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NEW BURLESQUE - erdteil: kultur und gestaltung

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»<strong>NEW</strong> <strong>BURLESQUE</strong>«<br />

Mainstream <strong>und</strong> Sub<strong>kultur</strong> im<br />

Sextheater des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts


»<strong>NEW</strong> <strong>BURLESQUE</strong>«<br />

Ein Ring zusätzlicher Brüste: Mainstream <strong>und</strong> Sub<strong>kultur</strong> im Sextheater<br />

des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

von Andreas Rauth<br />

1<br />

»Ich weiß nicht, was ich mach’,<br />

ich denke, einfach ausrasten!«<br />

Baby Jane<br />

Die junge Frau auf der Bühne ist nicht gerade das, was dem gängigen<br />

Schönheitsideal entspricht, vor allem wegen ihrer Leibesfülle. Doch an-<br />

statt ihre Üppigkeit unter Zeltbahnen von Stoff zu verbergen, präsentiert<br />

sie ihr Zuviel selbstbewusst als nackte Tatsache. Aber das ist schon vorge-<br />

griffen. Denn bevor es dazu kommt, entledigt sie sich ihres Kostüms in<br />

einem kompliziert-kunstvollen Vorgang: Etwa dreißig verschiedenfarbige<br />

Luftballons baumeln um Oberkörper <strong>und</strong> Hüfte wie ein überdimensio-<br />

nales Tutu oder, wem das lieber ist, wie ein Ring zusätzlicher Brüste. So<br />

verschmelzen Mensch <strong>und</strong> Ding zu einer hybriden Gestalt. Das ist gro-<br />

tesk. Nachdem sie die Ballons, einen nach dem anderen, zum Zerplat-<br />

zen gebracht hat, wird sie in stilvollem Korsett <strong>und</strong> mit Blume im elfen-<br />

beinschwarzen Haar dem Publikum als leibhaftig gewordenes Abziehbild<br />

Carmens entgegentanzen. Und sich weiter entblättern. Mit übertriebenen<br />

Gesten karikiert sie das Bild der Verführerin. Schließlich entfernt sie den<br />

oberen Teil des Korsetts, um mit den verbliebenen echten Brüsten Ping-<br />

Pong zu spielen. Die Brustwarzen sind von mit Troddeln behangenen<br />

Pasties bedeckt, die sich bei dem Spiel lustig im Kreis drehen. »Mit dem<br />

Essen spielt man nicht«, kann einem dazu einfallen. Das ist burlesk.<br />

Burlesque ist in, seit einiger Zeit schon. Am Anfang des 21. Jahrhun-<br />

derts erlebt das grotesk-frivole Bühnenspiel der 1920er Jahre als »New<br />

Burlesque« seinen Aufstieg zum weltweiten Partytrend. In Deutschland<br />

sind Hamburg <strong>und</strong> Berlin die Zentren der Burlesque-Szene. Bars wie das<br />

Queen Calavera oder das Roadrunner’s Paradise veranstalten regelmäßig<br />

Burlesque-Parties. Ob Bohême Sauvage, La Fête Fatale oder Black Flamingo<br />

– kaum eine Show, die noch ohne Strip <strong>und</strong> Maskerade auskäme. Schon<br />

im Titel beruft man sich dabei auf die Verlockungen einer dunklen Tra-<br />

dition: Anita Berber, die von Otto Dix portraitierte, früh von Drogen hin-<br />

weggeraffte Skandalfrau der 1920er Jahre feierte ihre ersten Erfolge in den<br />

Berliner Varietés Apollo Theater <strong>und</strong> Wintergarten. Sie galt mit ihren fast


nackt dargebotenen Tänzen des Lasters, des Grauens <strong>und</strong> der Ekstase als ver-<br />

ruchter Vamp <strong>und</strong> schamloseste Frau der Weimarer Republik.<br />

Aber auch in Leipzig, Stuttgart <strong>und</strong> Frankfurt hat die Szene ihre Orte<br />

<strong>und</strong> Anhänger. Auf der internationalen Bühne sind über das reine Par-<br />

tygeschehen hinaus auch größere Events entstanden. So wird etwa das<br />

New York Burlesque Festival, auf dem auch der Golden Pastie Award ver-<br />

liehen wird, seit 2003 oder die London Burlesque Week seit 2008 veran-<br />

staltet. Dita von Teese, die als prominenteste Vertreterin der Zunft den<br />

lasterhaften Tanz gesellschaftsfähig gemacht hat – <strong>und</strong> die zeitweilig mit<br />

dem selbsternannten »Antichrist Superstar« Marilyn Manson eine medi-<br />

enwirksame Liaison des Kitsches <strong>und</strong> des Grauens führte –, tritt in den<br />

traditionsreichen Pariser Nachtclubs Moulin Rouge oder Crazy Horse auf.<br />

New Burlesque kann innerhalb der Varieté-Szene kaum als Nischenkunst<br />

betrachtet werden, vielmehr ist sie deren Frischzellenkur. Selbst Ex-Spice<br />

Girl Mel B debütierte letztes Jahr mit einer eigenen Burlesque-Show in<br />

Las Vegas <strong>und</strong> auch in Hollywood hat man aufgehorcht: Der Musical-Film<br />

»Burlesque«, mit Christina Aguilera in der Hauptrolle, ist für Ende des<br />

Jahres angekündigt.<br />

Ein großer Trend ist niemals einheitlich, auch wenn die auf nostalgi-<br />

schen Glamour, wohldosierte Ausschweifung <strong>und</strong> ästhetische Lustbarkeit<br />

abstellende Medienberichterstattung diesen Eindruck vermittelt. Schon<br />

die Vielzahl der Akteure, von denen nicht wenige dem Dunstkreis einer<br />

trashorientierten Rock’n’Roll-Szene entstammen, macht die Einigung auf<br />

den Status einer in Pose erstarrten Glamour-Show mit Vintage-Sex-Appeal<br />

unwahrscheinlich. Wieviel Kunst, um es einmal so auszudrücken, steckt<br />

in der New Burlesque? Bietet sie außer einem nostalgischen Aufguss der<br />

Burlesque-Shows vom Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> einem auf Retro-<br />

ästhetik <strong>und</strong> Bürgerschreckromantik basierenden Amüsement vielleicht<br />

auch das Provokationspotential einer lebendigen <strong>und</strong> zeitgemäßen Kunst-<br />

form, ist sie mehr als ein – mittlerweile massenkompatibles – ästhetisches<br />

Spiel?<br />

Woher <strong>und</strong> wohin?<br />

Die historischen Vorläufer der Burlesque findet man im burlesken The-<br />

ater, dessen Wurzeln bis in die griechische Antike zurückreichen. Be-<br />

sonders die spöttischen Komödien von Aristophanes können in dieser<br />

Reihe gesehen werden. Die römische Posse arbeitete mit einem Ensem-<br />

2


le feststehender Charaktere, die durch typische Masken gekennzeichnet<br />

waren. In der Nachfolge entfaltete sich im Italien des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die Commedia dell’Arte zu einem beliebten Bühnenspektakel. Dabei trat<br />

ebenfalls ein begrenztes Set standardisierter Typen in kommödiantischen<br />

Stücken auf. Bis auf die Frauenrollen, die hier erstmals auch von Frau-<br />

en gespielt wurden, waren die Darsteller maskiert <strong>und</strong> ihre Funktion im<br />

Stück eindeutig zuordenbar. Die Stücke waren ohne feste Dialoge ange-<br />

legt, der schauspielerische Anreiz bestand in der freien Variation über ein<br />

bestimmtes Thema, in dem die Position der unteren Schichten vertreten<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftskritik geübt wurde. Mit zotigem Spott machte man sich<br />

über reiche Kaufleute <strong>und</strong> Gelehrte lustig <strong>und</strong> prangerte deren Doppel-<br />

moral an. Dabei interagierten die Darsteller mit dem Publikum, das Teil<br />

der Aufführung wurde. Um den Figuren mehr Ausdruckskraft zu verlei-<br />

hen, erweiterte man sein mimisches Repertoire mit akrobatischem Kör-<br />

pereinsatz. Häufig legten sich die Schauspieler Künstlernamen zu, die<br />

dann zu den Namen der Figuren wurden. Diese Tradition hat sich auch<br />

in der New Burlesque bewahrt: einen Künstlernamen zu führen, oder<br />

gleich mehrere für unterschiedliche Charaktere <strong>und</strong> Anlässe, gehört prak-<br />

tisch zur Bühnenpflicht. Von Italien aus verbreitete sich die Commedia<br />

dell’Arte, die zumeist von im Familienverb<strong>und</strong> lebenden professionellen<br />

Schauspieltruppen dargeboten wurde, über ganz Europa <strong>und</strong> beeinflusste<br />

unter anderem das Theater Shakespears <strong>und</strong> Molières. Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

erneuerte Carlo Goldoni die zunehmend in Routine erstarrte Commedia<br />

dell’Arte, indem er auf die Masken verzichtete <strong>und</strong> die Charaktertypen<br />

zugunsten individueller Persönlichkeiten auflöste. Nach dem Niedergang<br />

der Commedia dell’Arte am Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde diese Form<br />

der Darstellung eine Gr<strong>und</strong>lage der (burlesken) Pantomime.<br />

Gesellschaftskritik <strong>und</strong> nackte Frauen<br />

Denkst du, weil ich wie ein Mann ausstaffiert bin,<br />

3<br />

dass auch meine Gemütsart in Wams <strong>und</strong><br />

Hosen ist?<br />

William Shakespeare, Wie es euch gefällt<br />

Nach der bürgerlichen Revolution an der Schwelle zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

brauchte es neue theatrale Formen, die außer der Verspottung der herr-<br />

schenden Klasse vor allem auf das veränderte Geschlechterverhältnis re-<br />

agierten. Die aus einer feudalen Gesellschaftsordnung hervorgegangene<br />

Commedia dell’Arte wich einem burlesken Theater, in dem Respektlo-


sigkeit in erster Linie von nur knapp bekleideten Damen in männlichen<br />

Rollen praktiziert wurde. In einer bis zum Kinn zugeknöpften viktoriani-<br />

schen Gesellschaft wurden Frauen als männliche Anhängsel in gewaltige<br />

Lagen Tuch <strong>und</strong> überdimensional ausladende Röcke gesperrt, während<br />

gleichzeitig die Prostitution nie gekannte Ausmaße annahm. Zu der Zeit<br />

begeisterte sich vor allem eine gerade erst entstandene Arbeiterklasse für<br />

die alle sittlichen Schranken durchbrechende, zügellos-aufreizende Mi-<br />

schung aus Musik, Comedy <strong>und</strong> Tanz <strong>und</strong> dem Spiel der Geschlechter.<br />

Zwar stand in den Anfängen noch die Kultur <strong>und</strong> der Lebenswandel ei-<br />

ner dem aristokratischen Vorbild nacheifernden bürgerlichen Oberschicht<br />

im Visier der vulgären Darbietungen. Doch spätestens ab Mitte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts verschob sich der Schwerpunkt hin zur erotisch aufreizen-<br />

den Show, wie sie etwa von der Queen of Burlesque, Lydia Thompson, <strong>und</strong><br />

ihrer Truppe British Blondes erfolgreich in den USA <strong>und</strong> Großbritannien<br />

aufgeführt wurde. »Underdressed women playing sexual aggressors, com-<br />

bining good looks with impertinent comedy«, wie John Kenrick die Shows<br />

beschreibt, waren »the hottest thing in American show business«.<br />

Nach h<strong>und</strong>ertdreißig Jahren entfaltet die Mischung aus Sex <strong>und</strong> Co-<br />

medy in der New Burlesque eine neuerliche Anziehungskraft. Allerdings<br />

möchte man sagen: unter umgekehrten Vorzeichen. Wenn heute auf der<br />

Bühne die Hüllen fallen, nimmt sich das weniger als Protest gegen zu-<br />

geknöpfte Moralvorstellungen <strong>und</strong> restriktive Dresscodes aus. Außerdem<br />

hat die Verbreitung expliziter Nacktheit durch die Internet-Pornografie<br />

ein Ausmaß erreicht, das jeden von der Notwendigkeit entbindet, für sol-<br />

che Aus- <strong>und</strong> Einblicke eine halbseidene Show besuchen zu müssen. Zur<br />

New Burlesque geht man heute nicht, um möglichst alles zu sehen, son-<br />

dern weil man weiß, man wird es nicht sehen. Im Überangebot virtueller<br />

Nacktheit keimt eine neue Lust am erotischen Spiel <strong>und</strong> der Wunsch nach<br />

körperlicher Präsenz, bei Publikum wie Darstellern gleichermaßen. Gin-<br />

ge es nur darum, möglichst viel <strong>und</strong> deutlich nackte Haut präsentiert zu<br />

bekommen – man könnte getrost auf die Shows verzichten <strong>und</strong> vor dem<br />

heimischen PC-Monitor sitzen bleiben. Aber gerade dass man sich zum<br />

Veranstaltungsort begeben muss, macht die New Burlesque attraktiv. Sie<br />

ist – wie ihre Vorläufer – schlicht sozial, sie verbreitet eine befriedigende<br />

Nestwärme, wie sie nur in der Unmittelbarkeit eines echten Ereignisses<br />

entstehen kann. Für die mittlerweile stark kommerzialisierte Mainstream-<br />

Burlesque mag dies vielleicht nur eingeschränkt gelten, doch in der Sub-<br />

4


<strong>kultur</strong>-Burlesque lässt sich zweifellos eine Form von Gemeinschaft erken-<br />

nen.<br />

Die Gründung der berühmten Pariser Varietétheater Folies Bergère <strong>und</strong><br />

Moulin Rouge, wo Cancan-Tänzerinnen bis dahin unerlaubt viel Bein zeig-<br />

ten, fiel in die Jahre 1869 <strong>und</strong> 1889. In dieser Zeit entstand die kunstvolle<br />

Form des Ausziehens, der Striptease, der zunächst als erotischer Verfüh-<br />

rungstanz in den großbürgerlichen Salons ein elitäres Publikum begeis-<br />

terte. Die legendäre Mata Hari absolvierte im Ethnologischen Museum<br />

des Industriellen <strong>und</strong> Forschungsreisenden Émile Guimet einen ihrer ers-<br />

ten Auftritte mit einer Darbietung, die im Tanz der Salomé ihr perverses<br />

Vorbild hatte. Im an Perversionen so reichen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert verlor der<br />

Striptease dann nach <strong>und</strong> nach seine kunstvolle Form <strong>und</strong> verkam zur<br />

billigen Animation.<br />

Mit dem »fin de siècle« ging ein außerordentliches Jahrh<strong>und</strong>ert zu<br />

Ende <strong>und</strong> die Moderne trat in eine neue Phase ein. Im Unterhaltungsthe-<br />

ater diesseits <strong>und</strong> jenseits des Atlantiks erblühten zu Beginn des 20. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>erts das eher aus akrobatischen Nummern bestehende Vaudeville<br />

<strong>und</strong> das burleske Showtheater. Amerika hatte mit Millie DeLeon, die am<br />

Ende jeder Show ihr Strumpfband ins Publikum warf, seine erste eigene<br />

Queen of Burlesque. DeLeon war dafür bekannt, geschickt mit der Gier der<br />

Medien nach Skandalen zu spielen <strong>und</strong> vollführte zu ihrem Ruhm Grenz-<br />

gänge entlang lokaler Sittengesetze. Die satirische Tradition des burlesken<br />

Theaters wurde weiter fortgeführt, aber als in den 1920er Jahren die medi-<br />

ale Konkurrenz von Film <strong>und</strong> Radio dem Business hart zusetzte, verlegte<br />

man sich immer stärker auf den Striptease als zentrale Sensation einer<br />

Show. Zwar gaben sich die Tänzerinnen nie ganz die Blöße, die Bedeckun-<br />

gen waren jedoch nicht mehr als ein hauchdünnes Alibi gegen den immer<br />

lauter werdenden Protest der Sittenwächter. Als diesen 1937 eine Tänzerin<br />

des berühmten New Yorker Minsky’s Burlesque ganz ohne Feigenblatt vor<br />

die moralische Flinte lief, ergriff man die Gelegenheit, dem verruchten<br />

Treiben ein Ende zu bereiten. Wiederbelebungsversuche in den darauf-<br />

folgenden Jahrzehnten blieben weitgehend erfolglos. Selbst ein von New<br />

Yorks sauberem Bürgermeister Fiorello LaGuardia verfügter Bann gegen<br />

die bloße Verwendung des Wortes »burlesque« in Werbeanzeigen wurde<br />

erst 1955 aufgehoben.<br />

Die 1950er Jahre mit ihrer Pin-Up-Vorliebe – bekanntlich das Ergeb-<br />

nis einer besonders körperfeindlichen bürgerlichen Wohlanständigkeit –<br />

5


achten jedoch einen Star wie Bettie Page hervor, deren erotisch-naiver<br />

Fetisch-Style großen Einfluss auf die moderne Sub<strong>kultur</strong>szene ausübt <strong>und</strong><br />

auf die sich heute viele New Burlesque-Tänzerinnen beziehen. Eine ande-<br />

re berühmte Tänzerin der glanzvollen Tage, die 1999 im Alter von neun-<br />

zig Jahren verstorbene Ann Corio, verwies stets auf den komödiantischen<br />

Aspekt <strong>und</strong> die schauspielerische Leistung. Wie die New York Times in<br />

einem Nachruf berichtete, sah Corio in den Burlesque-Shows der 1970er<br />

Jahre reinen Striptease, der jede Nähe zum satirischen Ursprung vermis-<br />

sen ließ, die auftretenden Tänzerinnen hielt sie für weitgehend talentfrei.<br />

Ihre eigene, sehr erfolgreiche Show, trug den unmissverständlichen Titel<br />

»This Was Burlesque«: Die Theaterform mit der sie zu Ruhm gelangte,<br />

ließ sich nur noch als Nostalgie reanimieren.<br />

Welches Erbe, um die Frage noch einmal anders zu formulieren, hat<br />

die New Burlesque angetreten? Geht es um Schauspielkunst, komödi-<br />

antisches Talent <strong>und</strong> respektlosen Witz für die Sache der kleinen Leute<br />

oder ist sie, wie Ann Corio bekannte, »the kind of stuff you can leave your<br />

brains home for«?<br />

Das eingekeilte Individuum<br />

Wenn ein Trend in Las Vegas angekommen ist, kann man eigentlich nur<br />

noch den Totenschein ausstellen. Aber Definitionen haben ihre Tücken,<br />

weshalb schon die Bezeichnung »New Burlesque« nur den halben Büh-<br />

nenraum durchmisst. Dort, in der einen Hälfte, glänzt die Pailletten-Sze-<br />

ne der Burlesque, in der Glitter <strong>und</strong> Glamour mit ein bisschen frivoler<br />

Eleganz gemischt werden. Wohlkalkuliertes Entertainment bietet lupen-<br />

reinen Eskapismus in »eine andere Ära, in eine Welt voller Glamour <strong>und</strong><br />

Spaß«, wie Miss HoneyLulu, Tänzerin in der Berliner Show Black Flamin-<br />

go erklärt. Tagesschaukompatible Veranstaltungen für die saturierte Mitte,<br />

die – huch! – wohldosierten <strong>und</strong> stilvollen Sex-Appeal konsumieren möch-<br />

te. Eigentlich könnte man an dieser Stelle aufhören, über New Burlesque<br />

nachzudenken.<br />

Doch in der anderen, etwas schlecht beleuchteten Bühnenhälfte, dort,<br />

wo das Geheimnis noch größer ist als der Kommerz, fängt die Szene Feu-<br />

er, wird die Show zum Schmelztiegel. Hier verschwindet die harmlose<br />

Parodie hinter aggressiver Komik <strong>und</strong> einer Kunst des Schmerzes. Man<br />

nennt sich auch nicht mehr Miss HoneyLulu sondern Clea Cutthroat oder<br />

Mad Kate – inspiriert von Johann Heinrich Füsslis Gemälde Die wahnsin-<br />

6


nige Kate aus dem Jahr 1806. Clea Cutthroat, die sich auf ihrer MySpace-<br />

Seite als Anti-Burlesque Queen bezeichnet, spricht über ihre Arbeit von<br />

einer »freakigen Burlesque, die niemand bisher so einbrachte, wie ich es<br />

tat – mit Elektro, Punk, Kunstblut <strong>und</strong> all dem Zeug.«<br />

Indes die Bezeichnung »Anti-Burlesque« gleichfalls ihre Tücken hat.<br />

»Anti« kann man nur sein, wenn es eine Position gibt, gegen die man<br />

sich abgrenzt. Ohne die Anderen kann man nicht anders sein. Die Gegen-<br />

bewegung steht stets in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Etablierten,<br />

die Verneinung bestätigt das System. Spätestens seit Georg Simmels ein-<br />

flussreichem Essay Philosophie der Mode aus dem Jahr 1905 sind solche<br />

Mechanismen hinlänglich bekannt. Mit dem vorangestellten »Anti« wird<br />

zudem eine Ideologie der Andersartigkeit aufgerufen, der die Abweichung<br />

längst zum Fetisch geworden ist. Wer »Anti« ist, ist sozusagen doppelt<br />

eingekeilt: Von außen drängt immerfort die Ideologie des Mainstream mit<br />

ihrer krakenhaften Vereinnahmungsmacht, von innen zerrt ein subkultu-<br />

reller Mythos mit exzesserprobten Lichtgestalten, nicht weniger fordernd,<br />

an denen, die sich behaupten wollen.<br />

Wo es der Glamour-Burlesque wesentlich darum geht, aus Typen <strong>und</strong><br />

Klischees leicht verständliche Konsumware zu zimmern, versteht sich die<br />

Anti-Burlesque zwar als individueller Lebensentwurf, <strong>und</strong> das Bizarre<br />

hat hier Vorrang vor dem Gewöhnlichen, doch ist das eine ebenso wie<br />

das andere stark kodiert. Dies soll nun nicht bedeuten, es sei aussichts-<br />

los oder nicht lohnenswert, der Gewalt der Vereinheitlichung ein ande-<br />

res Programm engegenzusetzen. Zu recht ist gegenüber dem <strong>kultur</strong>ellen<br />

Mainstream großes Misstrauen angebracht <strong>und</strong> das Abgrenzungsbedürf-<br />

nis wohl nicht mehr als ein ges<strong>und</strong>er Schutzmechanismus. Doch was<br />

soll man tun, wenn einen die Flucht vor Konventionen nur in die Arme<br />

anderer Konventionen treibt? »Ich weiß nicht, was ich mach’, ich denke,<br />

einfach ausrasten!« gab Baby Jane auf der Grotesque Gala 2008 zur Aus-<br />

kunft. Ist dem Terror der Stereotype <strong>und</strong> Mittelmäßigkeit nur unbewusst<br />

zu entkommen?<br />

Am Bilde hängt, zum Bilde drängt doch alles<br />

New Burlesque, von »Glamour« bis »Anti«, ist vor allem ein visuelles Er-<br />

eignis, in dessen Zentrum die Inszenierung des weiblichen Körpers steht,<br />

Ausnahmen bestätigen die Regel. Was immer man darüber sagen will,<br />

muss sich an eben dieser Visualität orientieren. Alles, was New Burlesque<br />

7


ist, was sie darstellt oder aussagt, bejaht, verneint oder hinterfragt, ge-<br />

schieht in stark kodierten Bildern auf <strong>und</strong> vor der Bühne. Da ist zualler-<br />

erst das nostalgische Bild einer freizügigen Gesellschaft der 1920er Jahre.<br />

Da ist Glamour, Pin-Up-Style <strong>und</strong> Rock’n’Roll. Da findet sich auch Punk<br />

<strong>und</strong> Trash <strong>und</strong> der Einfluss von Gothic, Schwarzer Romantik <strong>und</strong> Ver-<br />

gänglichkeitsästhetik, mit ihren je eigenen Frauenbildern. Und natürlich<br />

Striptease <strong>und</strong> Fetischismus, die Inszenierung weiblicher Erotik, die einen<br />

(männlichen) voyeuristischen Trieb befriedigt. Da ist schließlich das Gro-<br />

teske, dessen Ursprung in den dionysischen Mysterien der alten Griechen<br />

zu finden ist <strong>und</strong> sich durch eine besondere Körperlichkeit auszeichnet.<br />

Die gesamte Burlesque-Szene steht im Bann einer visuellen Theatrali-<br />

tät, dem sich Akteure <strong>und</strong> Publikum gleichermaßen lustvoll unterwerfen.<br />

Alle wollen sehen <strong>und</strong> gesehen werden <strong>und</strong> sehen, wie sie gesehen wer-<br />

den. Denn das Publikum solcher Veranstaltungen ist zumeist kaum von<br />

den Darstellerinnen <strong>und</strong> Darstellern zu unterscheiden, nur der Auftritt an<br />

hervorgehobener Stelle im Scheinwerferlicht macht den Unterschied. Man<br />

trifft sich, um den persönlichen Bilderschatz aufzustocken.<br />

»Ich brauche was für’s Auge <strong>und</strong> genau das versuche ich zu vermit-<br />

teln. Ich will, dass die Leute mich visuell behalten«, erläutert die New<br />

Burlesque-Performerin Frau Pepper ihren Bühnenanspruch. »Visuell be-<br />

halten«, die Rhetorik des Blicks ist eine von Aneignung, Besitz <strong>und</strong> Macht.<br />

Das Auge reißt zum Sehenden hin <strong>und</strong> von dem Angeblickten weg: »Hast<br />

du Angst, dass dir jemand was wegguckt?« ist eine Frage aus dem Stan-<br />

dardrepertoire von Eltern, die sich damit über das Schamgefühl ihrer Kin-<br />

der lustig machen – <strong>und</strong> sie früh mit der Macht des Blicks konfrontie-<br />

ren. In der Frage wird die Möglichkeit einer Verstümmelung des Körpers<br />

durch den Blick angedeutet, man sollte sich besser davor schützen. Wer<br />

dies nicht tut, wer sich entblößt, läuft Gefahr, verletzt zu werden; ja, es<br />

ist nicht ganz ausgeschlossen, dabei sein Leben zu verlieren: »Wenn Bli-<br />

cke töten könnten«! Hier beginnt aber auch das Spiel um die Macht, über<br />

die Verfügungsgewalt im Reich des Visuellen. »Ich entscheide: du siehst<br />

mich so, wie ich meine, dass du mich sehen musst«, erläutert Frau Pep-<br />

per mit Nachdruck die Machtverhältnisse. Der im Blick enteignete Körper<br />

soll als Bild im Gedächtnis des Publikums weiterleben, soll es animieren,<br />

aber nicht zu dessen, sondern zu den Bedingungen der Darstellerin. Dem<br />

Publikum wird maßlose Gier unterstellt, es will gr<strong>und</strong>sätzlich alles. Des-<br />

wegen wird es bestimmt folgen, kann es an seinem Blick geführt – oder<br />

besser verführt – werden, wie ein H<strong>und</strong> an der Leine.<br />

8


Wer hat hier die Macht? Nicht nur ist das Publikum gekommen etwas<br />

zu sehen, gekommen sind auch die Darstellerinnen <strong>und</strong> Darsteller, etwas<br />

zu zeigen. Niemand zeigt sich ohne Publikum. Mag sein, dass manche(r)<br />

zuhause nackt vor dem Spiegel tanzt, der Spaß dürfte allerdings begrenzt<br />

sein. Wo kein Publikum, da kein Spiel. Blicken <strong>und</strong> zeigen – tease ist<br />

das Schlüsselwort der New Burlesque! Tease ist das Spiel um die Bilder.<br />

Frauen <strong>und</strong> Bilder sind in westlichen Gesellschaften gleichermaßen An-<br />

geblickte. Kostüme <strong>und</strong> Make-Up verwandeln die Frauen in Bilder <strong>und</strong><br />

der Voyeurismus aller Beteiligten zielt darauf ab, sich die Welt als Bild<br />

dauerhaft einzuverleiben. Gerade die einstudierten Posen verdeutlichen,<br />

wie sehr Frauen hier als Bilder gesehen werden. Wenn Dita von Teese ein<br />

Bad im überdimensionierten Martiniglas nimmt, bezieht sie sich auf ein<br />

bekanntes Motiv der Pin-Up-Kultur <strong>und</strong> wird zum »tableau vivant«, zum<br />

lebenden Bild.<br />

Allem Ausgeliefertsein zum Trotz, erleben sich die Burlesque-Tänze-<br />

rinnen jedoch nicht als erniedrigt. Vielmehr wird stets betont, wie selbst-<br />

bestimmt Frauen hier ihre Weiblichkeit ausleben können. Könnte es sein,<br />

dass die Macht des Blicks entschärft wird, wenn sich Frauen die männ-<br />

lich geprägten, stereotypen Bilder weiblicher Erotik selbständig aneignen?<br />

Bricht an der Freiwilligkeit das ganze sexistische Programm zusammen?<br />

Es seien so viele Frauen im Publikum, wird immer wieder hervor-<br />

gehoben, als sei dies ein Beweis für die Befreiung aus jenen männlich<br />

dominierten Sexualvorstellungen, die den Striptease erst hervorgebracht<br />

haben. Aber weshalb sind die Frauen da? Unterscheidet sie so viel von<br />

den Männern, sind sie nicht ebenso auf voyeuristische Befriedigung aus?<br />

Wollen Frauen auch anblicken? Geradezu grotesk jedenfalls scheint die<br />

Annahme, Frauen würden sich aus Solidarität mit ihren Geschlechtsge-<br />

nossinnen in eine Burlesque-Show begeben, um gemeinschaftlich einen<br />

Akt feministischer Befreiung zu erleben <strong>und</strong> zu feiern. Schon gar nicht,<br />

wenn die Kostüme auf das Standardrepertoire High Heels, Korsett, Är-<br />

melhandschuhe <strong>und</strong> Pasties – allesamt fetischistische Accessoires einer<br />

phallozentrischen Erotik – zurückgreifen. Die Kunst des Ausziehens folgt<br />

in ihren Regeln männlich dominierten Vorstellungen von Erotik <strong>und</strong> Se-<br />

xualität – <strong>und</strong> zwar von Anfang an. Es wäre naiv anzunehmen, das äu-<br />

ßerst stabile Muster mit ein bisschen Spaß, Freiwilligkeit oder der Vermei-<br />

dung vollständiger Nacktheit erschüttern zu können. Der häufig gebrachte<br />

Einwand, die Tänzerinnen behielten ihre Würde, da sie sich nicht restlos<br />

entkleiden, löst sich bereits auf den zweiten Blick in Glitter auf. Zweifellos<br />

9


ist der knapp bekleidete Körper ein viel stärkeres erotisches Zeichen als<br />

der nackte. Wenn Julietta La Doll die Scham mit nur noch einem halter-<br />

losen dreieckigen Pastie deckt <strong>und</strong> ornamental verziert, läuft das sexisti-<br />

sche Programm längst auf Hochtouren. Als »niveauvolles Strippen mit<br />

einer erzählenden Choreographie« bezeichnet ein Online-Magazin die<br />

Darbietungen. Welcher Unterschied besteht denn darin, sich in eleganten<br />

Korsetts selbstbestimmt <strong>und</strong> niveauvoll zum Sexobjekt zu machen? Der<br />

Status als Sexobjekt wird dadurch in keiner Weise modifiziert, geschweige<br />

denn verhindert. Es lässt sich die Wirkung stereotyper Bilder nicht unter-<br />

graben, indem man sie verwendet – wer sich ins Klischee begibt, kommt<br />

darin um. Für die Online-Feministin Ashley-Anne »Antiquelens« Thomp-<br />

son klingen feministische Lobpreisungen auf die New Burlesque geradezu<br />

lächerlich: »It’s women acting in stereotypical western »sexy« ways in or-<br />

der to feel good about themselves – or empowered if you will. But how can<br />

we be liberated if we be dancing in pasties, wearing tons of make-up and<br />

high heels and dancing in ways men have told us for decades is »sexy«?<br />

Eine Hülle visueller Kostbarkeiten auratisiert die Shows. Glamour ist<br />

der Heiligenschein der Pornographie <strong>und</strong> das größte Missverständnis be-<br />

steht wohl in der Verwechslung von Niveau <strong>und</strong> Moral.<br />

Der Kult des Unperfekten ?<br />

… denn vor der Moral muss das Leben beständig <strong>und</strong><br />

10<br />

unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben<br />

etwas essentiell Unmoralisches ist …<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Man kann diesen Gedanken erst mal beiseite schieben. Denn es ist müßig,<br />

darüber zu spekulieren, wie nackt eine Frau sein muss, um als Sexobjekt<br />

zu gelten <strong>und</strong> sich auch so zu fühlen oder nicht. Es ist klar, dass sich die<br />

New Burlesque hier in etablierten Mustern bewegt, Irritationen sind nicht<br />

zu erwarten. Ebenso wenig wird man über die erzählerischen Miniaturen<br />

in Jubel ausbrechen, da sie sich in das stereotype Programm nahtlos integ-<br />

rieren. Wenn die Shows in dem Punkt schon kein Angriff auf patriarchale<br />

Strukturen sind, so bieten sie doch immerhin das Potential neue Erfah-<br />

rungen zu machen. Es wäre ungerecht, die persönlichen Empfindungen<br />

der Darstellerinnen <strong>und</strong> Darsteller von Würde <strong>und</strong> Selbstbehauptung als<br />

reine Illusion abzutun.<br />

Die Uneinheitlichkeit der New Burlesque begründet dennoch an dieser<br />

Stelle einen Einspruch. Wer den Trend von »Glamour« bis »Anti« abschrei-


tet, kann auf diesem Weg das Etablierte schwinden sehen. Am, sagen wir<br />

ruhig »höllischen« Ende, begegnet man dem The Fire Tusk Pain Proof Cir-<br />

cus <strong>und</strong> der »femme fatale« Lucifire, die das Spiel mit dem Schmerz an die<br />

Grenze des Erträglichen treiben. Doch so weit muss man nicht gegangen<br />

sein, weil sich schon auf halber Strecke, an der Weggabel von »Glamour«<br />

<strong>und</strong> »Rock’n’Roll« die Fragezeichen mehren. Davon soll jetzt hauptsäch-<br />

lich die Rede sein. Schieben wir den feministischen Gedanken also beisei-<br />

te, weil er den Blick versperrt auf jene Ungereimtheiten, die die Shows erst<br />

zum Vergnügen machen. Was sich reimt, das passt zueinander. Hier will<br />

aber häufig nichts zueinander passen, statt dessen sieht man mit voller<br />

Wucht Gegensätze aufeinanderprallen <strong>und</strong> Fremdartigkeit erzeugen.<br />

Die Reduktion auf den Striptease rückt das Ausziehen so sehr ins Zen-<br />

trum der Aufmerksamkeit, dass dabei jene Aspekte, die der Commedia<br />

dell’Arte näher stehen, drohen aus dem Blick zu geraten oder gar nicht<br />

erst bemerkt werden. Wenn man die New Burlesque als phallozentrisches<br />

Triebtheater bezeichnen kann, so ist sie eben auch das: Theater. Der spie-<br />

lende Mensch, ist hier mit Leidenschaft bei der Sache.<br />

Alle Kultur, erklärt der berühmte Kulturhistoriker Johan Huizinga<br />

(1872–1945) in seinem Buch Homo ludens, hat ihren Ursprung im Spiel,<br />

das in seiner Zwecklosigkeit einen Gegenpol zu naturbedingten Notwen-<br />

digkeiten <strong>und</strong> zu ökonomischem Kalkül bildet. Im Spiel findet der Mensch<br />

eine Auszeit vom »normalen« Leben – <strong>und</strong> zu sich selbst. Spielzeit ist eine<br />

feierliche, eine heilige Zeit. Dazu gehört auch das Anderssein, in eine<br />

Maske schlüpfen, die Identität wechseln. Das Spiel ist der Schmuck des<br />

Lebens, zweckfrei aber sinnstiftend <strong>und</strong> deshalb unentbehrlich. Wie alle<br />

Spiele kennzeichnet die New Burlesque eine formale Abgeschlossenheit<br />

<strong>und</strong> Begrenztheit: sie ereignet sich an einem besonderen Ort zu einer be-<br />

stimmten Zeit. Um diesen Ausnahmezustand wird gerne ein geheimnis-<br />

voller Schleier gelegt – als dessen Standardform der Bühnenvorhang gel-<br />

ten kann –, sodass die heilige Spielwelt störenden Blicken entzogen bleibt.<br />

Wie die sakralen Feste archaischer Gesellschaften als Unterbrechung<br />

des profanen Lebens ein Tor zur ewigen Gegenwart einer mythischen<br />

Zeit hin öffneten, erhebt sich auch die New Burlesque aus dem homo-<br />

genen Grau des Alltags. Die New Burlesque widersetzt sich mit res-<br />

pektloser Nutzlosigkeit der Vorstellung einer bürgerlich-kapitalistischen<br />

Gesellschaft vom Leben als Zwang, Verbot <strong>und</strong> Aufschub. Unter dem Ef-<br />

fizienzgebot treffen sich zwei Maximen, von denen die eine lautet »du<br />

musst«. Sie gehört zu einer Lebensweise, in der selbstkonstruierte Sach-<br />

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zwänge als Standardentschuldigung für ein vermasseltes Leben herhalten<br />

müssen. Die andere steht im Dienst christlicher Lebensverneinung <strong>und</strong><br />

lautet »du darfst nicht«. Dem gegenüber macht die New Burlesque einen<br />

im Kultischen verankerten, gegenwartsbezogenen Freiraum geltend. Auch<br />

wenn solche sakralen Reste noch in praktisch jedem Fest <strong>und</strong> im Theater<br />

zu finden sind, so bindet sich die stark ritualisierte New Burlesque doch<br />

besonders fest an das archaische Erbe:<br />

Etwa wenn Mönchskutte tragende Diener die hereinströmende Gemein-<br />

de-für-einen-Abend empfangen <strong>und</strong> dem Besucher alsbald dämmert, dass<br />

sich in der sakral-düsteren Atmosphäre eine kultische Feier ankündigt,<br />

welche aus gutem Gr<strong>und</strong> mit einem Geheimnis umgeben wird. Immer<br />

wieder wird die geheimbünderische Gemeinschaft beschworen: »Tonight<br />

you will became one of us!« eröffnete der dämonische Conferencier Ar-<br />

mitage Shanks im Mai 2010 die sechste La Fête Fatale. Die dazugehörige,<br />

vom Publikum im Chor wiederholte, unheilige Beschwörungsformel lau-<br />

tete: »We are hoochie, we are coochie, carny culty, smootchie knutschie.<br />

Live bizarre and praise the beauty!« Das Dümmste was man auf so einer<br />

Veranstaltung machen kann, ist sich diesen Ritualen zu verweigern, den<br />

Spielverderber zu geben, der sich nicht an die Regeln hält. Die Freiheit<br />

des Spiels erhält sich nur unter der bedingungslosen Anerkennung seiner<br />

Regeln.<br />

Im Kult des Bizarren ist nicht zu übersehen, wie eng sexueller <strong>und</strong><br />

religiöser Fetischismus <strong>und</strong> Bilderverehrung beieinander stehen. Hand-<br />

schuh, Strumpfband oder Korsett sind ebenso Ausdruck fetischistischen<br />

Begehrens wie rot geschminkte Lippen – so weit das gängige Repertoire.<br />

Doch erst in den phantasievollen Kostümen, mit denen die Darstellerin-<br />

nen <strong>und</strong> Darsteller ihre Bühnenfigur ausstatten, läuft der Fetischismus<br />

zur Höchstform auf. »Ein ganz neues Kostüm zu erfinden, ist nur in der<br />

Farce oder in der Burleske möglich«, schrieb der Dichter Oscar Wilde. Wer<br />

den im mit dutzenden kleinen Stofftieren behangenen, silbernen Span-<br />

dex-Anzug auftretenden Hedoluxe gesehen hat, wird dies wohl bestätigen.<br />

Aber dieser durch sein Kostüm zum Personending <strong>und</strong> zur Dingperson<br />

verwandelte Darsteller ist auch der schlagendste Beweis für den Fetischis-<br />

mus als gr<strong>und</strong>legendes Thema <strong>und</strong> Haltung der New Burlesque. Wie das<br />

Bühnenkostüm ein Objekt der Verehrung ist, so wird auch die Person,<br />

die darin steckt, selbst zum Fetisch. Im Kult mit dem Eigenen fliehen die<br />

Darstellerinnen <strong>und</strong> Darsteller aus der Beliebigkeit des modernen Lebens.<br />

Wer wollte bezweifeln, dass sich das gut anfühlt?<br />

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Besonders hervorzuheben ist nun, dass all dies in der New Burlesque<br />

mit groteskem Unernst einhergeht <strong>und</strong> »Phantasie« eigentlich ein viel zu<br />

harmloses Wort für die Melange aus unschuldiger Naivität, phantastischer<br />

Überzeichnung, sinnlosem Einfall, schrillem Effekt <strong>und</strong> dunkler Abgrün-<br />

digkeit ist. Nicht zu reden von der freien Kombination all dessen, also etwa<br />

eine sinnlose, schrille Abgründigkeit oder dunkle Naivität. In den bereits<br />

erwähnten Gegensätzen liegt nicht nur der interessantere Teil der New<br />

Burlesque, ihnen entspringt auch der stets mitschwingende Begriff des<br />

Grotesken. Schon auf den Wandbildern der römischen Grotten, die dem<br />

Grotesken seinen Namen gaben, sind Mensch-Tier oder Mensch-Pflanze-<br />

Kombinationen zu sehen. Widersprüchliche Wesen <strong>und</strong> Ereignisse, die<br />

sich nicht einem logischen Sinn beugen, kann man nur akzeptieren, hin-<br />

nehmen wie sie sind. Der Mensch reagiert darauf lachend: das Komische<br />

am Grotesken ist dessen grenzüberschreitende Widersprüchlichkeit.<br />

Für den Literaturwissenschaftler Michail Bachtin ist das Lachen gr<strong>und</strong>-<br />

sätzlich mit der Idee des grotesken Leibes verb<strong>und</strong>en. Hier fordert die<br />

Leiblichkeit des Menschen ihr Recht ein. Leib <strong>und</strong> Lachen lassen sich<br />

nicht trennen, man biegt, krümmt oder schüttelt sich vor Lachen. In sei-<br />

nem berühmten Essay »Literatur <strong>und</strong> Karneval« beschreibt Bachtin den<br />

grotesken Leib eng verb<strong>und</strong>en mit volkstümlicher Lach<strong>kultur</strong> <strong>und</strong> einem<br />

»karnevalistischen Weltempfinden«. Gegen die repressive Ordnung der<br />

herrschenden Klasse bietet der groteske Leib eine chaotische Ursprüng-<br />

lichkeit auf. Jene Teile, die die Körpergrenze scheinbar oder tatsächlich<br />

überschreiten, also Nase, Ohren, M<strong>und</strong>, Bauch, Fortpflanzungs- <strong>und</strong> Aus-<br />

scheidungsorgane, sind von größter Bedeutung. Während sich der grotes-<br />

ke Leib mit seinen Ausstülpungen, Fortsätzen <strong>und</strong> Öffnungen mit der<br />

Welt vereinigen will, ist der neuzeitliche Körper einheitlich, geschlossen<br />

<strong>und</strong> hierarchisch. Dem Modell des grotesken Körpers verdankt die »New<br />

Burlesque« ihre schöpferischsten Momente. Zu den bisher erwähnten<br />

Beispielen ließen sich zahllose weitere hinzufügen. Die Ausdehnung der<br />

Körpergrenzen durch Kleidung, Applikationen <strong>und</strong> Gegenstände, die ihn<br />

deformieren, vergrößern oder dehnen, sind wichtiger Bestandteil jeder<br />

Show. Die fetischistischen Objekte sind gleichzeitig diejenigen einer gro-<br />

tesken Körperinszenierung.<br />

Damit wandelt sich die feministische Frage in eine Frage des Lachens.<br />

Kann das Groteske die stereotypen Muster männlich dominierter Sexual-<br />

vorstellungen verbiegen? Durchbricht die Frau als Sexclown die phallische<br />

Ordnung? Sicher nicht in Gestalt der drallen, naiven Kindfrau, die stän-<br />

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dig Opfer ihrer eigenen Ungeschicklichkeit <strong>und</strong> Dummheit wird. So sehr<br />

Frauen in zotigen Witzen – <strong>und</strong> im klassischen Pin-Up – zur Zielscheibe<br />

sexueller Erniedrigung werden, so wenig ist im Ideal der Weiblichkeit ein<br />

Platz für ihr eigenes Lachen. Über Frauen zu lachen ist anerkannter Habi-<br />

tus – selbst für Frauen –, die lachende Frau hingegen ist, wenn schon nicht<br />

ein Tabu, so doch mindestens eine Ungehörigkeit. Erst recht, wenn sie laut<br />

lacht. Deswegen wurde das »Lachen als Sinnbild weiblicher Gegenwehr<br />

gegen eine männliche Ordnung« interpretiert, wie Stefanie Hüttinger in<br />

ihrem Buch Die Kunst des Lachens – Das Lachen der Kunst schreibt. Im<br />

Rückgriff auf die Feministin Luce Irigaray schlussfolgert Hüttinger, dass<br />

die Frau im Lachen ihre eigene Sprache findet. So ließe sich schließlich<br />

doch noch ein Riss in der New Burlesque entdecken, der die Möglichkeit<br />

für eine weibliche Identität eröffnet.<br />

Nicht nur von ihren euphorischen Anhängern wird oft behauptet, die<br />

New Burlesque biete Raum für den unperfekten Körper, der sich einem<br />

gängigen Schönheitsideal entzieht. Mit Hinblick auf den grotesken Kör-<br />

per ließe sich entgegnen: nicht einem individuellen, bislang durch männ-<br />

lich definierte Traummaße ausgeschlossenen weiblichen Körper wird die<br />

Glückseligkeit einer neuen Bühnenfreiheit offeriert. Vielmehr ist diese<br />

Freiheit Ergebnis des Widersprüchlichen, dessen, was augenscheinlich<br />

nicht zusammen gehört. Weil sich im grotesken Körperbild die Gegensät-<br />

ze vereinigen, lässt sich darin auch der Widerstand gegen den perfekten<br />

phallischen Körper des von Sigm<strong>und</strong> Freud entwickelten Fetischismus-<br />

konzeptes entdecken. Danach ist der Phallus das begehrte Objekt der Voll-<br />

ständigkeit. Der körperliche Mangel der Frau (der fehlende Phallus) bedeu-<br />

tet eine latente Kastrationsdrohung, weshalb, um diese Gefahr zu bannen,<br />

ihr Körper phallisch inszeniert wird. Die Fetischisierung des weiblichen<br />

Körpers erfolgt also gerade als das, was an ihm fehlt. Der groteske Körper<br />

ist kein weiblicher, sondern ein universaler Körper <strong>und</strong> bietet deshalb die<br />

Chance für eine weibliche Körperidentität. Jedenfalls kann kaum davon<br />

die Rede sein, dass mit der Betonung des – vermeintlich – Unperfekten,<br />

irgendwie einer Form von unverstellter Natürlichkeit oder Wohlfühl-Hal-<br />

tung das Feld bereitet wird.<br />

Man merkt, wie sehr hier Elemente der Verunsicherung (das Grotes-<br />

ke) mit solchen der Stabilität (Fetischismus) einen unterhaltsamen Pakt<br />

eingehen. Weil man weiß, dass auch bei einer grotesk beginnenden Num-<br />

mer am Ende das phallische Programm abgespult wird, kann man auch<br />

beruhigt sein Gehirn zuhause lassen, wie Ann Corio empfiehlt, <strong>und</strong> sich<br />

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ganz entspannt dem Genuss hingeben – bei der »Glamour-Burlesque« ist<br />

man damit gut bedient. Dahinter beginnt ein unsicheres Feld, vielleicht<br />

sogar eine »terra incognita«, für die keine allgemeine Empfehlung mehr<br />

gegeben werden kann.<br />

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