ohren (oder anderer<br />
an der Räuberentdeckung beteiligter Sinnesorgane) und damit die Wahrscheinlichkeit,<br />
einen herannahenden Räuber frühzeitig zu entdecken (Elgar<br />
1989). Ein Vergleich innerhalb einer Art (Weißrüssel-Nasenbären, Nasua<br />
narica), in denen Individuen solitär oder gruppenlebend sein können, zeigte,<br />
dass solitäre Tiere viel häufiger gefressen werden und dass das Prädationsrisiko<br />
mit zunehmender Gruppengröße abnimmt (Hass u. Valenzula<br />
2002). Die erhöhte Gesamtwachsamkeit erlaubt es Individuen, ihre individuelle<br />
Wachsamkeit zu reduzieren und die dadurch gewonnene Zeit zum<br />
Fressen oder für soziale Aktivitäten zu nutzen (Roberts 1996). Tiere in<br />
Gruppen sind auch besser in der Lage, sich aktiv gegen Räuber zu wehren,<br />
als einzelne Individuen (Lingle 2001).<br />
Gruppen können auch Nahrung effektiver finden, erschließen oder verteidigen<br />
als einzelne Tiere (Rubenstein u. Wrangham 1986) und Informationen<br />
über die Lage von Nahrung (Sonerud et al. 2001) oder geeignete<br />
Schlafplätze (Kerth u. Reckardt 2003) austauschen. Für warmblütige Tiere<br />
bieten Gruppen auch die Möglichkeit, durch die Bildung von „Kuschelgruppen“<br />
Energie bei der Wärmeproduktion zu sparen (Arnold 1990). An-
502 11 Sozialsysteme<br />
dere energetische Vorteile entstehen bei der koordinierten Fortbewegung in<br />
Gruppen von fliegenden oder schwimmenden Tieren aufgrund aero- bzw.<br />
hydrodynamischer Vorteile (Parrish u. Edelstein-Keshet 1999). Schließlich<br />
stellt die Gruppenbildung eine Voraussetzung dafür dar, dass Verwandte<br />
zusammenleben und miteinander kooperieren können.<br />
Da nicht alle Tiere in Gruppen leben, müssen diese Vorteile auch durch<br />
verschiedene Nachteile in Schach gehalten werden. Zunächst sind Gruppen<br />
von Tieren auffälliger und für Raubfeinde leichter zu entdecken<br />
(Hebblewhite u. Pletscher 2002). Außerdem ist es unvermeidbar, dass mit<br />
zunehmender Gruppengröße die Konkurrenz um Nahrung und andere Ressourcen<br />
ansteigt (Dubois et al. 2003). Zudem müssen mit zunehmender<br />
Gruppengröße größere Streifgebiete genutzt werden, um die Pro-Kopf-<br />
Energieaufnahmerate konstant zu halten. Längere Tageswegstrecken sind<br />
mit erhöhtem Energieverbrauch für die Fortbewegung und mit weniger<br />
Zeit zum Fressen verbunden (Janson u. Goldsmith 1995). Innerhalb von<br />
Gruppen kann es auch zu Konkurrenz um Fortpflanzung und damit zur<br />
Ungleichverteilung des Fortpflanzungserfolgs (reproductive skew) kommen.<br />
In Gruppen kann auch die Wahrscheinlichkeit, dass von Artgenossen<br />
Parasiten und Pathogene übertragen werden, erhöht sein (Côté u. Pulin<br />
1995). Da in vielen Gruppen die Mitglieder eines Geschlechts philopatrisch<br />
sind (siehe unten), kommt es unweigerlich zu Konkurrenz zwischen<br />
Verwandten, wobei die resultierenden Nachteile durch den Verwandtschaftskoeffizienten<br />
verstärkt werden (West et al. 2001).<br />
Eine elegante Möglichkeit, den Trade-off zwischen Vor- und Nachteilen<br />
des Gruppenlebens zu lösen, besteht darin, gemischte Gruppen mit Mitgliedern<br />
anderer Arten (mixed-species groups) zu bilden. Aufgrund der<br />
unterschiedlichen nahrungsökologischen Einnischung werden dadurch vor<br />
allem die zusätzlichen Kosten der Nahrungskonkurrenz kontrolliert, wohingegen<br />
die Vorteile des erhöhten Prädationsschutzes in den so vergrößerten<br />
Gruppen uneingeschränkt wahrgenommen werden können. Zudem<br />
bringen die beteiligten Arten zumeist spezifische Anpassungen und Fertigkeiten<br />
zur Prädationsvermeidung mit, so dass der gemeinsame Vorteil aus<br />
der Assoziation über die passiven Effekte der Erhöhung der Gruppengröße<br />
hinausgehen (Heymann u. Buchanan-Smith 2000). Ein eigennütziger Vorteil<br />
für die Teilnahme an einer gemischten Gruppe kann darin bestehen,<br />
dass Räuber die Mitglieder der anderen Art als Beute bevorzugen (Fitzgibbon<br />
1990). Assoziationen mit einseitigen Vorteilen können auch stabil<br />
sein, wenn sie umgekehrt mit keinen erkennbaren Kosten verbunden sind<br />
(Waterman u. Roth 2007). Die Bildung von Gruppen mit Mitgliedern aus<br />
mehr als zwei Arten findet sich u. a. bei Fischen, Vögeln und Säugetieren.
11.1 Soziale Organisation 503<br />
(3a) Gruppengröße. Eine evolutionäre Abwägung der Vor- und Nachteile<br />
des Gruppenlebens kann grundsätzlich den Ausschlag darüber geben, ob<br />
sich Tiere in Gruppen organisieren oder nicht. Diese Entscheidung kann<br />
bei einzelnen Arten durchaus zwischen Populationen oder innerhalb von<br />
Populationen über die Zeit variieren (Box 11.1). Vor dem Hintergrund der<br />
verschiedenen Vor- und Nachteile des Gruppenlebens stellt sich aber auch<br />
bei gruppenlebenden Tieren die Frage nach der optimalen Gruppengröße,<br />
bei der die Differenz zwischen Vor- und Nachteilen maximal ist<br />
(Pulliam u. Caraco 1984). Bei unterschiedlicher Bedeutung einzelner Faktoren<br />
ist anzunehmen, dass die Gruppengröße an das lokale Verhältnis von<br />
Vor- und Nachteilen angepasst wird. Veränderungen in der Gruppengröße<br />
und Zusammensetzung sind proximat auf vier Faktoren zurückzuführen.<br />
Gruppen können durch Geburt und Immigration vergrößert sowie durch<br />
Tod und Emigration verkleinert werden. In den meisten Fällen, d. h. wenn<br />
es sich nicht um sehr kurzlebige Assoziationen handelt, können diese Faktoren<br />
als demografische Variablen über definierte Zeiträume gemessen<br />
werden. Vorhersagen über die optimale Gruppengröße unter verschiedenen<br />
Bedingungen werden auch mit Hilfe theoretischer Modelle untersucht<br />
(z. B. Hamilton 2000).<br />
Zu den ultimaten Determinanten der Gruppengröße gehören mehrere<br />
ökologische und soziale Faktoren. Die zeitliche und räumliche Verteilung<br />
von Ressourcen sollte einen wichtigen Einfluss auf die Gruppengröße haben<br />
(Giraldeau u. Beauchamps 1999). Die Größe einer Nahrungsressource<br />
(patch) kann die Anzahl der Tiere, die gleichzeitig darin fressen<br />
können, allein limitieren. Die Dichte und Verteilung der patches haben<br />
einen indirekten Effekt auf die Gruppengröße, der durch ihren Bezug zu<br />
den energetischen Kosten der Nahrungssuche vermittelt wird. Die räumliche<br />
Verteilung sollte dabei die wichtigste Rolle spielen; wenn Ressourcen<br />
geklumpt vorkommen, sollten Tiere unabhängig von der Größe und Dichte<br />
der Ressourcen große Gruppen bilden, da die Fortbewegungskosten geringer<br />
sind als bei gleichmäßiger Verteilung. Bei gleichmäßiger Verteilung<br />
hat die Dichte der Ressourcen einen wichtigeren Einfluss als deren Größe,<br />
da sie die Fortbewegungskosten stärker beeinflusst. Kleinere Gruppen sollten<br />
daher vorteilhaft sein, wenn einzelne Ressourcen klein und schnell erschöpft<br />
sind sowie in geringer Dichte und räumlich geklumpt vorkommen<br />
(Chapman et al. 1995).<br />
Die zeitliche Variabilität der Ressourcenverfügbarkeit, die durch ihre<br />
Vorhersagbarkeit ausgedrückt werden kann, hat schwieriger vorherzusagende<br />
Effekte auf die Gruppengröße. Wenn nämlich die Vorhersagbarkeit<br />
gering ist, erhöhen sich die Zeit und Strecke, die für das Suchen einer<br />
Ressource investiert werden müssen. Damit erhöhen sich auch die Kosten<br />
der Fortbewegung, was die Bildung kleinerer Gruppen fördern kann. An-
504 11 Sozialsysteme<br />
Box 11.1<br />
Intraspezifische Variabilität in der sozialen Organisation<br />
• Frage: Unterscheiden sich Populationen der afrikanischen Striemengrasmaus<br />
(Rhabdomys pumilio) in verschiedenen Habitaten in ihrer sozialen<br />
Organisation?<br />
• Hintergrund: Soziale Flexibilität bei Nagern wurde bislang hauptsächlich<br />
beim Vergleich zwischen wilden und Gefangenschaftspopulationen beschrieben.<br />
Striemengrasmäuse bewohnen ökologisch sehr unterschiedliche<br />
Habitate im südlichen Afrika. Das sozioökologische Modell sagt für diesen<br />
Fall Unterschiede in der sozialen Organisation voraus.<br />
• Methode: In zwei südafrikanischen Populationen (eine in einem Trockengebiet,<br />
die andere in feuchtem Grasland) wurden R. pumilio gefangen,<br />
markiert und besendert. Mit den gewonnenen Radiopeil-Daten wurden die<br />
Größe und Lage der einzelnen Streifgebiete bestimmt.<br />
50 m<br />
50 m<br />
Männchen<br />
Weibchen<br />
• Ergebnis: Tiere im feuchten Habitat schlafen alleine und haben große,<br />
kaum überlappende Streifgebiete (links). Im trockenen Gebiet leben<br />
Striemengrasmäuse in kleinen Gruppen bestehend aus einem Männchen<br />
und mehreren Weibchen, die bis zu 10-mal kleinere, stark gegenseitig<br />
überlappende Streifgebiete haben (rechts).<br />
• Schlussfolgerung: Die beschriebenen Unterschiede in der sozialen Organisation<br />
zwischen Populationen stellen Anpassungen an unterschiedliche<br />
lokale Bedingungen in Bezug auf Nahrungsverfügbarkeit, Populationsdichte<br />
und Thermoregulation dar, die aber noch nicht im Einzelnen bestimmt<br />
sind.<br />
Schradin u. Pillay 2005 (siehe auch www.stripedmouse.com)
11.1 Soziale Organisation 505<br />
dererseits können mehrere Tiere unter Umständen auch in der Lage sein,<br />
eine neu verfügbare Ressource schneller zu entdecken, so dass bei geringer<br />
Vorhersagbarkeit auch die Bildung größerer Gruppen begünstigt sein kann.<br />
Die relative Bedeutung der beiden Prozesse hängt daher entscheidend von<br />
der Art der Ressource ab (Chapman et al. 1995).<br />
Der Schutz vor Raubfeinden ist ein zweiter ökologischer Faktor, der die<br />
Gruppengröße beeinflusst. Mit zunehmendem Prädationsrisiko sollte die<br />
Gruppengröße aufgrund der vielen diesbezüglichen Vorteile zunehmen. In<br />
einem Experiment mit Gestreiften Topelritzen (Fundulus diaphanus) vergrößerte<br />
sich tatsächlich die durchschnittliche Schwarmgröße, wenn durch<br />
Zugabe eines Schreckstoffs die Präsenz eines Räubers simuliert wurde<br />
(Hoare et al. 2004). Diese Hypothese kann auch durch Vergleiche von Populationen<br />
mit unterschiedlichem Prädationsrisiko überprüft werden. So<br />
leben beispielsweise Javaneraffen (Macaca fascicularis) in Sumatra in fast<br />
doppelt so großen und trotzdem sehr viel kompakteren Gruppen als ihre<br />
Artgenossen auf einer kleinen vorgelagerten Insel ohne Raubkatzen (van<br />
Schaik u. van Noordwijk 1985). Da die Habitate dieser Makaken in beiden<br />
Gebieten ansonsten weitgehend identisch sind, müssen in diesem Fall die<br />
Vorteile durch den verbesserten Räuberschutz größer sein als die Nachteile<br />
höherer Lokomotionskosten und intensiverer Nahrungskonkurrenz. Ein<br />
Vergleich der Gruppengrößen von 46 Vogelarten zwischen Festlands- und<br />
Inselpopulationen zeigte ebenfalls durchgehend reduzierte Gruppengrößen<br />
auf Inseln mit reduziertem Prädationsrisiko (Beauchamp 2004).<br />
Modelle der optimalen Gruppengröße, die nur die Zahl der Individuen<br />
berücksichtigen, sind aber zu vereinfachend, da es Unterschiede zwischen<br />
Gruppenmitgliedern gibt, die deren Vorstellung über die optimale Gruppengröße<br />
beeinflussen sollten. Solche Unterschiede bestehen in Bezug auf<br />
Geschlecht, Alter, Fortpflanzungszustand, Verwandtschaftsgrad und Dominanzstatus.<br />
So gelingt es beispielsweise dominanten Tieren, ihren Zugang<br />
zu Ressourcen, ihren Fortpflanzungserfolg oder ihre Sicherheit auf<br />
Kosten der subordinaten Gruppenmitglieder zu erhöhen (Polo u. Bautista<br />
2002). Die Kosten und Nutzen der Gruppenmitgliedschaft unterscheiden<br />
sich deshalb für dominante und subordinate Tiere und es sollte einen Interessenskonflikt<br />
zwischen ihnen über die Größe und Zusammensetzung der<br />
Gruppe geben.<br />
Man kann sich daher fragen, warum subordinate Tiere sich mit ihrer<br />
Situation abfinden und nicht in eine andere Gruppe wechseln, in der sie<br />
vielleicht einen höheren Status erreichen können. Sind die Kosten eines<br />
solchen Wechsels zu hoch oder werden die Kosten ihres niedrigen Rangs<br />
anderweitig kompensiert? Andererseits könnten Dominante auch ein Interesse<br />
am Verbleib der Subordinaten haben, falls größere Gruppen besser in<br />
der Lage sind, Räuber zu entdecken oder mit anderen Gruppen zu konkur-
506 11 Sozialsysteme<br />
rieren. Man sollte daher Unterschiede im Grad des Despotismus der Dominanten<br />
erwarten ( concession models, Kap. 8.4). Ein ähnlicher Konflikt<br />
kann innerhalb und zwischen den Geschlechtern über die optimale<br />
Zahl von Männchen bzw. Weibchen existieren (siehe unten).<br />
Die Fitnesskonsequenzen unterschiedlicher Gruppengrößen wurden in<br />
mehreren Studien auf indirekte Weise abgeschätzt. So nimmt beispielsweise<br />
die individuelle Fortpflanzungsrate von Primatenweibchen mit der<br />
Gruppengröße ab (van Noordwijk u. van Schaik 1999), woraus man schließen<br />
kann, dass die untere Gruppengröße durch die Räubervermeidung und<br />
die obere Gruppengröße durch die Intensität der Nahrungskonkurrenz<br />
innerhalb von Gruppen bestimmt wird (van Schaik 1983).<br />
In einer Studie von Gelbaugenjuncos (Juncos phaeonotus), die sich im<br />
Winter zu Fressgruppen zusammenschließen, wurden Zeitbudgets bestimmt,<br />
um den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Gruppengröße zu<br />
untersuchen (Caraco et al. 1980). Drei sich gegenseitig ausschließende<br />
Verhaltensweisen können benutzt werden, um das Räuberrisiko und das<br />
Risiko zu verhungern bei diesen Vögeln über Zeitbudgets abzuschätzen:<br />
Wachsamkeit, Fressen und Kämpfen (um Futter). Dabei sollte die Zeit, die<br />
ein Tier mit Wachsamkeit verbringt, mit zunehmender Gruppengröße abnehmen,<br />
die Häufigkeit von Kämpfen mit der Gruppengröße zunehmen<br />
und bei einer intermediären Gruppengröße daher die meiste Zeit für Fressen<br />
zur Verfügung stehen (Pulliam et al. 1982). Diese Vorhersagen wurden<br />
durch Beobachtungen weitgehend bestätigt und anschließend experimentell<br />
validiert (Caraco 1981, 1982).<br />
Diese Vögel bilden also Gruppen, weil die einzelnen Tiere mehr Zeit<br />
zum Fressen zur Verfügung haben, da sie sich die Wachsamkeit teilen. Die<br />
maximale Gruppengröße hängt von der Zeit ab, die dominante Tiere zum<br />
Vertreiben anderer zur Verfügung haben. Diese soziale Ungleichheit zwischen<br />
Gruppenmitgliedern führt auch dazu, dass nicht die für eine maximale<br />
Fressrate optimale Gruppengröße erreicht wird, da die optimale<br />
Gruppengröße für dominante und subdominante offensichtlich verschieden<br />
ist. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Tiere in Gruppen optimaler<br />
Größe leben, da die Vorstellung von Optimalität zwischen Individuen variiert<br />
und Gruppen optimaler Größe nicht stabil sind.<br />
(3b) Gruppenzusammensetzung. Die sexuellen Strategien von Männchen<br />
und Weibchen können ebenfalls einen Einfluss auf die Zusammensetzung<br />
einer Gruppe haben. Männchen in bisexuellen Gruppen sollten daran interessiert<br />
sein, den Zugang zu Weibchen mit möglichst wenigen Rivalen teilen<br />
zu müssen ( Kap. 8.4). Männchen, die eine Gruppe von Weibchen<br />
monopolisieren, können mit einem höheren Fortpflanzungserfolg rechnen,<br />
als wenn sie den Zugang zu diesen Weibchen mit Rivalen teilen müssen.
11.1 Soziale Organisation 507<br />
Die Frage, ob eine Gruppe ein oder mehrere Männchen enthält, ist daher<br />
von grundlegender Bedeutung für die Fortpflanzungsstrategien beider Geschlechter<br />
(Kappeler 2000a). Die Zahl der Weibchen in Gruppen mit<br />
einem Männchen ist variabel; im Durchschnitt können es bis zu sechs sein,<br />
in Einzelfällen aber auch doppelt oder dreimal so viele. Solche Haremsgruppen<br />
finden sich unter anderen bei manchen Fledermäusen (Heckel u.<br />
von Helversen 2003), Pferden (Asa 1999), Zebras (Klingel 1975) und Primaten<br />
(Kappeler u. van Schaik 2002). Auch wenn keine Monopolisierung<br />
durch ein Männchen stattfindet, ist aufgrund der letalen Konsequenzen der<br />
Konkurrenz zwischen Männchen das sekundäre Geschlechterverhältnis<br />
vieler Gruppen zu Gunsten der Weibchen verschoben (Mitani et al. 1996).<br />
Weibchen könnten aber ein Interesse daran haben, mehr Männchen in<br />
der Gruppe zu haben, als für die Männchen optimal ist. Das wäre zu erwarten,<br />
weil Weibchen so mehr Auswahl bei der Partnerwahl haben und weil<br />
sie ihnen als mögliche Koalitionspartner, als Helfer bei der Jungenaufzucht<br />
oder als zusätzliche Wachposten bei der Räuberentdeckung nützlich sein<br />
können (Kappeler 2000b). Es kann also einen Konflikt zwischen den Geschlechtern<br />
über die Gruppenzusammensetzung geben. Bei Heckenbraunellen<br />
(Prunella modularis) haben die Weibchen beispielsweise ein Interesse<br />
an einem zusätzlichen Männchen, das sich an der Jungenfürsorge<br />
beteiligt, wohingegen Männchen ein zusätzliches Weibchen bevorzugen,<br />
mit dem sie eine zweite Brut beginnen können (Davies 1985). Als Ergebnis<br />
dieses Konflikts finden sich bei Heckenbraunellen sowohl Paare, Trios<br />
mit zwei Männchen oder Weibchen als auch Gruppen aus zwei Paaren.<br />
Bei Primaten scheinen Weibchen diesen Konflikt häufig zu gewinnen.<br />
Van Schaik u. Hörstermann (1994; Abb. 11.5) verglichen die Gruppenzusammensetzung<br />
von asiatischen Schlankaffen, afrikanischen Stummelaffen<br />
und südamerikanischen Brüllaffen, allesamt ähnlich große Blattfresser, die<br />
in Gruppen aus fünf bis zehn Tieren mit mehreren Männchen und Weibchen<br />
leben. Basierend auf Hinweisen, dass Männchen bessere Wachposten<br />
sind, sagten sie voraus, dass Weibchen daran interessiert sein sollten, bei<br />
stärkerem Räuberdruck mehrere Männchen in der Gruppe zu haben. In<br />
Asien, wo keine Affen fressenden Adler vorkommen, enthalten die Gruppen<br />
im Durchschnitt ein Männchen weniger als in Südamerika und in den<br />
Teilen Afrikas, in denen solche Adler vorkommen. In verschiedenen Taxa<br />
werden also von beiden Geschlechtern unterschiedliche Faktoren bei der<br />
Findung ihrer Interessen bewertet, und Männchen und Weibchen können<br />
diese Interessen unterschiedlich gut durchsetzen.<br />
In manchen Fällen existieren Gruppen, die nur Mitglieder eines Geschlechts<br />
enthalten. In Arten, in denen Männchen Gruppen von Weibchen<br />
monopolisieren, schließen sich junge Männchen und solche ohne Zugang<br />
zu Weibchen oder Territorien zu Junggesellen-Gruppen (bachelor groups)
508 11 Sozialsysteme<br />
4<br />
Anzahl adulter Männchen<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Anzahl adulter Weibchen<br />
Abb. 11.5. Gruppenzusammensetzung von arborealen Primaten. Regressionsgeraden<br />
für die Beziehung zwischen der Zahl der Weibchen und Männchen pro<br />
Gruppe. Asiatische Langurengruppen (rot), die keinen Affen fressenden Adlern<br />
ausgesetzt sind, enthalten im Durchschnitt ein Männchen weniger als Colobus-<br />
(blau) und Brüllaffengruppen (gelb)<br />
zusammen. Diese Gruppen bilden sich vorwiegend zur Verringerung des<br />
Prädationsrisikos und sind durch gegenseitige Toleranz gekennzeichnet<br />
(Robbins 1996), die sich deutlich von der intensiven Konkurrenz zwischen<br />
Männchen unterscheidet, die ausbricht, wenn einer der Junggesellen den<br />
gestürzten Haremshalter ablösen will (Rajpurohit et al. 1995).<br />
Bei vielen Ungulaten, aber auch bei einigen anderen Säugetieren, Vögeln<br />
und Fischen bilden die Geschlechter mit Ausnahme der Paarungszeit<br />
getrennte Gruppen. Die Ursachen dieser sexuellen Segregation sind noch<br />
wenig verstanden und unterscheiden sich vermutlich zwischen Arten. Erklärungen<br />
für Ungulaten fokussieren auf deren sexuellen Dimorphismus.<br />
Demnach unterscheiden sich die größeren Männchen von den Weibchen in<br />
Bezug auf ihr Prädationsrisiko und ihren Nahrungsbedarf, so dass die Geschlechter<br />
getrennte Mikrohabitate bevorzugen, um so ihren unterschiedlichen<br />
Aktivitätsbudgets nachzukommen (Ruckstuhl u. Neuhaus 2002).<br />
Eine getrennte Einnischung in verschiedene Mikrohabitate kann auch aufgrund<br />
von morphologischen Zwängen des Sexualdimorphismus erfolgen<br />
(Phillips et al. 2004).
11.1 Soziale Organisation 509<br />
11.1.3 Abwanderung und Philopatrie<br />
Natürliche Populationen sind in der Regel in diskrete soziale Untereinheiten<br />
organisiert. Für Individuen kann es aus ökologischen oder sozialen<br />
Gründen vorteilhaft oder notwendig sein, zwischen Untereinheiten zu<br />
wandern. Neben der Abwanderung vom Geburtsort (natal dispersal) können<br />
anschließend weitere Wanderungen (secondary dispersal) erfolgen. Da<br />
sowohl Abwanderung als auch der Verbleib im Geburtsgebiet (Philopatrie)<br />
mit Vor- und Nachteilen behaftet sind, hat die Entscheidung, zu bleiben<br />
oder zu wandern, nachhaltige Konsequenzen für den individuellen Überlebens-<br />
und Fortpflanzungserfolg. Ein Verständnis der ultimaten Ursachen<br />
von Philopatrie und Abwanderung ist daher grundlegend für die Analyse<br />
von Sozialsystemen. Da Inzuchtvermeidung und Konkurrenz bzw. Kooperation<br />
mit Verwandten wichtige Komponenten der Vor- und Nachteile beider<br />
Strategien darstellen, kommt der Fähigkeit der Verwandtenerkennung<br />
in diesem Zusammenhang eine wichtige proximate Bedeutung zu (Perrin<br />
u. Lehmann 2001).<br />
Philopatrie ist aus mehreren Gründen vorteilhaft. Tiere, die in ihrem<br />
Geburtsgebiet verbleiben, befinden sich in vertrautem Gebiet mit bekannten<br />
Fress-, Schutz- und Schlafplätzen. Sie erhöhen auch die Größe ihrer<br />
Geburtsgruppe und profitieren von allen Vorteilen des Lebens in größeren<br />
Gruppen. Philopatrische Individuen können gegebenenfalls auch das elterliche<br />
Territorium erben, und sie können mit Verwandten interagieren,<br />
wodurch sie im Fall von kooperativen Verhaltensweisen auch ihre Gesamtfitness<br />
erhöhen. Philopatrie erhöht aber auch das Risiko, sich mit Verwandten<br />
zu verpaaren (Perrin u. Mazalov 1999). Außerdem ist Konkurrenz<br />
um Ressourcen oder Paarungspartner mit Verwandten unausweichlich<br />
(Perrin u. Mazalov 2000), so dass Aggression durch Eltern oder andere<br />
Residente manchmal eine proximate Ursache des Abwanderns darstellt<br />
(Ferreras et al. 2004).<br />
Natale und sekundäre Abwanderung sind mit offensichtlichen Risiken<br />
und Nachteilen verbunden. Bei der Wanderung wird zusätzliche Energie<br />
verbraucht, und in unbekanntem Terrain kann es schwierig sein, Nahrung,<br />
Wasser und Schutzplätze zu finden. Allein wandernde Tiere haben ein erhöhtes<br />
Risiko, Räubern zum Opfer zu fallen (Ferreras et al. 2004), und sie<br />
können bei der Immigration mit Aggression und Verletzungen rechnen.<br />
Manche Tiere verzögern daher ihre Emigration (delayed dispersal), bis sie<br />
in guter körperlicher Verfassung sind (Alberts u. Altman 1995) oder bis<br />
andere (verwandte) Individuen sie begleiten (Ostner u. Kappeler 2004).<br />
Durch Abwanderung können aber auch die Risiken und Kosten der Inzucht<br />
vermieden werden und es ist möglich, in Gruppen oder Gebiete mit zahlreicheren<br />
Paarungsgelegenheiten oder besseren Ressourcen zu wechseln.
510 11 Sozialsysteme<br />
Bei den meisten Tierarten ist die Entscheidung, philopatrisch zu sein<br />
oder abzuwandern, an das Geschlecht gekoppelt. Bei Vögeln sind Männchen<br />
in der Regel philopatrisch, wohingegen Männchen bei den meisten<br />
Säugetieren das wandernde Geschlecht sind (Greenwood 1980). Diese Geschlechtsunterschiede<br />
werden letztendlich mit dem jeweils dominierenden<br />
Paarungssystem in Verbindung gebracht. Die meisten Vögel sind paarlebend<br />
und territorial, so dass Männchen Vorteile aus der Übernahme eines<br />
elterlichen Territoriums beziehen oder es einfacher ist, in einem bekannten<br />
Gebiet ein eigenes Territorium zu etablieren. Ökologische Faktoren, wie<br />
die Sättigung eines Habitats mit Territorien, können außerdem die Kosten<br />
des Abwanderns erhöhen (Weatherhead u. Forbes 1994). Bei Arten mit<br />
kooperativer Jungenfürsorge ( Kap. 10.4) wird zudem angenommen,<br />
dass Männchen, die bleiben und helfen, dadurch zusätzliche Vorteile der<br />
Philopatrie erfahren (Stacey u. Ligon 1991). Proximat ist bei Kohlmeisen<br />
(Parus major) die Entfernung, die Individuen abwandern, mit der Intensität<br />
ihres Neugierverhaltens korreliert (Dingemanse et al. 2003). Wenn<br />
Männchen erst einmal philopatrisch sind, werden Weibchen gezwungen<br />
abzuwandern, um Inzucht zu vermeiden, und sie könnten zusätzlich dadurch<br />
profitieren, dass sie so mehrere Männchen begutachten können,<br />
bevor sie sich für einen Territoriumsbesitzer entscheiden ( Kap. 9.3).<br />
Bei der Mehrzahl der Säugetiere existiert dagegen weibliche Philopatrie<br />
in Kombination mit männlicher Emigration (Abb. 11.6). Die meisten Säugetiere<br />
besitzen zudem ein polygynes Paarungssystem ( Kap. 11.2), welches<br />
dadurch charakterisiert ist, dass der Fortpflanzungserfolg der Männchen<br />
durch den Zugang zu paarungsbereiten Weibchen limitiert ist und<br />
dass Männchen sich nicht direkt an der Jungenaufzucht beteiligen (Clutton-Brock<br />
1989). Im Laufe der Evolution haben daher solche Männchen<br />
die meisten Nachkommen und Gene hinterlassen, die befruchtete<br />
Abb. 11.6. Ausschlaggebende Vor- und Nachteile der Philopatrie und des Abwanderns<br />
für die Mehrzahl der männlichen und weiblichen Säugetiere
11.1 Soziale Organisation 511<br />
Weibchen verlassen und sich auf die Suche nach weiteren Paarungspartnerinnen<br />
begeben. Da Weibchen keine Hilfe bei der Jungenaufzucht erwarten<br />
können und ihr momentaner Fortpflanzungserfolg nicht durch zusätzliche<br />
Paarungen erhöht werden kann, ist der Fortpflanzungserfolg der<br />
Weibchen primär durch Zugang zu Nahrungsressourcen, deren Energie in<br />
Schwangerschaft und Laktation investiert wird, begrenzt. Da die Effizienz<br />
der Nahrungssuche und -aufnahme durch Vertrautheit mit einem Gebiet<br />
erhöht werden sollte, wird angenommen, dass Weibchen einen größeren<br />
Vorteil durch das Verbleiben in einem vertrauten Gebiet erfahren als<br />
Männchen. Sobald es einen kleinen Anfangsvorteil für weibliche Philopatrie<br />
gibt, kann er dadurch verstärkt werden, dass miteinander verwandte<br />
Weibchen gemeinsam Ressourcen gegen Nachbargruppen verteidigen<br />
(Wrangham 1980).<br />
Obwohl es für Männchen auch vorteilhaft sein könnte, in einem ihnen<br />
vertrauten Gebiet zu bleiben, können sie durch Umherwandern mehr potentiellen<br />
Paarungspartnerinnen begegnen (Dobson 1982). Diese Abwanderungstendenz<br />
der Männchen wird weiterhin dadurch verstärkt, dass<br />
Männchen aufgrund der intensiven Fortpflanzungskonkurrenz aus einer<br />
Gruppe vertrieben werden und daher mehrmals im Leben die soziale<br />
Einheit wechseln (Alberts u. Altmann 1995). Sobald dieser Geschlechtsunterschied<br />
im Migrationsverhalten tendenziell etabliert ist, wird männliches<br />
Abwanderungsverhalten auch durch die Inzestvermeidung residenter<br />
Weibchen in der Geburtsgruppe gefördert ( Kap. 9.2). Das für Säugetiere<br />
typische Muster der weiblichen Philopatrie und männlichen Abwanderung<br />
kann also dadurch erklärt werden, dass Weibchen relativ höhere Vorteile<br />
des Bleibens und Männchen relativ höhere Vorteile des Abwanderns haben.<br />
Die Kosten der Emigration sind vermutlich für beide Geschlechter<br />
ähnlich.<br />
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist nun, ob die Faktoren in<br />
dieser Kosten-Nutzen-Analyse auch den seltenen, umgekehrten Fall männlicher<br />
Philopatrie und weiblicher Emigration bei Säugetieren erklären können.<br />
Bei äthiopischen Wölfen (Canis simensis) sind Männchen philopatrisch,<br />
weil Habitatsättigung ihr Abwandern verhindert (Sillero-Zubiri<br />
et al. 1996) und bei Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) führen spezifische<br />
Partnerwahlkriterien der Weibchen dazu, dass die meisten Männchen aus<br />
ihrer Geburtsgruppe abwandern (Höner et al. 2007). Männchen können<br />
auch philopatrisch sein, weil sie wichtige Ressourcen verteidigen, um damit<br />
Weibchen anzulocken (Nagy et al. 2007). Die wichtigsten Nahrungsressourcen<br />
der betreffenden Arten sind von einer solchen Qualität oder so<br />
in Raum und Zeit verteilt, dass deren gemeinsame Verteidigung nicht<br />
möglich oder nicht ökonomisch ist (Isbell u. van Vuren 1996), so dass die<br />
typischen Vorteile der weiblichen Philopatrie reduziert sind. Außerdem
512 11 Sozialsysteme<br />
kann lokale Ressourcenkonkurrenz mit der Mutter die Abwanderung von<br />
Töchtern fördern (Le Galliard et al. 2006). Weibchen können unter bestimmten<br />
Bedingungen auch abwandern, um Konkurrenz um Ressourcen<br />
mit residenten Verwandten zu vermeiden (Favre et al. 1997) oder um sich<br />
einem Männchen anzuschließen, das sie effizient vor fremden, potentiell<br />
infantizidalen Männchen schützen kann (Steenbeek et al. 2000). Schließlich<br />
wandern junge Weibchen auch ab, um Inzucht mit ihren Vätern zu<br />
vermeiden, wenn dominante Männchen eine lange Residenzzeit haben<br />
(Dechmann et al. 2007).<br />
11.2 Paarungssysteme<br />
Arten und Populationen unterscheiden sich darin, wie adulte Männchen<br />
und Weibchen Zugang zu Geschlechtspartnern erlangen, mit wie vielen<br />
Mitgliedern des anderen Geschlechts sie sich verpaaren sowie in der Qualität<br />
und Dauer zwischengeschlechtlicher Beziehungen. Diese Variabilität<br />
lässt sich kategorisieren und als unterschiedliche Paarungssysteme beschreiben.<br />
Die Unterteilung kann anhand mehrerer Merkmale vorgenommen<br />
werden. Theoretisch sinnvoll erscheint dabei eine Unterscheidung<br />
nach Geschlechtsunterschieden in der Varianz des Reproduktionserfolgs<br />
(Arnold 1994), wobei die Varianz die durchschnittliche Abweichung vom<br />
Mittelwert beschreibt. Tatsächlicher Fortpflanzungserfolg lässt sich aber<br />
nur mit relativ aufwändigen genetischen Methoden bestimmen, so dass die<br />
Einteilung meist nach Verhaltensbeobachtungen des „Wer-mit-wem-wieoft“<br />
erfolgt. Kategorien der sozialen Organisation schränken dabei zwar<br />
die Anzahl der jeweils möglichen Paarungssysteme ein (z. B. ist Monogamie<br />
bei gruppenlebenden Arten unwahrscheinlich, dafür bei paarlebenden<br />
Arten sehr wahrscheinlich), aber es gibt keine automatischen 1:1-Beziehungen,<br />
so dass diese beiden Komponenten eines Sozialsystems klar getrennt<br />
werden sollten (Kappeler u. van Schaik 2002).<br />
11.2.1 Diversität der Paarungssysteme<br />
Die Vielfalt der Paarungssysteme kann in vier Kategorien eingeteilt werden:<br />
Monogamie, Polyandrie, Polygynie und Polygynandrie. Die nichtmonogamen<br />
Paarungssysteme werden auch als Polygamie zusammengefasst.<br />
Diese Klassifizierungen basieren auf der Anzahl der Geschlechtspartner,<br />
berücksichtigen aber oftmals nur die Perspektive eines Geschlechts<br />
(in der Regel die männliche). Wenn aber beispielsweise ein<br />
Meisen-Weibchen außer mit ihrem sozialen Partner auch noch mit einem
11.2 Paarungssysteme 513<br />
Tabelle 11.2. Definition der grundlegenden Kategorien von Paarungssystemen<br />
über die Anzahl der Partner von Männchen und Weibchen<br />
Paarungssystem<br />
Anzahl Paarungspartner<br />
von Männchen von Weibchen<br />
Monogamie 1 1<br />
Polyandrie 1 > 1<br />
Polygynie > 1 1<br />
Polygynandrie > 1 > 1<br />
benachbarten, ebenfalls verpaarten Männchen kopuliert, handelt es sich<br />
aus Sicht des Weibchens um Polyandrie, aus Sicht des ersten Männchens<br />
um Monogamie und aus Sicht des Nachbarn um Polygynie. Deswegen<br />
werden Arten diesbezüglich nach den modalen Paarungskombinationen<br />
klassifiziert (Tabelle 11.2).<br />
Über die Art des bevorzugten Paarungssystems gibt es bei den wenigsten<br />
getrenntgeschlechtlichen Arten Übereinstimmung zwischen den Geschlechtern.<br />
Aufgrund der Konsequenzen der Anisogamie ( Kap. 7.3)<br />
existieren geschlechtsspezifische Präferenzen für bestimmte Fortpflanzungsstrategien.<br />
Wie dieser Konflikt zwischen den Geschlechtern gelöst<br />
wird, hängt aus männlicher Sicht vor allem von der Verteilung und Synchronität<br />
der Weibchen ab (Emlen u. Oring 1977), wohingegen für Weibchen<br />
direkte und indirekte männliche Beiträge zur Jungenqualität und<br />
-fürsorge ausschlaggebend sind (Trivers 1972). Bei simultanen Hermaphroditen,<br />
bei denen jedes Individuum sowohl Spermien übertragen als<br />
auch empfangen kann, erfolgt zumeist eine reziproke Insemination, obwohl<br />
es darüber theoretisch auch einen Konflikt gibt (Michiels u. Streng<br />
1998).<br />
(1) Monogamie. Ein Männchen und ein Weibchen bilden eine exklusive<br />
Fortpflanzungseinheit für einen oder mehrere Fortpflanzungszyklen. Wenn<br />
sich Paare nur für jeweils einen Fortpflanzungszyklus bilden und danach<br />
ein Partnerwechsel stattfindet, handelt es sich um serielle Monogamie. Da<br />
beide Geschlechter identischen Fortpflanzungserfolg haben, unterscheiden<br />
sie sich nicht in der Varianz des Fortpflanzungserfolgs. Monogamie ist<br />
dann zu erwarten, wenn der Fortpflanzungserfolg beider Geschlechter mit<br />
diesem Paarungssystem am höchsten ist oder wenn Polygamie durch verschiedene<br />
Zwänge verhindert wird. Aufgrund der in den meisten Fällen
514 11 Sozialsysteme<br />
höheren potentiellen Fortpflanzungsraten der Männchen ist Monogamie<br />
nur in Ausnahmefällen zu erwarten. Trotzdem existieren monogame Arten<br />
in allen großen Tiergruppen, bei Insekten (Eggert u. Sakaluk 1995), Krebsen<br />
(Mathews 2002), Knorpelfischen (Chapman et al. 2004), Knochenfischen<br />
(Whiteman u. Côté 2004), Reptilien (Bull 2000) und Säugetieren<br />
(Kleiman 1977). Bei Vögeln ist Monogamie das häufigste Paarungssystem<br />
(Greenwood u. Harvey 1982).<br />
Verschiedene Faktoren werden als ultimate und proximate Ursachen<br />
von Monogamie diskutiert. Sie sind im Wesentlichen mit den Ursachen<br />
des Paarlebens identisch. Die Möglichkeit und Notwendigkeit biparentaler<br />
Jungenfürsorge stellt die Erklärung für Monogamie bei der Mehrzahl<br />
der Arten, insbesondere bei Vögeln (Mock u. Fujioka 1990) dar, aber auch<br />
bei manchen Fischen (DeWoody et al. 2000) und Säugetieren (Gubernick<br />
u. Teferi 2000) ist dies die entscheidende Ursache.<br />
Die Bedeutung des männlichen Beitrags zur Jungenfürsorge konnte<br />
bei Heckenbraunellen (Prunella modularis, Abb. 11.7) aufgrund der bei<br />
dieser Art natürlichen Variabilität im Paarungssystem quantifiziert werden<br />
(Davies u. Houston 1986). Monogame Paare zogen im Durchschnitt 5,0<br />
Junge auf. Mit der Hilfe zweier Männchen konnten polyandrische Weibchen<br />
im Durchschnitt 6,7 Junge aufziehen; der durchschnittliche Fortpflanzungserfolg<br />
der beiden Männchen lag aber unter dem ihrer monogamen<br />
Artgenossen. Genau umgekehrt war die Situation bei polygynen<br />
Gruppen: Dort hatten die Weibchen im Durchschnitt nur 3,8 flügge Junge,<br />
wodurch der Reproduktionserfolg polygyner Männchen auf 7,6 anstieg.<br />
Trotz der Bedeutung der väterlichen Fürsorge existiert bei Vögeln daher<br />
auch ein sexueller Konflikt über die Maximierung des individuellen Fortpflanzungserfolgs,<br />
der in vielen Fällen zu Paarungen außerhalb des Paarverbundes<br />
führt (Hasselquist u. Sherman 2001).<br />
Abb. 11.7. Heckenbraunellen<br />
(Prunella modularis) haben – wie<br />
die meisten Vögel – ein zumeist<br />
monogames Paarungssystem.<br />
Bei dieser Art wurde der sexuelle<br />
Konflikt über das Paarungssystem<br />
besonders gut untersucht
11.2 Paarungssysteme 515<br />
Bei Säugetieren können Männchen neben direkter Beteiligung an der<br />
Jungenfürsorge auch zum erfolgreichen Überleben ihres Nachwuchses beitragen,<br />
indem sie ihn vor Infantizid schützen. Im Laufe der Primatenevolution<br />
kam es immer dann, wenn Junge für Infantizid anfällig wurden,<br />
auch zu einer Assoziation zwischen den Geschlechtern, in manchen Fällen<br />
in Form von Paaren (van Schaik u. Kappeler 1997).<br />
Monogamie existiert aber auch in Arten ohne väterliche Fürsorge und ist<br />
in diesen Fällen oft das Ergebnis zu hoher Kosten der Polygynie. Diese<br />
Box 11.2<br />
Monogamie und Extra-pair-Vaterschaft<br />
• Frage: Gibt es bei paarlebenden Spitzhörnchen Vaterschaften durch<br />
fremde Männchen?<br />
• Hintergrund: Monogamie ist bei Säugetieren selten (ca. 5% der Arten).<br />
Spitzhörnchen (Scandentia) sind in dieser Hinsicht außergewöhnlich, da<br />
alle Mitglieder dieser Ordnung paarlebend sind. Bislang gab es keine genetischen<br />
Vaterschafts-Untersuchungen bei Spitzhörnchen.<br />
• Methode: In zwei Populationen Großer Spitzhörnchen (Tupaia tana)<br />
wurden Tiere gefangen, besendert und Gewebeproben für genetische Vaterschaftsanalysen<br />
genommen. Pro Wurf werden zwei Jungtiere geboren.<br />
Anteil Vaterschaften [%]<br />
50 50<br />
43<br />
sozialer Nachbar gemischte<br />
Vater<br />
Vaterschaften<br />
• Ergebnis: Von 22 Jungtieren wurden 50% nicht vom sozialen Vater gezeugt.<br />
In 3 von 7 komplett gefangenen Würfen lagen gemischte Vaterschaften<br />
vor, d. h. die beiden Jungen hatten verschiedene Väter.<br />
• Schlussfolgerung: Die Mehrzahl der Jungtiere wird nicht vom sozialen<br />
Vater gezeugt. In den meisten Fällen handelte es sich bei den genetischen<br />
Vätern um Nachbarn der betreffenden Weibchen. Da Große Spitzhörnchen<br />
in „dispersed pairs“ leben, also Männchen und Weibchen nicht permanent<br />
zusammen sind, ist dadurch das Bewachungspotential der Männchen<br />
entscheidend reduziert.<br />
Munshi-South 2007
516 11 Sozialsysteme<br />
Kosten treten dann auf, wenn die Verteilung rezeptiver Weibchen in Raum<br />
und Zeit Männchen dazu zwingt, sich auf ein Weibchen zu beschränken. In<br />
diesen Fällen ist es für Männchen vorteilhaft, ein Weibchen permanent zu<br />
bewachen, um so ein Mindestmaß an Fortpflanzungserfolg zu sichern<br />
(Vincent et al. 2004). Bei manchen Arten ist es für Männchen aber schwierig,<br />
rezeptive Weibchen zu bewachen, so dass es zu einem hohen Anteil<br />
Fremdvaterschaften kommen kann (Box 11.2). Wenn soziale Väter Vaterschaften<br />
verlieren, kann dies aber auch durch Wahlentscheidungen der<br />
Weibchen zustande kommen, da sie so die genetische Qualität ihrer Jungen<br />
verbessern können (Schwensow et al. 2008). Monogamie kann schließlich<br />
auch ohne Bewachung der Weibchen stabil sein, weil die Kosten von EPCs<br />
für Weibchen hoch sind (Wallander et al. 2001). In diesem Fall können<br />
Männchen ihren Einsatz bei der Jungenfürsorge reduzieren und Weibchen<br />
so zur Treue zwingen (Lifjeld et al. 1998).<br />
Auf der proximaten Ebene können beide Geschlechter ihre Partner mit<br />
Hilfe von Verhaltensmechanismen zur Monogamie nötigen. Bei Totengräbern<br />
(Nicrophorus defodiens) stören Weibchen ihre Partner dabei, wenn<br />
diese versuchen, mit Hilfe von Pheromonen weitere Weibchen zur Eiablage<br />
an ein Aas zu locken (Eggert u. Sakaluk 1995). Bei der Schabe Nauphoeta<br />
cinerea wird durch die Insertion einer Spermatophore die sexuelle<br />
Rezeptivität der Weibchen blockiert. Männchen erfahren durch die resultierende<br />
erzwungene Monogamie einen Vorteil, weil es dadurch nicht zu<br />
weiteren Verpaarungen und Spermienkonkurrenz kommt (Montrose et al.<br />
2004). Monogamie kann schließlich auch proximat auf bestimmten physiologischen<br />
Mechanismen basieren. Monogame Präriewühlmäuse (Microtus<br />
ochrogaster) sind im Vergleich zu nahverwandten polygynen Arten beispielsweise<br />
durch eine bestimmte Verteilung von Vasopressin-Rezeptoren<br />
im Gehirn charakterisiert, die ihrerseits genetisch kontrolliert wird (Lim<br />
et al. 2004). Inwieweit und wie solche komplexen Verhaltensstrukturen<br />
wie Paarungsstrategien genetisch kontrolliert sind, ist aber nicht bekannt<br />
( Kap. 10.5).<br />
(2) Polyandrie. Ein Weibchen verpaart sich mit mehreren Männchen und<br />
jedes dieser Männchen verpaart sich nur mit diesem einen Weibchen. Da<br />
Weibchen um Männchen konkurrieren und sich daher nicht alle Weibchen<br />
gleichermaßen erfolgreich fortpflanzen, ist die Varianz im Fortpflanzungserfolg<br />
der Weibchen größer. Polyandrie ist in der Regel mit obligater<br />
männlicher Jungenfürsorge verbunden. Polyandrie ist aufgrund der<br />
typischen Geschlechterrollen theoretisch nur selten zu erwarten. Polyandrische<br />
Arten werden deshalb auch als Arten mit umgekehrten Geschlechterrollen<br />
(sex role reversed) bezeichnet. Der Begriff der Polyandrie wird<br />
häufig auch angewandt, um die direkten und indirekten Vorteile von Mehr-
11.2 Paarungssysteme 517<br />
fachverpaarungen für den weiblichen Fortpflanzungserfolg zu untersuchen<br />
(Zeh u. Zeh 2001; Kap. 9.6). Da die Männchen der betreffenden Arten<br />
aber sich auch mehrfach verpaaren können, handelt es sich dabei nicht<br />
notwendigerweise um polyandrische Paarungssysteme. Klassische Polyandrie,<br />
d. h. solche mit väterlicher Brutfürsorge, ist auf Fische, Vögel und<br />
einige Säugetiere beschränkt (Andersson 2005).<br />
Aus Sicht der Weibchen existieren hauptsächlich Vorteile der Polyandrie,<br />
außer die Kopulationen an sich sind mit hohen Kosten verbunden.<br />
Durch Verpaarungen mit mehreren Männchen erhöhen sich für sie mögliche<br />
direkte und indirekte Vorteile der Partnerwahl. Dazu zählen genetische<br />
Vorteile wie erhöhte genetische Diversität der Nachkommen und<br />
gegebenenfalls materielle Vorteile in Form von zusätzlichen Ressourcen.<br />
Die wichtigsten direkten Vorteile bestehen allerdings darin, dass Weibchen<br />
bei der Jungenaufzucht auf die Hilfe mehrerer Männchen zählen können.<br />
Dies ermöglicht höhere Fekundität und höhere Fortpflanzungsraten. Bei<br />
Krallenaffen (Callitrichidae) ist Polyandrie beispielsweise im Unterschied<br />
zu anderen anthropoiden Primaten mit obligaten Zwillingsgeburten verbunden<br />
(Terborgh u. Goldizen 1985). Bei eusozialen Insekten können Königinnen<br />
über Mehrfachverpaarungen den durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad<br />
der Koloniemitglieder manipulieren und so ihre Interessen<br />
besser gegenüber den Arbeiterinnen durchsetzen ( Kap. 10.4) oder über<br />
erhöhte genetische Diversität für verbesserte Parasitenresistenz bei ihren<br />
Nachkommen sorgen (Baer u. Schmid-Hempel 1999). Insgesamt sind multiple<br />
Verpaarungen von Königinnen bei Hymenopteren aber selten (Strassmann<br />
2001).<br />
Bei Arten mit klassischer Polyandrie können Weibchen Zugang zu mehreren<br />
Männchen auf zwei Arten bewerkstelligen. Bei Blatthühnchen (Jacana<br />
jacana, Abb. 11.8) und anderen Arten mit Ressourcenverteidigungs-Polyandrie<br />
verteidigt ein Weibchen ein Territorium, in dem sich<br />
bis zu vier Männchen befinden, denen sie Eier in ihre Nester legt und die<br />
Aufzucht der Jungen überlässt (Emlen et al. 1998). Bei dieser Art ist bemerkenswert,<br />
dass ein hoher Anteil der Jungen nicht vom jeweiligen<br />
Männchen gezeugt wurde. Bei Prärieläufern (Actitis macularia) betreiben<br />
manche ältere Weibchen auch Männchenverteidigungs-Polyandrie, indem<br />
sie untereinander um Zugang zu Männchen kämpfen und diese verteidigen<br />
(Oring et al. 1994). Die Vorteile jeglicher Form von Polyandrie für<br />
Männchen liegen noch völlig im Dunkeln. Zwar gibt es Hypothesen darüber,<br />
wie väterliche Jungenfürsorge und weibliche Strategien koevoluiert<br />
sein könnten (Andersson 2005), aber warum Männchen diese Entwicklung<br />
mitgemacht haben, ist nicht bekannt. Insgesamt sind polyandrische Paarungssysteme<br />
daher immer labil, und Polyandrie tritt häufig innerhalb
518 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.8. Blatthühnchen (Jacana<br />
jacana) stellen eine der am besten<br />
untersuchten Arten mit Ressourcenverteidigungs-Polyandrie<br />
dar<br />
von Populationen fakultativ zu Monogamie (Goldizen 1987) oder sogar zu<br />
Polygynie und Polygynandrie (Goldizen et al. 2000) auf.<br />
(3) Polygynie. Ein Männchen paart sich mit mehreren Weibchen, wobei<br />
die betreffenden Weibchen sich nur mit diesem einen Männchen paaren. In<br />
polygynen Paarungssystemen sind manche Männchen per Definition von<br />
der Fortpflanzung ausgeschlossen, so dass die Varianz im Fortpflanzungserfolg<br />
der Männchen größer ist. In einem polygynen Paarungssystem können<br />
erfolgreiche Männchen ihren Fortpflanzungserfolg maximieren, so<br />
dass Polygynie für Männchen immer vorteilhaft ist, wenn ihre Beteiligung<br />
an der Jungenaufzucht nicht essentiell ist. Polygyne Arten sind daher durch<br />
intensive Konkurrenz zwischen Männchen charakterisiert. Polygynie kann<br />
in solitären Arten entstehen, wenn Männchen die Streifgebiete von zwei<br />
oder mehr Weibchen kontrollieren oder aber wenn Weibchen in Gruppen<br />
leben, die ökonomisch verteidigt werden können.<br />
Dementsprechend werden zwei Hauptformen der Polygynie unterschieden.<br />
Weibchenverteidigungs-Polygynie liegt dann vor, wenn ein Männchen<br />
eine Gruppe von Weibchen erfolgreich verteidigt und monopolisiert<br />
(Abb. 11.9). Die Weibchen können dabei aus ökologischen Gründen<br />
Gruppen bilden oder sie können sich von sich aus um ein Männchen scharen.<br />
Weibliche Nördliche See-Elefanten (Mirounga angustirostris) versammeln<br />
sich beispielsweise an geeigneten Stränden mit gutem Nahrungsangebot<br />
und geringem Prädationsrisiko, wo sie von einzelnen Männchen<br />
monopolisiert werden (Hoelzel et al. 1999). Bei Thomas-Languren (Presbytis<br />
thomasi) bilden sich dagegen Gruppen von Weibchen um ein Männ-
11.2 Paarungssysteme 519<br />
Abb. 11.9. Mantelpaviane<br />
(Papio hamadryas) leben in<br />
Gruppen, in denen einzelne<br />
Männchen (links) Zugang zu<br />
mehreren Weibchen<br />
verteidigen<br />
chen, das ihren Nachwuchs vor Infantizid durch fremde Männchen schützen<br />
soll. Kranke und alte Männchen werden von den Weibchen umgehend<br />
verlassen (Steenbeek et al. 2000). Aus männlicher Sicht wird die Anzahl<br />
der monopolisierbaren Weibchen durch deren Verteilung im Raum bzw.<br />
deren Gruppengröße bestimmt. Zudem hat die Synchronität ihrer Fortpflanzungsaktivität<br />
einen unabhängigen Einfluss auf das männliche Monopolisierungspotential<br />
(Nunn 1999). Für Weibchen sollte in diesem Paarungssystem<br />
vor allem die Qualität des Männchens von Bedeutung sein, da<br />
sie im Wesentlichen indirekte Vorteile aus der Verpaarung mit einem bestimmten<br />
Männchen erzielen können ( Kap. 9.5).<br />
Wenn Weibchen aus verschiedenen Gründen nicht von einzelnen Männchen<br />
monopolisiert werden können, haben diese unter bestimmten Voraussetzungen<br />
die Möglichkeit, für Weibchen wichtige Ressourcen zu kontrollieren<br />
und sich exklusiv mit den Weibchen zu verpaaren, die diese<br />
Ressourcen nutzen. Solche Ressourcenverteidigungs-Polygynie ist dann<br />
möglich, wenn entscheidende Ressourcen wie Nahrung oder Nistplätze so<br />
geklumpt vorkommen, dass sie ökonomisch zu verteidigen sind, oder wenn<br />
es Heterogenität in der Habitatqualität gibt. Die meisten Untersuchungen<br />
zur Ressourcenverteidigungs-Polygynie wurden an Vögeln durchgeführt,<br />
aber sie kommt auch bei manchen Insekten (Schlyter u. Zhang 1996) und<br />
Fischen (Sato 1994) vor. Für Männchen ist dieses Paarungssystem in jedem<br />
Fall lohnenswert. Ob sich Weibchen auf diese Form der Polygynie<br />
einlassen, hängt von deren Kosten-Nutzen-Bilanz ab.<br />
Nach welchen Kriterien Weibchen diese Kosten-Nutzen-Bilanz in Verhaltensentscheidungen<br />
umsetzen, wird von einem Klassiker der Verhaltensökologie<br />
beschrieben: dem Polygynie-Schwellenmodell (Orians 1969).<br />
Wenn es demnach Qualitätsunterschiede zwischen den von Männchen verteidigten<br />
Territorien gibt, können sich Weibchen zwischen einem guten
520 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.10. Das Polygynie-Schwellenmodell sagt voraus, wann Weibchen Polygynie<br />
akzeptieren und sich mit einem bereits verpaarten Männchen assoziieren<br />
sollten. Die Situation, in der ein Territorium nur ein Weibchen enthält, ist durch<br />
die blaue Linie dargestellt. Die rote Linie repräsentiert die Situation, in der zwei<br />
Weibchen ein Territorium nutzen. Wenn ein Weibchen die Wahl zwischen zwei<br />
Territorien gleicher Qualität hat, sollte es dasjenige wählen, das kein anderes<br />
Weibchen enthält (A). Wenn jedoch die Wahl zwischen einem schlechteren, freien<br />
Territorium (B) und einem besseren, aber schon besetzten Territorium (C) besteht,<br />
kann der Fitnessgewinn auf einem besetzten Territorium größer sein. In diesem<br />
Fall sollte ein Weibchen die Polygynie-Schwelle überschreiten und sich für das<br />
besetzte Territorium entscheiden<br />
Territorium mit einem bereits verpaarten Männchen und einem schlechteren<br />
Territorium mit einem noch unverpaarten Männchen entscheiden<br />
(Abb. 11.10). Demnach nimmt der weibliche Fortpflanzungserfolg einerseits<br />
mit der Qualität des Territoriums zu, wird aber andererseits durch das<br />
Teilen des Territoriums mit anderen Weibchen reduziert. Daher ist der<br />
Fortpflanzungserfolg von sekundären Weibchen (die ein schon verpaartes<br />
Männchen wählen) unabhängig von der Habitatsqualität immer geringer<br />
als der von primären Weibchen. Wenn nun der Unterschied in der Territoriumsqualität<br />
zwischen einem verpaarten und einem unverpaarten Männchen<br />
größer ist als der Unterschied im Fortpflanzungserfolg unter diesen<br />
beiden Bedingungen, wenn also die Polygynie-Schwelle überschritten<br />
wird, ist für Weibchen die polygyne Alternative vorteilhafter.<br />
Eine Annahme dieses Modells über die proximate Umsetzung besteht<br />
darin, dass Weibchen mehrere Territorien begutachten, bevor sie sich für
11.2 Paarungssysteme 521<br />
eines davon entscheiden. Bei vielen Zugvögeln kommen die Männchen<br />
zuerst aus den Winterquartieren zurück und teilen das verfügbare Habitat<br />
unter sich auf. Eine Studie an Drosselrohrsängern (Acrocephalus arundinaceus)<br />
zeigte, dass Weibchen nach ihrer Ankunft zwischen 3 und 11 Territorien<br />
besichtigen und sich dann innerhalb eines Tages für eines davon<br />
entscheiden. Entsprechend den Vorhersagen dieses Modells kehrten Weibchen<br />
zu schon besichtigten Territorien zurück und ließen sich auch als sekundäre<br />
Weibchen nieder, obwohl noch freie Territorien vorhanden waren<br />
(Bensch u. Hasselquist 1992).<br />
Wählen die Weibchen dabei nun das Territorium oder das Männchen?<br />
Bei Trauerschnäppern (Ficedula hypoleuca) gibt es eine enge Korrelation<br />
zwischen der Reihenfolge, in der sich Weibchen niederlassen, und der<br />
Reihenfolge, in der Männchen davor Territorien besetzten. Indem Nistkästen<br />
in zufälliger Weise nacheinander in einem Gebiet aufgehängt wurden,<br />
konnten die Männchen dazu gezwungen werden, sich unabhängig von der<br />
Habitatsqualität zu verteilen. Die Weibchen ließen sich danach in einer<br />
ganz anderen Reihenfolge nieder, was zeigt, dass die Verteilung beider<br />
Geschlechter von der Habitatsqualität bestimmt wird und dass Weibchen<br />
also nicht bestimmte Männchen an sich bevorzugen (Alatalo et al. 1986).<br />
Wenn man weiblichen Rotschulterstärlingen (Agelaius phoeniceus) gleichzeitig<br />
ein unverpaartes Männchen in einem schlechteren Territorium und<br />
ein bereits verpaartes Männchen in einem besseren Territorium anbietet,<br />
entscheiden sie sich ebenfalls mit überwältigender Mehrheit für das bessere<br />
Territorium (Pribil u. Searcy 2001).<br />
Welche Kosten der Polygynie entstehen für Weibchen und durch welche<br />
Faktoren werden sie kompensiert? Wenn Männchen keinen Beitrag zur<br />
Brutpflege leisten, können sich aus dem reduzierten Ressourcenzugang für<br />
die Weibchen Nachteile ergeben (Searcy u. Yasukawa 1989). Bei Arten<br />
mit väterlicher Jungenfürsorge sind Aggression zwischen Weibchen und<br />
die geteilte väterliche Fürsorge die bedeutsamsten Kosten der Polygynie<br />
für sekundäre Weibchen (Slagsvold u. Lifjeld 1994). Hier haben sekundäre<br />
Weibchen sogar oft einen geringeren Fortpflanzungserfolg als monogame<br />
Weibchen (Johnson et al. 1993). Wenn keine unverpaarten Männchen zur<br />
Verfügung stehen, weil das Geschlechtsverhältnis zufällig verschoben ist<br />
oder weil alle geeigneten Nistplätze belegt sind, kann ein Weibchen vor<br />
der Entscheidung stehen, sich polygyn oder überhaupt nicht zu verpaaren.<br />
In diesem Fall haben Weibchen also keine Wahl und müssen die Kosten<br />
der Polygynie akzeptieren. Manche Weibchen lassen sich auch mit einem<br />
bereits verpaarten Männchen ein, weil sie von ihm getäuscht werden bzw.<br />
weil sie nicht zwischen verpaarten und unverpaarten Männchen unterscheiden<br />
können (Alatalo et al. 1990). Schließlich sind manche Weibchen
522 11 Sozialsysteme<br />
wohl auch deshalb polygyn verpaart, weil sie andere Weibchen nicht vertreiben<br />
können (Langmore u. Davies 1997).<br />
(4) Polygynandrie. Sowohl Männchen als auch Weibchen paaren sich<br />
mehrmals mit verschiedenen Individuen. Dieses Paarungssystem wird auch<br />
als Promiskuität bezeichnet. Dabei ist in der Regel die Varianz im männlichen<br />
Fortpflanzungserfolg größer. Dieses Paarungssystem findet sich<br />
ebenfalls bei solitären und gruppenlebenden Arten. Hier sind Männchen<br />
allerdings nicht in der Lage, mehrere Weibchen oder für sie wichtige Ressourcen<br />
zu monopolisieren. Väterliche Fürsorge ist in den meisten Fällen<br />
nicht vorhanden. In promisken Paarungssystemen überschneiden sich daher<br />
geringes männliches Monopolisierungspotential und Bestrebungen zur<br />
Maximierung der männlichen Verpaarungsrate ( Kap. 8.1) mit den Vorteilen<br />
multipler Verpaarungen der Weibchen ( Kap. 9.6); bei vielen<br />
Insekten erhöhen Paarungen mit mehreren Männchen beispielsweise<br />
die weibliche Fertilität und Fekundität (Arnqvist u. Nilsson 2000). Aufgrund<br />
multipler Paarungen kommt es zu intensiver Spermienkonkurrenz<br />
( Kap. 8.5), und postkopulatorische Mechanismen der Partnerwahl<br />
( Kap. 9.3) können den Fortpflanzungserfolg entscheiden.<br />
Bei Arten, bei denen mehrere Männchen und Weibchen zusammenleben,<br />
verpaaren sich die Weibchen mit mehreren Männchen, die Kopulationen<br />
durch Rivalen nicht verhindern können. Hier bilden Männchen typischerweise<br />
Rangordnungen aus, und dominante Männchen verpaaren sich<br />
häufiger oder bewachen Weibchen in Zeiten, in denen Fertilisationen am<br />
wahrscheinlichsten sind, so dass der Fortpflanzungserfolg zu Gunsten der<br />
dominanten Männchen verschoben ist (Altmann et al. 1996). Diese Form<br />
der Promiskuität findet sich bei vielen Primaten (Setchell u. Kappeler<br />
2003). Bei Löwen (Panthera leo) und anderen Arten mit hohem Infantizidrisiko<br />
können die Weibchen durch zahlreiche Verpaarungen mit allen<br />
Männchen die Vaterschaft effektiv verschleiern (Wolff u. Macdonald<br />
2004).<br />
Unter dem Überbegriff der Polygynandrie können außerdem zwei spezifische<br />
Paarungssysteme unterschieden werden. Wenn Weibchen räumlich<br />
weit verstreut und mehr oder weniger gleichzeitig paarungsbereit sind, ist<br />
es für Männchen vorteilhaft, Weibchen zu suchen und sich nach der Kopulation<br />
rasch auf die Suche nach weiteren Weibchen zu machen, um so die<br />
Begegnungsrate mit Weibchen im Laufe der kurzen Paarungszeit zu maximieren.<br />
Es kommt also zu einem Wettsuchen zwischen den Männchen<br />
( Kap. 8.1). Aus männlicher Perspektive wird dieses Paarungssystem<br />
als opportunistische Polygynie (scramble competition polygyny) bezeichnet.<br />
Da sich Weibchen aber in der Regel auch mit mehreren Männchen<br />
verpaaren, handelt es sich eigentlich um ein promiskes Paarungssystem.
11.2 Paarungssysteme 523<br />
Opportunistische Polygynie ist unter anderem bei Zieseln (Spermophilus<br />
tridecemlineatus: Schwagmeyer u. Woontner 1985) und Lemuren (Mirza<br />
coquereli: Kappeler 1997) beobachtet worden. Bei Dungfliegen (Scathophaga<br />
stercoraria: Parker 1974) und Mausmakis (Microcebus murinus:<br />
Eberle u. Kappeler 2004) versuchen manche Männchen, ein frisch verpaartes<br />
Weibchen noch eine Zeitlang gegen Rivalen zu verteidigen, so dass<br />
auch noch andere Mechanismen männlicher Konkurrenz ins Spiel kommen<br />
können ( Kap. 8.2).<br />
Auf einem Lek (Balzarena) verteidigen Männchen einen kleinen Balzplatz,<br />
den Weibchen nur zur Paarung aufsuchen. Weibchen können sich<br />
dabei ein- oder mehrfach verpaaren. Diese kleinen Territorien sind<br />
manchmal nur wenige Quadratmeter groß und enthalten keine für die<br />
Weibchen wichtigen Ressourcen. Da Männchen auf Leks weder Ressourcen<br />
noch Brutfürsorge anbieten, sind Leks geeignete Modelle, um die indirekten<br />
Vorteile der weiblichen Partnerwahl ( Kap. 9.5) zu untersuchen.<br />
Obwohl dieses Paarungssystem nur bei ca. 35 Vogelarten vorkommt<br />
(Höglund u. Alatalo 1995), erhalten Leks daher viel empirisches und theoretisches<br />
Interesse. Leks kommen außerdem bei Insekten und allen anderen<br />
Wirbeltieren vor (Widemo u. Owens 1999).<br />
Ansammlungen balzender Männchen könnten deshalb entstanden sein,<br />
weil Weibchen sehr viel Zeit an diesen Stellen (hotspots) verbringen oder<br />
weil Weibchen zu attraktiven Männchen (hotshots) angezogen werden<br />
und subordinate Männchen dort eine Gelegenheit haben, als Satelliten<br />
( Kap. 8.7) zu kopulieren. Wenn rezeptive Weibchen sexuell belästigt<br />
werden und deshalb von Männchen wegwandern, können Ansammlungen<br />
von mehreren Männchen sich gegenseitig Weibchen „zuschieben“ und<br />
Weibchen verbleiben so insgesamt länger an diesem Ort (Black-hole-<br />
Hypothese: Clutton-Brock et al. 1992). Insbesondere bei Ungulaten ist<br />
diese Form der sexuellen Belästigung und Lek-Bildung weit verbreitet<br />
(Bro-Jørgensen 2003).<br />
Weibchen könnten die Männchen theoretisch auch zur Lek-Bildung<br />
zwingen, um so im direkten Vergleich die besten Gene wählen zu können<br />
(Kokko 1997). Innerhalb eines Leks gibt es besonders attraktive Positionen,<br />
um welche die Männchen erbittert kämpfen, da Weibchen eine Präferenz<br />
für Männchen an solchen arbiträren Stellen (oft in der Mitte des<br />
Leks) haben (Bro-Jørgensen 2002). Diese Männchen haben sich in der<br />
Konkurrenz zwischen Männchen durchgesetzt, und Weibchen können<br />
durch entsprechende Präferenzen die genetischen Grundlagen dieses Erfolgs<br />
an ihre Nachkommen weitergeben ( Lek-Paradox: Kap. 9.4). Als<br />
Konsequenz kann die Varianz im Fortpflanzungserfolg zwischen den<br />
Männchen eines Leks extrem hoch sein (Widemo u. Owens 1995).
524 11 Sozialsysteme<br />
Aus der Diversität von Paarungssystemen lassen sich zwei übergreifende<br />
Schlussfolgerungen festhalten.<br />
Erstens ist es notwendig, sowohl zwischen sozialer Organisation und<br />
Paarungssystem als auch zwischen Paarungs- und Fortpflanzungssystem<br />
zu unterscheiden. Einerseits schränken bestimmte demografische Konstellationen<br />
die möglichen Paarungssysteme ein, legen sie aber nicht fest. So<br />
sind neben Extra-pair-Vaterschaften bei paarlebenden Arten auch Vaterschaften<br />
von Nicht-Gruppenmitgliedern bei gruppenlebenden Arten relativ<br />
häufig (Isvaran u. Clutton-Brock 2007). Andererseits ist aus Beobachtungen<br />
des „Wer-mit-wem“ in den meisten Fällen nicht möglich, auf das<br />
Fortpflanzungssystem zu schließen. Immer wenn Weibchen sich mehrfach<br />
verpaaren, kann der Fortpflanzungserfolg der Männchen im einen Extremfall<br />
zufällig zwischen ihnen verteilt sein oder im anderen Extremfall auf<br />
ein Männchen konzentriert sein.<br />
Zweitens ist es aufgrund der ökologischen Heterogenität und des ständig<br />
schwelenden sexuellen Konflikts nicht überraschend, dass Paarungssysteme<br />
nicht nur zwischen nah verwandten Arten variieren, sondern dass es<br />
diesbezüglich auch innerhalb von Arten Variabilität in Raum und Zeit gibt.<br />
So können innerhalb lokaler Populationen Monogamie und Polygynie koexistieren<br />
(Chapple u. Keogh 2005), Polyandrie existiert häufig gleichzeitig<br />
mit allen anderen Paarungssystemen (Goldizen et al. 2000), und bei vielen<br />
Vögeln wird Monogamie durch ein latentes EPC-Risiko überschattet (Hasselquist<br />
u. Sherman 2001).<br />
11.2.2 Konsequenzen<br />
Verschiedene Paarungssysteme haben mindestens drei wichtige Konsequenzen<br />
für die Biologie einer Art.<br />
Erstens beeinflusst das Paarungssystem die Übertragungsraten von Geschlechtskrankheiten<br />
(Lockhart et al. 1996). Zahlreiche Pathogene haben<br />
sich auf Übertragung durch Kopulationen spezialisiert und führen zu Sterilität<br />
oder anderen Beeinträchtigungen, so dass dadurch – insbesondere für<br />
Weibchen – Selektion zu Gunsten von Monogamie entsteht (Thrall et al.<br />
2000). Einerseits beeinflusst das Risiko der Übertragung von Geschlechtskrankheiten<br />
das Paarungsverhalten von Individuen (Boots u. Knell 2002),<br />
andererseits steuert ihr Verhalten aber auch die weitere Ausbreitung dieser<br />
Pathogene (Nunn 2003). Das mit verschiedenen Paarungssystemen und<br />
-strategien verbundene Risiko der Übertragung von Geschlechtskrankheiten<br />
hat zudem auch Auswirkungen auf das jeweilige Immunsystem. So<br />
haben Primaten mit promisken Paarungssystemen höhere Dichten an<br />
weißen Blutkörperchen und damit eine verbesserte Immunkompetenz als<br />
monogame Arten (Nunn et al. 2000).
11.2 Paarungssysteme 525<br />
Abb. 11.11. Konsequenzen verschiedener Paarungssysteme für das Maß an Sexualdimorphismus<br />
in der Körper- und Eckzahngröße sowie die relative Hodengröße<br />
bei anthropoiden Primaten. Monogame (gelb), polygyne (orange) und promiske<br />
(grün) Arten weisen charakteristische Merkmalskombinationen auf. Für polyandrische<br />
Arten gibt es diesbezüglich zu wenige Daten. Y-Achse: Maß an Sexualdimorphismus<br />
(Männchen/Weibchen) bzw. relative Hodengröße (mm 3 /kg)<br />
Verschiedene Paarungssysteme haben zweitens auch morphologische<br />
Konsequenzen (Abb. 11.11). Bei monogamen Arten unterscheiden sich<br />
die Geschlechter weder in der Körpergröße, noch in anderen morphologischen<br />
Merkmalen in auffälliger Weise. Bei ihnen liegt daher kein Sexualdimorphismus<br />
vor. Da es auch theoretisch keine Spermienkonkurrenz gibt,<br />
sind die Hoden der Männchen vergleichsweise klein ( Kap. 8.5). Bei polygynen<br />
Arten spielt Größe und Stärke eine wichtige Rolle bei der Verteidigung<br />
von Weibchen oder Ressourcen. Dementsprechend finden sich bei<br />
diesen Arten die extremsten Beispiele für Sexualdimorphismus (Lindenfors<br />
et al. 2002). Männchen sind teilweise doppelt so groß wie Weibchen<br />
und können zudem noch artspezifische Waffen besitzen ( Kap. 8.3).<br />
Wenn sie Weibchen erfolgreich monopolisieren, gibt es auch nur ein geringes<br />
Risiko der Spermienkonkurrenz, und die Hoden dieser Männchen<br />
sind daher relativ klein. Bei promisken Arten gibt es sowohl Konkurrenz<br />
um den Zugang zu Weibchen als auch intensive Spermienkonkurrenz, so<br />
dass diese Arten durch moderaten Sexualdimorphismus und vergleichsweise<br />
große Hoden charakterisiert sind (Gomendio et al. 1998). Bei polyandrischen<br />
Arten konkurrieren die Weibchen um Männchen und sind tatsächlich<br />
auch häufig größer als diese. Diese bei Säugetieren in mehreren<br />
Ordnungen bestätigten Muster fallen bei Vögeln ganz ähnlich aus (Dunn<br />
et al. 2001). Das relative Hodenvolumen von kolonialen Vogelarten, solchen<br />
ohne männliche Brutfürsorge sowie nicht-monogamen Arten, ist jeweils<br />
größer als das der entsprechenden Vergleichsgruppe (Pitcher et al.
526 11 Sozialsysteme<br />
2005). Artunterschiede im Sexualdichromatismus (Männchen und Weibchen<br />
sind unterschiedlich gefärbt) sind bei Vögeln nicht mit dem Maß an<br />
Sexualdimorphismus, sondern positiv mit der Häufigkeit von Extra-pair-<br />
Vaterschaften korreliert (Owens u. Hartley 1998).<br />
Drittens schließlich haben unterschiedliche Paarungssysteme wichtige<br />
Konsequenzen für die genetische Struktur der sozialen Einheiten, da sich<br />
die Anzahl der Reproduzierenden, ihre Verwandtschaftsbeziehungen sowie<br />
ihr individueller Fortpflanzungserfolg in verschiedenen Paarungssystemen<br />
unterscheiden (Ross 2001). Außerdem beeinflussen auch die räumlichen<br />
Bewegungen von Individuen die Verteilung von Genen innerhalb und zwischen<br />
Gruppen oder anderen Fortpflanzungseinheiten (Chesser 1991). So<br />
führen Philopatrie und verzögerte Abwanderung dazu, dass Verwandte mit<br />
abstammungsidentischen Allelen geklumpt auftreten. Unter diesen Bedingungen<br />
sind wichtige Voraussetzungen für die Entstehung von kooperativen<br />
Verhaltensweisen zwischen Verwandten geschaffen.<br />
Die genetisch einfachsten sozialen Einheiten sind Familiengruppen mit<br />
monogamen Eltern bzw. Kolonien mit einer einmalig verpaarten Königin.<br />
Im Vergleich zu promisken Arten können monogame Familiengruppen reduzierte<br />
genetische Diversität aufweisen (Sommer et al. 2002). Bei Arten<br />
mit mehreren reproduzierenden Weibchen erhöht sich die genetische Variabilität<br />
zwischen Nachkommen und deren durchschnittlicher Verwandtschaftskoeffizient<br />
wird reduziert (Heinze u. Keller 2000). Wenn sich mehrere<br />
Männchen in einer sozialen Einheit fortpflanzen, hängt die genetische<br />
Diversität der Nachkommen davon ab, ob die Weibchen sich monandrisch<br />
oder polyandrisch verpaaren und wie stark der reproductive skew zwischen<br />
Männchen ausgeprägt ist.<br />
Der Verwandtschaftsgrad zwischen sich reproduzierenden Individuen<br />
desselben Geschlechts bestimmt auch den Verwandtschaftsgrad zwischen<br />
Matrilinien bzw. Patrilinien innerhalb einer Gruppe (Rossiter et al. 2005).<br />
Auf der Populationsebene interagiert das Paarungssystem zudem mit der<br />
sozialen Organisation bei der Verteilung von genetischer Diversität über<br />
die verschiedenen räumlich-hierarchischen Ebenen, d. h. innerhalb von<br />
Gruppen, zwischen benachbarten Gruppen, zwischen nicht unmittelbar benachbarten<br />
Gruppen usw. (Richardson et al. 2002). Selbst bei solitären Arten<br />
kommt es durch Philopatrie zur räumlichen Klumpung von genetisch<br />
ähnlichen Individuen (Kappeler et al. 2002). Philopatrie führt aber auch<br />
nicht zwingend zur lokalen Aggregation von Verwandten (van Horn et al.<br />
2004), und umgekehrt können abgewanderte Tiere sich auch überzufällig<br />
häufig in ihren neuen Gruppen zusammenfinden (Bradley et al. 2007).
11.3 Sozialstruktur 527<br />
11.3 Sozialstruktur<br />
Alle Individuen interagieren mehr oder weniger häufig mit Artgenossen.<br />
Diese Interaktionen beinhalten den Austausch von Aktionen oder Signalen.<br />
Der Austausch von Signalen wird als Kommunikation bezeichnet und<br />
stellt eine Grundlage zur Etablierung von sozialen Beziehungen, aber auch<br />
zum allgemeinen Austausch von Information zwischen Individuen, dar.<br />
Wenn dieselben Individuen regelmäßig miteinander interagieren, kann<br />
man über die Bewertung der Häufigkeit und Inhalte ihrer Interaktionen<br />
Rückschlüsse über die soziale Beziehung zwischen ihnen treffen. Aus den<br />
Merkmalen der Beziehungen zwischen allen Individuen einer sozialen<br />
Einheit kann deren soziale Struktur charakterisiert werden (Hinde 1976;<br />
Abb. 11.12).<br />
Die Häufigkeit und Reziprozität von sozialen Interaktionen können<br />
leicht beobachtet und quantifiziert werden. Die Beurteilung der funktionalen<br />
Qualität einer Interaktion ist dagegen schwieriger. Die gröbste Klassifizierung<br />
der Funktion sozialer Interaktionen unterscheidet zwischen Konflikt<br />
und Konkurrenz einerseits und Kooperation andererseits. Balz- und<br />
Paarungsverhalten ist ein wichtiger anderer Funktionskontext, in dem Tie-<br />
Abb. 11.12. Hierarchie der Sozialstruktur. Aktionen und Signale sind die operationalisierbaren<br />
Grundelemente des Verhaltens, deren Austausch zwischen Individuen<br />
(A, B, C usw.) als Interaktionen beobachtet werden kann. Aus der Häufigkeit<br />
und Qualität der Interaktionen lassen sich die sozialen Beziehungen einzelner Dyaden<br />
(A-B, A-C, B-C) ermitteln. Die Gesamtbetrachtung aller dyadischen Beziehungen<br />
innerhalb einer sozialen Einheit beschreibt deren Sozialstruktur
528 11 Sozialsysteme<br />
re interagieren. Wenn ein Individuum ein anderes „angreift“ und „beißt“,<br />
ist die Bedeutung dieser Verhaltensweisen als Aggression im Kontext des<br />
Konkurrenzverhaltens offensichtlich. Um die Funktion anderer Verhaltenselemente,<br />
insbesondere die von Signalen, benennen zu können, sind<br />
jedoch objektive analytische Schritte notwendig. So kann „Zähne entblößen“<br />
beispielsweise je nach Kontext oder Art eine freundliche oder<br />
drohende Funktion haben. Solche funktionalen Zuordnungen einzelner<br />
Elemente können objektiv mit Hilfe von multivariaten Klassifikationsverfahren<br />
erfolgen. Dabei werden einige wenige Verhaltenselemente mit eindeutigem<br />
Funktionskreis wie Aggression, Submission, Affiliation oder<br />
Balz festgelegt. Durch Identifikation überzufälliger Häufung im zeitlichen<br />
Fenster eines solchen Elements können andere Elementen funktionell zugeordnet<br />
werden (Preuschoft u. van Hooff 1995). Wenn beispielsweise<br />
eine bestimmte Vokalisation immer unmittelbar mit dem Weglaufen vor<br />
einem aggressiven Artgenossen assoziiert ist, kann sie als „Submissionanzeigender<br />
Laut“ klassifiziert werden. Ein ausführliches Beispiel für<br />
diese objektive Vorgehensweise findet sich bei Pereira u. Kappeler (1997).<br />
Soziale Beziehungen können also nicht direkt gemessen werden. Vielmehr<br />
handelt es sich um ein virtuelles Konstrukt, das durch die Summe<br />
und Art der Interaktionen zwischen zwei Individuen definiert ist. Es gilt<br />
also, eine Verbindung zwischen einzelnen Verhaltensweisen und deren Integration<br />
über die Zeit herzustellen. Einzelne Interaktionen sind dabei<br />
durch die Kombination bestimmter Verhaltenselemente definiert. Nach<br />
diesem Ansatz lassen sich aus einer Vielzahl von Interaktionen die sozialen<br />
Beziehungen zwischen allen Mitgliedern einer Gruppe charakterisieren<br />
(Whitehead 1997). Die u. a. durch Methoden der Sozialen Netzwerktheorie<br />
beschreibbaren Sozialstrukturen können dann in Bezug auf herausragende<br />
Muster, meist in Bezug auf das Geschlecht oder den Verwandtschaftsgrad,<br />
charakterisiert und zwischen sozialen Einheiten verglichen werden (Krause<br />
et al. 2007).<br />
Warum Individuen bestimmte Verhaltensweisen miteinander austauschen,<br />
kann in mehreren Funktionskontexten, wie Partnerwahl und Kooperation,<br />
sinnvoll mit biologischer Markttheorie analysiert werden (Noë u.<br />
Hammerstein 1994). Demnach stellen bestimmte Verhaltensweisen Waren<br />
(commodities) dar, deren Wert beim Austausch zwischen Individuen durch<br />
Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Individuen unterscheiden sich darin,<br />
wie viel Kontrolle sie über einzelne Waren besitzen. Sie wählen ihre<br />
Tauschpartner frei, wobei angenommen wird, dass die Interaktion mit einem<br />
bestimmten Partner einen höheren Gewinn erbringt als dieselbe Interaktion<br />
mit einem zufälligen Partner. Dadurch entsteht Konkurrenz zwischen<br />
Individuen darüber, als Tauschpartner gewählt zu werden. Mit<br />
diesem Konzept kann unter anderem erklärt werden, warum Pavianmütter
11.3 Sozialstruktur 529<br />
(Papio ursinus) in Gruppen mit wenigen Jungen länger gegroomt werden<br />
als solche in Gruppen mit vielen Jungen (Henzi u. Barrett 2002), warum<br />
Putzerfische (Labroides dimidiatus) zufriedene Kunden haben (Bshary u.<br />
Schäffer 2002) und wie grooming und agonistische Unterstützung bei<br />
Schimpansen (Pan troglodytes) miteinander verrechnet werden (Watts<br />
2002). Zahlreiche andere Beispiele für die Anwendung dieses Ansatzes<br />
finden sich in Noë et al. (2001).<br />
11.3.1 Kommunikation<br />
Soziale Interaktionen basieren zum Großteil auf dem Austausch von Signalen<br />
in Form von Lauten, Gerüchen, Bewegungen, Vibrationen, elektrischen<br />
Impulsen und visuellen Mustern (Abb. 11.13). Wenn mit Hilfe eines<br />
Signals Information von einem Sender an einen Empfänger übertragen<br />
wird und der Empfänger als Reaktion darauf sein Verhalten oder seine<br />
Physiologie verändert, findet Kommunikation statt. Es ist dabei bedeutsam,<br />
dass der Transfer von Information mit Vorteilen für den Sender und<br />
Empfänger verbunden ist (Bradbury u. Vehrencamp 1998). Information,<br />
deren Verwertung für den Sender nachteilig ist, wird dagegen als Reiz<br />
(cue) bezeichnet (Maynard Smith u. Harper 2003). Die Ausbeutung von<br />
Reizen zum Vorteil des Empfängers wird als Lauschen (eavesdropping)<br />
benannt (Valone 2007). Räuber belauschen beispielsweise Reize ihrer<br />
Beute, um sie zu lokalisieren (z. B. Fledermäuse orten Frösche: Page u.<br />
Ryan 2005). Manche Beutetiere wechseln bei ihrer Kommunikation daher<br />
Abb. 11.13. Ein Großteil der Kommunikation zwischen Tieren erfolgt durch den<br />
Austausch von chemischen, akustischen und visuellen Signalen, hier illustriert<br />
durch einen markierenden Katta, brüllenden Löwen und balzenden Paradiesvogel
530 11 Sozialsysteme<br />
auf „private Kanäle“, die von ihren Räubern nicht wahrgenommen werden<br />
können (z. B. UV-Signale bei Fischen: Cummings et al. 2003). Bestimmte<br />
Kommunikationsformen, wie Elektrokommunikation bei Fischen, sind dagegen<br />
explizit auf Kommunikation mit heterospezifischen Empfängern<br />
ausgerichtet (Scheffel u. Kramer 2000). Manche Signale, wie die Ortungslaute<br />
von Fledermäusen oder Delfinen, dienen der Autokommunikation.<br />
Da Eigenschaften und Übertragung von Signalen mit verschiedenen physiologischen,<br />
sozialen und ökologischen Kosten und Nutzen verbunden<br />
sind, existieren verschiedene Optimierungskriterien für Signalsysteme<br />
(Lachmann et al. 2000). Die Art und Menge der übertragenen Information<br />
variiert zudem erheblich, je nach Funktion und Struktur eines Signals<br />
(Endler u. Basolo 1998). Aufgrund dieser Eigenschaften stellt Kommunikation<br />
den Kitt dar, der tierische Gesellschaften zusammenhält und Individuen<br />
wichtige Mechanismen an die Hand gibt, ihre Fitness zu maximieren.<br />
(1) Signale und Modalitäten. Tiere produzieren Signale in verschiedenen<br />
Modalitäten, die sich in wichtigen Merkmalen unterscheiden (Tabelle<br />
11.3). Daher sind manche Signale für bestimmte Funktionen besser geeignet<br />
als andere. Die stammesgeschichtlich ältesten Signale im Tierreich<br />
sind chemische Stoffe, die mit Geruchs- oder Geschmacksrezeptoren<br />
wahrgenommen werden. Sowohl Stoffwechselabfallprodukte (Urin, Kot),<br />
Moleküle an der Körperoberfläche als auch von spezifischen Drüsen hergestellte<br />
Substanzen dienen dabei als Signale (Pheromone). Die Kosten<br />
Tabelle 11.3. Vergleich der Eigenschaften von Signalen in verschiedenen Modalitäten.<br />
Details im Text<br />
Signale<br />
optisch<br />
olfaktorisch<br />
akustisch<br />
vibratorisch<br />
elektrisch<br />
Produktionskosten<br />
gering hoch gering hoch hoch<br />
Reichweite weit weit gering gering gering<br />
Überwindung<br />
Hindernisse<br />
gut gut schlecht schlecht gut<br />
Flexibilität gering hoch variabel hoch hoch<br />
Persistenz hoch gering variabel gering gering
11.3 Sozialstruktur 531<br />
ihrer Herstellung sind daher in der Regel vergleichsweise gering. Chemische<br />
Signale können über größere Entfernungen wirken und physikalische<br />
Hindernisse überwinden. Sie können im Wasser, an Land und in der Luft<br />
eingesetzt werden. Sie haben den Vorteil, dass sie nach dem Ausbringen<br />
länger an einem Ort persistieren als der Sender selbst und von mehreren<br />
Empfängern nacheinander wahrgenommen werden können, aber sie sind in<br />
Bezug auf Änderungen der Signalhäufigkeit sehr träge. Die Modulation<br />
von Information kann über Änderung der Signalhäufigkeit oder Zusammensetzung<br />
erfolgen. Wenn chemische Signale auf Stoffwechselprodukten<br />
basieren oder diese enthalten, handelt es sich um weitgehend ehrliche<br />
Signale.<br />
Laute werden von Tieren auf vielfältige Weise erzeugt und mit fast<br />
ebenso vielen unterschiedlichen Organen wahrgenommen. Die Produktion<br />
von Lauten ist für den Sender vergleichsweise aufwändig und energetisch<br />
kostspielig. Durch Veränderung der Frequenz und Amplitude ist eine sehr<br />
flexible Modulation dieser Signale möglich. Außerdem kann über die Häufigkeit<br />
und Dauer der Lautproduktion sowie durch variablen Einsatz und<br />
Kombination von Einzelelementen ein Höchstmaß an Flexibilität und Informationsübertragung<br />
gewährleistet werden. Der Einsatz von Lauten erfordert<br />
daher permanente neuronale Kontrolle. Die Reichweite von Lauten<br />
ist sowohl in der Luft als auch im Wasser groß, aber die Nachhaltigkeit<br />
dieser Signale ist minimal.<br />
Visuelle Signale können in permanente Zustände und diskrete Ereignisse<br />
unterteilt werden. Bestimmte Merkmale eines Senders, wie seine<br />
Größe oder Färbung, senden permanent Informationen an seine soziale<br />
Umwelt. Andere Signale basieren dagegen auf kurzen Bewegungen oder<br />
Präsentationen. Da sie in jedem Fall Sichtkontakt zwischen Sender und<br />
Empfänger erfordern, erlauben sie die beste individuelle Zuordnung aller<br />
Signale. Allerdings ist ihre Reichweite dafür beschränkt, und für viele Tiere<br />
ist ihr erfolgreicher Einsatz auf den Tag beschränkt. Körpergröße und<br />
bunte oder extravagante Ornamente sind ehrliche Hinweise (siehe unten)<br />
auf bestimmte Eigenschaften des Senders, sie können dafür aber nicht<br />
kurzfristig moduliert werden.<br />
Vor dem Hintergrund der verschiedenen Vor- und Nachteile einzelner<br />
Signale sind drei Aspekte bemerkenswert. Erstens werden physische<br />
Merkmale von Signalen dahingehend optimiert, dass ihre Übertragung unter<br />
widrigen Umweltbedingungen maximiert wird (Slabbekoorn u. Peet<br />
2003). Außerdem können Empfänger ihre Fähigkeit, Signale unterschiedlicher<br />
Qualität zu bewerten, optimieren (Naguib u. Wiley 2001). Zweitens<br />
werden Signale im Lauf der Evolution durch Ritualisierung optimiert. Dabei<br />
werden sie verstärkt, wiederholt und immer stereotyper und damit für<br />
den Empfänger eindeutiger (Zahavi 1979). Drittens kann durch die Kom-
532 11 Sozialsysteme<br />
bination von Signalen die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung erhöht<br />
werden (Hebets u. Papaj 2005). Außerdem können durch die Kombination<br />
von Signalen neue Bedeutungen generiert werden (Johnstone 1996).<br />
Die Übertragung eines Signals kann in mehrere Schritte untergliedert<br />
werden, an denen Selektion unabhängig ansetzen kann (Endler u. Basolo<br />
1998). Ob überhaupt ein Signal produziert wird, hängt zunächst von der<br />
Verfassung und Motivation des Senders ab. Die Struktur eines Signals ist<br />
auch stark von morphologischen Vorgaben eingeschränkt. Bei Darwin-<br />
Finken (Geospiza spp.) korreliert beispielsweise die Frequenzbreite und<br />
Wiederholungsrate einzelner Laute negativ mit der Schnabel- und Körpergröße<br />
(Podos 2001). Bei der eigentlichen Übertragung zum Empfänger<br />
sind je nach Signal verschiedene Umweltfaktoren bedeutsam, die mit der<br />
Struktur des Signals interagieren. Der Empfang eines Signals durch einen<br />
Empfänger hängt von der Empfindlichkeit des Rezeptors und der Intensität<br />
des Hintergrundrauschens ab. Die Transduktion und Kodierung eines empfangenen<br />
Signals hängen im Wesentlichen von den physiologischen Eigenschaften<br />
des Rezeptor(organ)s ab. Danach erfolgt im zentralen Nervensystem<br />
die Wahrnehmung und Klassifizierung der kodierten Information.<br />
Der Bewertung dieser Information durch kognitive Prozesse folgt schließlich<br />
die Entscheidung des Empfängers für eine bestimmte Reaktion.<br />
(2) Ehrlichkeit. Ein entscheidendes Kriterium bei der Bewertung des Einsatzes<br />
und der Funktion von Signalen betrifft deren Ehrlichkeit. In der<br />
klassischen Ethologie wurde Kommunikation als kooperative Interaktion<br />
betrachtet, die dem effektiven Informationstransfer dient. Kommunikation<br />
zwischen Artgenossen wird demnach durch „konspiratives Flüstern“ bewerkstelligt<br />
(Johnstone 1998). Vor dem Hintergrund der Einsicht, dass es<br />
Interessenskonflikte zwischen Individuen beim Versuch, ihre individuelle<br />
Fitness zu maximieren, gibt, haben Dawkins u. Krebs (1978) den einflussreichen<br />
Vorschlag gemacht, dass Signale die wichtigste Möglichkeit von<br />
Tieren darstellen, das Verhalten anderer zu ihrem Vorteil zu manipulieren.<br />
Da in diesem Kontext auch unehrliche Signale eingesetzt werden könnten,<br />
gibt es Selektion auf Empfänger, ehrliche und unehrliche Signale zu unterscheiden.<br />
Das vorhergesagte Ergebnis ist ein evolutionäres Wettrennen,<br />
das zur Entwicklung von immer stärker übertriebenen Signalen führt.<br />
Empfänger können auf die Ehrlichkeit von Signalen setzen, weil manche<br />
Signale nicht gefälscht werden können. Die Grundfrequenz der Rufe<br />
von Erdkröten (Bufo bufo) ist beispielsweise eng negativ mit der Körpergröße<br />
korreliert, so dass andere die Größe eines rufenden Männchens verlässlich<br />
einschätzen können (Davies u. Halliday 1978). Ein zweiter Grund,<br />
warum Signale ehrlich sein können, besteht darin, dass es sehr teuer und<br />
aufwändig ist, ein unehrliches Signal zu produzieren (Zahavi 1977). Dem-
11.3 Sozialstruktur 533<br />
nach stellt die Produktion eines ehrlichen (Qualitäts-)Signals ein handicap<br />
dar, das sich nur Individuen in entsprechender Kondition leisten können<br />
( Kap. 8.3). Dabei könnte Ritualisierung den Prozess darstellen, durch<br />
den Signale ihre Ehrlichkeit gewinnen und behalten (Zahavi 1979).<br />
Die Koppelung von Qualitätssignalen an den Testosterongehalt, der mit<br />
positiv energetischen und immunologischen Nachteilen korreliert, könnte<br />
einen proximaten Mechanismus darstellen, der für die Ehrlichkeit mancher<br />
Signale sorgt (Folstad u. Karter 1992). Bei Haussperlingen (Passer domesticus)<br />
sind beispielsweise die Größe des männlichen Brustflecks und<br />
die Stoffwechselrate positiv mit dem Testosterontiter korreliert (Buchanan<br />
et al. 2001). Zwänge durch die Limitierung neuronalen Speicherplatzes<br />
könnten dazu beitragen, dass Vogelgesang ehrlich bleibt (Gil u. Gahr<br />
2002). Soziale Kosten in Form von Aggression gegenüber entdeckten Betrügern<br />
stellen einen weiteren Mechanismus zur Aufrechterhaltung der<br />
Ehrlichkeit von Signalen dar. Gallische Feldwespen (Polistes dominulus)<br />
besitzen beispielsweise ein schwarz-gelbes Gesichtsmuster, das mit dem<br />
individuellen Dominanzstatus korreliert. In Konflikten zwischen Wespen<br />
mit experimentell veränderten Mustern erhielten Betrüger deutlich mehr<br />
Aggression von Dominanten als Kontrollen (Tibbetts u. Dale 2004).<br />
Trotz starker Selektion auf die Ehrlichkeit von Signalen können Tiere<br />
Artgenossen durch den Einsatz von Signalen täuschen (Semple u. McComb<br />
1996). Es ist aber zu erwarten, dass unehrliche Signale nur mit geringer<br />
Frequenz eingesetzt werden (Dawkins u. Guilford 1991), so dass unehrliche<br />
Signale selten so häufig vorkommen wie die kleinen, nachgewachsenden<br />
Scheren von Winkerkrabben (Uca annulipes), die als visuelle Signale<br />
eingesetzt werden (Backwell et al. 2000).<br />
(3) Bedeutung. Wie wissen Tiere, welches Signal sie wann produzieren<br />
müssen bzw. welche Bedeutung ein empfangenes Signal hat? Sowohl auf<br />
der Sender- als auch auf der Empfängerseite spielen genetische Kontrolle<br />
und Lernen die entscheidende Rolle ( Kap. 10.5). Die Produktion der<br />
meisten Signale basiert auf genetischer Information. Prinzipiell lässt sich<br />
das angeborene Repertoire an Signalen durch Aufzucht in Isolation ermitteln.<br />
Neugeborene oder frisch geschlüpfte Individuen sind häufig in der<br />
Lage, zumindest manche artspezifischen Signale zu produzieren. Die Produktion<br />
von Signalen ist auch vom Entwicklungszustand abhängig und erfolgt<br />
erst, wenn die zur Produktion notwendigen Strukturen vollständig<br />
entwickelt sind. So gibt es beispielsweise olfaktorische Signale, die von<br />
Säugetieren erst mit Beginn der Geschlechtsreife erzeugt werden können.<br />
Manche Signale sind so stereotyp, dass sie von Beginn an in ein und derselben<br />
Form produziert werden (Hammerschmidt et al. 2000), wohingegen
534 11 Sozialsysteme<br />
andere langsam im Laufe der Individualentwicklung in die endgültige Version<br />
„kristallisieren“ (Todt u. Hultsch 1996).<br />
Die einzige große Ausnahme im Tierreich in Bezug auf die genetische<br />
Grundlage der Signalproduktion stellt der Vogelgesang dar. Wenn Vögel<br />
Gesangselemente unter dem Einfluss von Artgenossen oder deren Signale<br />
modifizieren, handelt es sich um Produktions-Lernen (Janik u. Slater<br />
2000). Manchmal können existierende Signale auch in einem neuen Kontext<br />
eingesetzt werden und dort eine neue Bedeutung annehmen, was als<br />
Gebrauchs-Lernen bezeichnet wird. Primaten können ihre funktional referentiellen<br />
Alarmrufe beispielsweise relativ früh produzieren, müssen aber<br />
den korrekten Einsatz lernen (Seyfarth u. Cheney 1997, Fichtel 2008). Die<br />
Struktur von eigentlich stereotypen Signalen kann unter anderem durch<br />
Änderung des sozialen Umfeldes (Rukstalis et al. 2003), des emotionalen<br />
Zustandes des Senders (Fichtel et al. 2001), seines Reproduktions-<br />
(Semple u. McComb 2000) und Dominanzstatus (Fischer et al. 2004), seines<br />
Alters (Osada et al. 2003) und seiner Immunkompetenz (Rantala et al.<br />
2002) sowie durch die Dringlichkeit der Bedrohung durch Räuber (Manser<br />
2001) modifiziert werden. Bei akustischen Signalen sind auch populationsspezifische<br />
Modifikationen von Signalstrukturen bekannt, die als Dialekte<br />
betrachtet werden können. Bei Gelbrücken-Papageien (Amazona auropalliata)<br />
gibt es auf Populationsebene keine Korrelation zwischen genetischer<br />
Variabilität und der Variabilität eines Kontaktrufs, was darauf hindeutet,<br />
dass lokale Dialekte durch soziales Lernen erhalten werden (Wright u.<br />
Wilkinson 2001).<br />
Auf der Seite der Empfänger gibt es ebenfalls zahlreiche Hinweise auf<br />
ein angeborenes Erkennen von artspezifischen Signalen. Bei Roten Ernteameisen<br />
(Pogonomyrmex barbatus) modifizieren Arbeiterinnen beispielsweise<br />
ihre nächste Aufgabe in Abhängigkeit von verschiedenen Kohlenwasserstoffmolekülen,<br />
die sie auf der Körperoberfläche von Artgenossen<br />
perzipieren (Greene u. Gordon 2003), und bei Honigbienen (Apis mellifera)<br />
wird durch Kontakt mit der „Königinnensubstanz“ die eigene Fortpflanzung<br />
unterdrückt (Moritz et al. 2000). Die Bedeutung von Signalen<br />
wird aber auch von Anfang an gelernt. So können frisch geschlüpfte<br />
Lachmöwen (Larus ridibundus) ihre Eltern beim Anflug auf das Nest unter<br />
Hunderten von anderen Erwachsenen am Ruf erkennen und schon vor<br />
deren Landung mit Betteln beginnen (Charrier et al. 2001). In manchen<br />
Kommunikationssystemen gibt es aber hinreichend Flexibilität, so dass ein<br />
existierendes Signal in seiner Bedeutung mit einem neuen Kontext assoziiert<br />
werden kann (Verständnis-Lernen; Janik u. Slater 2000). So können<br />
Signale für den Sender und Empfänger neue Bedeutung gewinnen (van<br />
Baalen u. Jansen 2003). Außerdem gibt es Hinweise von Vögel- und Pri-
11.3 Sozialstruktur 535<br />
matenstudien, dass die Bedeutung heterospezifischer Signale (Alarmrufe)<br />
gelernt werden kann (Zuberbühler 2000, Fichtel 2004).<br />
(4) Signalfunktion. Viele Signale haben eine ganz spezifische Funktion.<br />
Das Bombykol-Molekül des Seidenspinners (Bombyx mori; Kap. 8.1) ist<br />
eines der extremsten Beispiele dafür. Andere Signale werden dagegen in<br />
so großer Zahl und unterschiedlicher Kombination abgegeben, dass die<br />
Funktion eines einzelnen Elements, wie z. B. eine Strophe im Gesang einer<br />
Amsel, nicht erkennbar ist. Die verschiedenen Modalitäten unterscheiden<br />
sich auch darin, wie dynamisch Signale ausgetauscht werden können (Todt<br />
u. Naguib 2000) oder wie gezielt sie an einen bestimmten Empfänger adressiert<br />
werden können (Kappeler 1998). Trotzdem lassen sich Funktionen<br />
der meisten Signale den großen, evolutionär bedeutsamen funktionalen<br />
Kontexten zuordnen. Da diese Funktionen in den vorangegangenen Kapiteln<br />
an den entsprechenden Stellen erwähnt wurden, erfolgt hier nur eine<br />
rekapitulierende Übersicht.<br />
Bei der Nahrungssuche dient Kommunikation (Stichwort: Bienentanz,<br />
Ameisenstraße, Futterrufe) dem Austausch von Information über die Lage<br />
von Futterquellen. Das Kennzeichnen und Verteidigen von Territorien<br />
dient in vielen Fällen auch primär der Ressourcensicherung. Im Kontext<br />
der Räubervermeidung spielen Alarmrufe eine wichtige Rolle dabei, Artgenossen<br />
vor Raubfeinden zu warnen. Außerdem kommunizieren Tiere<br />
mit besonders auffälligen oder kryptischen Signalen mit ihren potentiellen<br />
Räubern. Kommunikation spielt im Kontext der sexuellen Selektion eine<br />
entscheidende Rolle bei mehreren Prozessen. Signale dienen dazu, potentielle<br />
Paarungspartner der eigenen Art zu erkennen und Verwandte zu<br />
vermeiden. Bei der Konkurrenz zwischen Mitgliedern eines Geschlechts<br />
spielen Signale eine herausragende Rolle bei der Etablierung von Dominanzbeziehungen<br />
oder Paarungsterritorien. Die Partnerwahl basiert bei<br />
vielen Tieren auf Signalen, die Information über die Qualität des Senders<br />
enthalten. Bei der Brutfürsorge erfolgen sowohl die Erkennung der Jungen<br />
als auch Konflikte über elterliches Investment über den Austausch<br />
von Signalen. Die Erkennung und Diskriminierung von Verwandten basiert<br />
ebenfalls auf Signalen, die Information über genetische Ähnlichkeit<br />
enthalten.<br />
11.3.2 Koordination<br />
Gruppen von Tieren unterscheiden sich in ihrer Größe (von wenigen Individuen<br />
bis mehr als 10 Millionen), Zusammensetzung, Permanenz und<br />
Kohäsion (Parrish u. Edelstein-Keshet 1999). Um die Kohäsion einer
536 11 Sozialsysteme<br />
Gruppe zu gewährleisten, müssen die Aktivitäten und Bewegungen der<br />
einzelnen Gruppenmitglieder miteinander koordiniert werden, da es Interessenskonflikte<br />
zwischen individuellen Bedürfnissen oder Präferenzen<br />
gibt (Conradt u. Roper 2003). Wenn eine Primatengruppe nach einer Rast<br />
zu einer Futterquelle aufbricht, ein Vogelschwarm einen Futterplatz verlässt<br />
oder ein Bienenvolk ein neues Nest sucht, verlieren diejenigen Individuen,<br />
die sich der Entscheidung der Gruppe nicht anschließen, zumindest<br />
temporär die Vorteile des Gruppenlebens. Wenn es unvereinbare Interessenskonflikte<br />
gibt, kann es aber zur Bildung von temporären Untergruppen<br />
kommen (Kerth et al. 2006). In jedem Fall müssen aber Verhaltensmechanismen<br />
existieren, mit deren Hilfe Entscheidungen auf Gruppenebene<br />
unter anderem darüber herbeigeführt werden, welche Aktivitäten<br />
ausgeführt werden, wann andere Aktivitäten aufgenommen werden (Côté<br />
et al. 1997) und in welche Richtung sich eine Gruppe bewegt (Byrne<br />
2000).<br />
Die Vielfältigkeit und Bedeutung von Gruppenentscheidungen (communal<br />
decisions) lassen sich an einigen Beispielen verdeutlichen. Wenn<br />
Honigbienen (Apis mellifera) eine neue Unterkunft für ihr Volk suchen,<br />
werden potentielle neue Quartiere von einzelnen scouts inspiziert (Seeley<br />
u. Buhrman 1999). Diese übermitteln die gewonnenen Informationen zurück<br />
an das Volk, welches daraufhin in eines der möglichen neuen Quartiere<br />
umsiedelt (Seeley u. Visscher 2004). Dabei übermitteln die scouts<br />
ihre Informationen mit Hilfe des Bienentanzes, mit dem ansonsten Nahrungsquellen<br />
angezeigt werden. Jeder scout besucht normalerweise nur ein<br />
potentielles neues Quartier (Camazine et al. 1999), erfasst bestimmte Aspekte<br />
davon und „wirbt“ mit einer Intensität des Tanzes dafür, die seinem<br />
„Enthusiasmus“ entspricht, wobei die Intensität des Tanzes im Laufe der<br />
Zeit linear abnimmt (Seeley 2003); es findet also keine Entscheidung zwischen<br />
Alternativen durch einzelne scouts statt. Bienen, die diese Information<br />
nutzen, inspizieren das vorgeschlagene Quartier und werben nach ihrer<br />
Rückkehr ebenfalls dafür; es kommt dadurch zur parallelen<br />
Verstärkung von Tänzen zu Gunsten verschiedener Quartiere. Zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt kommt es dann dazu, dass die scouts ihre Tänze einstellen,<br />
stattdessen ein Aufbruchsignal (piping signal) geben und der<br />
Schwarm geschlossen zu einem der möglichen neuen Quartiere aufbricht<br />
(Visscher u. Seeley 2007). Der Prozess, der zu dieser Entscheidung führt,<br />
besteht offenbar nicht darin, einen Konsensus herzustellen, sondern dem<br />
scheint ein Quorum zu Grunde zu liegen (Seeley u. Visscher 2004).<br />
In den Kolonien eusozialer Insekten gibt es auch andere Funktionen und<br />
Mechanismen für Gruppenentscheidungen (Anderson u. Franks 2001). So<br />
entscheiden in Kolonien mit multiplen Königinnen die Arbeiterinnen beispielsweise<br />
darüber, welche und wie viele Individuen als neue Königinnen
11.3 Sozialstruktur 537<br />
herangezogen werden (Tarpy u. Gilley 2004). Manche Ameisen (z. B. Leptothorax<br />
albipennis) entscheiden auf Kolonieebene darüber, welcher Ort<br />
für ein neues Nest am besten geeignet ist, allerdings mit anderen Mechanismen<br />
als Honigbienen: Sie legen entweder mit Duftstoffen eine Straße<br />
für ihre Genossinnen oder geleiten (tandem running) bzw. tragen sie persönlich<br />
zu einem möglichen neuen Nest (Mallon et al. 2001). Dabei kann<br />
auch über ein Quorum eine Entscheidung für ein neues Nest herbeigeführt<br />
werden (Pratt et al. 2002). Auch bei baumlebenden Ameisen (Oecophylla<br />
spp.), die aus ihren Körpern Ketten bilden, um Zwischenräume zu überbrücken,<br />
entscheidet die Anzahl der Individuen, die sich an einer von zwei<br />
Ketten beteiligen, darüber, welche Kette letztendlich von allen weitergebaut<br />
und benutzt wird (Lioni u. Deneubourg 2004).<br />
Fisch- oder Vogelschwärme, die zum Teil Millionen von Individuen<br />
umfassen, müssen die Richtung und Dauer ihrer Gruppenbewegungen koordinieren,<br />
um den gegensätzlichen Anforderungen von Nahrungssuche<br />
und Prädationsvermeidung gerecht zu werden. Diese Schwärme sind in der<br />
Regel so groß, dass die Mitglieder sich nicht individuell erkennen, nicht<br />
wissen, welche Individuen entscheidende Informationen besitzen, und es<br />
keine Rekrutierungssignale gibt (Couzin et al. 2005). Deren Zusammenhalt<br />
sowie die geordnete Bewegung des gesamten Schwarmes werden durch<br />
einfache Regel der Selbstorganisation, wie „halte einen bestimmten Abstand<br />
zu deinem Nachbarn ein“, koordiniert (Abb. 11.14; Hemelrijk 2002).<br />
Bei Wanderheuschrecken reicht das Erreichen einer bestimmten Mindest-<br />
Abb. 11.14. Koordination der Gruppenbewegung eines Raupenschwarms. Hunderte<br />
Individuen einer madagassischen Raupe bewegen sich als koordinierter<br />
Schwarm, wobei dessen Zusammenhalt vermutlich durch einfache Regeln der<br />
Selbstorganisation gewährleistet wird
538 11 Sozialsysteme<br />
größe, um eine geordnete Bewegung des gesamten Schwarmes herbeizuführen<br />
(Buhl et al. 2006).<br />
Innerhalb von Gruppen kann es im Rahmen von Aufgabenteilung auch<br />
dazu kommen, dass die Aktivität von Untergruppen einer bestimmten Koordination<br />
bedarf. Bei Schimpansen (Pan troglodytes) bilden sich beispielsweise<br />
regelmäßig Untergruppen, die Stummelaffen jagen. Zwischen<br />
den beteiligten Individuen muss ebenfalls eine Entscheidung über den<br />
Zeitpunkt der nächsten Jagd, die Identität der Beute sowie die Rollenverteilung<br />
zwischen den Jägern getroffen werden (Boesch 1994). Kooperativ<br />
jagende Schimpansen übernehmen dabei unterschiedliche Rollen, was ein<br />
Höchstmaß an Koordination sowie mehr als 20 Jahre Erfahrung bis zur<br />
Perfektion erfordert (Boesch 2002). Ähnliche Formen des kooperativen<br />
Jagens finden sich auch bei manchen sozialen Karnivoren (Löwen, Wildhunde:<br />
Packer u. Ruttan 1988) und bei Delfinen (Gazda et al. 2005).<br />
Wenn die Koordination auf Gruppenebene mit Vorteilen verbunden ist,<br />
profitieren die betroffenen Individuen davon, Entscheidungen gemeinsam<br />
zu treffen. Die Mechanismen der Entscheidungsfindung auf Gruppenebene<br />
stellen das Kernstück sozialer Kommunikation dar. Prinzipiell können<br />
gemeinsame Entscheidungen demokratisch, despotisch oder durch<br />
Mechanismen der Selbstorganisation herbeigeführt werden (Conradt u.<br />
Roper 2003). Dabei können eher passive Signale, wie individuelles Blicken,<br />
Ausrichten oder Bewegen in eine bestimmte Richtung, Grundlage<br />
einer Entscheidung sein (Conradt u. Roper 2003). Akustische Signale können<br />
zusätzliche und komplexere Informationen zur Beeinflussung von<br />
Gruppenmitgliedern übertragen (Trillmich et al. 2004). Bei sich selbst organisierenden<br />
Systemen kann es ausreichend sein, einen bestimmten konstanten<br />
Abstand zu seinen Nachbarn einzuhalten. In allen Fällen handelt es<br />
sich letztendlich um Entscheidungen einzelner Individuen, eine bestimmte<br />
Aktivität aufzunehmen oder sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen.<br />
Die Kriterien demokratischer Mechanismen sind noch wenig verstanden<br />
(Conradt u. Roper 2007). Despotische Entscheidungen einzelner Gruppenmitglieder<br />
könnten auf intrinsischen Qualitäten der betreffenden Individuen<br />
oder auf einem Informationsvorsprung basieren. In welchen Arten,<br />
unter welchen kognitiven Voraussetzungen und bei welchen interindividuellen<br />
Asymmetrien welche Prozesse möglich und vorteilhaft sind,<br />
wurde aber noch nicht systematisch untersucht.<br />
11.3.3 Konkurrenz<br />
Interessenskonflikte zwischen Individuen über die Maximierung ihrer inklusiven<br />
Fitness sind eine unvermeidliche Konsequenz des Lebens in
11.3 Sozialstruktur 539<br />
Gruppen. Individuen konkurrieren ständig um Nahrung, um oder mit Fortpflanzungspartnern<br />
oder um elterliche Fürsorge. Im Rahmen dieser Konflikte<br />
versuchen Individuen, das Verhalten anderer zu ihren Gunsten zu<br />
manipulieren. Der Ausgang dieser Konflikte wird meist durch Asymmetrien<br />
in der individuellen Wettbewerbsfähigkeit bestimmt, welche zur<br />
Ausbildung von Dominanzbeziehungen führen, die ihrerseits den Zugang<br />
zu Ressourcen und die Kontrolle von Fortpflanzungsmöglichkeiten regeln.<br />
Durch ritualisierte Dominanzbeziehungen werden Konflikte zwar proximat<br />
entschärft, aber die Ursachen der Konflikte nicht beseitigt. Konkurrenz<br />
und Konflikt verursachen daher zentrifugale soziale Kräfte, die eine Auflösung<br />
von Gruppen fördern. Dem stehen die Vorteile des Gruppenlebens<br />
entgegen, insbesondere diejenigen, die das Prädationsrisiko senken. Gerade<br />
wenn das Leben in Gruppen durch ökologische Zwänge erzwungen<br />
wird, ist zu erwarten, dass soziale Mechanismen zur Konfliktlösung entstanden<br />
sind, welche die Kosten der Konkurrenz reduzieren.<br />
(1) Konkurrenz und Sozialstruktur. Das sozioökologische Modell liefert<br />
nicht nur Vorhersagen darüber, wie sich Männchen und Weibchen im<br />
Raum verteilen ( Kap. 11.1), sondern auch darüber, wie ökologische<br />
Faktoren und Verwandtschaftsmuster zusammenwirken, um Diversität in<br />
sozialen Strukturen zu generieren. Diese Zusammenhänge wurden besonders<br />
intensiv an Primaten untersucht.<br />
Eine auffällige Beobachtung über die soziale Struktur von Primaten betrifft<br />
deren Variabilität zwischen nahverwandten Arten mit vergleichbarer<br />
sozialer Organisation. Zwei zum Verwechseln ähnliche Arten südamerikanischer<br />
Totenkopfaffen (Abb. 11.15) leben zum Beispiel in Gruppen aus<br />
Abb. 11.15. Peruanische (Saimiri sciureus, links) und Costa-Ricanische Totenkopfaffen<br />
(S. oerstedii) haben ähnliche Größe und Habitus, aber grundverschiedene<br />
Sozialstrukturen
540 11 Sozialsysteme<br />
mehreren Männchen und Weibchen, besitzen aber völlig unterschiedliche<br />
Sozialstrukturen (Mitchell et al. 1991). Bei Peruanischen Totenkopfaffen<br />
(Saimiri sciureus) existieren klare, stabile Dominanzbeziehungen zwischen<br />
den Weibchen, die außerdem häufig untereinander Koalitionen bilden und<br />
philopatrisch sind. Bei der Schwesterart aus Costa Rica (Saimiri oerstedii)<br />
gibt es dagegen keine erkennbaren Dominanzstrukturen und Koalitionen,<br />
und die meisten Weibchen wandern aus ihrer Geburtsgruppe ab. Ein detaillierter<br />
Vergleich ihrer Ökologie ergab, dass sich ihre Körper- und Gruppengröße,<br />
Populationsdichten und Prädationsrisiken nicht unterscheiden<br />
(Mitchell et al. 1991). Der einzige auffällige Unterschied betrifft die Verteilung<br />
ihrer Nahrung im Raum. Peruanische Totenkopfaffen nutzen große<br />
Ressourcen wie Feigenbäume, die gut zu verteidigen sind, wohingegen die<br />
Art aus Costa Rica hauptsächlich in kleinen Baumkronen mit einigen wenigen<br />
Früchten fressen, deren Verteidigung sich offensichtlich nicht lohnt.<br />
Diese Unterschiede in der Hauptnahrungsquelle resultieren in unterschiedlichen<br />
Wettbewerbsformen um Nahrung, die ihrerseits zu unterschiedlichen<br />
Sozialstrukturen führen.<br />
Das kompetitive Regime einer Gruppe oder Population wird von<br />
Eigenschaften der Nahrungsressourcen wie deren Größe, räumlicher Verteilung<br />
und Verteidigbarkeit bestimmt und hat zwei distinkte Komponenten:<br />
Ausbeutungs- und Interferenzkonkurrenz ( Kap. 5.4). Beide Formen<br />
der Konkurrenz können sowohl innerhalb als auch zwischen Gruppen auftreten.<br />
Die Rahmenbedingungen dieser möglichen kompetitiven Regimes<br />
werden von drei nicht voneinander unabhängigen Variablen moduliert:<br />
Philopatrie, Nepotismus und Despotismus, aus deren Kombination sich<br />
vier realistische Fälle konstruieren lassen (Sterck et al. 1997). In Residenten-Nepotisten-Gruppen<br />
sind die Weibchen philopatrisch, unterstützen ihre<br />
Verwandten und kooperieren mit ihnen, und sie haben despotische Dominanzbeziehungen<br />
als Folge intensiver Interferenzkonkurrenz innerhalb der<br />
Gruppe. In Emigranten-Egalitaristen-Gruppen wechseln die Weibchen<br />
zwischen Gruppen, bilden keine agonistischen Allianzen und kooperieren<br />
auch nicht in anderen Kontexten miteinander; außerdem existieren keine<br />
stabilen, linearen Dominanzhierarchien aufgrund der vorherrschenden<br />
schwachen Ausbeutungskonkurrenz innerhalb der Gruppe. Wenn die Nahrungskonkurrenz<br />
zwischen Gruppen intensiv ist, kommt es dagegen zur<br />
Bildung von Residenten-Egalitaristen-Gruppen, die durch weibliche Philopatrie<br />
sowie das Fehlen von Dominanzbeziehungen und kooperativem<br />
Verhalten charakterisiert sind. Wenn schließlich die Nahrungskonkurrenz<br />
sowohl innerhalb als auch zwischen Gruppen ausgeprägt ist, bilden sich<br />
tolerante Residenten-Nepotisten-Gruppen, die durch weibliche Philopatrie,<br />
klare Dominanzbeziehungen, kooperatives Verhalten und Toleranz der<br />
Dominanten gegenüber den Subordinaten charakterisiert sind.
11.3 Sozialstruktur 541<br />
(2) Mechanismen der Konfliktlösung. Die Art und Weise, wie Konflikte<br />
zwischen Gruppenmitgliedern gelöst werden, ist noch vergleichsweise wenig<br />
verstanden. Für vier Mechanismen gibt es mehrere Hinweise: Bestechung,<br />
Zwang, Bestrafung und Versöhnung.<br />
Für niederrangige Tiere kann durch die Benachteiligung in Konkurrenzsituationen<br />
ein Selektionsdruck entstehen, die Gruppe zu verlassen, um<br />
anderswo ihre Situation zu verbessern. Wenn Dominante in größeren<br />
Gruppen mehr vom Gruppenleben profitieren, sollte es in ihrem Interesse<br />
liegen, dass die Subordinaten bleiben. Das heißt, bei der Lösung von Konflikten<br />
zwischen Dominanten und Subordinaten gehen auch individuelle<br />
Kosten-Nutzen-Bilanzen der Dominanten mit ein, so dass Konflikte nicht<br />
einfach despotisch gelöst werden können. Daher ist es denkbar, dass es<br />
zwischen den Beteiligten zu Kompromissen kommt, bei denen Dominante<br />
von ihnen gewünschtes Verhalten bei Subordinaten durch Zugeständnisse<br />
auslösen. Vereinbarungen zwischen Individuen zur Vermeidung eskalierender<br />
Konflikte können auf einem Belohnungssystem mit reziprokem Altruismus<br />
beruhen, das man als Bestechung bezeichnen kann. Diese Anreize<br />
bestehen meist in der Gewährung von limitierten Fortpflanzungsmöglichkeiten,<br />
da es allen Beteiligten bei Konflikten letztendlich um deren Maximierung<br />
geht. Diese Anreize werden als Bleibe- und Friedensanreize (stay<br />
and peace incentives) bezeichnet und wurden bislang vor allem bei eusozialen<br />
Arten im Rahmen von Reproductive-skew-Problemen dokumentiert<br />
( Kap. 9.7).<br />
Mit Belästigung (harassment) und Bestrafung (punishment) stehen prinzipiell<br />
zwei Verhaltensmechanismen zur Verfügung, mit deren Hilfe das<br />
Verhalten von Artgenossen durch Zwang manipuliert wird. Durch sexuelle<br />
Belästigung oder Nötigung können beispielsweise Männchen Weibchen zu<br />
Kopulationen veranlassen; ein für die Weibchen nachteiliges oder kostenträchtiges<br />
Verhalten, das aber den Männchen nützt ( Kap. 9.8). Durch<br />
die für die Beteiligten unterschiedlichen Interessen und Zwänge sind die<br />
Voraussetzungen für einen Zermürbungskrieg zwischen den Geschlechtern<br />
gegeben (Hammerstein u. Parker 1982). Es geht dabei um die Frage, ob die<br />
Männchen mit der Belästigung aufhören, bevor die Weibchen nachgeben,<br />
oder umgekehrt. Der Ausgang dieses Konflikts hängt vor allem von den<br />
Weibchen ab, da die Männchen in der Regel sehr viel größere potentielle<br />
Nutzen und geringere Kosten haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass<br />
es in den meisten Fällen zu erzwungenen Kopulationen kommt und Männchen<br />
auf diese Weise diesen Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden können<br />
(Clutton-Brock u. Parker 1995a).<br />
Im Fall von Belästigung gibt es zunächst für beide Beteiligten Kosten,<br />
die aber für Dominante später auf Kosten der Subordinaten mehr als ausgeglichen<br />
werden. Im Fall der Bestrafung kompliziert sich die Situation
542 11 Sozialsysteme<br />
durch eine zusätzliche Interaktion. Hier gibt es zunächst eine Situation<br />
oder Interaktion, die dem Subordinaten nützt und dem Dominanten schadet.<br />
Dieser reagiert darauf mit der eigentlichen Bestrafung, die für beide<br />
mit Kosten verbunden ist, wobei die Kosten für Subordinate aber viel größer<br />
sind. Diese boshafte Interaktion hat zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit,<br />
mit welcher Subordinate die für Dominante nachteilige Aktion<br />
wiederholen, stark reduziert wird (Clutton-Brock u. Parker 1995b). Damit<br />
entsteht Dominanten durch Bestrafung ein Gewinn oder zumindest kein<br />
weiterer Verlust. Belästigung und Bestrafung führen also zu derselben Reaktion<br />
des Opfers. Sie unterscheiden sich aber darin, dass Belästigung für<br />
Dominante mit größeren Kosten verbunden ist als Bestrafung, da letztere<br />
oft schon mit Drohungen funktioniert, besonders bei wiederholten Interaktionen.<br />
Außerdem kann die Wirkung von Bestrafung theoretisch durch<br />
einen Zuschauereffekt potenziert werden.<br />
Es gibt einige Beispiele für den Einsatz von Bestrafung in verschiedenen<br />
Kontexten. Bei der Etablierung von Dominanzbeziehungen zwischen<br />
zwei Tieren kommt es oft zunächst zu einem Austausch von Aggression<br />
und Drohungen, bis einer die dominante Position des anderen anerkennt.<br />
Danach reichen meist zufällig verteilte Drohungen, um das Verhalten von<br />
Subordinaten zu kontrollieren (Silk 2002a). Von Zeit zu Zeit sollten Subordinate<br />
aber testen, ob sie die Beziehung zu ihren Gunsten wenden können.<br />
Solche nicht erfolgreichen Versuche haben oft erhöhte Aggression<br />
durch Dominante zur Folge, die als Bestrafung angesehen werden können.<br />
Aggressive Interaktionen zwischen jungen Blaufußtölpeln (Sula nebouxii)<br />
wurden beispielsweise in dieser Weise interpretiert (Drummond et al.<br />
2003). Bei der Ameise Dinoponera quadriceps lässt das Alpha-Weibchen<br />
Herausforderinnen durch andere Arbeiterinnen bestrafen, indem sie die<br />
Rivalin mit einer Substanz markiert, die bei den anderen Koloniemitgliedern<br />
Aggression auslöst (Monnin et al. 2002). Bei Mantelpavianen (Papio<br />
hamadryas) werden Weibchen, die sich zu weit von ihrem Haremshalter<br />
entfernen, von ihm mit einem Nackenbiss zurückgetrieben (Kummer<br />
1968). Bei Blässhühnern (Fulica atra) werden Junge, welche die Eltern<br />
beim Jagen nach Insekten durch ihr Bettelverhalten stören, dadurch bestraft,<br />
dass sie geschnappt und geschüttelt werden. Die Bestrafungsrate ist<br />
dabei negativ mit der Fütterungsrate korreliert, d. h. wer viel bestraft wird,<br />
bekommt auch weniger zu fressen (Leonard et al. 1988).<br />
Es gibt auch Beispiele für Täuschung zwischen Artgenossen, bei der falsche<br />
Signale ausgesendet oder erwartete Verhaltensweisen unterlassen<br />
werden. Wenn Betrüger entdeckt werden, ist Bestrafung möglich. Beispielsweise<br />
signalisieren Rhesusaffen (Macaca mulatta) das Finden von<br />
Nahrung mit spezifischen Lauten an ihre Gruppenmitglieder, wobei diese<br />
Rufe auch unterdrückt werden können. In einem Experiment präsentierte
11.3 Sozialstruktur 543<br />
Hauser (1992) einzelnen Tieren am Rand der Gruppe ein begehrtes Futter.<br />
In 45% der Versuche rief das betreffende Tier Gruppenmitglieder herbei.<br />
In insgesamt 92% der Versuche wurde das Tier aber entdeckt, worauf es<br />
meist zu aggressiven Auseinandersetzungen um das Futter kam. Tiere, die<br />
nicht gerufen hatten, waren dabei sehr viel mehr Aggression ausgesetzt als<br />
Rufer.<br />
Durch Bestrafung kann auch Kooperation eingefordert werden. Beim<br />
australischen Prachtstaffelschwanz (Malurus cyaneus) bleiben bis zu drei<br />
subadulte Männchen bei einem Brutpaar und helfen bei der Revierverteidigung<br />
und beim Füttern ihrer Geschwister. Das brütende Männchen ist<br />
dominant über alle anderen und aggressive Interaktionen sind normalerweise<br />
sehr selten. Mulder u. Langmore (1993) haben Helfer zu verschiedenen<br />
Phasen des Fortpflanzungszyklus gefangen und für 24 h festgehalten.<br />
Wenn dies außerhalb der Paarungszeit geschah, wurden die Helfer am<br />
nächsten Tag wieder problemlos in die Gruppe aufgenommen. Während<br />
der Paarungs-, Brut- und Futterphase wurde aber mehr als die Hälfte der<br />
heimkehrenden Helfer vom adulten Männchen minutenlang gejagt und attackiert.<br />
Dieses Verhalten kann als Bestrafung der Abwesenheit interpretiert<br />
werden, da dem dominanten Männchen dadurch erhebliche Kosten<br />
entstehen. Zusätzliche Beobachtungen zeigten nämlich, dass die Fütterungsaktivität<br />
der Helfer die Fütterungsrate des Männchens, aber nicht die<br />
des Weibchens, reduziert (Mulder et al. 1994). Wenn Männchen mehr Zeit<br />
mit Füttern verbringen müssen, haben sie weniger Zeit für andere Aktivitäten,<br />
vor allem Paarungen mit Nachbarinnen, die in dieser Zeit sehr häufig<br />
und erfolgreich sind, was wiederum die Bestrafung erklärt. Theoretische<br />
Modelle unterstützen die Annahme, dass Helfen durch Nötigung und Bestrafung<br />
stabilisiert werden kann (Crespi u. Ragsdale 2000).<br />
Die aus Konflikten und Aggressionen stammenden Spannungen zwischen<br />
Individuen können schließlich auch durch Versöhnung (reconciliation)<br />
nach Konflikten beseitigt werden. Über deren Existenz und Funktion<br />
wissen wir vor allem aus Untersuchungen an Primaten (de Waal 2000).<br />
Nach einer agonistischen Interaktion zwischen zwei Individuen kann sich<br />
die Wahrscheinlichkeit für weitere Aggression zwischen den Kontrahenten<br />
erhöhen, und der Empfänger von Aggression kann ökologische und physiologische<br />
Kosten in Form von reduzierter Nahrungsaufnahme, Verdrängung<br />
in Randbereiche der Gruppe oder emotionaler Erregung erfahren. In<br />
dieser Situation können affiliative Interaktionen zwischen ehemaligen<br />
Gegnern diese negativen Effekte abmildern. Bei Schimpansen (Pan troglodytes)<br />
wurde erstmals beobachtet, dass vormalige Gegner sich nicht vermeiden,<br />
sondern häufig unmittelbar nach einem Konflikt zusammenkommen<br />
und sich groomen oder umarmen (de Waal u. van Roosmalen<br />
1979). Diese Interaktionen werden funktional als Versöhnung interpretiert.
544 11 Sozialsysteme<br />
Eine signifikante Erhöhung der Häufigkeit solcher freundlicher Interaktionen<br />
in den ersten Minuten nach Konflikten, im Vergleich zu Kontrollsituationen<br />
ohne vorausgehende Aggression zwischen denselben Tieren,<br />
wurde mittlerweile bei zahlreichen Arten nachgewiesen (Aureli et al.<br />
2002).<br />
Dass Versöhnung auch tatsächlich als solche funktioniert, zeigten Vergleiche<br />
der Häufigkeiten, mit denen sich Opfer von Aggression nach<br />
einem Konflikt selbst kratzen. Dieses Verhalten ist ein Indikator für innere<br />
Anspannung. Nach Versöhnungen sind diese Raten deutlich geringer als<br />
nach Konflikten ohne Versöhnung (Das et al. 1998). Nach Versöhnung<br />
steigt auch die Toleranz zwischen früheren Kontrahenten messbar an<br />
(Cords 1992). Allerdings werden nie 100% der Konflikte von Versöhnung<br />
gefolgt, so dass Merkmale der individuellen Beziehung betrachtet werden<br />
müssen, um diese Variabilität zu verstehen.<br />
11.3.4 Kooperation<br />
Evolution durch natürliche Selektion basiert primär auf der Bewertung von<br />
interindividuellen Unterschieden in kompetitiven Fähigkeiten. Diejenigen<br />
Individuen, die Artgenossen beim Wettbewerb um Ressourcen und Paarungspartner<br />
übertreffen, erzielen eine höhere Fitness als weniger erfolgreiche<br />
Individuen. Es ist daher zunächst verwunderlich, dass es auch Verhaltensweisen<br />
gibt, die anderen Artgenossen Vorteile verschaffen. Solche<br />
kooperativen Verhaltensweisen lassen sich in Bezug auf ihre Konsequenzen<br />
für den Akteur und Empfänger klassifizieren. Wenn Kooperation Vorteile<br />
für beide Beteiligte bringt, handelt es sich um Mutualismus. Wenn<br />
dadurch für den Akteur Kosten entstehen, liegt Altruismus vor; wenn die<br />
beiden Individuen miteinander verwandt sind, spricht man von Nepotismus.<br />
Kooperation ist dabei der übergeordnete Begriff für alle Merkmale<br />
und Verhaltensweisen, die für andere vorteilhaft sind.<br />
Schon Darwin (1859) bereitete es erhebliches Kopfzerbrechen, dass die<br />
Kolonien der Ameisen-, Bienen- und Wespen zum größten Teil aus sterilen<br />
Individuen bestehen. Diese Form der Selbstaufopferung war für ihn<br />
nicht mit den Prinzipien der Theorie der natürlichen Selektion vereinbar.<br />
Er versuchte diesen Schwachpunkt seiner Theorie – den altruistischen<br />
Verzicht auf eigene Fortpflanzung – damit zu erklären, dass die sterilen<br />
Arbeiterinnen anderen Familienmitgliedern helfen sich fortzupflanzen und<br />
so ein irgendwie gearteter Vorteil auf der Familienebene entsteht, der die<br />
Sterilität mehr als kompensiert. Da ihm Wissen über die genetischen<br />
Grundlagen dieses Altruismus fehlte, konnte Darwin allerdings keine wirklich<br />
stichhaltige Erklärung dieses Phänomens liefern.
11.3 Sozialstruktur 545<br />
Kooperation kann in Form einzelner Verhaltensweisen auftreten, sich<br />
aber auch in langfristigen Taktiken manifestieren. Die bekanntesten Beispiele<br />
für kooperatives Verhalten liefern neben dem Verzicht auf eigene<br />
Fortpflanzung Alarmrufe, agonistische Unterstützung (Koalitionen), gegenseitiges<br />
Lausen, Teilen von Nahrung, gemeinsames Jagen und Verteidigen<br />
von Ressourcen oder Territorien (Clutton-Brock 2002). Kooperation<br />
findet sich aber auch auf anderen Ebenen biologischer Ordnung, bei denen<br />
das Verhalten keine Rolle spielt (Hammerstein 2003). Erklärungen für kooperative<br />
Verhaltensweisen zu finden, die nicht auf Gruppenselektion beruhen,<br />
war im historischen Rückblick die wichtigste Antriebsfeder der<br />
Entwicklung der modernen Soziobiologie. Heute existieren drei Antworten<br />
auf die Frage, wie Kooperation im Laufe der Evolution entstehen konnte:<br />
Verwandtenselektion, reziproker Altruismus und Mutualismus.<br />
Wenn altruistisches Verhalten zwischen verwandten Tieren auftritt,<br />
kann es durch Verwandtenselektion elegant erklärt werden (Hamilton<br />
1964). Bei Verhaltensweisen, durch die Verwandten geholfen wird, fallen<br />
die daraus resultierenden Vorteile, gewichtet nach dem jeweiligen<br />
Verwandtschaftskoeffizienten, auch indirekt auf den Altruisten zurück<br />
und können dessen Kosten mehr als kompensieren (Hamiltons Regel,<br />
Kap. 10.4). Da Verwandte häufig zusammen leben und daher viele Interaktionen<br />
zwischen Verwandten stattfinden, ist es nicht verwunderlich,<br />
dass sich darunter auch viele altruistische Interaktionen befinden. Man<br />
kann daraus aber umgekehrt nicht schließen, dass alle Interaktionen zwischen<br />
Verwandten nepotistisch sind; Verwandte konkurrieren sehr wohl<br />
auch miteinander (West et al. 2002; Kap. 10.3)! Außerdem können Verwandte<br />
auch Mutualismus oder Reziprozität an den Tag legen (Clutton-<br />
Brock 2002), so dass kooperatives Verhalten zwischen Verwandten nicht<br />
automatisch als Hinweis auf das Wirken von Verwandtenselektion angesehen<br />
werden kann.<br />
Reproduktiver Altruismus in eusozialen Gesellschaften und anderen<br />
Helfersystemen liefert die herausragenden Beispiele dafür, dass altruistisches<br />
Verhalten durch Verwandtenselektion entsteht und stabilisiert werden<br />
kann ( Kap. 10.4). Alarmrufe ( Kap. 6.3) stellen ein anderes Beispiel<br />
dafür dar, dass Tiere Risiken und Kosten auf sich nehmen, wenn sie<br />
dadurch Verwandten einen Vorteil verschaffen können. Bei Primaten unterstützen<br />
sich Verwandte auch häufig gegenseitig in agonistischen Auseinandersetzungen<br />
mit Dritten, was zu einem höheren Lebensfortpflanzungserfolg<br />
beiträgt (Silk et al. 2003). Koalitionen zwischen verwandten<br />
Männchen dienen bei Truthähnen (Meleagris gallopavo: Krakauer 2005),<br />
Delfinen (Tursiops spp.: Krützen et al. 2003) und Schimpansen (Pan<br />
troglodytes: Watts u. Mitani 2001) auch dazu, Weibchen zu verteidigen.
546 11 Sozialsysteme<br />
Wichtige proximate Grundlage für Verwandtenselektion ist die Fähigkeit,<br />
Verwandte zu erkennen ( Kap. 9.2), wobei Verwandtenerkennung<br />
und Nepotismus aber unabhängig voneinander entstehen können (Mateo<br />
2002). Arbeiterinnen der Schwarzen Sklavenameise (Formica fusca) können<br />
in Kolonien mit mehreren Königinnen die mit ihnen am nächsten verwandten<br />
Geschwister erkennen und selektiv pflegen (Hannonen u. Sundström<br />
2003). Bei Rabenkrähen (Corvus corone) helfen nicht nur die<br />
eigenen Nachkommen bei der Aufzucht weiterer Geschwister, sondern<br />
auch Immigranten, die sich gezielt Verwandten anschließen (Baglione<br />
et al. 2003). Bei Schwanzmeisen (Aegithalos caudatus) konnte gezeigt<br />
werden, dass Helfer bei der Jungenaufzucht ihre Verwandten an erlernten<br />
Details ihrer Kontaktrufe erkennen (Sharp et al. 2005). In Primatengruppen,<br />
in denen zahlreiche Verwandte unterschiedlichsten Grades zusammenleben<br />
und Individuen daher unterschiedliche Verwandtschaftskoeffizienten<br />
erkennen und berücksichtigen müssen, scheint ein r von 0,125 eine<br />
kritische Schwelle darzustellen, jenseits derer Altruismus nur selten auftritt<br />
(Chapais et al. 2001).<br />
Kooperation zwischen nicht miteinander verwandten Tieren stellt ein<br />
größeres Erklärungsproblem dar (Dugatkin 2002). Robert Trivers (1971)<br />
hatte die genial einfache Einsicht, dass Kooperation zwischen Nicht-<br />
Verwandten durch reziproken Altruismus erklärt werden kann, wenn die<br />
Beteiligten regelmäßig miteinander interagieren und dabei die Rollen des<br />
Altruisten und Empfängers getauscht werden. Durch die Reziprozität werden<br />
die Kosten langfristig durch die Vorteile mehr als kompensiert. Dieser<br />
Mechanismus der Kooperation ist besonders bei langlebigen Tieren zu<br />
erwarten, da es bei ihnen im Verlauf des Lebens mehr Gelegenheiten für<br />
reziproke Interaktionen gibt. Stabile Gruppenzusammensetzung und individuelles<br />
Erkennen sind die einzigen anderen Voraussetzungen von Reziprozität.<br />
Im Unterschied zu Mutualismus existiert bei Reziprozität eine<br />
zeitliche Verzögerung zwischen dem „Geben“ und „Nehmen“. Wenn diese<br />
Zeitdifferenz sich Null annähert, wird aus Reziprozität Mutualismus (Stephens<br />
et al. 2002).<br />
Reziprozität ist Inhalt zahlreicher theoretischer Untersuchungen im Rahmen<br />
des Gefangenendilemmas (prisoner’s dilemma: Axelrod u. Hamilton<br />
1981), dem Paradebeispiel der Spieltheorie. Dabei handelt es sich um eine<br />
hypothetische Situation, in der zwei Individuen (Spieler) die Wahl haben,<br />
mit dem anderen zu kooperieren oder ihn zu betrügen. Dabei sind die Vorund<br />
Nachteile beider Strategien so gewichtet, dass es für beide vorteilhaft<br />
ist, zu betrügen, wenn es nur eine Interaktion gibt (one shot game,<br />
Abb. 11.16). Wenn es allerdings wiederholte Interaktionen gibt (iterated<br />
game), kann es aufgrund von Reziprozität zu stabiler Kooperation kommen.<br />
Die in diesem Fall evolutionär stabile Strategie (ESS; Kap. 1.4)
11.3 Sozialstruktur 547<br />
Abb. 11.16. Das Gefangenendilemma-Spiel. Jeder der beiden Spieler hat die<br />
Wahl, mit dem anderen zu kooperieren oder ihn zu betrügen. Wenn beide kooperieren,<br />
werden beide belohnt (R: Reward). Wenn beide betrügen, werden beide bestraft<br />
(P: Punishment). Wenn Spieler 1 kooperiert und Spieler 2 betrügt, wird<br />
Spieler 1 maximal bestraft (S: Sucker’s payoff). Wenn Spieler 1 betrügt und Spieler<br />
2 kooperiert, wird Spieler 1 maximal belohnt (T: Temptation to cheat). Wenn<br />
T > R > P > S, dann sollte keiner kooperieren, obwohl die Belohnung dafür, wenn<br />
sie es beide tun, größer ist, als wenn beide betrügen<br />
besteht darin, im ersten Schritt zu kooperieren und in allen folgenden Runden<br />
den vorhergehenden Zug des Gegenübers zu kopieren. Diese Strategie<br />
des „Wie-du-mir-so-ich-dir“ wurde als „tit-for-tat“ bekannt (Axelrod u.<br />
Hamilton 1981).<br />
Diese Situation des einfachen Spiels ist allerdings so künstlich, dass sie<br />
in der biologischen Realität selten hilft, das Verhalten von Tieren zu erklären<br />
(de Waal 2005). Das größte Problem mit dem Versuch, Kooperation<br />
zwischen Tieren mit dem wiederholten Gefangenendilemma zu erklären,<br />
besteht darin, dass es nur einen Aspekt einer Interaktion berücksichtigt,<br />
nämlich Entscheidungen in Abhängigkeit vom Verhalten anderer in früheren<br />
Interaktionen. Dieser Mechanismus kann unter bestimmten experimentellen<br />
Bedingungen durchaus zum Tragen kommen; so helfen Ratten (Rattus<br />
norvegicus) eher denjenigen Artgenossen, von denen ihnen selbst<br />
schon geholfen wurde (Rutte u. Taborsky 2008). Unter natürlichen Bedingungen<br />
bleibt dabei aber außer Acht, dass Tiere die Partner wählen, mit<br />
denen sie interagieren, dass sie sich in ihrer Bereitschaft zu kooperieren<br />
unterscheiden und dass die Verteilung von Vor- und Nachteilen flexibel<br />
sein kann. Daher bietet biologische Markttheorie einen Erklärungsansatz,<br />
der Tieren die Wahl ihrer Interaktionspartner und den Inhalt ihrer Interaktionen<br />
gewissermaßen freistellt (Noë et al. 1991).<br />
Außerdem kommunizieren Tiere miteinander, bevor sie sich auf kostspielige<br />
Kooperationen einlassen. Sie scheinen auch den Wert bestimmter<br />
Leistungen der Nachfrage anzupassen, so dass die Kosten und Nutzen
548 11 Sozialsysteme<br />
situationsbedingt angepasst werden (Henzi et al. 2003). Schließlich scheinen<br />
zumindest Primaten nicht nur isolierte Interaktionen zu betrachten,<br />
sondern die Kosten-Nutzen-Bilanz einer Interaktion wird im Rahmen exis-<br />
Box 11.3<br />
Reziproker Altruismus beim Hassen<br />
• Frage: Kann das gemeinsame Hassen ( Kap. 6.3) eines Raubfeindes<br />
durch reziproken Altruismus erklärt werden?<br />
• Hintergrund: Wenn zwei Tiere kooperieren und gemeinsam hassen,<br />
können sie einen Räuber eher vertreiben. Wird das erste Individuum aber<br />
nicht durch andere unterstützt hat es ein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Benachbarte<br />
Tiere befinden sich daher in dieser Situation in einem „Gefangenendilemma“.<br />
• Methode: In einer Population von Trauerschnäppern (Ficedula hypoleuca)<br />
wurden Nistkästen so angebracht, dass jeweils drei Paare (A, B und C;<br />
44 Replikate) in unmittelbarer Nähe lebten. Paar A wurde ein (ausgestopfter)<br />
Räuber präsentiert, nachdem Paar B weggesperrt wurde. In allen<br />
41 Versuchen half Paar C beim Hassen der Räuberattrappe. Eine Stunde<br />
später, nachdem Paar B wieder frei war, wurden gleichzeitig Attrappen<br />
am Nest von Paar B und C präsentiert. Die Reaktion von Paar A auf die<br />
„Hilferufe“ von Paar B und C wurde protokolliert.<br />
30<br />
Anzahl "Paare A"<br />
0<br />
Hilfe für Hilfe für bleibt am<br />
Kooperierende Betrüger eigenen Nest<br />
2<br />
• Ergebnis: In 30 von 32 Fällen unterstützte Paar A das Hassen von Paar C.<br />
In 2 Versuchen blieb Paar A am eigenen Nest; in keinem Fall wurde Paar<br />
B unterstützt.<br />
• Schlussfolgerung: Die Reaktion der Tiere in der Rolle von Paar A kann<br />
nur unter Einbeziehung der zuvor erbrachten Kooperation (bzw. deren<br />
vermeintlicher Verweigerung) erklärt werden. Gemeinsames Hassen basiert<br />
auf reziproken Altruismus nach dem „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“-<br />
Prinzip.<br />
Krams et al. 2008
11.3 Sozialstruktur 549<br />
tierender, sich über lange Zeiträume entwickelnder sozialer Beziehungen<br />
bewertet (Cheney et al. 1986). Um Kosten und Nutzen jeder einzelnen<br />
Handlung zu bewerten, sind keine hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten<br />
vonnöten (Stevens u. Hauser 2004). Stattdessen scheinen sich Tiere<br />
in diesem Zusammenhang auf einfache emotionsbasierte Mechanismen zu<br />
verlassen (Brosnan u. de Waal 2003).<br />
Beispiele für reziproken Altruismus im Tierreich sind selten (Box 11.3).<br />
Zum einen ist der Verwandtschaftsgrad zwischen den Beteiligten nicht<br />
immer bekannt, so dass Verwandtenselektion nicht ausgeschlossen werden<br />
kann. Dieser Einwand trifft auf ein häufig zitiertes Beispiel über den Austausch<br />
von Blutmahlzeiten bei Vampirfledermäusen (Desmodus rotundus)<br />
zu, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass Tiere Mahlzeiten teilen, davon<br />
abhängt, ob in der Vergangenheit schon vom anderen geholfen wurde<br />
(Wilkinson 1984). Zum anderen ist nicht notwendigerweise davon auszugehen,<br />
dass identische Verhaltensweisen ausgetauscht werden, was den<br />
praktischen Nachweis von Reziprozität erheblich erschwert. So gibt es bei<br />
einigen Primaten Hinweise dafür, dass grooming mit agonistischer Unterstützung<br />
(Schino 2007) oder der Häufigkeit des Futterteilens (de Waal<br />
1997) verrechnet wird. Es ist außerdem in manchen Fällen schwierig auszuschließen,<br />
dass dem Helfer tatsächlich Kosten entstehen und dass es sich<br />
nicht vielleicht doch um Mutualismus handelt. Schließlich entfernen sich<br />
beispielsweise Impalas (Aepyceros melampus) abwechselnd Ektoparasiten<br />
durch grooming, wobei sich die jeweils kurzen grooming-Ereignisse rasch<br />
abwechseln (Hart u. Hart 1992). Durch diesen kurzen Abstand zwischen<br />
den Rollenwechseln nähert sich dieser Austausch de facto Mutualismus an.<br />
Die einfachste evolutionäre Erklärung für Verhaltensweisen, die anderen<br />
einen Vorteil bescheren, besteht darin, dass der Akteur dadurch gleichzeitig<br />
selbst einen Vorteil erfährt. In diesem Sinn kann zum Beispiel das<br />
Leben in Gruppen als Mutualismus betrachtet werden, da alle Gruppenmitglieder<br />
gleichermaßen Vorteile daraus beziehen (Clutton-Brock 2002).<br />
Diese Vorteile können auch als Nebenprodukt-Mutualismus auftreten, bei<br />
dem ein Individuum eigentlich nur den eigenen Vorteil im Sinn hat. Australische<br />
Winkerkrabben (Uca mjoebergi) helfen beispielsweise ihren<br />
Nachbarn bei der Revierverteidigung, wodurch das Risiko reduziert wird,<br />
dass ein neuer, stärkerer Nachbar dessen Platz und möglicherweise einen<br />
Teil des eigenen Territoriums einnimmt (Backwell u. Jennions 2004). Mutualismus<br />
tritt auch zwischen Mitgliedern verschiedener Arten auf (Bshary<br />
u. Bronstein 2004), was den Vorteil hat, dass Verwandtenselektion als Erklärung<br />
ausgeschlossen werden kann. Ein klassisches Beispiel für interspezifischen<br />
Mutualismus liefern Putzerfische (Labroides dimidiatus), die<br />
sich von den Ektoparasiten ihrer „Kunden“ ernähren. Dabei können die<br />
Putzer auch betrügen, indem sie stattdessen Schleim von der Körperober-
550 11 Sozialsysteme<br />
seite ihrer Kunden fressen. Die Kunden wehren sich gegen diesen Betrug<br />
dadurch, dass sie Putzer bevorzugen, die sie beim Kooperieren beobachtet<br />
haben (Bshary u. Grutter 2006).<br />
Nicht nur Mutualismus, sondern alle Formen der Kooperation teilen das<br />
Problem, dass kooperierende Tiere durch selbstsüchtige Artgenossen ausgebeutet<br />
werden (können). Zum einen entstehen Gelegenheiten zum<br />
Betrügen durch den Zeitverzug zwischen wiederholten Interaktionen, die<br />
auf Reziprozität basieren. Nachdem ein Tier Empfänger einer kooperativen<br />
Handlung wurde, kann es entweder seine Verpflichtung zur Reziprozität<br />
nicht einhalten oder weniger geben, als es selbst erhalten hat. Außerdem<br />
besteht bei mutualistischen Verhaltensweisen das Risiko, dass „Trittbrettfahrer“<br />
(free-riders) zwar die Leistungen von Artgenossen annehmen, selber<br />
aber nichts beitragen. Aus diesem Verhalten ergibt sich ein kollektives<br />
Handlungsproblem (collective action problem), z. B. in Bezug auf individuelle<br />
Beiträge zur Territoriumsverteidigung (Nunn u. Deaner 2004).<br />
Manche Löwinnen (Leo panthera), die sich bei der gemeinsamen, riskanten<br />
Revierverteidigung permanent vornehm zurückhalten, werden von ihren<br />
Gruppengenossinen allerdings nicht dafür bestraft (Heinsohn u. Packer<br />
1995). Scheinbar betrügerischen Trauerschnäppern wird aber in Zukunft<br />
die Kooperation verweigert (Box 11.3).<br />
11.3.5 Kognition<br />
Alle Tiere nehmen ökologische und soziale Informationen aus ihrer Umwelt<br />
auf, verarbeiten und speichern diese, und machen sie zur Grundlage<br />
zukünftigen Handelns (Shettleworth 2001). Damit zusammenhängende<br />
Phänomene und Prozesse, wie Aufmerksamkeit, Kategorisierung, mentale<br />
Repräsentation, Lernen, Gedächtnis und Problemlösung treten in praktisch<br />
allen Verhaltensdomänen auf. Diese proximaten Aspekte des Verhaltens<br />
wurden traditionell vor allem von Schülern des Behaviorismus und der<br />
vergleichenden Tierpsychologie ( Kap. 1.3) bearbeitet. Unter dem integrativen<br />
Einfluss der Verhaltensökologie wurde aber auch damit begonnen,<br />
Fragen nach dem Anpassungswert dieser Verhaltensweisen zu untersuchen.<br />
Dabei haben sich zwei Schwerpunkte herausgebildet, die sich mit<br />
Fragen der ökologischen (Healy u. Braithwaite 2000) bzw. sozialen (Byrne<br />
u. Bates 2007) Kognition beschäftigen und versuchen, interspezifische Variation<br />
in kognitiven Fähigkeiten und relativer Gehirngröße zu erklären.<br />
Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche Untersuchungen abstrakter mentaler<br />
Fähigkeiten und Leistungen, wie die Fähigkeit von Ratten, Kausalität<br />
zu erkennen (Blaisdell et al. 2006), oder der Gedächtnisleistungen von
11.3 Sozialstruktur 551<br />
Schimpansen (Inoue u. Matsuzawa 2007), deren adaptive Relevanz aber<br />
nicht evident ist, und auf die ich daher nicht näher eingehe.<br />
Da verschiedene Tierarten sich offenkundig in ihren kognitiven Leistungsfähigkeiten<br />
unterscheiden, sind drei Vorbemerkungen von Bedeutung.<br />
Zum einen ist zwischen spezifischen kognitiven Leistungen zu<br />
unterscheiden, die sich aufgrund von spezifischen Selektionskräften entwickelt<br />
haben. Arten, die Nahrungsverstecke anlegen, haben beispielsweise<br />
ausgezeichnete räumliche kognitive Fähigkeiten (Emery u. Clayton<br />
2001). In anderen Verhaltensdomänen fallen diese Tiere aber nicht unbedingt<br />
durch außergewöhnliche kognitive Leistungen auf und umgekehrt.<br />
Zum anderen unterscheiden sich verschiedene Taxa in ihren kognitiven<br />
Leistungen aufgrund der Limitationen ihrer zentralen Nervensysteme.<br />
Primaten besitzen neben Walen die relativ größten und leistungsfähigsten<br />
Gehirne. Ihre kognitiven Fähigkeiten werden dementsprechend allgemein<br />
hoch eingeschätzt. Auch innerhalb der Primaten korreliert die Häufigkeit,<br />
mit der Fälle von dokumentiertem sozialen Lernen, Werkzeuggebrauch<br />
und Erfindungen bekannt sind, mit der absoluten und relativen Gehirngröße<br />
verschiedener Arten (Reader u. Laland 2002). Vergleichbare komplexe<br />
kognitive Fähigkeiten sind aber auch unabhängig von der absoluten<br />
Gehirngröße mehrfach unabhängig entstanden, zum Beispiel bei Rabenvögeln<br />
(Emery u. Clayton 2004). Schließlich ist zu betonen, dass kognitive<br />
Leistungen weder mit Bewusstsein gleichzusetzen sind, noch Bewusstsein<br />
voraussetzen.<br />
(1) Ökologische Kognition. Eine Reihe von ökologischen Problemen verlangen<br />
kognitive Leistungen zu deren erfolgreicher Lösung. Viele dieser<br />
Lösungen werden durch individuelles oder soziales Lernen vermittelt<br />
( Kap. 10.5). So lernen Tiere mit Hilfe unterschiedlicher Mechanismen,<br />
geeignete Nahrung zu erkennen oder gefährliche Räuber zu meiden (z. B.<br />
Bonnie u. de Waal 2007). Für manche Arten stellen sich aber auch noch<br />
spezifische Fragen im Kontext des Nahrungserwerbs, die besondere räumliche<br />
Fähigkeiten verlangen.<br />
Viele Vögel und Säugetiere legen externe Nahrungsspeicher an, die zu<br />
einem späteren Zeitpunkt genutzt werden (caching; Smith u. Reichmann<br />
1984). Kiefernhäher (Nucifraga columbiana) verstecken beispielsweise bis<br />
zu 33000 Kiefernsamen, die bis zu 11 Monate später gefressen werden<br />
(Bednekoff et al. 1997). Tiere, die solche Speicher anlegen, müssen daher<br />
über ein sehr gutes räumliches Gedächtnis verfügen. Experimente mit<br />
Westlichen Buschhähern (Aphelocoma californica, Abb. 11.17) zeigten,<br />
dass diese Tiere nicht nur wissen, wo ihre Verstecke sind, sondern auch,<br />
was sie dort wann versteckt haben (Clayton u. Dickinson 1998); sie besitzen<br />
in dieser Hinsicht ein episodisches Gedächtnis. Die Fähigkeit, die zeit-
552 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.17. Das Überleben von Westlichen<br />
Buschhähern (Aphelocoma<br />
californica) hängt wesentlich davon ab,<br />
dass sie in Speichern versteckte Nahrung<br />
wieder finden. In diesem Zusammenhang<br />
haben sie mehrere überragende kognitive<br />
Leistungen entwickelt<br />
liche Information zu verarbeiten, wurde dadurch gezeigt, dass die Buschhäher<br />
verderbliche Larven vor unverderblichen Erdnüssen aus ihren Verstecken<br />
holen.<br />
Das Anlegen von Nahrungsspeichern birgt ein weiteres Problem für die<br />
versteckenden Tiere. Wenn sie nämlich von Artgenossen dabei beobachtet<br />
werden, besteht die Gefahr, dass diese Verstecke von Schmarotzern<br />
(scroungers) ausgeräumt werden. Es ist daher zu erwarten, dass Versteckstrategien<br />
an dieses Risiko angepasst werden (Dally et al. 2006a). In einem<br />
Experiment konnten Buschhäher Futter verstecken, wenn ein Dominanter,<br />
ein Subordinater, ihr Partner oder niemand zuschaute. Wenn sie 3 Stunden<br />
später wieder Zugang zu ihren Verstecken hatten, verlegten sie vor allem<br />
das Futter in andere Verstecke, welches sie gespeichert hatten, als der Dominante<br />
ihnen zuschauen konnte (Dally et al. 2006b). Dieses Umschichten<br />
zwischen verschiedenen Speichern wird nur von Tieren gemacht, die beobachtet<br />
wurden und denen schon einmal Futter aus ihren Speichern stibitzt<br />
wurde (Emery u. Clayton 2001). Die kognitiven Fähigkeiten dieser<br />
Buschhäher gehen sogar soweit, dass sie ihre Speicher strategisch in Bezug<br />
auf zukünftige Bedürfnisse anlegen. Sie speicherten Futter nämlich bevorzugt<br />
in Teilen ihres Käfigs, in denen sie am kommenden Morgen kein Futter<br />
zu erwarten hatten (Raby et al. 2007). Die Fähigkeit, für die Zukunft zu<br />
planen, wurde ansonsten nur bei Orang-Utans (Pongo pygmaeus) und Bonobos<br />
(Pan paniscus) demonstriert. Diese Menschenaffen konnten in<br />
einem Experiment Werkzeuge, die sie zu einem späteren Zeitpunkt brauchten,<br />
auswählen und entsprechend lagern (Mulcahy u. Call 2006).
11.3 Sozialstruktur 553<br />
Eine ähnliche kognitive Leitung vollbringen Tiere, die in ihrem Streifgebiet<br />
räumliche Informationen über die Lage wichtiger Ressourcen für<br />
deren optimale Nutzung effizient verarbeiten. Neben verschiedenen Orientierungsleistungen<br />
( Kap. 4.3) kommt in diesem Zusammenhang auch<br />
die Fähigkeit, sich anhand von kognitiven Karten zu orientieren, zum Tragen<br />
(Janson u. Byrne 2007). Diese Fähigkeit ist insbesondere dann vorteilhaft,<br />
wenn Ressourcen in ihrer Qualität variieren und die Tiere Informationen<br />
über deren relative Lage besitzen. So zeigten Beobachtungen an<br />
Weißgesicht-Sakis (Pithecia pithecia), dass die Gruppen dieser Neuweltaffen<br />
etwa viermal längere Strecken zurücklegten, als dies aufgrund von<br />
Modellierungen der Bewegungen naiver Tiere zu erwarten wäre (Cunningham<br />
u. Janson 2007). Diese Abweichungen deuten darauf hin, dass sie gezielt<br />
bestimmte Fressbäume ansteuerten und andere, näher gelegene Alternativen<br />
ignorierten. Erdmännchen (Suricata suricatta) haben eine ähnliche<br />
räumliche Vorstellung davon, wo sich die nächste von über 1000 Erdhöhlen,<br />
die sie bei Gefahr aufsuchen, befindet (Manser u. Bell 2004). Die Fähigkeit,<br />
sich von jedem Punkt aus mit einem Karten-ähnlichen räumlichen<br />
Gedächtnis gezielt in seinem Streifgebiet zu bewegen, besitzen aber auch<br />
Honigbienen (Menzel et al. 2005), was ebenfalls die ökologische Bedeutung<br />
und nicht die Komplexität der neuronalen Grundlage dieser Leistung<br />
betont.<br />
(2) Soziale Kognition. Das Leben in permanenten Gruppen stellt Tiere vor<br />
eine Reihe sozialer Probleme, deren Lösungen ebenfalls besondere kognitive<br />
Fähigkeiten begünstigen. Dabei ist zunächst zu betonen, dass soziale<br />
Komplexität nicht automatisch mit Gruppengröße korreliert ist, sondern<br />
dass vielmehr Details der sozialen Struktur dafür ausschlaggebend sind.<br />
Riesige Fischschwärme oder Vogelkolonien sind also nicht diejenigen sozialen<br />
Gruppierungen, die ein Höchstmaß an sozialer Kognition verlangen<br />
oder fördern. Gegenseitige Unterstützung in agonistischen Interaktionen<br />
zwischen Verwandten (Silk et al. 2004), Koalitionen zwischen Nicht-Verwandten<br />
(Noë u. Sluijter 1995), Aufrechterhaltung von „Freundschaften“<br />
(Silk 2002b), Versöhnung nach Konflikten (Aureli et al. 2002) und taktische<br />
Täuschung von Artgenossen (Bugnyar u. Kotrschal 2002) sind einige<br />
der Aspekte der sozialen Struktur, die besondere kognitive Fähigkeiten zur<br />
Verarbeitung von sozialer Information voraussetzen bzw. vorteilhaft machen.<br />
Außerdem können verschiedene Arten von sozialen Interaktionen<br />
miteinander verrechnet werden, so dass eine aufwändige Buchführung<br />
darüber notwendig ist, wie man mit wem wann interagiert hat (Schino<br />
2007). Diese Typen sozialer Beziehungen sind insofern vergleichsweise<br />
einfach, als dass sie ein Individuum selbst einbeziehen. Wenn diese Informationen<br />
über Beziehungen zwischen Dritten gesammelt werden, also
554 11 Sozialsysteme<br />
darüber, wer wann was mit welchem anderen Individuum gemacht hat, erhöht<br />
sich die Komplexität der sozialen Information, die verarbeitet werden<br />
muss, noch einmal. Die Fähigkeit, diese Fülle an sozialen Informationen<br />
zu verarbeiten, wird auch als soziale oder Machiavelli’sche Intelligenz<br />
bezeichnet (Byrne 1997) und ist bei Primaten und manchen anderen Säugetieren<br />
besonders gut ausgeprägt.<br />
Eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung sozialer Kognition ist<br />
das individuelle Erkennen von Artgenossen. Diese Fähigkeit kann auf Informationen<br />
aus unterschiedlichen Modalitäten beruhen und ist weit verbreitet.<br />
Dass Tiere aber auch noch nach Monaten oder Jahren einzelne Individuen<br />
erkennen, wurde nur für wenige Arten gezeigt (Insley 2000).<br />
Damit einher geht auch die Fähigkeit, Dyaden-spezifische Informationen<br />
über Dominanz- oder Verwandtschaftsbeziehungen wahrzunehmen und zu<br />
behalten. So können Amerikanische Hummer (Homarus americanus) sich<br />
bis zu zwei Wochen lang daran erinnern, gegen welche Individuen sie<br />
einen Kampf verloren haben (Karavanich u. Atema 1998). Diese Fähigkeiten<br />
erklären einen Großteil der Variabilität in sozialen Interaktionen, also<br />
wer mit wem konkurriert oder kooperiert. Dass Tiere sich selbst erkennen,<br />
wurde bislang nur in Spiegelversuchen mit Menschenaffen, Delfinen und<br />
Elefanten gezeigt (Plotnik et al. 2006, Abb. 11.18).<br />
In bestimmten Situationen kann es aber auch vorteilhaft sein, soziale<br />
Informationen über andere Dyaden zu erkennen, zu verfolgen und zu verwerten.<br />
So kopieren beispielsweise manche Tiere die Partnerwahl von anderen<br />
Individuen ( Kap. 9.3). Zwischen anderen Gruppenmitgliedern<br />
existieren auch Verwandtschafts- und Dominanzbeziehungen, die beispielsweise<br />
Pavianen (Papio cynocephalus) bekannt sind (Abb. 11.19).<br />
Bergman et al. (2003) haben dies gezeigt, indem sie eine Kombination von<br />
Droh- und Unterwürfigkeitslauten von Weibchen aus verschiedenen Matri-<br />
Abb. 11.18. Die Fähigkeit,<br />
sich selbst im Spiegel zu erkennen,<br />
fehlt den allermeisten<br />
Tieren wie auch diesem<br />
Schopf-Makaken (Macaca<br />
nigra)
11.3 Sozialstruktur 555<br />
Abb. 11.19. Paviane können<br />
allein aus den Drohund<br />
Unterwürfigkeitslauten,<br />
die kämpfende Tiere<br />
ausstoßen, Informationen<br />
über Rang und Verwandtschaftsbeziehung<br />
der Kontrahenten<br />
extrahieren<br />
linien kombiniert, einer Paviangruppe über versteckte Lautsprecher vorgespielt<br />
und die Reaktion der Tiere als Blickdauer zum Lautsprecher gemessen<br />
haben. Wenn man auf diese Art und Weise eine Interaktion simuliert,<br />
in der ein niederrangiges Weibchen den Drohlaut und das höherrangige<br />
Weibchen den Unterwürfigkeitslaut abgibt, zeigen die Paviane in Abhängigkeit<br />
der Matrilinien-Zugehörigkeit der Beteiligten unterschiedliche<br />
Reaktionen. Auf solche experimentellen Umkehrungen der realen Dominanzverhältnisse<br />
innerhalb einer Matrilinie gibt es nämlich eine deutlich<br />
stärkere Reaktion als auf die Kontrollsituation, in der die normalen Dominanzbeziehungen<br />
vorgespielt werden. Wenn man nun eine Umkehrung der<br />
Dominanzbeziehungen zwischen Mitgliedern verschiedener Matrilinien<br />
simuliert, bekommt man eine nochmal deutlich stärkere Reaktion als im<br />
ersten Experiment. Das heißt, Pavian-Weibchen sind in der Lage, andere<br />
Individuen gleichzeitig und unabhängig von einander sowohl nach ihrem<br />
Rang als auch nach ihrer matrilinialen Zugehörigkeit einzuordnen.<br />
Schwarzkehlmaulbrüter (Astatotilapia burtoni), kleine afrikanische<br />
Cichliden, können sogar aus Beobachtungen von Kämpfen anderer transitive<br />
Rückschlüsse über Dominanzbeziehungen zwischen Individuen ziehen,<br />
die sie nicht haben kämpfen sehen. Wenn sie also in einem Kampf A<br />
gegen B und B gegen C gewinnen sehen, können sie daraus schließen, dass<br />
A auch C überlegen ist (Grosenick et al. 2007). In ähnlicher Weise können<br />
Nacktschnabelhäher (Gymnorhinus cyanocephalus) ihren eigenen Dominanzstatus<br />
zu Fremden einschätzen, die sie bei Interaktionen mit bekannten<br />
Individuen zuvor beobachtet haben (Paz-y-Mino et al. 2004).<br />
Schließlich könnten Individuen auch Vorteile daraus beziehen, wenn<br />
sie sich in andere Tiere hineinversetzen und deren Motivationen und Absichten<br />
vorhersagen könnten, wenn sie also eine theory-of-mind besitzen<br />
(Premack u. Woodruff 1978). Ein offensichtlicher Zugang zum Wissen
556 11 Sozialsysteme<br />
anderer besteht darin, deren Blick zu folgen. In Experimenten, bei denen<br />
Altwelt- und Menschenaffen einem Individuum Futter gezeigt wurde,<br />
konnte beobachtet werden, dass ein Artgenosse dem Blick des ersten Tiers<br />
folgte (Tomasello et al. 1998). Diese Fähigkeit wurde inzwischen auch bei<br />
Kattas (Lemur catta), also vergleichsweise „primitiven“ Primaten, nachgewiesen<br />
(Shepherd u. Platt 2008). Dass Schimpansen aus der Blickrichtung<br />
von Artgenossen relevante Information beziehen, wurde in einem Experiment<br />
gezeigt, bei dem zwei Tiere um eine Belohnung konkurrierten,<br />
die vom Subordinaten, aber nicht vom Dominanten gesehen werden konnte.<br />
In dieser Situation wählte das subordinate Tier immer diejenige von<br />
zwei Belohnungen, die das dominante Tier nicht sehen konnte (Hare et al.<br />
2001). Bei einer anderen experimentellen Aufgabe konnte gezeigt werden,<br />
dass Schimpansen diese kognitiven Fähigkeiten in kompetitiven Situationen<br />
sehr viel effektiver einsetzen als in kooperativen Situationen (Hare<br />
u. Tomasello 2004), was einen Hinweis auf die natürlichen Bedingungen<br />
gibt, unter denen diese Fähigkeiten entstanden sind.<br />
Um Artgenossen gezielt altruistisches Verhalten zukommen zu lassen,<br />
ist möglicherweise die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse eines anderen<br />
hineinversetzen zu können, vonnöten. Bei Menschen wurde diese Fähigkeit<br />
experimentell im Ultimatum-Spiel untersucht. Dabei macht ein Spieler<br />
einem anderen ein Angebot darüber, wie eine Ressource zwischen<br />
ihnen geteilt werden soll. Wenn der andere akzeptiert, wird entsprechend<br />
geteilt; wenn er ablehnt, bekommen beide nichts. Man würde erwarten,<br />
dass rein eigennützige Individuen möglichst wenig anbieten und der andere<br />
jedes noch so geringe Angebot akzeptiert. Bei einem Experiment mit<br />
Schimpansen wurde gezeigt, dass hier die Anbieter für sich immer die größere<br />
Belohnung wählen und dass Entscheider nur dann ihr Ultimatum einsetzen,<br />
wenn sie komplett leer ausgehen (Jensen et al. 2007). In einem<br />
anderen Experiment konnte gezeigt werden, dass Schimpansen nur Individuen<br />
bestrafen, die ihnen Futter gestohlen hatten, aber sie verhielten sich<br />
nicht spontan hinterhältig gegenüber ihren Artgenossen (Jensen et al.<br />
2006). Schimpansen fehlt also offensichtlich diese Fähigkeit, sich in die<br />
Bedürfnisse anderer hineinzuversetzen (Silk et al. 2005). Vor diesem Hintergrund<br />
ist der experimentelle Befund, dass Weißbüscheläffchen (Callithrix<br />
jacchus) spontan nicht-verwandten Tieren Nahrung zugänglich machen<br />
(Burkart et al. 2007), verblüffend, da diese kleinen Neuweltaffen<br />
nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, die man Schimpansen in<br />
diesem Zusammenhang zugestehen würde. Da es sich um eine Art mit kooperativer<br />
Jungenfürsorge handelt, wird vermutet, dass solche spontane<br />
Prosozialität bei Arten mit einem kooperativen Jungenaufzuchtsystem entstanden<br />
ist.
11.3 Sozialstruktur 557<br />
In diesem Zusammenhang ist es schließlich auch interessant, dass<br />
Schimpansen ihre Artgenossen in Bezug auf ihre Eignung als Kooperationspartner<br />
beurteilen können. Dabei spielt die gegenseitige Toleranz eine<br />
wichtige Rolle. Tiere, die unter normalen Bedingungen soziale Toleranz<br />
aufweisen und beispielsweise Futter miteinander teilen, können auch erfolgreich<br />
eine kooperative experimentelle Aufgabe lösen (Melis et al.<br />
2006). Außerdem können Schimpansen offenbar einschätzen, wann sie zur<br />
Lösung einer Aufgabe die Hilfe eines Artgenossen benötigen und welche<br />
Individuen für diese Aufgabe besonders gut geeignet sind.<br />
11.3.6 Kultur<br />
Verschiedene Formen des sozialen Lernens ( Kap. 10.5) haben zur<br />
Folge, dass Verhaltensweisen innerhalb von Populationen und zwischen<br />
Generationen weitergegeben werden. Soziales Lernen ist immer dann vorteilhaft,<br />
wenn individuelles Lernen mit Kosten verbunden ist (Laland<br />
2004). Die Erkennung von Raubfeinden stellt einen solchen Kontext dar,<br />
und soziales Lernen dieser überlebenswichtigen Information wurde u. a.<br />
bei Kohlmeisen (Parus major: Curio et al. 1985) und Kaulquappen (Rana<br />
sylvatica: Ferrari et al. 2007) demonstriert. Damit existiert ein nichtgenetischer<br />
Mechanismus zur kulturellen Weitergabe von Information,<br />
der Einfluss auf den Verlauf von Evolution nehmen kann. Diese Weitergabe<br />
kann vertikal erfolgen, indem Junge von ihren Eltern lernen. Wenn sich<br />
Informationen oder Verhaltensweisen unter Gleichaltrigen ausbreiten,<br />
handelt es sich um horizontale Weitergabe. Wenn der Transfer zwischen<br />
Generationen stattfindet, aber nicht auf Interaktionen zwischen Eltern und<br />
Nachkommen beruht, liegt oblique Transmission vor. Darüber, wie Kultur<br />
bei Tieren definiert werden kann und ob es sich um eine Nebenprodukt<br />
kognitiver Fähigkeiten oder lokale Anpassungen handelt, gibt es unterschiedliche<br />
Vorstellungen (Byrne et al. 2004).<br />
Die Entdeckung eines jungen Japan-Makaken (Macaca fuscata), dass<br />
man mit Sand verunreinigte Süßkartoffeln mit Meerwasser abwaschen<br />
kann, hat sich rasch in seiner Gruppe ausgebreitet (Kawamura 1959) und<br />
liefert ein inzwischen klassisches Beispiel für kulturelle Weitergabe im<br />
Tierreich (Abb. 11.20). In neueren experimentellen Studien mit Kapuzineraffen<br />
(Cebus apella) konnte gezeigt werden, dass neue Methoden der<br />
Nahrungsgewinnung auch bei anderen Arten an Artgenossen weitergegeben<br />
werden (Dindo et al. 2008). Soziale Transmission neuer Nahrungsgewohnheiten<br />
sind aber nicht auf Primaten beschränkt, wie die Ausbreitung<br />
einer alternativen Art, Nektar aus Blüten zu entnehmen, bei Hummeln<br />
(Bombus terrestris) zeigt (Leadbeater u. Chittka 2007). Aufgrund solcher
558 11 Sozialsysteme<br />
Abb. 11.20. Japan-Makaken<br />
einer lokalen Population<br />
haben von einem Tier gelernt,<br />
dass gewaschene Süßkartoffeln<br />
besser schmecken als<br />
sandige. Dieses Verhalten hat<br />
sich rasch in der Population<br />
ausgebreitet<br />
Lern- und Ausbreitungsprozesse kann es zur Ausbildung von lokalen Traditionen,<br />
also zur Ausbreitung von distinkten Verhaltensweisen, die von<br />
mehreren Individuen gezeigt und durch soziales Lernen weiter verbreitet<br />
werden (Fragaszy u. Perry 2003), kommen. Wenn mehrere Traditionen in<br />
verschiedenen Verhaltensdomänen vorliegen, wird weithin akzeptiert, dass<br />
es gerechtfertigt ist, von Kultur bei Tieren zu sprechen (Whiten 2005).<br />
Diskussionen über Kultur bei Tieren fokussierten lange auf semantischen<br />
und operationalen Aspekten kultureller Muster und möglichen<br />
zugrunde liegenden Mechanismen. So ist es für Galef (1992) wichtig,<br />
dass nur Verhaltensweisen, die durch Imitation oder soziales Lernen<br />
( Kap. 10.5) weitergegeben werden, als Kultur bezeichnet werden. Andere<br />
betonen den möglichen Einfluss von genetischen und ökologischen<br />
Faktoren auf Populationsunterschiede in einzelnen Verhaltensweisen (Laland<br />
u. Janik 2006). Beobachtungen von spontaner Herstellung und spontanem<br />
Einsatz von Werkzeugen durch von Hand aufgezogene Geradschnabelkrähen<br />
(Corvus moneduloides) zeigen, dass Verhaltensweisen, die bei<br />
anderen Arten als Beispiele für soziales Lernen und Kultur diskutiert werden,<br />
in der Tat auch eine angeborenen Komponente haben können (Kenward<br />
et al. 2005). Solche genetischen Ursachen sind aber nicht zu verwechseln<br />
mit der Ausbreitung einer neuen Verhaltensweise entlang von<br />
Verwandtschaftslinien. Bei Delfinen (Tursiops spp.) breitete sich die Benutzung<br />
eines Werkzeugs beispielsweise (nur) innerhalb einer Matrilinie<br />
einer größeren Gemeinschaft aus (Krützen et al. 2005).<br />
Aktuelle Forschungen zum Thema Kultur können entlang einer konzeptionellen<br />
und entlang einer thematischen Schiene organisiert werden.<br />
Im konzeptionellen Bereich existieren zwei Ansätze. Im Rahmen deskriptiver<br />
Untersuchungen liegt der Schwerpunkt auf der ethnographischen Beschreibung<br />
von Variabilität zwischen Populationen einer Art. Dieser An-
11.3 Sozialstruktur 559<br />
satz geht darüber hinaus, einzelne Verhaltensweisen zu vergleichen. So ergab<br />
der Vergleich von sieben Schimpansen-Populationen beispielsweise,<br />
dass insgesamt 39 Verhaltensweisen in manchen Populationen regelmäßig,<br />
in anderen dagegen gar nicht auftreten (Whiten et al. 1999). Eine vergleichbare<br />
Variabilität findet sich in Gesängen von Walen und Delfinen<br />
(Rendell u. Whitehead 2001) oder im Werkzeuggebrauch und in den Gelegenheiten<br />
für soziales Lernen bei Orang-Utans (van Schaik et al. 2003).<br />
Ein anderer konzeptioneller Ansatz besteht darin, die Ausbreitung von<br />
neuen Verhaltensweisen unter kontrollierten Bedingungen zu verfolgen.<br />
Dabei handelt es sich z. B. um äquivalente praktische Lösungen experimenteller<br />
Aufgaben, die „Lehrern“ in verschiedenen Gefangenschafts-<br />
Populationen beigebracht werden und deren Weitergabe untersucht wird<br />
(Bonnie et al. 2007).<br />
Inhaltlich beschäftigen sich aktuelle Studien kultureller Variation im<br />
Wesentlichen mit vier Themenbereichen. Erstens stehen traditionell lokale<br />
Techniken des Nahrungserwerbs und der Nahrungserschließung im Fokus<br />
vieler Untersuchungen (siehe oben). Zweitens, und funktional eng damit<br />
verbunden, gibt es interessante Variation in der Herstellung und im Einsatz<br />
von Werkzeugen. So gibt es beispielsweise zwischen Schimpansen-<br />
Populationen lokale Unterschiede darin, ob Werkzeuge zum Nüsseknacken<br />
verwendet werden (Boesch u. Boesch 1993) oder mit welchen Techniken<br />
Termiten gefischt werden (Whiten et al. 2001). Bei Kapuzineraffen wurde<br />
der Einsatz von Werkzeugen zwischen Tieren in Gefangenschaft und freier<br />
Wildbahn verglichen (de A Moura u. Lee 2004). Werkzeuge werden aber<br />
auch von manchen Vögeln (Lefebvre et al. 2002) und Delfinen (Krützen<br />
et al. 2005) hergestellt und eingesetzt.<br />
Drittens wird kulturelle Variation in Abhängigkeit von sozialen Strukturen<br />
untersucht. Dieser Ansatz geht davon aus, dass soziale Toleranz sich<br />
entscheidend zwischen Arten und Populationen unterscheidet und dass Situationen<br />
hoher gegenseitiger Toleranz und Nähe den Nährboden für erleichterte<br />
Erfindungen und deren Ausbreitung darstellen (van Schaik et al.<br />
1999). So korreliert die Häufigkeit lokal besonderer Verhaltensweisen bei<br />
Schimpansen und Orang-Utans mit einem Maß für soziale Aggregation<br />
(van Schaik et al. 2003). In diesem Zusammenhang sind auch lange Zeiten<br />
der Abhängigkeit juveniler Individuen bedeutsam, da sie Gelegenheit zum<br />
Lernen von Müttern und andern Adulten bieten. So benötigen junge<br />
Schimpansen mehrere Jahre, um die Komplexität des Termitenangelns von<br />
ihren Müttern zu lernen (Lonsdorf 2006).<br />
Schließlich gibt es viertens auch innerartliche Variation in der Software<br />
des Sozialverhaltens: den Kommunikationssignalen und sozialen Konventionen.<br />
So hat sich in manchen Schimpansen-Populationen eine eigentümliche<br />
Form des gegenseitigen Lausens ausgebreitet, bei dem die beteiligten
560 11 Sozialsysteme<br />
Individuen die nicht benötigten Arme gemeinsam ausstrecken (McGrew u.<br />
Tutin 1978). Bei Weißstirn-Kapuzineraffen (Cebus albifrons) existieren<br />
mehrere bizarre Verhaltensweisen wie „Handriechen“ in bestimmten Populationen<br />
(Perry u. Manson 2003). Bei Bonobos und Schimpansen ergab<br />
eine vergleichende Studie des Einsatzes von Vokalisationen und Gesten,<br />
dass, im Gegensatz zu Lauten, der Einsatz von Gesten innerhalb und zwischen<br />
Arten enorm variierte (Pollick u. de Waal 2007). Vokale Imitation,<br />
also die Produktion neuer Lautäußerungen als Reaktion auf eigene akustische<br />
Erfahrungen, die u. a. anderem bei Elefanten dokumentiert wurde (Poole<br />
et al. 2005), kann als Anpassung an soziale Bedürfnisse in Gesellschaften<br />
mit flexibler Zusammensetzung interpretiert werden. Bei madagassischen<br />
Sifakas wurde erstmals gezeigt, dass sich sogar die Bedeutung einer Vokalisation<br />
zwischen Populationen unterscheidet (Fichtel u. van Schaik 2007).<br />
11.4 Zusammenfassung<br />
Überleben, Fortpflanzung und Jungenaufzucht finden nicht in einem<br />
sozialen Vakuum statt. Vielmehr sind Tiere in vielfältiger Weise dabei<br />
aufeinander angewiesen oder konkurrieren miteinander um dieselben<br />
Ressourcen. Individuen verschiedener Arten können ihre inklusive<br />
Fitness in unterschiedlichen sozialen Konstellationen am besten<br />
maximieren. Die Diversität der resultierenden Sozialsysteme kann in<br />
drei heuristische Komponenten zerlegt werden. Soziale Organisation<br />
beschreibt die demografische Struktur und Kohäsion von sozialen<br />
Einheiten, bei denen sich solitäre, paarlebende und gruppenlebende<br />
Arten unterscheiden lassen. Verschiedene Paarungssysteme beschreiben,<br />
mit wie vielen Partnern sich Männchen und Weibchen im Mittel<br />
verpaaren. Auf dieser Ebene wird entschieden, welche Gene letztendlich<br />
in die nächste Generation kommen. Dem Verständnis der Ursachen<br />
und Konsequenzen verschiedener Paarungssysteme kommt<br />
deshalb eine besondere evolutionäre Bedeutung zu. Die vielfältigen<br />
Interaktionen zwischen Artgenossen generieren schließlich unterschiedliche<br />
Sozialstrukturen. Neben direkten Interaktionen stellt der<br />
Austausch von Signalen den herausragenden Mechanismus zur Ausbildung<br />
von sozialen Beziehungen dar. Kommunikation hat zudem<br />
entscheidende funktionale Bedeutung in allen fitnessrelevanten Verhaltenskontexten.<br />
Die Vielfalt sozialer Beziehungen manifestiert sich<br />
besonders in den zahlreichen Facetten der sozialen Konkurrenz und<br />
Kooperation. Wie sich Tiere auf Gruppenebene koordinieren, ist eine
Literatur 561<br />
der spannendsten neuen Fragen der Verhaltensbiologie. Zum Teil<br />
hoch spezialisierte kognitive Leistungen sind als Anpassungen an<br />
ökologische und soziale Herausforderungen mehrfach unabhängig<br />
entstanden. Genauso wie kulturelle Variation zwischen Populationen<br />
in verschiedenen Verhaltensweisen wurden kognitive Leistungen bislang<br />
hauptsächlich an Vögeln und Primaten untersucht.<br />
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Sachverzeichnis<br />
Abortion 292<br />
Abwanderung(s-) 328, 509<br />
Möglichkeiten<br />
limitierte 329<br />
Abwehr(-)<br />
Mechanismen<br />
chemische 183<br />
induzierbare 203<br />
mechanische 183<br />
Adoption 456<br />
Aggregation 500<br />
Aggression<br />
direkte 181<br />
Alarm(-)<br />
Pheromone 221<br />
Rufe 221<br />
Signale 221<br />
Allokationsproblem 41<br />
alloparenting 454<br />
Allostasis 80<br />
Altruismus 423, 442, 544<br />
reproduktiver 442, 545<br />
reziproker 546<br />
Anemochorie 185<br />
Anisogamie 242<br />
Evolution 243<br />
Konsequenzen 243<br />
Anpassung 32, 492<br />
Ansitzjäger 204<br />
Anti-Prädationsstrategien 203<br />
Aposematismus 210<br />
Evolution 211<br />
Arrenotokie 431<br />
Art(-)<br />
Bildung 324, 386<br />
Erkennung 319<br />
kommunale 446<br />
polytypische 326<br />
quasisoziale 446<br />
semisoziale 446<br />
subsoziale 446<br />
Vergleiche 19<br />
artificial selection Siehe Selektion:<br />
künstliche<br />
Asexualität 237<br />
Aufbruchsignal 536<br />
Aufnahmeregel 17<br />
Aufzeichnungsregel 18<br />
Ausbeutungskonkurrenz 168, 540<br />
Aussterben 202<br />
Automimikry 213<br />
Autotomie 216<br />
bachelor group Siehe Junggesellen-<br />
Gruppe<br />
Balzarena Siehe Lek<br />
Batemans Prinzipien 244<br />
Bates’sche Mimikry 213<br />
Bedürftigkeit<br />
ehrliche 426<br />
Signal 426<br />
Befruchtung<br />
externe 257<br />
interne 258<br />
Behaviorismus 10<br />
Belästigung 541<br />
sexuelle 388<br />
Beschützer 296, 351<br />
best male 338<br />
best of n 338<br />
Bestäubung 185<br />
Bestechung 541
582 Sachverzeichnis<br />
Best-man-Hypothese 241<br />
Bestrafung 541<br />
bet-hedging 371<br />
Bettelverhalten 426<br />
Beute(-)<br />
Strategien 208<br />
Typ 161<br />
Bewachung von Weibchen 286<br />
Bienentanz 123, 158<br />
Bimaturismus<br />
sexueller 50<br />
Black-hole-Hypothese 523<br />
Bleibe- und Friedensanreize 541<br />
Brauseflug 124<br />
Brautgeschenk 347<br />
Bruce-Effekt 292, 296<br />
Brut(-)<br />
Parasitismus 439<br />
innerartlicher 441<br />
Pflege 34, 409<br />
Reduktion 438<br />
by-product mutualism 454<br />
caching 551<br />
candidate genes Siehe Kandidaten-<br />
Gene<br />
central place forager 87<br />
Chase-away-Selektion 383<br />
Chemorezeption 104<br />
collective action problem Siehe<br />
Kollektivhandlungsproblem<br />
communal<br />
breeding 455<br />
care Siehe Fürsorge:<br />
gemeinsame<br />
decisions Siehe<br />
Gruppenentscheidungen<br />
concession models Siehe<br />
Konzessions-Modelle<br />
conditioned stimulus Siehe Reiz:<br />
bedingter<br />
contagion Siehe<br />
Stimmungsübertragung<br />
contest competition Siehe<br />
Interferenzkonkurrenz<br />
costs 423<br />
counter shading Siehe<br />
Konterschattierung<br />
Crook 14<br />
cryptic female choice Siehe<br />
Partnerwahl: kryptische<br />
Weibchenwahl<br />
cue Siehe Reiz<br />
Darwin 9<br />
Darwin’scher Dämon 41<br />
dear enemy phenomenon Siehe<br />
Lieber-Feind-Effekt<br />
Dekoration 209<br />
Despotismus 540<br />
Diapause 116<br />
Diplont 238<br />
Dishabituation 468<br />
dispersal<br />
delayed 509<br />
natal 509<br />
secondary 509<br />
dispersed pairs 515<br />
display 181, 270, 325, 378, Siehe<br />
auch Kommunikationssignale<br />
visueller 181<br />
Domestikation 461<br />
Dominanz(-) 275<br />
Beziehung 276, 539<br />
Rang 276<br />
Dringlichkeitsruf 222<br />
Drive-Gen 423<br />
Dyade 276<br />
eavesdropping Siehe Lauschen<br />
Ehrlichkeit 532<br />
Eier 243<br />
Einnischung 146<br />
Einzelgängertum 496<br />
Ejakulat<br />
Austausch 283<br />
Elektrorezeption 105<br />
Eltern-Kind-Konflikt 56, 409, 422<br />
differentielles Investment 428<br />
Evolution 422
Sachverzeichnis 583<br />
geschlechtsspezifisches<br />
Investment 430<br />
Mechanismen 425<br />
Ursachen 424<br />
Emigranten-Egalitaristen-Gruppen<br />
540<br />
Energie(-) 74<br />
Aufnahmerate 161<br />
Effizienz 87<br />
Gesamteffizienz 88<br />
Gewinnrate<br />
Maximierung 89<br />
Kontrolle 90<br />
Speicher<br />
externer 90<br />
interner 90<br />
Entfernungsmessung 124<br />
Entscheidungsfindung<br />
Mechanismen 538<br />
Entwöhnungskonflikt 427<br />
Ereignisse 16<br />
Erfahrung 340<br />
Ethogramm 16<br />
Ethologie<br />
klassische 11<br />
Eusozialität 442, 444<br />
nicht-genetische Faktoren 446<br />
ohne Haplodiploidie 447<br />
Verwandtenselektion 444<br />
evo-devo 458<br />
evolutionär stabile Strategie (ESS)<br />
29, 546<br />
extra-pair<br />
copulation (EPC) 367, 498<br />
paternity 416<br />
young (EPY) 368<br />
feeding patch Siehe Futterplatz<br />
Fekundität 47, 306, 346, 409<br />
female-bonded groups 494<br />
female-bonding-Hypothese 494<br />
Fertilisation 286, 411<br />
Fertilität 346<br />
filial imprinting Siehe<br />
Nachfolgeprägung<br />
first male advantage 282<br />
Fisher-Muller-Theorie 241<br />
Fisher-Prozess 353<br />
freilaufender Prozess 353<br />
genetische Kovarianz 353<br />
Koevolutionsmodell 353<br />
weibliche Präferenz 354<br />
Fitness 31<br />
direkte 31, 423<br />
Gesamtfitness 25, 423<br />
indirekte 31, 423<br />
individuelle 31<br />
Konsequenz 506<br />
Flucht 217<br />
fluktuierende Asymmetrie (FA)<br />
361<br />
Fortpflanzung(s-)<br />
Aufwand<br />
Evolution 53<br />
Verhalten 57<br />
Biologie 237<br />
eingeschlechtliche 237<br />
Erfolg 244, 246, 266, 278,<br />
330, 502<br />
Varianz 234<br />
erste<br />
Evolution 47<br />
Verhalten 50<br />
getrenntgeschlechtliche 240<br />
iteropar 429<br />
Konkurrenz 347<br />
Verdrängungskonkurrenz 260<br />
nullipar 454<br />
Physiologie<br />
Zwänge 284<br />
Rate<br />
potentielle 247<br />
sexuelle 238<br />
Nachteile 240<br />
Vorteile 241<br />
Strategien 299<br />
alternative 300<br />
Evolution 59<br />
flexible 248<br />
konditionale 302
584 Sachverzeichnis<br />
sexuell selektierte 294<br />
Verhalten 64<br />
System 524<br />
Taktiken 299<br />
verzögerte 48<br />
vivipar 464<br />
Wert 58<br />
free-riders 550<br />
Fressverhalten 154<br />
Fürsorge<br />
biparentale 411<br />
elterliche 405<br />
gemeinsame 455<br />
geschlechtsspezifische 411<br />
Kompensation 419<br />
mütterliche 406, 412<br />
uniparentale 411<br />
väterliche 412<br />
Futterplatz 160<br />
Gebrauchs-Lernen 534<br />
Gedächtnis<br />
episodisches 551<br />
Gefangenendilemma 546<br />
Gegenselektion 184<br />
Gegenstrategien<br />
weibliche 296<br />
Gelegegröße 55<br />
Gene<br />
pleiotrope 462<br />
selbstsüchtige 423<br />
Genitalien 386<br />
mechanischen Passgenauigkeit<br />
322<br />
Genitalmorphologie 290<br />
genomic imprinting Siehe Prägung:<br />
genomische<br />
Genotyp 44, 458<br />
Gesangsprägung 467<br />
Geschlecht(s-)<br />
Bestimmung<br />
cytoplasmatische 431<br />
genetische 430<br />
ökologische 431<br />
heterogames 238<br />
Krankheiten 82, 524<br />
Merkmal<br />
sekundäres 234, 280<br />
Evolution 268<br />
Umwandlung 304<br />
Wechsel 239<br />
Geschlechter(-)<br />
Rolle 242, 248<br />
traditionelle 242, 246<br />
umgekehrte 247, 306<br />
Verhältnis 248, 430<br />
ausgeglichenes 250<br />
Evolution 249<br />
gespaltenes 445<br />
operationales 248<br />
Geschwister(-)<br />
Konflikt 437<br />
Tötung 437<br />
Gesellschaftsform 489<br />
Gezeitenrhythmus 112<br />
Giftapparate 207<br />
Gilden 103<br />
Grenzertragstheorem 27<br />
grooming 82, 529, 543, Siehe auch<br />
Lausen<br />
Grundregel des wissenschaftlichen<br />
Arbeitens 21<br />
Gruppe(n-) 500<br />
Bildung 223<br />
Entscheidungen 536<br />
Größe 503<br />
optimale 503<br />
Hypothese 500<br />
Leben<br />
Nachteile 502<br />
Vorteile 500<br />
Mitglieder<br />
Unterschiede 505<br />
Selektion 293, 490<br />
Zusammensetzung 506<br />
guards 304<br />
Gute-Gene(-) 353, 357, 365<br />
Modelle 366<br />
Selektion 356<br />
Gynogenese 240, 327
Sachverzeichnis 585<br />
Habitat(-)<br />
Ansprüche 147<br />
Sättigung 451<br />
sink- 148<br />
source- 148<br />
Wahl 146<br />
Mechanismen 148<br />
phänotypische Plastizität 147<br />
Präferenz 148<br />
Habituation 468<br />
Haldanes Regel 319<br />
Hamiltons Ungleichung 423<br />
Hamilton-Zuk-Hypothese 360<br />
handicap(-) 271, 533<br />
Hypothese 270, 357<br />
offenbarendes (revealing) 358<br />
strategisches 358<br />
handling time Siehe Nahrungswahl:<br />
Bearbeitungszeit<br />
Haplodiploidie 240, 444<br />
Haplont 238<br />
harassment Siehe Belästigung<br />
Haremsgruppe 507<br />
Hassen 216<br />
Haupthistokompatibilitäts-Komplex<br />
332<br />
Hautschilde 264<br />
Heinroth 10<br />
Helfer(-)<br />
bei Säugetieren 452<br />
genetische Vorteile 449<br />
Helfer-am-Nest 449<br />
Kosten 450<br />
ökologische und Life history-<br />
Zwänge 451<br />
primäre 449<br />
sekundäre 449<br />
Systeme 449<br />
Vor- und Nachteile 454<br />
Herbivorie 154<br />
Evolution 183<br />
Heritabilität 45, 462<br />
Hermaphrodit 239<br />
Hermaphroditismus<br />
protogyner 304<br />
Heterosiseffekt 366<br />
Himmelskompass 127<br />
Hodengröße 289<br />
innerartliche Variabilität 289<br />
zwischenartliche Variation 289<br />
home range Siehe Streifgebiete<br />
Homologien 23<br />
Homöostasis 74<br />
honest signalling of need Siehe<br />
Bedürftigkeit: ehrliche<br />
Hören 102<br />
hotshots 523<br />
hotspots 523<br />
Hybridisierung 319, 326<br />
Hybridogenese 327<br />
Hybridzonen 321<br />
Imitation 470<br />
Immunkompetenz 524<br />
imprinting Siehe Prägung<br />
Inaktivität 116<br />
incentive<br />
peace 375<br />
staying 375<br />
inclusive fitness Siehe Fitness:<br />
Gesamtfitness<br />
Infantizid(-) 293, 297<br />
Hypothese 499<br />
Life history 297<br />
Inklinationskompass 125<br />
innere Uhr 110<br />
Intelligenz<br />
Machiavelli’sche 554<br />
soziale 554<br />
Interaktionen 527<br />
Tier-Pflanze 182<br />
Interferenzkonkurrenz 168, 261,<br />
494, 540<br />
Interlokus-Konflikt 382<br />
Intralokus-Konflikt 382<br />
Investment<br />
elterliches 246, 418<br />
terminales 429<br />
Inzest(-)<br />
Vermeidung 327<br />
Mechanismen 328
586 Sachverzeichnis<br />
Inzucht(-)<br />
Depression 327<br />
Risiko 328<br />
Isogamie 243<br />
Isolation<br />
präzygotische 321, 324<br />
reproduktive 320, 324, 326<br />
Iteroparie 53<br />
Jagd<br />
Gruppenjäger 206<br />
kooperative 207<br />
solitäre Jäger 206<br />
Jungen(-)<br />
Aufzucht<br />
gemeinsame 455<br />
kooperative 446<br />
Fürsorge<br />
biparentale 498, 514<br />
männliche 516<br />
Junggesellen-Gruppe 507<br />
Kampf- oder Flucht-Syndrom 80<br />
Kandidaten-Gene 461<br />
Kannibalismus 294<br />
sexueller 385<br />
Karnivoren 154<br />
Karotenoide 273<br />
Karte 120<br />
kognitive 120, 553<br />
Kaspar-Hauser-Experiment 460<br />
Kathemeralität 108<br />
kin selection Siehe<br />
Verwandtenselektion<br />
Kinese 117, Siehe auch<br />
Klinokinese, Orthokinese<br />
Klino(-)<br />
Kinese 117<br />
Taxis 118<br />
Koevolution<br />
mutualistische 384<br />
Kognition 550<br />
ökologische 551<br />
soziale 553<br />
Kollektivhandlungsproblem 182, 550<br />
Kommunikation(s-) 158, 529<br />
Signale 181<br />
Kompass 121, Siehe auch<br />
Himmelskompass,<br />
Inklinationskompass,<br />
Magnetkompass, Mondkompass,<br />
Sonnenkompass, Sternenkompass<br />
Konditionierung<br />
Beobachtungskonditionierung<br />
469<br />
klassische 468<br />
operante 469<br />
Verstärkung 468<br />
Konduktion 78<br />
Konflikt(-) Siehe auch Eltern-Kind-<br />
Konflikt, Entwöhnungskonflikt,<br />
Geschwisterkonflikt, Interlokus-<br />
Konflikt, Intralokus-Konflikt,<br />
Mutter-Fötus-Konflikt<br />
Bewältigung 421<br />
intragenomischer 425<br />
Lösung<br />
Mechanismen 541<br />
sexueller 236, 380, 419<br />
Konglobation 500<br />
Konkurrenz 538, Siehe auch<br />
Ausbeutungskonkurrenz,<br />
Fortpflanzungskonkurrenz,<br />
Interferenzkonkurrenz,<br />
Nahrungskonkurrenz,<br />
Partnerkonkurrenz,<br />
Ressourcenkonkurrenz,<br />
Spermienkonkurrenz,<br />
Verdrängungskonkurrenz<br />
interspezifische 149<br />
intraspezifische 150<br />
Machtasymmetrie 375<br />
Mechanismen 377<br />
postkonzeptionelle 292<br />
postkopulatorische 281<br />
Umweltfaktoren 374<br />
Verwandtschaftsgrad 374, 375<br />
zwischen Weibchen 373<br />
Konterschattierung 210<br />
Konvektion 78
Sachverzeichnis 587<br />
Konvention<br />
arbiträre 179<br />
Konvergenz 19<br />
Konzessions-Modelle 374<br />
Kooperation 442, 544<br />
Kopulation(s-)<br />
Anzahl 287<br />
Dauer 288<br />
Verhalten 286<br />
korrelatives Modell 276<br />
Kosten-Nutzen-Analyse 25<br />
Krypsis 209<br />
Kultur 557<br />
Weitergabe 557<br />
Lack-clutch 55<br />
Laktationsamenorrhoe 295, 298<br />
Landmarke 119<br />
Lauschen 529<br />
Lausen 82<br />
Leben(s-)<br />
Dauer 59<br />
Fortpflanzungserfolg<br />
Varianz 268<br />
Laufgeschwindigkeiten 49<br />
Lek(-) 301, 523<br />
Paradoxon 351<br />
Lernen Siehe auch Gebrauchs-<br />
Lernen, Produktions-Lernen,<br />
Verständnis-Lernen<br />
assoziatives 469<br />
individuelles 164, 468<br />
soziales 469<br />
lokale Verstärkung 469<br />
Lernmuster 151<br />
Lieber-Feind-Effekt 179<br />
Life history 39, 237, 297, 406<br />
Diversität 41<br />
Evolution 44<br />
Merkmale 46<br />
Problem 54<br />
local<br />
mate competition Siehe<br />
Partnerkonkurrenz: lokale<br />
resource competition Siehe<br />
Ressourcenkonkurrenz: lokale<br />
resource enhancement 435<br />
local enhancement Siehe Lernen:<br />
soziales: lokale Verstärkung<br />
Lorenz 11<br />
Lotterie-Prinzip 283<br />
Luminosität 114<br />
Lunarperiodik 114<br />
Magnetkompass 125<br />
Magnetorezeption 105<br />
major histocompatibility complex<br />
(MHC) Siehe<br />
Haupthistokompatibilitäts-<br />
Komplex<br />
making the best of a bad job 303<br />
Männchen(-)<br />
Produktion<br />
Kosten 241<br />
Verteidigungs-Polyandrie 517<br />
Markttheorie<br />
biologische 528<br />
mate<br />
copying 343<br />
desertion Siehe Partner:<br />
Verlassen<br />
guarding 286, 350, Siehe auch<br />
Bewachung von Weibchen<br />
Hypothese 499<br />
Mechanorezeption 104<br />
Meiose 422<br />
Menotaxis 119<br />
Merkmal(s-)<br />
Gruppen-Selektion 491<br />
Verschiebung<br />
reproduktive 319<br />
Methode der unabhängigen<br />
Kontraste 23<br />
Mikrohabitatnutzung 151<br />
Mimese 209<br />
Mimikry Siehe auch Automimikry,<br />
Bates’sche Mimikry, Müller’sche<br />
Mimikry
588 Sachverzeichnis<br />
akustische 214<br />
Evolution 213<br />
mixed-species groups 502<br />
Mnemotaxis 119<br />
mobbing Siehe Hassen<br />
Mobilität 260<br />
Mondkompass 125<br />
Monogamie 513<br />
Monopolisierung(s-) 261<br />
Potential 260<br />
Mortalität(s-) 60<br />
extrinsische 61<br />
intrinsische 61<br />
Rate 452<br />
Wahrscheinlichkeit 265<br />
Muller’s ratchet 241<br />
Müller’sche Mimikry 213<br />
multilevel selection Siehe<br />
Merkmalsgruppen-Selektion<br />
Mutter-Fötus-Konflikt 425<br />
Mutualismus 454, 544, 549<br />
Tier-Pflanze 184<br />
Nachfolgeprägung 465<br />
Nachkommenzahl 53, 429<br />
Nachtaktivität 108<br />
Nährstoffgehalt 164<br />
Nahrung(s-) 32, 74<br />
Aufnahmerate 171<br />
Generalisten 155, 162<br />
Konkurrenz 166<br />
Dominanzbeziehungen 169<br />
Formen und Ursachen 167<br />
Geschlechtsunterschied 167<br />
ideal freie Verteilung 170<br />
kompetitives Regime 167<br />
Konkurrenzstrategien 167<br />
ultimate Aspekte 167<br />
Pyramide 154<br />
Qualität 164<br />
Energiegehalt 165<br />
Nährstoffe 165<br />
Pflanzeninhaltsstoffe 165<br />
Ressource 503<br />
Spezialisten 154<br />
Suche 153, 155, 535<br />
Gedächtnisleistung 156<br />
Informationszentren 158<br />
kognitive Aspekte 156<br />
ökologische Aspekte 159<br />
operante Konditionierung 157<br />
optimale Wiederkehrzeit 156<br />
solitäre 496<br />
soziale Aspekte 158<br />
Suchstrategie 157<br />
Suchzeit 161<br />
trapline foraging 157<br />
Verteilung der Nahrung 157<br />
Vorräte 157<br />
Wahl 160<br />
Bearbeitung(s-)<br />
Aufwand 160<br />
Zeit 161, 247<br />
optimale 161<br />
Profitabilität 161<br />
Verfügbarkeit der Nahrung<br />
161<br />
Zusammensetzung 154<br />
Navigation 120<br />
Nebenprodukt-Mutualismus 549<br />
Nepotismus 540, 544<br />
Nest(-)<br />
Flüchter 57, 410, 416<br />
gemeinsames 456<br />
Hocker 57, 410, 416<br />
Netto-Energiegewinn 89<br />
Nische 150<br />
Nötigung<br />
sexuelle 386<br />
Nutzen-Kosten-Bilanz 25<br />
observational conditioning Siehe<br />
Konditionierung:<br />
Beobachtungskonditionierung<br />
Omnivoren 154<br />
one shot game 546<br />
optic flow 128<br />
Optimal-foraging-Theorie 153<br />
Optimalitätsmodelle 26, 87
Sachverzeichnis 589<br />
Organisation(s-)<br />
Formen 495, Siehe auch Gruppe,<br />
Paar, solitär<br />
soziale 14, 20, 182, 489, 492<br />
Orientierung(s-)<br />
idiothetische 119<br />
räumliche 116<br />
Reize 117<br />
Vermögen 260<br />
zeitliche 107<br />
Ornament 265, 270, 352<br />
akustisches 274, 358<br />
olfaktorisches 362<br />
Qualität 358<br />
visuelles 272, 360<br />
weibliches 378<br />
Orthokinese 117<br />
Ortstreue 117<br />
Oviparie 407<br />
Ovoparie 53<br />
Ovoviviparie 408<br />
Evolution 408<br />
Ovulation 284<br />
induzierte 285<br />
spontane 285<br />
Oxytozin 461<br />
Paar 497<br />
disperses 497<br />
permanentes 497<br />
serielles 497<br />
Paarung(s-)<br />
assortative 321<br />
Erfolg 246, 268, 276<br />
Experimente 281<br />
heterospezifische 319<br />
polyandrische 381<br />
Präferenz 335<br />
Systeme 381, 489, 512, Siehe<br />
auch Monogamie, Polyandrie,<br />
Polygynandrie, Polygynie<br />
Diversität 512<br />
Konsequenzen 524<br />
genetische 526<br />
morphologische 525<br />
monandrische 323, 337<br />
polyandrische 323, 337<br />
Taktiken 305<br />
Zeit 260<br />
Paradigma der Ökologie 149<br />
Parasiten(-) 81<br />
Befall 273<br />
parental care Siehe Fürsorge:<br />
elterliche<br />
Parthenogenese 237<br />
Partner(-)<br />
Findung 257<br />
Konkurrenz<br />
lokale 435<br />
Verlassen 421<br />
Wahl 306<br />
Arterkennung 340<br />
direkte Vorteile 345<br />
Effekte auf Fertilität und<br />
Fekundität 346<br />
Erhebungstaktiken 337<br />
genetische Kompatibilität 366<br />
indirekte Vorteile 318, 352<br />
innerartliche Auswahl 341<br />
kryptische Weibchenwahl<br />
343<br />
Mechanismen 335<br />
MHC-abhängig 363<br />
Nachahmungseffekte 343<br />
Präexistenz von Präferenzen<br />
342<br />
proximate Grundlagen 340<br />
Qualität von Männchen<br />
346, 350<br />
Selektivität der Weibchen 336<br />
sensorische Ausbeutung 341<br />
patch 22, 28, Siehe auch<br />
Nahrungsressource<br />
Pathogenbelastung 351<br />
Pavlov 10<br />
Pay-to-stay-Hypothese 449<br />
Penisanatomie 290<br />
Periodik<br />
circannuale 115<br />
semilunare 114
590 Sachverzeichnis<br />
Pfadintegration 127<br />
Phänotyp 44, 301, 458<br />
Plastizität 45<br />
Pheromon 105, 259, 530<br />
Philopatrie 509, 540<br />
Photoperiode 115<br />
phylogenetic inertia Siehe<br />
phylogenetischer Ballast<br />
phylogenetische Effekte 49<br />
phylogenetischer Ballast 23<br />
piping signal<br />
Siehe Aufbruchsignal<br />
Playback-Experiment 219<br />
Pleiotropie 460<br />
antagonistische 62<br />
Polarisationsmuster 127<br />
Polaritätskompass 126<br />
Polyandrie 368, 516, Siehe auch<br />
Männchenverteidigungs-<br />
Polyandrie, Ressourcenverteidigungs-Polyandrie<br />
direkte Vorteile 369<br />
indirekte Vorteile 371<br />
klassische 517<br />
kooperative 456<br />
Polyethismus 443<br />
Polygynandrie 522<br />
Polygynie 267, 518, Siehe auch<br />
Ressourcenverteidigungs-<br />
Polygynie, Weibchenverteidigungs-Polygynie<br />
Kosten 521<br />
opportunistische 522<br />
Schwellenmodell 519<br />
Polymorphismus 210<br />
Polyphänismus 300<br />
Populationsdynamik 201<br />
Post-partum-Östrus 297, 418<br />
Prädation(s-) 197<br />
Evolution 198<br />
gekoppelte Oszillation 199<br />
Rate 201<br />
Risiko 151, 159, 173, 201, 505<br />
Selektionsdruck 198<br />
synchronisierte Oszillation 199<br />
Präferenz<br />
angeborene 340<br />
Funktion 340<br />
Prägung(s-) 326, 340, 465<br />
genomische 426<br />
Muster 151<br />
sexuelle 340, 465<br />
Priority-of-access-Modell 276<br />
prisoner’s dilemma Siehe<br />
Gefangenendilemma<br />
Produktions-Lernen 534<br />
Promiskuität 246, 522<br />
Protandrie 239<br />
Protogynie 239<br />
Psychologie<br />
vergleichende 12<br />
punishment Siehe Bestrafung<br />
P-Wert 282<br />
P 1 -Wert 291<br />
P 2 -Wert 282, 291<br />
queen policing 446<br />
Radiation 78<br />
raffle principle 284<br />
Rapid Eye Movements Siehe REM<br />
Räuber(-)<br />
Druck 201<br />
giftige 207<br />
Räuber-Beute-System 199<br />
Strategien 203<br />
Vermeidung 33, 535<br />
Verwirrung 223<br />
reconciliation Siehe Versöhnung<br />
Red-queen-Hypothese 242<br />
Regime<br />
kompetitives 540<br />
reinforcement Siehe<br />
Konditionierung: Verstärkung<br />
Reiz(-) 529<br />
bedingter 468<br />
unbedingter 468<br />
Verstärkung 469<br />
Rekombination<br />
Kosten 241
Sachverzeichnis 591<br />
REM-Schlaf 86<br />
reproductive skew 278, 279, 373,<br />
452, 455, 502, 541, Siehe auch<br />
Fortpflanzungserfolg<br />
Modelle 447<br />
Reproduktion<br />
eigene 447<br />
reproduktive Ungleichverteilung<br />
Siehe reproductive skew<br />
Residenten-Egalitaristen-Gruppen<br />
540<br />
Residenten-Nepotisten-Gruppen<br />
540<br />
Resorption von Embryonen 292<br />
Ressourcen(-)<br />
Dispersions-Hypothese 494<br />
Konkurrenz 294<br />
lokale 433<br />
Quantität 175<br />
Verfügbarkeit<br />
zeitliche Variabilität 503<br />
Verteidigung(s-)<br />
Hypothese 499<br />
Polyandrie 517<br />
Polygynie 519<br />
Verteidigungspotential 181<br />
Verteilung<br />
räumliche 175<br />
Verteilung(s-) 493<br />
restraint models Siehe<br />
Zurückhaltungsmodelle<br />
Reziprozität 546<br />
Rhythmus Siehe auch<br />
Gezeitenrhythmus<br />
circadianer 108<br />
Phasenverschiebung 111<br />
endogener 107<br />
Riechen 104<br />
Ritualisierung 533<br />
Romanes 9<br />
Ruf<br />
funktional referentieller 222<br />
runaway Siehe Fisher-Prozess:<br />
freilaufender Prozess<br />
Samenausbreitung 185<br />
sampling tactic Siehe<br />
Erhebungstaktik<br />
satellites 304<br />
Schlaf(-) 83<br />
Platz 85<br />
Schlüssel-und-Schloss-Hypothese<br />
290, 322<br />
Schmarotzer 552<br />
Schmecken 104<br />
Schreckstoff 104, 221<br />
Schwellenwert 302<br />
Schwesterart<br />
allopatrische 319<br />
sympatrische 319<br />
scouts 536<br />
scramble competition Siehe<br />
Ausbeutungskonkurrenz<br />
scramble competition polygyny<br />
Siehe Polygynie: opportunistische<br />
scroungers Siehe Schmarotzer<br />
Segregation<br />
sexuelle 508<br />
Sehen 100<br />
Sehschärfe 101<br />
Seilzieh-Modelle 374<br />
Seitenlinienorgan 104<br />
Selbstmedikation 166<br />
Selektion(s-) Siehe auch Chaseaway-Selektion,<br />
Gegenselektion,<br />
Gruppenselektion, Gute-Gene-<br />
Selektion, Merkmalsgruppen-<br />
Selektion, Prädationsselektion,<br />
Verwandtenselektion<br />
frequenzabhängige 210,<br />
301, 460<br />
intersexuelle 235<br />
intrasexuelle 235, 255<br />
Kosten 264<br />
Kräfte<br />
spezifische 551<br />
künstliche 234<br />
natürliche 31, 234, 491<br />
sexuelle 234, 491, 535<br />
Hypothese 290, 322
592 Sachverzeichnis<br />
intersexuelle 318, 324<br />
postkopulatorische 343<br />
Theorie<br />
sexuelle 294<br />
selfish genes 423<br />
self-reference 365<br />
Semelparie 53<br />
Sensitivierung 468<br />
sensory bias 341<br />
sentinel calls Siehe Wächterlaute<br />
sex<br />
allocation theory 432<br />
ratio Siehe<br />
Geschlechterverhältnis<br />
role reversal 379, 516<br />
sexual<br />
coercion Siehe Zwang: sexueller<br />
harassment Siehe Belästigung:<br />
sexuelle<br />
Sexual(-)<br />
Dichromatismus 325<br />
Dimorphismus 167, 265, 266,<br />
269, 525<br />
umgekehrter 269<br />
sexy sons 353<br />
sibling scramble competition 426<br />
Siblizid 437<br />
Signal 530<br />
akustisches 260, 320<br />
Bedeutung 533<br />
chemisches 105, 221, 530<br />
ehrliches 263, 272, 274, 358<br />
Ehrlichkeit 532<br />
Funktion 535<br />
Laute 531<br />
olfaktorisches 322<br />
Testosteron-abhängiges 363<br />
Übertragung 532<br />
visuelles 259, 531<br />
Sinnesphysiologie 100<br />
sit-and-wait predators Siehe<br />
Ansitzjäger<br />
sneaks 304<br />
social queuing 375<br />
society Siehe Gesellschaftsform<br />
solitär 496<br />
solitary foraging Siehe<br />
Nahrungssuche: solitäre<br />
Sonarsystem 102<br />
Sonnenkompass 121, 123<br />
Sozial(-)<br />
Struktur 489, 527, 539<br />
Koordination 535<br />
Systeme 489<br />
Sozio(-)<br />
Biologie 14, 545<br />
Ökologie 169<br />
Modell 492, 539<br />
Spermatophore 283<br />
Spermatothek 283<br />
Spermien(-) 243, 291<br />
Entfernung 283<br />
Konkurrenz 261, 281, 343, 381,<br />
522, 525<br />
anatomische Anpassungen 289<br />
Mechanismen 281<br />
Verhaltensanpassungen 286<br />
Morphologie<br />
Variabilität 291<br />
Speicherorgan 285<br />
Übertragung 286<br />
Verlust<br />
passiver 283<br />
Spieltheorie 546<br />
split sex ratios 445<br />
stay and peace incentives Siehe<br />
Bleibe- und Friedensanreize<br />
Sternenkompass 125<br />
Steroidhormone 464<br />
Stimmungsübertragung 469<br />
stimulus enhancement Siehe<br />
Reizverstärkung<br />
Stoffwechsel 74<br />
Störvariable 22<br />
Stratifikation 282<br />
Streifgebiete 173<br />
Stress 79<br />
soziale Stressoren 80<br />
Suchjäger 205<br />
Synchronität 499
Sachverzeichnis 593<br />
Tagaktivität 108<br />
Taktiken 29<br />
tandem running 537<br />
Tangled-bank-Hypothese 242<br />
Tarnmuster 209<br />
Taxis 118, Siehe auch Klinotaxis,<br />
Menotaxis, Mnemotaxis,<br />
Telotaxis<br />
teaching Siehe Unterrichten<br />
Telotaxis 119<br />
Territorialität 173<br />
Entfernungsexperimente 178<br />
floater 178<br />
Mechanismen 178<br />
Ökonomie 176<br />
Playback-Experimente 179<br />
Qualität der Ressource 175<br />
Saisonalität der Nahrungsquellen<br />
175<br />
Ursachen 175<br />
Territorium(s-)<br />
Größe<br />
optimale 26, 177<br />
Modell 176<br />
Qualität 350<br />
Testosteron 363<br />
Thelytokie 431<br />
theory-of-mind 555<br />
Thermo(-)<br />
Regulation 77<br />
Rezeption 105<br />
threshold rule 338<br />
Tinbergen 12<br />
vier Fragen 4<br />
Trade-off 41, 159, 286, 458<br />
Tradition 558<br />
trait group selection Siehe<br />
Merkmalsgruppen-Selektion<br />
Transaktions-Modelle 374<br />
Trinken 76<br />
Trivers-Willard-Hypothese 432<br />
tug-of-war models<br />
Siehe Seilzieh-Modelle<br />
turn-over 452<br />
Uhr<br />
circadiane<br />
Maskierungseffekte 111<br />
Schrittmacher 111<br />
circalunare 114<br />
circannuale 115<br />
circatidale 113<br />
innere<br />
externer Zeitgeber 111<br />
Ultimatum-Spiel 556<br />
unconditioned stimulus Siehe Reiz:<br />
unbedingter<br />
Ungenießbarkeit 210<br />
Ungleichverteilung<br />
reproduktive 278<br />
Unterdrückung<br />
reproduktive 279<br />
Unterrichten 470<br />
Varianz<br />
additive genetische 45, 351<br />
Vaterqualitäten 348<br />
Vaterschaft(s-)<br />
Sicherheit 413<br />
Test 295<br />
Verschleierung 296<br />
Verdrängungseffekt 150<br />
Verdünnungseffekt 218, 224, 501<br />
Verdunstung 78<br />
Verhalten(s-) 3<br />
Anpassung 5<br />
Biologie<br />
Geschichte 8<br />
klassische Methoden 16<br />
moderne Konzepte 19<br />
Entwicklung 4, 457<br />
Erfahrung 463<br />
Evolution 457<br />
Genetik 457<br />
Konsequenzen 16<br />
Ökologie 13<br />
pathologisches 294<br />
phylogenetischer Ursprung 5<br />
proximate Ursachen 4<br />
Strategie 29
594 Sachverzeichnis<br />
Struktur 16<br />
submissives 276<br />
ultimate Funktion 5<br />
Umwelteinflüsse 463<br />
Verletzungsrisiko 262<br />
Vermehrung<br />
ungeschlechtliche 237<br />
Versöhnung 543<br />
Verständnis-Lernen 534<br />
Verteidigung(s-) 264<br />
gemeinsame 223<br />
Mechanismen<br />
chemische 216<br />
Strukturen 262<br />
Verwandten(-)<br />
Diskriminierung 328<br />
Erkennung 331<br />
direkte 332<br />
Phänotyp-Abgleich 332<br />
räumliche Information 332<br />
Selektion 32, 212, 423, 442, 444,<br />
494, 545<br />
Verwandtschaftskoeffizient (r) 32,<br />
422<br />
vier<br />
Fragen 4<br />
Probleme 3, 31<br />
Vigilanz 217<br />
Viviparie 53, 406<br />
Evolution 408<br />
Vogelzug<br />
energetische Kosten 131<br />
Evolution 131<br />
von Frisch 11<br />
von Uexküll 11<br />
Wachsamkeit(s-) 217, 350, 501<br />
geteilte 218, 219<br />
Verhalten 218<br />
visuelle 217<br />
Wächterlaute 219<br />
Waffen 263, 386<br />
Wanderung 116, 130, 134<br />
proximate Kontrolle 132<br />
war of attrition Siehe<br />
Zermürbungskrieg<br />
Wärmeerzeugung 78<br />
Warn(-)<br />
Färbung 210<br />
Ruf 218<br />
Signal 215<br />
Wasserhaushalt 76<br />
Watson 10<br />
Wehrhaftigkeit 210, 215<br />
mechanischer Schutz 216<br />
Weibchen(-)<br />
Verteidigungs-Polygynie 518<br />
Wahl<br />
kryptische 323<br />
Werkzeug 559<br />
Wettbewerbsfähigkeit 167, 173<br />
Wettrennen<br />
evolutionäres 81, 183, 198,<br />
439, 532<br />
Gegenstrategien 202<br />
Strategien 202<br />
Wettrüsten 269<br />
Whitman 9<br />
Wiederverpaarungsrate<br />
optimale 382<br />
Wilson 14<br />
Winter(-)<br />
Schlaf 116<br />
Starre 116<br />
within-pair young (WPY) 368<br />
worker policing 446<br />
Zeitgeber 107<br />
Zermürbungskrieg 388, 541<br />
Zoochorie 185<br />
Zugunruhe 132<br />
Erblichkeit 133<br />
genetische Basis 132<br />
Zurückhaltungs-Modelle 374<br />
Zustände 16<br />
Zwang 541<br />
sexueller 236<br />
Zwitter Siehe Hermaphrodit
Tierverzeichnis<br />
Aal 134<br />
Aaskäfer 283<br />
Acinonyx jubatus 470<br />
Acrocephalus<br />
arundinaceus 440, 521<br />
schoenobaenus 349<br />
sechellensis 222, 435, 451<br />
Actitis<br />
hypoleuca 330<br />
macularia 517<br />
Aegithalos caudatus 546<br />
Aegolius funereus 85<br />
Aepyceros melampus 169, 549<br />
Agaonidae 435<br />
Agelaius phoeniceus 521<br />
Aglyptodactylus securifer 6, 257,<br />
338<br />
Ährenmaus 50<br />
Albatross 65<br />
Alcedo vintsioides 205<br />
Alces alces 165<br />
Aleochara curtula 283<br />
Alouatta palliata 222<br />
Alpen-Murmeltier 279<br />
Alpheus angulatus 499<br />
Alytes 414<br />
Amazona auropalliata 534<br />
Amazonenkärpfling 233, 240, 327<br />
Amblyrhynchus<br />
cristatus 83, 304, 336<br />
Ameise 117, 126, 437, 443, 537, 542<br />
Argentinische 329<br />
Ammophila 446<br />
Amsel 126, 182, 273<br />
Anas platyrhynchos 172, 347,<br />
429, 465<br />
Anatidae 388<br />
Anguilla rostrata 134<br />
Anolis sagrei 202<br />
Ansells Graumull 60<br />
Anseriformes 441<br />
Antechinus stuartii 372<br />
Anthozoa 207<br />
Anthus spinoletta 164<br />
Antilope 175<br />
Antrozous pallidus 85<br />
Anubispavian 296<br />
Aphelocoma<br />
californica 551<br />
coerulescens 449<br />
Apis mellifera 87, 120, 123, 233,<br />
413, 461, 534, 536<br />
Arachnidomyia lindae 202<br />
Araneae 119<br />
Arctocephalus gazella 368<br />
Astatotilapia burtoni 555<br />
Astyanax fasciatus 120<br />
Atrax 207<br />
Azurbischof 349<br />
Babylonia 210<br />
Bachforelle 407<br />
Bahama-Anolis 203<br />
Bär 164<br />
Bärenpavian 293<br />
Bathyergidae 444<br />
Bechstein-Fledermaus 83<br />
Bergpieper 164<br />
Beuteltier 297, 417<br />
Biene 119, 185, 213<br />
Bienenwolf 413<br />
Bitterling 350<br />
Blasenlaus 443<br />
Blässhuhn 542<br />
Blattella germanica 333<br />
Blatthühnchen 517
596 Tierverzeichnis<br />
Blattlaus 172<br />
Blattschwanzgecko 6<br />
Blaubuschhäher 157<br />
Blaufußtölpel 438, 542<br />
Blaukehlchen 368<br />
Blaukiemen-Sonnenbarsch 164,<br />
304, 413<br />
Blaukopf 304<br />
Blaukopflippfisch 233<br />
Bläulinge 260<br />
Blaumeise 55, 88, 326, 337, 341,<br />
367, 466<br />
Blindmaus 126<br />
Blutschnabel-Webervogel 270<br />
Bohnenkäfer<br />
Vierfleckiger 323, 345, 386<br />
Bombus terrestris 125, 156,<br />
385, 557<br />
Bombyx mori 258, 259, 535<br />
Bonobo 290, 552<br />
Boviden 263<br />
Braunbär 371<br />
Braunkopf-Kuhstärling 439<br />
Braunrückentamarin 377<br />
Breitflossenkärpflinge 327<br />
Breitfußbeutelmaus 372<br />
Breitkopfotter 204<br />
Brieftaube 103, 120, 122<br />
Brüllaffe 222<br />
Bufo 210<br />
bufo 532<br />
Buntbarsch 63<br />
Buschhäher 551<br />
Buschschwanzratte 115<br />
Cactospiza pallida 471<br />
Calamospiza melanocorys 337<br />
Calidris 379<br />
mauri 329<br />
Calliphora vicina 101<br />
Callithrix jacchus 556<br />
Callitrichidae 377, 456, 517<br />
Callosobruchus maculatus 323,<br />
345, 386<br />
Canis<br />
lupus 80, 201<br />
simensis 511<br />
Canthigaster valentini 215<br />
Caprimulgidae 114<br />
Carcharias taurus 439<br />
Cardiocondyla obscurior 437<br />
Caretta caretta 126<br />
Cataglyphis fortis 120, 127<br />
Cavia 410<br />
aperea 268, 427<br />
Cebus<br />
albifrons 560<br />
apella 557<br />
Certhidea<br />
fusca 147<br />
olivacea 147<br />
Cervidae 263<br />
Cervus<br />
canadensis 201<br />
elaphus 61, 262, 274, 359,<br />
382, 433<br />
Ceryle rudis 450<br />
Chaetodon 155<br />
Chamäleon 101, 119, 210, 496<br />
Chameleon chameleon 496<br />
Charadriides 270<br />
Charadrius alexandrinus 330<br />
Cheirogaleus medius 498<br />
Chelidonura hirundinina 239<br />
Chironex fleckeri 207<br />
Chlorocebus pygerythrus 222<br />
Chorthippus albomarginatus 321<br />
Cichliden 324, 379<br />
Ciliaten 199<br />
Clethrionomys rufocanus 495<br />
Cnemidophorus uniparens 237<br />
Coenagrion puella 287<br />
Columba livia 103<br />
Condylura cristata 156<br />
Connochaetes taurinus 264<br />
Copepoden 118<br />
Copidosoma floridanum 438<br />
Corvidae 122<br />
Corvus 151<br />
corax 158<br />
corone 158, 546<br />
moneduloides 427, 471, 558<br />
Crenicichla alta 63<br />
Crocidura russula 328
Tierverzeichnis 597<br />
Crocuta crocuta 205, 278, 438, 511<br />
Crotalidae 105, 208<br />
Crotalus 105<br />
Cryptomys<br />
anselli 60<br />
damarensis 329, 377<br />
Cryptoprocta ferox 257, 291<br />
Cuculus<br />
canorus 332, 439, 467<br />
fugax 441<br />
Curculionidae 444<br />
Cyanistes caeruleus 55, 88, 337,<br />
466<br />
Cyanocitta cristata 157<br />
Cycnia tenera 214<br />
Cyrtodiopsis dalmanni 356<br />
Dachs 170<br />
Danaus plexippus 134, 155, 184<br />
Daphnia magna 81<br />
Darwin-Fink 149, 532<br />
Decamorium decem 117<br />
Delfin 102, 158, 538, 545, 558<br />
Dendrobatidae 210<br />
Derbywallaby 470<br />
Desmodus rotundus 549<br />
Dickhornschaf 42, 263, 268<br />
Dinoponera quadriceps 542<br />
Diomedea exulans 130<br />
Diomedeidae 65<br />
Diplosoma listerianum 282<br />
Dipodomys spectabilis 371<br />
Diptera 413<br />
Dornschwanz-Leguan 79<br />
Drosophila 244, 306, 459<br />
melanogaster 110, 150, 347,<br />
382, 384<br />
Drosselrohrsänger 440, 521<br />
Dungfliege 287, 523<br />
Dungkäfer 291<br />
Dunkellaubsänger 359<br />
Dyacopterus spadiceus 417<br />
Eichhörnchen 92<br />
Eidechse 202, 406<br />
Eierfliege 65<br />
Eistaucher 52<br />
Eisvogel 205<br />
Elapidae 208<br />
Elch 165<br />
Elefant 167<br />
Eleutherodactylus johnstonei 415<br />
Elsterdrosslinge 219<br />
Ente 172, 388<br />
Entenvögel 441<br />
Eptesicus fuscus 214<br />
Erdkröte 532<br />
Erdmännchen 220, 222, 278, 377,<br />
453, 553<br />
Erithacus rubecula 43, 91<br />
Ernteameise<br />
Rote 534<br />
Erythrura gouldiae 274<br />
Eulemur<br />
fulvus rufus 76, 109, 223<br />
fulvus sanfordi 82<br />
Eunice viridis 114<br />
Euplectes 342<br />
Euplotes octocarinatus 199<br />
Falco tinnunculus 89<br />
Falterfisch 155<br />
Fasan 272<br />
Feigenwespe 185, 435<br />
Feldgrille 266, 359<br />
Mittelmeer- 330<br />
Feldheuschrecke 321<br />
Feldwespe 376<br />
Gallische 379, 533<br />
Fettschwanzgecko<br />
Gefleckter 202<br />
Fettschwanzmaki 498<br />
Feuerwanze 213<br />
Ficedula 326<br />
albicollis 346<br />
hypoleuca 121, 521, 548<br />
Fisch<br />
elektrischer 105, 364<br />
Fiskalwürger 80<br />
Fledermaus 85, 103, 115, 186, 214<br />
Fliege 202<br />
Fliegenschnäpper 326<br />
Flinkwallaby 77<br />
Flohkäfer 184
598 Tierverzeichnis<br />
Florida-Buschhäher 449<br />
Flughund 417<br />
Forficula auricularia 268, 303<br />
Formica<br />
fusca 546<br />
rufa 6<br />
Fossa 257, 291<br />
Frosch 6, 257, 338, 342, 346, 415,<br />
500, 557<br />
Fuchs 459<br />
Fukomys anselli 126<br />
Fulica atra 542<br />
Fundulus diaphanus 505<br />
Furcifer labordi 101<br />
Galapagos-<br />
Fink 147, 467<br />
Meerechse 83, 304, 336<br />
Spechtfink 471<br />
Gallinula mortierii 456<br />
Gallus gallus 6, 158, 292,<br />
350, 387<br />
Gambusia holbrooki 350<br />
Gartenrotschwanz 132<br />
Gasterosteus aculeatus 159, 171,<br />
247, 339, 361<br />
Gavia immer 52<br />
Gazella thomsonii 217<br />
Geburtshelferkröte 414<br />
Gelbaugenjunco 506<br />
Gelbbauchmolch<br />
Rauhhäutiger 245<br />
Gelbrücken-Papagei 534<br />
Geospiza 467, 532<br />
Gepard 470<br />
Geradschnabelkrähe 427, 471, 558<br />
Gerridae 386<br />
Gespenstkrabbe 282<br />
Gibbon 500<br />
Giftnatter 208<br />
Giraffa camelopardalis rothschildi<br />
182<br />
Giraffe 182<br />
Glühwürmchen 259<br />
Gnu 175, 264<br />
Gobiusculus flavescens 306<br />
Gonatus onxy 413<br />
Gorilla gorilla 49, 166, 278,<br />
289, 296<br />
Gouldamadine 274<br />
Grasammer 126<br />
Grasfrosch 300, 415<br />
Graufischer 450<br />
Graumull<br />
Ansells 126<br />
Damaraland- 329, 377<br />
Graurötelmaus 495<br />
Grille 271, 322<br />
Grubenotter 105, 208<br />
Gryllus<br />
bimaculatus 330<br />
campestris 359<br />
integer 271<br />
Guiraca caerulea 349<br />
Guppy 63, 249, 343, 345, 356, 362<br />
Gymnorhinus cyanocephalus<br />
122, 555<br />
Gymnotidae 105<br />
Halsbandschnäpper 346<br />
Hammerhai 105, 408<br />
Hamster 127, 285<br />
Goldener 332<br />
Hanuman-Langur 294<br />
Harpia harpyja 222<br />
Harpobittacus nigriceps 344<br />
Harpyie 222<br />
Hausmaus 307, 455<br />
Algerische 163<br />
Hausrotschwanz 132<br />
Haussperling 175, 299, 378, 421,<br />
464, 533<br />
Hausspitzmaus 328<br />
Heckenbraunelle 283, 370, 379,<br />
385, 494, 507, 514<br />
Hemianax papuensis 204<br />
Hemilepistus reaumuri 413<br />
Heringsmöwe 326<br />
Heterocephalus glaber 448<br />
Heuschrecke 283, 321<br />
Hippocampus 379<br />
Hirsch 263<br />
Hirundo rustica 130, 134, 275, 299,<br />
362, 408
Tierverzeichnis 599<br />
Höhlenfisch 120<br />
Holothuridae 210<br />
Homarus americanus 554<br />
Honigbiene 87, 120, 123, 233, 413,<br />
461, 534, 536<br />
Hoplocephalus bungaroides 204<br />
Hornträger 263<br />
Hufeisen-Azurjungfer 287<br />
Huftiere 169<br />
Huhn 6, 158, 283, 292, 350, 387<br />
Tasmanisches 456<br />
Hummel 125, 126, 156, 185,<br />
385, 557<br />
Hummer<br />
Amerikanische 554<br />
Hydrophiidae 208<br />
Hydrozoa 207<br />
Hyla versicolor 365<br />
Hylobatidae 500<br />
Hymenoptera 413, 436, 444<br />
Hyperolius marmoratus 346<br />
Hypolimnas bolina 65<br />
Hyposoter horticola 120<br />
Impala 169, 549<br />
Inachus phalangium 282<br />
Jacana jacana 517<br />
Japan-Makake 557<br />
Javaneraffe 85, 505<br />
Juncos phaeonotus 506<br />
Kaiserlibelle<br />
Gelbe 204<br />
Kammspinne 207<br />
Kampfläufer 301<br />
Kanarienvogel 426, 464<br />
Känguru 264<br />
Kängururatte 371<br />
Kapuzineraffe 557<br />
Kardinalfisch 429<br />
Kaskadenfrosch 260<br />
Katta 556<br />
Kellerassel 117<br />
Kiefernhäher 120, 551<br />
Klapperschlange 105<br />
Knallkrebs 499<br />
Knochenfisch 104, 406, 413<br />
Knorpelfisch 406, 413<br />
Koala 166<br />
Koboldmaki 101<br />
Kobus ellipsiprymnus 220<br />
Kohlmeise 53, 55, 88, 164, 180,<br />
212, 233, 326, 341, 466, 510, 557<br />
Kolibri 75, 177, 185<br />
Königspython 415<br />
Kopfschildschnecke 239<br />
Krabbenspinne<br />
Gehöckerte 208<br />
Krähe 151<br />
Krallenaffe 377, 456, 517<br />
Kranich 172<br />
Kröte 210<br />
Kuckuck 332, 441, 459, 467<br />
Europäischer 439<br />
Kudu 169<br />
Kugelfisch 210<br />
Kuhstärling 441<br />
Küstenseeschwalbe 130<br />
Küstentaube 176<br />
Labroides dimidiatus 529, 549<br />
Lacerta agilis 237<br />
Lachmöwe 25, 534<br />
Lachs 57, 62, 134, 172<br />
Pazifischer 467<br />
Lagopus lagopus 181<br />
Lampyridae 259<br />
Landschnecke 385<br />
Lanius collaris 80<br />
Larus<br />
argentatus 326<br />
delawarensis 427<br />
fuscus 326<br />
ridibundus 25, 534<br />
Lasiurus borealis 214<br />
Laubfrosch<br />
Grauer 365<br />
Laupala 322<br />
Leiocephalus carinatus 202<br />
Lembadion bullinum 199<br />
Lemur 260, 523, 556<br />
Leo panthera 207, 550<br />
Lepilemur ruficaudatus 84
600 Tierverzeichnis<br />
Lepomis macrochirus 164, 304, 413<br />
Leptothorax albipennis 537<br />
Lepus americanus 199, 491<br />
Libelle 283, 287<br />
Linepithema humile 329<br />
Liostenogaster flavolineata 447<br />
Locusta migratoria 77<br />
Lonchura leuco 342<br />
Longitarsus 184<br />
Löwe 77, 207, 296, 337, 455, 522,<br />
538, 550<br />
Luchs 199, 491<br />
Luscinia svecica 368<br />
Lycaon pictus 206, 435<br />
Lynx lynx 199, 491<br />
Macaca<br />
fascicularis 85, 505<br />
fuscata 557<br />
mulatta 469, 542<br />
nigra 554<br />
Macropus<br />
agilis 77<br />
eugenii 470<br />
rufus 264<br />
Magicicada 337<br />
Malurus cyaneus 451, 543<br />
Mandrillus sphinx 272<br />
Mantelpavian 519, 542<br />
Marcusenius pongolensis 364<br />
Marmota marmota 78, 279<br />
Marsupialia 297, 417<br />
Mauereidechse<br />
adriatische 147<br />
Maultierhirsch 223<br />
Maus 128, 306, 364<br />
Mausmaki 49<br />
Grauer 75, 280, 337, 523<br />
Madame Berthes 497<br />
Meerassel 302<br />
Meeresschildkröte 126<br />
Meerkatze<br />
Grüne 222<br />
Meerschweinchen 268, 410,<br />
427, 461<br />
Mehlkäfer 371<br />
Mehlschwalbe 275, 408<br />
Meleagris gallopavo 237, 545<br />
Meles meles 170<br />
Melospiza melodia 81<br />
Meriones unguiculatus 464<br />
Mesocricetus auratus 285, 332<br />
Metepeira incrassata 202<br />
Microcebus<br />
berthae 497<br />
murinus 49, 75, 280, 337, 369, 523<br />
Microchiroptera 103<br />
Microtus 461<br />
agrestis 50<br />
ochrogaster 293, 455, 516<br />
oeconomus 201<br />
pennsylvanicus 292<br />
Miesmuschel 203<br />
Mink 85<br />
Mirounga angustirostris 518<br />
Mirza coquereli 260, 523<br />
Mistkäfer 127, 265, 304<br />
Molch 203, 216, 282<br />
Molothrus ater 439<br />
Monarchfalter 134, 155, 184<br />
Mönchsgrasmücke 132, 150, 460<br />
Monotremata 417<br />
Mormyridae 105<br />
Moskitofisch 350<br />
Motte 370<br />
Möwe 500<br />
Mücke 118<br />
Mufflon 268<br />
Mungos mungo 181, 278, 378<br />
Muräne 210<br />
Murenidae 210<br />
Murmeltier 78<br />
Mus<br />
domesticus 128<br />
musculus 307, 455<br />
spicilegus 50<br />
spretus 163<br />
Mustela vision 85<br />
Myotis bechsteinii 83<br />
Myriapoda 119<br />
Mytilus edulis 203<br />
Nacktmull 448<br />
Nacktschnabelhäher 122, 555
Tierverzeichnis 601<br />
Nasua narica 501<br />
Nauphoeta cinerea 516<br />
Nectarinia reichenowi 27<br />
Nektarvögel 27, 177, 421<br />
Neochromis omnicaeruleus 379<br />
Neotoma cinerea 115<br />
Nephila<br />
inaurata 205<br />
plumipes 288<br />
Nesseltiere 207<br />
Nicrophorus 413<br />
defodiens 516<br />
Nucifraga columbiana 120, 551<br />
Nycticebus coucang 210<br />
Ochotona princeps 148<br />
Odocoileus hemionus 223<br />
Odorrana tormota 260<br />
Oecophylla 537<br />
Oedura lesueurii 202<br />
Ohrwurm 268, 303<br />
Oleanderbärenspinner 214<br />
Oncorhynchus 134, 467<br />
mykiss 52, 127<br />
nerka 62<br />
Onthophagus 265<br />
binodis 304<br />
taurus 291<br />
Oplurus cuvieri 79<br />
Orang-Utan 280, 289, 388,<br />
552, 559<br />
Osteichthyes 104<br />
Otus rutilus 101<br />
Ovis<br />
aries 268, 289<br />
canadensis 42, 263, 268<br />
Oxyopes salticus 467<br />
Palolowurm 114<br />
Pan<br />
paniscus 290, 552<br />
troglodytes 158, 166, 207, 287,<br />
290, 337, 387, 470, 529, 538,<br />
543, 545<br />
Panorpa vulgaris 347, 348, 388<br />
Panthera leo 77, 296, 337,<br />
455, 522<br />
Panulirus argus 126<br />
Papio<br />
anubis 296<br />
cynocephalus 217, 222, 330, 554<br />
hamadryas 519, 542<br />
ursinus 91, 274, 293, 379, 529<br />
Paracerceis sculpta 302<br />
Paradiesvogel 271<br />
Paradisea minor jobiensis 271<br />
Paramecium 243<br />
Pararge aegeria 179<br />
Parus<br />
ater 368<br />
major 53, 55, 88, 164, 180, 233,<br />
326, 427, 466, 510, 557<br />
Passer<br />
domesticus 175, 299, 378, 421,<br />
464, 533<br />
petronia 422<br />
Passerculus sandwichensis 126<br />
Passeriformes 467<br />
Pavian 91, 217, 222, 274, 379, 528,<br />
554<br />
Pavo cristatus 234, 347<br />
Pelzrobbe 367<br />
Pemphigidae 443<br />
Periophthalmus 113<br />
Periparus ater 466<br />
Perisoreus infaustus 151<br />
Peromyscus<br />
boylii 152<br />
polionotus 306<br />
Pfau 234, 347<br />
Pfeifhase 148<br />
Pfeilgiftfrosch 210<br />
Phascolarctus cinereus 166<br />
Phasianus colchicus 272<br />
Phasmatodea 209<br />
Philantus triangulum 413<br />
Philomachus pugnax 301<br />
Phoca vitulina 104<br />
Phodopus sungorus 127<br />
Phoenicurus<br />
ochruros 132<br />
phoenicurus 132<br />
Pholcus phalangioides 268<br />
Phoneutria 207
602 Tierverzeichnis<br />
Photuris 259<br />
Phylloscopus fuscatus 359<br />
Physalaemus 342<br />
pustulosus 500<br />
Physeter macrocephalus 102<br />
Pieris napi 385<br />
Pinselmaus 152<br />
Pithecia pithecia 553<br />
Plazentalia 417<br />
Ploceus sakalava 21<br />
Podarcis melisellensis 147<br />
Poecile atricapilla 222<br />
Poecilia<br />
formosa 233, 240, 327<br />
latipinna 240, 327<br />
mexicana 240<br />
reticulata 63, 249, 343, 356<br />
Pogonomyrmex barbatus 534<br />
Polistes dominulus 376, 379,<br />
447, 533<br />
Polyommatus icarus 260<br />
Pongo 289<br />
abelii 388<br />
pygmaeus 280, 552<br />
Porcellio 117<br />
Possum 433<br />
Pottwal 102<br />
Prachtfink 274, 342<br />
Prachtstaffelschwanz 543<br />
Prärieammer 337<br />
Prärieläufer 517<br />
Präriewühlmaus 455, 516<br />
Presbytis thomasi 518<br />
Primaten 165, 186<br />
Propithecus verreauxi 109, 278<br />
Prunella<br />
modularis 283, 494, 507, 514<br />
vulgaris 370, 379, 385<br />
Pterapogon kauderni 429<br />
Ptilonorhynchus violaceus 340<br />
Pufferfisch 215<br />
Pundamilia<br />
nyererei 324, 325<br />
pundamilia 324, 325<br />
Putzerfisch 529, 549<br />
Pyrrhocoridea 213<br />
Python regius 415<br />
Quelea quelea 270<br />
Rabe 158<br />
Rabenkrähe 158, 546<br />
Rabenvögel 122, 551<br />
Rana<br />
esculenta 209, 320<br />
temporaria 300, 415<br />
Rangifer tarandus 111, 434<br />
Rapsweißling 385<br />
Ratiten 416<br />
Ratte 547, 550<br />
Rattus norvegicus 547<br />
Rauchschwalbe 130, 134, 299, 362<br />
Raufußkauz 85<br />
Regenbogenforelle 52, 127<br />
Rentier 111, 434<br />
Rhabdomys pumilio 328, 504<br />
Rhesusaffe 469, 542<br />
Rhodeus sericeus 350<br />
Riesenbachling 63<br />
Ringschnabelmöwe 427<br />
Rivulus hartii 63<br />
Röhrenspinne 299<br />
Rotaugenvireos 131<br />
Rothirsch 61, 262, 268, 274, 359,<br />
382, 433<br />
Rotkehlchen 43, 91<br />
Rotschulterstärling 521<br />
Rotstirnmaki 76, 109<br />
Rüsselkäfer 444<br />
Saguinus fuscicollis 377<br />
Saimiri<br />
oerstedii 540<br />
sciureus 540<br />
Sakalava-Weber 21<br />
Salmo<br />
salmar 57<br />
trutta 407<br />
Salticidae 101<br />
Salvelinus alpinus 292<br />
Sandgräber 444, 448<br />
Sandtigerhai 439<br />
Sanfordmaki 82<br />
Savannenpaviane 330<br />
Saxicola torquata 80
Tierverzeichnis 603<br />
Scandentia 515<br />
Scarabaeus zambesianus 127<br />
Scathophaga stercoraria<br />
287, 523<br />
Schabe 333, 335, 516<br />
Schaufelfußkröte 326<br />
Schilfrohrsänger 349<br />
Schimpanse 158, 166, 207, 287,<br />
290, 337, 387, 470, 529, 538,<br />
543, 545, 551, 557<br />
Schistocerca gregaria 135<br />
Schlammspringer 113<br />
Schlupfwespe 120<br />
Schmeißfliege 101<br />
Schnappgrundel 306<br />
Schnecke 210<br />
Schneehuhn 181<br />
Schneeschuh-Hase 199, 491<br />
Schopf-Makake 554<br />
Schwammgarnele 443<br />
Schwanzmeise 546<br />
Schwarzkehlchen 80<br />
Schwarzkehlmaulbrüter 555<br />
Schwarzkopfmeise 222<br />
Schwebfliege 213<br />
Schwein 438<br />
Schwertträger 342<br />
Zwerg- 322<br />
Schwirrammer 151<br />
Sciurus vulgaris 92<br />
Scorpaeniformes 210<br />
Sechsstreifen-Rennechse 237<br />
See-Elefant<br />
Nördlicher 518<br />
Seegurke 210<br />
Seehund 104<br />
Seenadel 379, 414<br />
Seepferdchen 247, 379, 414<br />
Seesaibling 292<br />
Seescheide 282<br />
Seeschlange 208<br />
Seidenlaubvogel 340<br />
Seidenspinne 205, 288<br />
Seidenspinner 258, 259, 535<br />
Seitenfleckenleguan 302<br />
Semnopithecus entellus 294<br />
Serinus canaria 426, 464<br />
Seychellen-Rohrsänger 222,<br />
435, 451<br />
Sifaka 278<br />
Verreaux’s 109<br />
Silberfuchs 461<br />
Silbermöwe 326<br />
Silurus glanis 205<br />
Singammer 81<br />
Singvögel 467<br />
Sklavenameise<br />
Schwarze 546<br />
Skorpionsfisch 210<br />
Skorpionsfliege 344, 347,<br />
348, 388<br />
Spalax ehrenbergi 126<br />
Spea<br />
bombifrons 326<br />
multiplicata 326<br />
Spermophilus<br />
beecheyi 105<br />
richardsoni 249<br />
tridecemlineatus 260, 523<br />
Sphyrna mokarran 105<br />
Sphyrnidae 408<br />
Spinne 119, 202<br />
Spitzhörnchen<br />
Großes 515<br />
Spizella passerina 152<br />
Springspinne 101, 467<br />
Squamata 406<br />
Stabheuschrecke 209<br />
Stachelhummer 126<br />
Staffelschwanz<br />
Blauer 451<br />
Star 89, 120, 359, 416<br />
Stegodyphus lineatus 299<br />
Steinsperling 421<br />
Sterna paradisea 130<br />
Sternmull 156<br />
Stichling 159, 171, 247, 339, 348,<br />
361, 365, 366<br />
Stielaugenfliege 356, 357<br />
Stockente 172, 347, 429, 465<br />
Strandflohkrebs 125<br />
Strandläufer 270, 379<br />
arktische 329<br />
Berg- 329
604 Tierverzeichnis<br />
Streifenhörnchen 260<br />
Streifenmanguste 278<br />
Streifenmungo 378<br />
Streptopelia 321<br />
Striemengrasmaus 328, 334, 504<br />
Strumpfbandnatter 203, 216, 237<br />
Sturnus vulgaris 89, 120, 359, 416<br />
Sula nebouxii 438, 542<br />
Sumpfmaus 201<br />
Sumpfschwalbe 427<br />
Suricata suricatta 220, 222, 278,<br />
377, 453, 553<br />
Sus scrofa 264, 438<br />
Sylvia atricapilla 132, 150, 460<br />
Synalpheus 443<br />
Syngnathidae 379, 414<br />
Syngnathus typhle 247<br />
Syntomeida epilais 214<br />
Syrphidae 213<br />
Tachycineta bicolor 427<br />
Taeniopygia guttata 55, 273, 342,<br />
362, 420, 429<br />
Talitrus 125<br />
Tannenmeise 368, 466<br />
Tannenzapfenechse 408, 499<br />
Taricha 203, 216<br />
granulosa 245, 282<br />
Tarsius lariang 101<br />
Taufliege 110, 347, 382, 384<br />
Tausendfüßler 119<br />
Teichfrosch 209, 320<br />
Teleogryllus commodus 266<br />
Temora longicornis 118<br />
Termite 447<br />
Tetradontidae 210<br />
Thalassoma bifasciatum 233, 304<br />
Thamnophis 237<br />
sirtalis 203, 216<br />
Thomas-Langur 518<br />
Thomisus onustus 208<br />
Thomson-Gazelle 217<br />
Thripse 443<br />
Thysanoptera 443<br />
Tigerspinner 214<br />
Tiliqua rugosa 408, 499<br />
Tintenfisch 209, 413<br />
Topelritze<br />
Gestreifte 505<br />
Totengräber 413, 516<br />
Totenkopfaffe<br />
Costa-Ricanischer 540<br />
Peruanischer 540<br />
Tragelaphus 169<br />
Trauerschnäpper 121, 521, 548<br />
Tribolium castaneum 371<br />
Trichosurus vulpecula 433<br />
Trochilidae 75, 177<br />
Truthahn 237, 545<br />
Tunnelspinne 207<br />
Tupaia tana 515<br />
Tüpfelhyäne 205, 278, 438, 511<br />
Turdoides bicolor 219<br />
Turdus merula 126, 182, 273<br />
Turmfalke 89<br />
Tursiops 545, 558<br />
truncatus 102, 158<br />
Turteltaube 321<br />
Uca 119<br />
annulipes 533<br />
mjoebergi 549<br />
Unglückshäher 151<br />
Ungulata 169<br />
Uperoleia laevigata 346<br />
Uroplatus guentheri 6<br />
Ursus<br />
americanus 164<br />
arctos 164, 371<br />
Uta stansburiana 302<br />
Utetheisa ornatrix 370<br />
Vampirfledermaus 549<br />
Viper 208<br />
Viperidae 208<br />
Vireo olivaceus 131<br />
Vulpes vulpes 459, 461<br />
Wal 559<br />
Waldameise 6<br />
Waldbrettspiel 179<br />
Wanderalbatross 130<br />
Wanderheuschrecke 77, 135, 537<br />
Wapitihirsch 201
Tierverzeichnis 605<br />
Wasserbock 220<br />
Wasserfloh 81<br />
Wasserläufer 386<br />
Webervogel 20, 21<br />
Weißbüscheläffchen 556<br />
Weißgesicht-Saki 553<br />
Weißrüssel-Nasenbär 501<br />
Weißstirn-Kapuzineraffe 560<br />
Wels 205<br />
Wespe 213, 438, 446, 447<br />
Wieselmaki 84<br />
Wiesenwühlmaus 292<br />
Wildhund 206, 435, 538<br />
Wildschaf 289<br />
Wildschwein 264<br />
Winkerkrabbe 119, 533, 549<br />
Witwenvogel 342<br />
Wolf 80, 201, 511<br />
Wühlmaus 50, 292, 461<br />
Würfelqualle 207<br />
Wüstenameise 120, 127<br />
Wüstenassel 413<br />
Wüstenrennmaus 464<br />
Xiphophorus 342<br />
cortezi 322<br />
pygmaeus 322<br />
Zauneidechse 237<br />
Zebrafink 55, 273, 342, 362,<br />
420, 429<br />
Zebramanguste 181<br />
Zenaida aurita 176<br />
Ziegenmelker 114<br />
Ziesel 105, 249, 523<br />
Zikade 337<br />
Zitterspinne<br />
Große 268<br />
Zweiflügler 413<br />
Zwergohreule 101