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Von der äußeren Geographie komme ich nun zur inneren. Die eigene Kindheit ist einem vertraut und bekannt. Die Personen und Schauplätze, die Erlebnisse und die Gefühle sind einem eigen und nicht die von anderen. Ob man sich in der Erinnerung an die eigene Kindheit wohl fühlt oder nicht sei dahin gestellt, auf jeden Fall aber kennt man sich aus und ist mit ihr vertraut. Nicht so bei der anderen, fremden „Kindheitslandschaft“. Diese erscheint einem vielleicht auf den ersten Blick fremd und unzugänglich, oft will man sie erst gar nicht betreten. Auf den zweiten Blick kann sie sogar bedrohlich wirken, man möchte die Konfrontation mit ihr abwenden und stellt sich auf Abwehr ein! So muss es einem Lehrer ergehen, der tagtäglich „schwer erträgliche Formen der Andernheit und Fremdheit“ 126 durch seine Schüler erfährt. Aggressionen, Hass, Beleidigungen, Wut, Desinteresse, Gleichgültigkeit, Normüberschreitungen in allen Schattierungen wogen ihm möglicherweise entgegen. Allerhand Gefühle und Verhaltensweisen, die ihm fremd sind, die er - von sich - nicht kennt oder kennen will und die ihm nicht vertraut sind, womit er sich auch keineswegs vertraut machen will. Die Feststellung: „ich unterscheide mich von den Kindern!“ 127 dürfte eine der ersten Erkenntnisse im Umgang mit Kindern sein, die Lernbehinderungen haben. Eine zweite Erkenntnis, die nicht so offensichtlich ist wie die erste, könnte dann für den Lehrer naheliegen: „ich bin geprägt!“. Die eigene Sozialisation bestimmt nicht nur das spätere Erzieherverhalten, sondern auch die „Interpretationen erzieherischer und anderer gesellschaftlicher Vorgänge“ entscheidend. 128 Fasst man nun die zwei Aussagen zusammen und erweitert sie ergibt sich für den Lehrer für Schüler mit LB der einfache Satz: ich unterscheide mich von den Kindern aufgrund meiner eigenen Sozialisation und vor allem der Kindheitserfahrungen. Aber ist diese Feststellung so simplifizierbar? Werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf die differenten Vorgeschichten, die schon in der Überschrift des Kapitels mit vertrauter und fremder Kindheit 129 beschrieben wurden. In der Schule für Schüler mit LB treffen nun in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zwei Welten aufeinander. Zwei unterschiedliche Vergangenheiten und Lerngeschichten 130 stehen sich gegenüber und bergen in sich divergente Erfahrungen im Lernen, im Erfolg und Misserfolg, im Beziehungserleben, in Motivation und Interesse, in Leistungsstreben und Anstrengungsbereitschaft, in häuslichem Umfeld und außerschulischen Aktivitäten und vielen anderen Bereichen, die Unterricht beeinflussen. Eine paradoxe Situation entsteht, denn der jeweils andere hält seine Welt für selbstverständlich und die des anderen erscheint ihm fremd. 126 BLOEMERS, 1995, S. 212 127 vgl. die Beschreibung einer Studentin; GARLICHS, 1985, S. 26 128 vgl. BLEIDICK/ ELLGER-RÜTTGARDT, 1978, S. 152 129 dieser Ausspruch ist der Titel des Kapitels von Herbert HAGSTEDT in GARLICHS, 2000, S. 50 130 vgl. HOFMANN in BÜTTNER/ FINGER-TRESCHER, 1991, S. 46 http://www.foepaed.net 28

In der Schule aber lernen die Schüler, dass nur eine Welt die richtige, die zu Lernende ist, und diese Welt ist nicht die ihre. „Wie oft konfrontieren wir unsere sozio-kulturell benachteiligten Schüler [...] mit einer für sie fremden, uns jedoch vertrauten kulturellen Welt, versuchen sie pädagogisch in diese zu integrieren.“ 131 meint RÄUBER und betont die Notwendigkeit zur Offenheit gegenüber und Annahme des Andersseins. Diese Offenheit wird aber begrenzt durch den internen Wahrnehmungsfilter, den man sich im Lauf seines Lebens erworben hat. 132 Dieser läßt nur bestimmte Dinge durch und diese auch nur in einem bestimmten Licht. So kann es einem sehr ernsten Lehrer, der auch schon ein ernstes Kind war, als Provokation erscheinen, wenn ein Schüler eine freche Bemerkung macht. Er wird dieses Kind vielleicht dafür bestrafen und persönlich verletzt reagieren. Ein anderer Lehrer, der in seiner Schulzeit auch frech war, wird dieselbe Situation unter Umständen ganz anders sehen und beurteilen, vielleicht milder sein mit dem Kind oder sogar über dessen Bemerkung lachen. Lehrer wie Schüler sind also vorgeprägt. Für den Lehrer und auch schon für Studenten ist es oftmals ein richtiger „Kulturschock“ 133 , wenn sie zum ersten mal länger Kontakt haben mit Schülern mit LB und deren für sie befremdlichen Vergangenheit und Gegenwart. Für den Schüler mit LB ist es wahrscheinlich ein ebenso großer „Kulturschock“, wenn er mit der Schulwelt in Kontakt kommt. Er soll aber in diese, ihm fremde Welt gebracht werden. Dass aus dieser Diskrepanz zwischen eigener und fremder Welt Störungen resultieren können, liegt nahe. 134 Was aber macht der Lehrer mit dieser Unterschiedlichkeit? Er kann versuchen, sich aus der fremden Welt herauszuhalten, indem er sich auf den zu vermittelnden Stoff konzentriert und so eine anscheinend objektive Haltung einzunehmen. 135 Er kann auch die Erfahrung der fremden Realität 136 akzeptieren und diese für gut befinden aber darüber hinaus weitere Anstrengungen gegenüber dem Schüler mit LB vermeiden und sich auf andere Unterrichtsbereiche beschränken. Oder aber er kann sich aktiv mit den Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten, die ihn von seinen Schülern trennen und die ihn mit seinem Schülern verbinden, auseinandersetzen. Er kann versuchen, sich das Fremde im Schüler und in sich vertraut zu machen. 131 RÄUBER, 1998, S. 52 132 diesen Begriff verwendet HURRELMANN; HURRELMANN in BLEIDICK, 1985, S. 302 133 GARLICHS, 2000, S. 50 134 die Konsequenzen für Schüler aus der sozio-kulturellen Unterschicht beschreibt HURRELMANN; HURRELMANN in BLEIDICK, 1985, S. 303f 135 durch die Objektivierung der „Behinderten“ können Sonderpädagogen ausklammern, „was sie selbst existentiell persönlich erleben oder erlebt haben.“; BEGEMANN in BEGEMANN/ KRAWITZ, 1994, S. 205 136 dieser Begriff taucht im Bericht einer Studentin auf; GARLICHS, 2000, S. 31 http://www.foepaed.net 29

Von der äußeren Geographie komme ich nun zur inneren. Die eigene Kindheit ist einem<br />

vertraut und bekannt. Die Personen und Schauplätze, die Erlebnisse und die Gefühle sind<br />

einem eigen und nicht die von anderen. Ob man sich in der Erinnerung an die eigene Kindheit<br />

wohl fühlt oder nicht sei dahin gestellt, auf jeden Fall aber kennt man sich aus und ist mit ihr<br />

vertraut. Nicht so <strong>bei</strong> der anderen, fremden „Kindheitslandschaft“. Diese erscheint einem<br />

vielleicht auf den ersten Blick fremd und unzugänglich, oft will man sie erst gar nicht<br />

betreten. Auf den zweiten Blick kann sie sogar bedrohlich wirken, man möchte die<br />

Konfrontation mit ihr abwenden und stellt sich auf Abwehr ein! So muss es einem Lehrer<br />

ergehen, der tagtäglich „schwer erträgliche Formen der Andernheit und Fremdheit“ 126 durch<br />

seine Schüler erfährt. Aggressionen, Hass, Beleidigungen, Wut, Desinteresse, Gleichgültigkeit,<br />

Normüberschreitungen in allen Schattierungen wogen ihm möglicherweise<br />

entgegen. Allerhand Gefühle und Verhaltensweisen, die ihm fremd sind, die er - von sich -<br />

nicht kennt oder kennen will und die ihm nicht vertraut sind, womit er sich auch keineswegs<br />

vertraut machen will. Die Feststellung: „ich unterscheide mich von den Kindern!“ 127 dürfte<br />

eine der ersten Erkenntnisse im Umgang mit Kindern sein, die Lernbehinderungen haben.<br />

Eine zweite Erkenntnis, die nicht so offensichtlich ist wie die erste, könnte dann für den<br />

Lehrer naheliegen: „ich bin geprägt!“. Die eigene Sozialisation bestimmt nicht nur das spätere<br />

Erzieherverhalten, sondern auch die „Interpretationen erzieherischer und anderer<br />

gesellschaftlicher Vorgänge“ entscheidend. 128 Fasst man nun die zwei Aussagen zusammen<br />

und erweitert sie ergibt sich für den Lehrer für Schüler mit LB der einfache Satz: ich<br />

unterscheide mich von den Kindern aufgrund meiner eigenen Sozialisation und vor allem der<br />

Kindheitserfahrungen. Aber ist diese Feststellung so simplifizierbar? Werfen wir zunächst<br />

einen genaueren Blick auf die differenten Vorgeschichten, die schon in der Überschrift des<br />

Kapitels mit vertrauter und fremder Kindheit 129 beschrieben wurden.<br />

In der Schule für Schüler mit LB treffen nun in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler<br />

zwei Welten aufeinander. Zwei unterschiedliche Vergangenheiten und Lerngeschichten 130<br />

stehen sich gegenüber und bergen in sich divergente Erfahrungen im Lernen, im Erfolg und<br />

Misserfolg, im Beziehungserleben, in Motivation und Interesse, in Leistungsstreben und<br />

Anstrengungsbereitschaft, in häuslichem Umfeld und außerschulischen Aktivitäten und vielen<br />

anderen Bereichen, die Unterricht beeinflussen. Eine paradoxe Situation entsteht, denn der<br />

jeweils andere hält seine Welt für selbstverständlich und die des anderen erscheint ihm fremd.<br />

126 BLOEMERS, 1995, S. 212<br />

127 vgl. die Beschreibung einer Studentin; GARLICHS, 1985, S. 26<br />

128 vgl. BLEIDICK/ ELLGER-RÜTTGARDT, 1978, S. 152<br />

129 dieser Ausspruch ist der Titel des Kapitels von Herbert HAGSTEDT in GARLICHS, 2000, S. 50<br />

130 vgl. HOFMANN in BÜTTNER/ FINGER-TRESCHER, 1991, S. 46<br />

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