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Myofunktionelle Aspekte in der Kieferorthopädie - DDr. med. Irmgard ...

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12 FORTBILDUNG Zahn Krone 6/11<br />

<strong>Myofunktionelle</strong> <strong>Aspekte</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kieferorthopädie<br />

<strong>Myofunktionelle</strong> Störungen im orofazialen Bereich können weitreichende Konsequenzen<br />

bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er abnormen Kopf- und Körperhaltung haben. Sie sollten so rasch wie<br />

möglich erkannt und im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Team behoben werden.<br />

<strong>DDr</strong>. <strong>Irmgard</strong> Simma-Kletschka, Bregenz<br />

Stillschwierigkeiten, offene Mundhaltung,<br />

kraniomandibuläre Dysfunktionen,<br />

diverse Habits, Zungenfehlfunktionen,<br />

orofaziale Dysk<strong>in</strong>esien,<br />

Status lymphaticus, Gesichtsasymmetrien,<br />

abnorme Kopf- und Körperhaltungen<br />

und Zahnfehlstellungen können<br />

Folgen myofunktioneller Störungen im<br />

orofazialen Bereich se<strong>in</strong>. Da <strong>der</strong> Muskelfunktion<br />

(Abb. 1, 1a und 1b) bei <strong>der</strong><br />

Ausformung <strong>der</strong> Kieferknochen, <strong>der</strong><br />

Zahnbögen und des Parodontiums e<strong>in</strong>e<br />

wesentliche Aufgabe zukommt, sollten<br />

myofunktionelle Störungen so früh wie<br />

möglich behoben werden. Die Behandlung<br />

dieser Funktionsstörungen stellt<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

dar, muss aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl von<br />

Fällen vom Zahnarzt diagnostiziert und<br />

koord<strong>in</strong>iert werden.<br />

Abbildung 1<br />

Bedeutung <strong>der</strong> physiologischen<br />

Muskelfunktion<br />

Hyper- o<strong>der</strong> Hypotonus e<strong>in</strong>er dysk<strong>in</strong>etischen<br />

Muskulatur führen zu e<strong>in</strong>er pathologischen<br />

Gebissentwicklung mit Ausbildung<br />

<strong>in</strong>tra- und <strong>in</strong>termaxillärer Formanomalien<br />

im Bereich <strong>der</strong> Kiefer- und Gesichtsknochen.<br />

Oft kommt es im puberalen<br />

Wachstumsschub zur e<strong>in</strong>er zunehmenden<br />

Form- und Funktionsanomalie. Die Progredienz<br />

erfolgt vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten<br />

Wechselgebissphase, wenn ke<strong>in</strong>e entsprechende<br />

Prävention e<strong>in</strong>geleitet wurde.<br />

E<strong>in</strong>e oft auch asymmetrisch ausgeprägte<br />

fehlende Dynamik wie auch e<strong>in</strong>e Hyperdynamik<br />

<strong>der</strong> orofazialen Muskulatur beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

die transversale und anteriore<br />

Zahnbogenentwicklung und s<strong>in</strong>d unter an<strong>der</strong>em<br />

ursächlich für den Frontenstand.<br />

Balancierung <strong>der</strong> äußeren und <strong>in</strong>neren Muskulatur durch<br />

Richtiges Schlucken<br />

Die Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Weichteilmatrix,<br />

<strong>der</strong> Muskulatur, des B<strong>in</strong>degewebes o<strong>der</strong><br />

auch des Lymphsystems bed<strong>in</strong>gt skelettale<br />

Formanomalien und vice versa.<br />

Zahnärztliche additive<br />

Funktionsuntersuchungen<br />

für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Erwachsene<br />

■ Untersuchung <strong>der</strong> Kopf- und Gesichtssymmetrie<br />

(Abb. 1a und 1b)<br />

■ Äußere Inspektion bezüglich orofazialer<br />

Dysk<strong>in</strong>esien, gestörter Myofunktion,<br />

Lymphstau und Mundatmung: Die Umstellung<br />

e<strong>in</strong>er bestehenden Mundatmung auf<br />

Nasen atmung leitet die Entstauung des<br />

gesamten lymphatischen Gewebes sowie<br />

die Erweiterung und Verbesserung <strong>der</strong><br />

Resonanzräume e<strong>in</strong> und optimiert die<br />

Kopf-, Kiefer- und Zungenhaltung.<br />

■ Innere Inspektion: Erfassung des<br />

Zahnstatus, des Status <strong>der</strong> Schleimhäute,<br />

<strong>der</strong> Zunge, des Lymphsystems etc.<br />

■ Extra- und <strong>in</strong>traorale Palpation – manuelle<br />

Funktionsdiagnostik: Die Kaumus -<br />

kulatur extra oral und <strong>in</strong>traoral zeigt bei<br />

symmetrischer Palpation unterschiedliche<br />

Druckempf<strong>in</strong>dlichkeiten (0–3). Die <strong>in</strong>tra -<br />

orale Palpation umfasst Muskulatur,<br />

Schleimhaut sowie Retromolaren- und<br />

Vestibulumpunkte des Mundakupunktur -<br />

systems. (Abb. 2 und 3)<br />

■ Testung <strong>der</strong> <strong>in</strong>tra- und extraoralen<br />

Reflexpunkte (Punkte nach Adler-Langer,<br />

Lymphbelt etc.)<br />

Zunge <strong>in</strong> Ruhelage<br />

Zunge beim normalen Schluckvorgang


Zahn Krone 6/11 FORTBILDUNG 13<br />

Abbildung 1 a<br />

■ Hypertonus <strong>der</strong> Extensoren<br />

■ Kopf kommt nach ventral<br />

■ Unterkiefer nach dorsal<br />

■ Zervikale Hyperlordose<br />

■ Kontraktion <strong>der</strong> paravertebralen Muskeln <strong>der</strong> BWS<br />

■ Becken kippt nach vorn (Hohlkreuz)<br />

■ Gewichtsverlagerung auf den Vorfuß<br />

■ „Schiffer“ Haltung<br />

Abbildung 1 b<br />

Haltungsmuster bei dorsaler Unterkieferlage und myofunktioneller<br />

Störung<br />

Praktische Fragestellungen<br />

(n. Guidotti)<br />

Tränkmann schwere Dentitionsstörungen,<br />

strukturelle und anatomische Än<strong>der</strong>ungen<br />

sowie entwicklungsphysiologische Störungen.<br />

Dysfunktionen <strong>der</strong> oralen und perioralen<br />

Weichteile haben neben hereditären Faktoren<br />

e<strong>in</strong>en großen Anteil an <strong>der</strong> Entstehung<br />

kieferorthopädischer Fehlstellungen. Über<br />

e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum bestehende<br />

schwache Muskelkräfte haben e<strong>in</strong>en dramatischen<br />

Effekt auf die Zähne, den Alveolarfortsatz<br />

und die Kieferknochen.<br />

Es besteht breite Übere<strong>in</strong>stimmung dar<strong>in</strong>,<br />

dass Muskelschwäche zu e<strong>in</strong>er Zunahme<br />

des vertikalen Wachstums führt (Kilaitis<br />

et al. 1989). Ingervall (1997) stellt fest,<br />

dass e<strong>in</strong>e kräftige Muskulatur mit daraus<br />

resultierendem kräftigem Zusammenbeißen<br />

die Funktion und die Stabilität verbessert.<br />

Gutes Kauen und gute okklusale<br />

Kontakte bessern also die Funktion. Nach<br />

Profit und Sella (1986) müssen die Zähne<br />

von Ober- und Unterkiefer jeden Tag für<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Zeit <strong>in</strong> Kontakt se<strong>in</strong>, um<br />

nicht zu elongieren (Okklusion, Muskulatur,<br />

Kiefergelenk, ZNS nach Stallard – organische<br />

Okklusion), es also zu ke<strong>in</strong>em<br />

vertikalen Wachstumsmuster kommt.<br />

Funktionskieferorthopädie<br />

als Stresskontrolle<br />

Patient: „Ich habe … !<br />

Hat das etwas mit me<strong>in</strong>em Biss/me<strong>in</strong>en schiefen Zähnen zu tun?“<br />

O<strong>der</strong>: „Können Sie als Zahnarzt me<strong>in</strong>e Schmerzen l<strong>in</strong><strong>der</strong>n?“<br />

(n. Wuḧr)<br />

?<br />

Beson<strong>der</strong>s durchbrechende Zähne im<br />

Wechselgebiss bieten <strong>der</strong> muskulären Instabilität<br />

e<strong>in</strong>e breite Angriffsfläche. Roux<br />

hielt bereits im Jahr 1896 fest: „Der Muskelfunktion<br />

kommt bei <strong>der</strong> Ausformung<br />

<strong>der</strong> Kieferknochen, <strong>der</strong> Zahnbögen und<br />

des Parodontiums e<strong>in</strong>e wesentliche Aufgabe<br />

zu.“ Fränkel, Balters, Bigenzahn<br />

und Tränkmann beschrieben die Kieferanomalie<br />

als Ausdruck orofazialer Dysk<strong>in</strong>esien.<br />

<strong>Myofunktionelle</strong> Störungen werden von<br />

Garl<strong>in</strong>er als Störung <strong>der</strong> pharyngealen<br />

Motorik def<strong>in</strong>iert und verursachen nach<br />

Orofaziale Dysk<strong>in</strong>esien stehen <strong>in</strong> unmittelbarem<br />

Zusammenhang mit den vielfältigen<br />

Stressreaktionen des Körpers. So<br />

kann beispielsweise e<strong>in</strong>e erhöhte Muskelspannung<br />

als Stressreaktion auf die somatische<br />

Organebene des Kausystems verlagert<br />

werden und zu e<strong>in</strong>er Überlastung und<br />

e<strong>in</strong>er Funktionse<strong>in</strong>schränkung des gesamten<br />

stomatognathen Systems, <strong>der</strong> Halsund<br />

Schultermuskulatur und <strong>der</strong> Wirbelsäule<br />

führen.<br />

Orofaziale Dysk<strong>in</strong>esien s<strong>in</strong>d nicht monokausal<br />

bed<strong>in</strong>gt, son<strong>der</strong>n müssen im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> Biokybernetik als funktionelle Überbeanspruchung,<br />

als Stressreaktion im<br />

biologischen System gesehen werden<br />

(Slavicek et al.). Im Bereich des Kau -<br />

systems als Stressbeantwortungsorgan ist<br />

die Bissanomalie e<strong>in</strong> Ausdruck <strong>der</strong><br />

Funktionsstörung. Daher hat die Funktionskieferorthopädie<br />

weitreichende ganzheitlich-<strong>med</strong>iz<strong>in</strong>ische<br />

<strong>Aspekte</strong>.


14 FORTBILDUNG Zahn Krone 6/11<br />

Fallbeispiel<br />

Patient<strong>in</strong> 7Jahre, offener Biss, myofunktionelle Behandlung vor festsitzen<strong>der</strong> Korrektur<br />

Nach 1 weiteren Jahr EOA – vor festsitzen<strong>der</strong> Behandlung<br />

Nach 1 Jahr Myotra<strong>in</strong>er<br />

Mittenkorrektur und Lückenöffnung 13, Bissverschiebung<br />

rechts<br />

Diagnose und Frühbehandlung<br />

von Funktionsstörungen<br />

Funktionsstörungen und Fehlentwicklungen<br />

sollten so früh wie möglich erkannt<br />

werden, um e<strong>in</strong> zweckmäßiges, effektives<br />

und kostensparendes E<strong>in</strong>greifen zu ermöglichen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die Osteopathie<br />

bietet hervorragende Möglichkeiten.<br />

Bleiben Fehlfunktionen bestehen, addieren<br />

sich <strong>der</strong>en Effekte, ziehen e<strong>in</strong>e Kette<br />

von weiteren Fehlfunktionen nach sich<br />

und erschweren und komplizieren die Behandlung<br />

(Extraktionen, operative E<strong>in</strong>griffe<br />

etc.).<br />

Schlüsselfaktoren s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Lippenschluss,<br />

die Nasenatmung und <strong>der</strong> Frontzahnkontakt<br />

vor dem Hauptwachstumsschub.<br />

Der Schluckakt (Abb. 1) erfolgt ca. 1.500-<br />

mal täglich, erzeugt e<strong>in</strong> Vakuum und<br />

Druck auf den OK, positioniert das Zungenbe<strong>in</strong><br />

und die vor<strong>der</strong>en Halsmuskeln<br />

(Kopfhaltung, Antagonismus zu HWS),


Zahn Krone 6/11 FORTBILDUNG 15<br />

Abbildung 2<br />

Muskelpalpationsbefunde bei 187 kieferorthopädischen Patienten (Scores 0–3)<br />

Alter: 7–42 Jahre<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

alt. occ. Verb.<br />

Atlantookzipitaler Übergang<br />

M. pterygoideus lateralis<br />

M. pterygoideus <strong>med</strong>ialis<br />

M. suprahyoidale<br />

Mm. sternocleidomastoideus<br />

Quelle: Simma-Kletschka I. 2011<br />

Abbildung 3<br />

187 KFO-Patienten<br />

m. ptery. lat. m. pteryg. m. suprahyoidale Mm. sternocleid.<br />

Summe <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dlichkeitsscores (0–3) rechts und l<strong>in</strong>ks<br />

187 KFO-Patienten<br />

1100<br />

1000<br />

900<br />

800<br />

700<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

alt. occ. Verb. m. ptery. lat. m. pteryg. m. suprahyoidale Mm. sternocleid.<br />

■ re<br />

■ li<br />

Die zahnärztliche Abklärung myofunktioneller<br />

Dysbalancen umfasst die äußere<br />

und <strong>in</strong>nere Inspektion, die Palpation und<br />

die manuelle Funktionsdiagnostik. Zahnärztliche<br />

additive Funktionsuntersuchungen<br />

für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Erwachsene s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Kasten (S. 12) zusammengefasst.<br />

Eigene Untersuchungsergebnisse<br />

In eigenen Studien bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Erwachsenen<br />

(7–42 Jahre) mit kraniomandibulären<br />

Störungen fanden wir vor <strong>der</strong> kieferorthopädischen<br />

Behandlung e<strong>in</strong>e hohe<br />

Druckempf<strong>in</strong>dlichkeit, Verspannungen<br />

und Schmerzen im Bereich <strong>der</strong> Kaumuskulatur.<br />

Die Untersuchung umfasste 187<br />

Patienten, davon 138 K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Alter von<br />

7 bis 17 Jahren und 49 Erwachsene (18<br />

bis 58 Jahre), 81 Männer, 106 Frauen, jeweils<br />

mit unterschiedlicher kieferorthopädischer<br />

Diagnose.<br />

Untersucht wurde nach <strong>der</strong> manuellen<br />

Muskelpalpation nach Krough/Paulsen.<br />

Die Empf<strong>in</strong>dlichkeit und Schmerzstärke<br />

wurden von 0 bis 3 klassifiziert.<br />

Bei Erwachsenen fanden sich höhere<br />

Scores als bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die höchste Empf<strong>in</strong>dlichkeit<br />

zeigte sich im Bereich <strong>der</strong> M.<br />

pterygoidei.<br />

Die Palpation <strong>der</strong> Muskulatur liefert wertvolle<br />

H<strong>in</strong>weise auf aktuelle funktionelle<br />

Belastungen im Kausystem, die, wie die<br />

Abbildung 2 und 3 zeigen, oft asymmetrisch<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Fazit<br />

Die Palpation <strong>der</strong> Muskulatur dient als<br />

H<strong>in</strong>weisdiagnostik für aktuelle funktionelle<br />

Belastungen des Kausystems (oft asymmetrisch).<br />

Jede Zahnfehlstellung ist Ausdruck<br />

e<strong>in</strong>er muskulären Dysfunktion<br />

(Balance Zunge – Kaumuskulatur – Kopfhaltung),<br />

wobei die Zungenfunktion sicher<br />

die Schlüsselstelle darstellt.<br />

■<br />

schließt das Lenker- und Konzeptionsgefäß<br />

des Akupunktursystems, ermöglicht<br />

den Frontzahnkontakt und unterstützt die<br />

transversale Entwicklung im OK.<br />

Werden die Zähne <strong>in</strong> Ruheposition und<br />

beim Schlucken <strong>in</strong> Kontakt gebracht, entstehen<br />

weniger Dysgnathien (Melsen<br />

1987). Parafunktionen werden <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang als Ursache e<strong>in</strong>er Dysgnathie<br />

angesehen.<br />

<strong>DDr</strong>. <strong>Irmgard</strong> Simma-<br />

Kletschka,<br />

ÖGZMK Gesellschaft für<br />

Ganzheitliche Zahnheilkunde,<br />

Bregenz

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