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Leseprobe - Résumé

Er hat das Bassspiel revolutioniert. Sein Instrument hat er vom Bühnenrand ins Scheinwerferlicht gerückt, das Begleit- in ein Soloinstrument verwandelt. Seit einem Schlaganfall, der ihn im April 2007 beim Soundcheck zu einem Konzert mit der Jan Garbarek Group in der Berliner Philharmonie ereilte, kann Eberhard Weber nicht mehr Bass spielen. Doch er hinterlässt ein OEuvre, das seinesgleichen sucht. Der charismatische Schwabe hat Jazz-Geschichte geschrieben, mit Weggefährten wie Wolfgang Dauner, Gary Burton, Pat Metheny und Jan Garbarek. Nun zieht er ein bemerkenswertes »Résumé«. Mit seiner Autobiografie gibt Eberhard Weber einen sehr persönlichen Einblick in sein Leben – und in 50 Jahre deutsche Jazz-Geschichte.

Er hat das Bassspiel revolutioniert. Sein Instrument hat er vom Bühnenrand ins Scheinwerferlicht gerückt, das Begleit- in ein Soloinstrument verwandelt. Seit einem Schlaganfall, der ihn im April 2007 beim Soundcheck zu einem Konzert mit der Jan Garbarek Group in der Berliner Philharmonie ereilte, kann Eberhard Weber nicht mehr Bass spielen. Doch er hinterlässt ein OEuvre, das seinesgleichen sucht. Der
charismatische Schwabe hat Jazz-Geschichte geschrieben, mit Weggefährten wie Wolfgang Dauner, Gary Burton, Pat Metheny und Jan Garbarek. Nun zieht er ein bemerkenswertes »Résumé«.

Mit seiner Autobiografie gibt Eberhard Weber einen sehr persönlichen Einblick in sein Leben – und in 50 Jahre deutsche Jazz-Geschichte.

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Eberhard<br />

Weber<br />

<strong>Résumé</strong><br />

Eine deutsche Jazz-Geschichte<br />

sagas.edition


<strong>Résumé</strong><br />

<strong>Leseprobe</strong><br />

1


Eberhard Weber<br />

<strong>Résumé</strong><br />

Eine deutsche<br />

Jazz-Geschichte<br />

3<br />

sagas.edition


4<br />

<strong>Leseprobe</strong><br />

Erstauflage 2015<br />

© 2015 sagas.edition, Stuttgart<br />

Lektorat: Martin Mühleis<br />

Korrektorat: Dr. Birgit Gläser<br />

Gestaltung: b3K-design Max Bartholl, Andrea Schneider<br />

Satz: Anja Pfennig-Mische<br />

Titelfoto: Roberto Masotti<br />

Alle anderen Fotos (soweit nicht anders angegeben): Eberhard Weber<br />

Druck und Bindung: GGP Media GmbH<br />

ISBN: 978-3-944660-04-2


Inhalt<br />

Vorspiel 7<br />

1 Mich trifft der Schlag 9<br />

2 Wenn ich’s nur wüsste 19<br />

3 Unter dem Flügel 31<br />

4 »A Fässle« 53<br />

5 »Du, hast du Lust« 71<br />

6 Free! 91<br />

7 Telefonbassist 105<br />

8 »Den hol ick mir!« 115<br />

9 Neue Farben 131<br />

10 Viel Harmonie 143<br />

11 Gut angekommen 147<br />

12 »Jetzt hast du es geschafft!« 161<br />

13 Down under 169<br />

14 Länger als die meisten Ehen 175<br />

15 United mit und ohne Kingdom 183<br />

16 Grenzüberschreitungen 197<br />

17 Mal so, mal so 205<br />

18 Nach Poona, bitte! 209<br />

19 Heimspiele 221<br />

20 Perfekter Klang 223<br />

Nachspiel 237<br />

Diskografie 243


9. Neue Farben<br />

5<br />

Maja hat früh begonnen, sich meiner Karriere anzunehmen. Dazu<br />

gehörte die Aufforderung, nicht ein Leben lang nur »Sideman« zu<br />

bleiben. Ich solle doch bitte schön auch komponieren und meinen<br />

eigenen Weg gehen. Schön und gut. Leicht gesagt. Ich konnte nur<br />

leider nicht komponieren. Ich konnte zwar gut Noten lesen und<br />

auch Akkordsymbolen folgen. Was diese aber im Detail tatsächlich<br />

bedeuten, war mir noch weitestgehend unklar. Um hier weiterzukommen<br />

und tatsächlich Kompositionen verfassen zu können,<br />

hatte ich zunächst die Absicht, einen befreundeten Pianisten<br />

um Erklärung zu bitten, was denn, zum Beispiel, Bb7 sei. Letztlich<br />

aber wollte ich mir die Blöße damals nicht geben, setzte mich hin,<br />

begann Akkordsymbole zu analysieren und mich im Selbststudium<br />

mit Komposition zu beschäftigen. Arnold Schönberg hat<br />

schließlich eine epochale Harmonielehre verfasst, ohne je Komposition<br />

studiert zu haben. Das konnte doch nicht so schwer sein.<br />

Nun ja: Einfach war es nicht. Zunächst musste ich herausfinden,<br />

wie ich am besten komponieren konnte. Wie der große Klassiker<br />

am Stehpult Keine Chance! Ich musste hören, wie es klingt.<br />

Dazu brauchte es einen Klangkörper. Den Bass Der ist zu eindimensional,<br />

meiner taugt vielleicht etwas für Melodien. Am besten<br />

gelang mir die Arbeit am Klavier. Nur blöd, wenn man nicht<br />

Klavier spielen kann. Das also musste ich mir langsam draufschaffen,<br />

was zu dem seltsamen Phänomen führte, dass ich als<br />

Nichtpianist immer nur das in Arbeit befindliche Stück spielen<br />

konnte. Sobald ich eine andere Komposition begann und neu<br />

»Klavier spielen« lernen musste, konnte ich nur noch das Neue<br />

wiederholen. Das vorher Einstudierte war wie weggeblasen. Ich<br />

habe in all den Jahren nur mit dem Klavier komponiert. Mit einer<br />

Ausnahme, einer Konzertgitarre. Auf Letzterer hatte ich nur ein<br />

paar Griffe drauf, noch weniger als auf dem Klavier. Ich verrate<br />

das Resultat: So entstand Yellow Fields.<br />

In Wiesbaden richtete ich mir ein kleines Studio ein, mit E-<br />

Klavier und einem Tonbandgerät plus Mikrofon. Alles war noch


6<br />

sehr rudimentär, schlicht und wenig ambitioniert. Trotzdem kam<br />

ich gut voran, weil ich mir meine anfängliche Naivität bewahren<br />

konnte, keinerlei Scheu vor Versuchen oder Unbekanntem hatte.<br />

Die Ausläufer der 68er schützten mich: Man kann mit allem Musik<br />

machen. Den Klavierstuhl nutzte ich als Bassdrum-Ersatz. Mit der<br />

Faust schlug ich gegen den Hocker, auf den ich ein Mikrofon gelegt<br />

hatte – mir gefiel der neue Bassdrum-Sound! Ich begann, mir<br />

erste Stücke auszudenken und sie mit Bleistift in eine Partitur<br />

einzutragen, weit entfernt vom heutigen computerunterstützten<br />

Komponieren. Nicht zu vergessen, alle Gerätschaften hatten<br />

in den 70er-Jahren nichts mit der heutigen Qualität und den damit<br />

verbundenen Möglichkeiten zu tun. Ich hatte noch eins der<br />

legendären Braun-Tonbandgeräte, aus der Zeit, als Braun noch<br />

Designer preise einheimste. Sie sahen toll aus, waren aber mit der<br />

heu tigen Technik nicht zu vergleichen. »Digital« war im wahrsten<br />

Sinne des Wortes: ein Fremdwort. Aber man streckte sich<br />

nach der Decke und kam tatsächlich zu verblüffenden Ergebnissen.<br />

Die eine oder andere Fassung präsentierte ich »Spectrum«,<br />

einmal einen Song im 15er-Rhythmus, mit Takten also, die aus<br />

15 Viertelnoten bestanden, zu hören auf meiner ersten LP The<br />

Colours Of Chloë. Nicht einfach zu spielen für 4/4-Gewohnte.<br />

Ungerade Rhythmen werden im Abendland nicht bevorzugt<br />

verwendet. Wir sind hierzulande 3/4 und 4/4 »geschädigt«,<br />

gewohnt, in Dreier- und Viererblöcken zu empfinden. Und wie<br />

spielt man 15/4 Am besten in Aufteilung: dreimal 4/4 und einmal<br />

3/4, macht 15/4. Dumm nur, dass wir gewohnt sind, in diesen fest<br />

gefügten Blöcken zu empfinden. Deshalb tendiert in unserem<br />

Empfinden der 3/4 automatisch zum 4/4, damit viermal 4/4,<br />

gleich 16/4, entstehen. Ich gewöhnte mich im Lauf der Zeit so<br />

an den ungeraden Fünfzehner, so nannten wir ihn, dass ich bei<br />

einer Aufnahme eines völlig anderen 4/4-Stückes immer früher<br />

als die Kollegen fertig war: Ich hatte einfach ein Viertel weggelassen.<br />

Was den schwäbischen Tonmeister zu der Frage animierte,<br />

die man in Baden-Württembergs Kneipen von Wirten gewohnt<br />

ist: »Derf ich Ihne no a Viertele brenga« 1 Es dauerte ein wenig,<br />

bis ich den Witz kapiert hatte.<br />

1 »Darf ich Ihnen noch ein Viertele bringen« Im Schwäbischen versteht man<br />

unter einem Viertele 0,25 Liter Wein.


Neue Farben<br />

7<br />

Ich liebe komplizierte Rhythmen – und fast noch mehr: komplizierte<br />

Akkorde. Für meine letzte Einspielung <strong>Résumé</strong> fuhr ich<br />

wegen eines einzigen Akkords zurück ins anderthalb Stunden<br />

entfernte Studio, nur um einen Schlussakkord neu ausbalancieren<br />

zu lassen: Es fehlte mir der Ton, der die normale Tonfolge am<br />

meisten – »ärgert«. Diese Störungen verursachen bei mir eine<br />

Gänsehaut und bewirken meine sofortige Aufmerksamkeit. Diese<br />

etwas andere Art der Harmoniebesessenheit führt dazu, dass<br />

für mich bestimmte, sehr populäre Musikrichtungen mit schlichten<br />

Harmonien ausgeschlossen sind. Ich bedauere es immer<br />

wieder, wie gedankenlos oft Banales goutiert wird. Nicht nur im<br />

Harmonischen: Wieso geht ein Fan einer bestimmten Formation,<br />

von der er sämtliche Aufnahmen besitzt, für teures Geld in deren<br />

Konzert, um dort nicht zuzuhören Unentwegt singt er sogar<br />

noch mit und klatscht in die Hände, im Idealfall im Takt. Mir<br />

kann niemand weismachen, dass man Musik hören kann, indem<br />

man ständig herumhampelt und gar bei langsameren Stücken<br />

albern das Feuerzeug schwingt. Ich jedenfalls gehe ins Konzert,<br />

um zu hören, und ins Restaurant, um zu essen. Soll ich für<br />

den Koch künftig auch den Kerzenleuchter schwingen Noch hat<br />

sich dieser Schwachsinn im Jazz meines Wissens nicht durchsetzen<br />

können.<br />

Wenn man sieht, wie wenig viele deutsche Kinder in den<br />

ersten Jahren von richtiger Musikerziehung mitbekommen, wundere<br />

ich mich nicht über diese Entwicklungen. Die für uns verquere<br />

Musik des Orients mit Vierteltönen bleibt für viele Europäer<br />

ein Schloss mit sieben Siegeln und wird im Land des »wohltem -<br />

pe rierten Klaviers« als »unsauber« eingeordnet. Und Südamerika,<br />

speziell Brasilien mit seinen verzwickten Synkopen und<br />

Harmonien, findet auch keinen Einzug in unsere »Backe, backe<br />

Kuchen«-Musikerziehung, was wohl daran liegt, dass die meisten<br />

Lehrer diese musikalischen Strukturen selbst nicht verstehen,<br />

weil sie es nie gelernt haben, weil ihre Lehrer diese musikalischen<br />

Strukturen nicht verstanden haben, weil ... Perpetuum<br />

mobile. So verbildet muss man geradezu auf die Massenhypnose<br />

der Rock- und Popindustrie hereinfallen. Mein lieber Kollege


8<br />

Charlie Mariano pflegte auf Fragen, ob er diese oder jene Pop-<br />

Gruppe schätzte, ironisch zu antworten: »I like their harmonies,<br />

both of them.«<br />

Wie kann ein Publikum eine musikalische Auswahl treffen,<br />

wenn es in früher Jugend, in der Hauptlernphase, keine Auswahl<br />

gab Trägt es zur Aufklärung bei, wenn schon das Baby mit Heavy<br />

Metal zugedröhnt wird, weil es die Eltern auch nicht anders gelernt<br />

haben und glauben, ihrem Kinde ordentliche Musik beizubringen<br />

Dabei führen sie ihre Nachkommen der Musikindustrie<br />

zu, die froh ist um die Schlichtheit und damit Manipulierbarkeit<br />

ihrer Hörerschaft.<br />

Ich habe keine Kinder und deshalb möglicherweise, glaubt<br />

man eingefleischten Eltern, keine Berechtigung, mir über das<br />

Wohl und Wehe von Kindern Gedanken zu machen. In früheren<br />

Jahren, als Wolfgang Dauner und ich als sein Begleiter den Auftrag<br />

hatten, für Kinder-Fernsehsendungen des SDR Musik zu machen,<br />

endete es immer wieder mit Anklängen an Dixieland. Das<br />

würde bedeuten, dass Kindermusik möglichst schlicht und unbedeutend<br />

zu sein hat. Was für ein Trauerspiel! Dabei käme der<br />

Scat-Gesang im Jazz dem kindlichen Ohr doch am nächsten: Laba,<br />

bla ba du bi duah. Viele Eltern und Großeltern imitieren ihre<br />

Kleinen sogar dabei – ohne dabei an Jazz zu denken. Und irrwitzige<br />

Begabungen wie Ella Fitzgerald und Bobby McFerrin sind wohl<br />

eher selten unter den Erziehungsberechtigten zu finden. Brasilianische<br />

Babys werden von Geburt an keine größere Aufnahmefähigkeit<br />

mitbekommen haben, und trotzdem sind sie später in<br />

der Lage, Rhythmen mitzuerleben, bei denen unsereins noch<br />

verzweifelt versucht herauszufinden, wo denn die »Eins« ist. Jazz<br />

schon in der Wiege zuzulassen, könnte ein Weg zur Erweiterung<br />

des späteren musikalischen Horizonts sein. Kindermusik hat<br />

nicht zwangsläufig simpel zu sein.<br />

Bei aller harmonischen und rhythmischen Vertracktheit:<br />

Ich möchte verständlich bleiben – in der Musik wie in der Sprache.<br />

Ich ertrage es nicht, wenn ich das Gefühl habe, als Zuhörer<br />

nicht ernst genommen zu werden, wenn jemand kluge Reden<br />

schwingt, ohne sich die Mühe zu geben, sein Publikum mitzu-


Neue Farben<br />

9<br />

Eberhard Weber um 1972<br />

nehmen. Ich mag es nicht, draußen stehen gelassen zu werden.<br />

Auch meine schrillsten und verrücktesten Klänge sollten verstanden<br />

werden können. Wobei ich mir immer die künstlerische<br />

Freiheit bewahrt habe, zu entscheiden, warum ich welches Mittel<br />

einsetze.<br />

Mit meiner ursprünglich naiven technischen Ausstattung begann<br />

ich also, an meiner allerersten LP zu arbeiten, Stück um<br />

Stück, langsam und stetig. The Colours Of Chloë ist also in<br />

Wiesbaden entstanden. Zunächst hatte ich die Produktion MPS<br />

angeboten; dort aber schätzte man mich wohl mehr als Telefonbassisten<br />

und weniger als eigenständigen Künstler – mein<br />

Vorschlag wurde abgelehnt.<br />

Als ich danach ECM kontaktierte, wurde ich sofort nach München<br />

eingeladen. Den Gründer und Chef von ECM, Manfred Eicher,<br />

hatte ich viele Jahre zuvor ge troffen, irgendwo auf einer Bühne,<br />

wo er mit seinem späteren Kompagnon Thomas Stöwsand mit<br />

Instrumenten herumwuselte, in der Aufbruchszeit des Freejazz.<br />

Eicher schwang irgendwelche Glöckchen, während Stöwsand<br />

Töne aus seinem Fagott herauspresste. Viel weiter als bis zum<br />

Chaos gelangten auch die beiden wohl nicht. Aber noch war man


10<br />

auf der Suche, im Aufbruch, auch Manfred Eicher, der ursprünglich<br />

als klassischer Kontrabassist begonnen hatte. So irgendwie<br />

lernten wir uns kennen.<br />

Und dann hieß es eines Tages: Eicher hat eine Plattengesellschaft<br />

aufgemacht. ECM war 1969 entstanden – und hat sich<br />

schnell den Ruf verschafft, eine Art Gegenbewegung zum Freejazz<br />

zu sein: »The most beautiful sound next to silence«. Wow!<br />

Allmählich verbreitete sich der Gedanke, dass in Manfred Eichers<br />

neuer Firma Klangformen wieder möglich sein könnten, wie sie<br />

andere Plattenfirmen in dieser Zeit oftmals noch strikt ablehnten.<br />

Hurra: Ruhigere Klänge und Schönheit waren wieder zugelassen.<br />

In der Gründungszeit von ECM hatte ich mit dem »Wolfgang<br />

Dauner Trio« ein Konzert im Münchner »Circus Krone« gespielt.<br />

Erst viel später erfuhr ich durch Jan Garbarek, dass er sich unser<br />

Konzert zusammen mit Manfred Eicher angehört hatte. Jan war<br />

damals in München, um mit Manfred über eine Produktion zu<br />

sprechen. Eicher hatte früh begonnen, sich mit skandinavischen<br />

Musikern zu umgeben und hatte dabei in Oslo auch sein favorisiertes<br />

Studio mit dem Tontechniker Jan Erik Kongshaug entdeckt.<br />

Garbarek hatte Manfred Eicher hingewiesen: »Mit dem<br />

Bassisten solltest du mal eine Produktion machen. Er scheint mir<br />

interessant zu sein.«<br />

Von dieser Begegnung ahnte ich noch nichts, als ich Jahre<br />

später mit meinem Tonbandgerät bewaffnet im kleinsten Büro<br />

der Welt erschien, im ersten Stock des Gebäudes von Elektro-<br />

Egger in München-Pasing. Das Büro hatte gerade mal Platz für<br />

einen kleinen Tisch und den Stuhl für den Chef. Die beiden Stühle<br />

für Maja und mich mussten bereits irgendwie hinzugezwängt<br />

werden. Es lief alles nach Plan, meine diversen Ausschnitte und<br />

Vorschläge fanden Gefallen und es konnte ein Aufnahme termin<br />

beim Tonstudio Bauer in Ludwigsburg-Eglosheim ver einbart werden.<br />

Sowohl für ECM als auch für mich war dieses Unterfangen<br />

ein Wagnis. Einmal, weil ich nur ein paar Ver suche auf dem Heimtonbandgerät<br />

vorzeigen konnte – es war meine allererste Produktion.<br />

Zum anderen, weil meine Ideen nicht so recht in irgend-


Neue Farben<br />

11<br />

eine Schublade passen wollten; ich wollte Neuland betreten,<br />

auch in Sachen Komposition.<br />

Beglückt über Eichers Zusage fuhren Maja und ich wieder<br />

nach Hause und warteten auf den Aufnahmetermin. Ich bereitete<br />

mich vor, so gut es mir möglich war. Noch heute sind meine Ideen<br />

in der Partitur nachlesbar. Theoretisch. Selbst ich kann heute<br />

nicht mehr recht entziffern, was ich damals hingeschrieben<br />

hatte. Es mussten Hieroglyphen herhalten, da mir bestimmte<br />

gültige Notierungen noch nicht geläufig waren. Wenigstens damals<br />

konnte ich sie entziffern und den Ausführenden erläutern.<br />

Ich hatte die Idee, außer Rainer Brüninghaus am Piano und Synthesizer,<br />

Ack van Rooyen für ein Flügelhornsolo einzusetzen. Und<br />

dazu wollte ich Paul Motian, den amerikanischen Schlagzeuger,<br />

bitten, denn eine Komposition sollte heißen: No Motion Picture.<br />

Ein enormer Gag, wie ich fand, dass Paul Motian dabei sein<br />

würde. Aber aus diesem Spaß wurde nichts: Motian war nicht<br />

verfügbar. Also fragte ich den Schweizer Peter Giger.<br />

Eberhard<br />

Weber und<br />

Manfred<br />

Eicher im<br />

Studio, 1972


12<br />

Es konnte losgehen. Ich hatte relativ ungewöhnliche technische<br />

Vorstellungen, die heutzutage sofort gelöst werden<br />

könnten, damals, 1972, aber nur mit Tricks machbar waren. Ich<br />

hatte auf meinem Braun-Tonband Shuttermöglichkeiten entdeckt<br />

und wollte diese leichte Zeitversetzung, die einen eigenen<br />

musikalisch witzigen Rhythmus ergab, nutzen. Würde das mit<br />

dem Profi-Equipment des Studios umgesetzt werden können<br />

Nicht einfach, aber der Ehrgeiz der beiden Techniker machte es<br />

möglich.<br />

Aber ausgerechnet der Titelsong der LP, The Colours Of Chloë,<br />

wollte im Studio überhaupt nicht klappen. Meine Komposition<br />

war noch zu rudimentär, zu unfertig. Alles Tüfteln nützte nichts:<br />

Wir konnten die LP nicht fertigstellen. Einzige Lösung: nochmals<br />

zu Hause mit mir zurate gehen und bessere Lösungen finden. Es<br />

dauerte ein paar Monate, bis es wieder so weit war. Für die zweite<br />

Plattensitzung hatte ich dann die auffällige Melodie des Songs<br />

gefunden. Jetzt aber war Peter Giger nicht mehr verfügbar. Im<br />

Jazzensemble des Hessischen Rundfunks hatte ich Ralph Hübner,<br />

den Trommler von Albert Mangelsdorff, kennen- und schätzen<br />

gelernt. Also wurde er zum Schlagzeuger des Titelstücks The<br />

Colours Of Chloë.<br />

Den Titel des Songs und der gleichnamigen LP hatte ich Maja<br />

zu verdanken. Sie nutzte einen Farbstiftkasten mit dem englischen<br />

Aufdruck »40 Colours«. Und während ich in meinem winzigen<br />

Heimstudio noch versuchte, diverse Klangfarben auf mein<br />

Braun-Tonbandgerät zu spielen, mal so, mal so, unter anderem<br />

auch mit einer kleinen Flöte, genannt Okarina, wiederholte ich<br />

offensichtlich immer wieder zwei Töne, die sich irgendwie wie<br />

»O-E« anhörten. Bis Maja zu mir kam und sagte: »O-E – das klingt<br />

wie Chloë.«<br />

Nun, »Colours« und »Chloë« ergaben zusammen: The Colours<br />

Of Chloë. So einfach, so simpel. Der Name Chloë entstammt übrigens<br />

der Maurice-Ravel-Suite Daphnis et Chloé. Tut mir leid, keinerlei<br />

verborgene Mystik anbieten zu können.<br />

Und dennoch bleibt die Benennung einer Komposition ein<br />

nicht uninteressantes Kapitel. Auch ich musste mich über viele


Neue Farben<br />

13<br />

Jahre quälen, etwas zu finden, was nicht unbedingt sofort mit<br />

einem anderen Stück verwechselt werden konnte. Glücklicherweise<br />

hat mir meine Frau dabei geholfen. Die weitaus meisten<br />

Titel hat sie gefunden: Sie stöberte in englischsprachigen Büchern<br />

herum. Ich erinnere mich an Winnie-the-Pooh. Ein paar<br />

wenige stammen aus meiner Feder: T. On A White Horse hatte<br />

mit Pat Methenys damaliger Freundin zu tun. Sie war Thailänderin<br />

und wurde verkürzt T. genannt, weil den gesamten Vornamen<br />

auszusprechen zu kompliziert erschien. An Evening with<br />

Vincent van Ritz entstand in Brasilien mit »Spectrum«: Auf einer<br />

kleinen Insel setzten wir uns in ein schlichtes Strandrestaurant<br />

mit schilfgedeckten kleinen »Oasen«. Wir bestellten uns kleine<br />

geräucherte Fischchen, wieder und wieder. Um uns herum lungerten<br />

streunende Hunde, warteten auf Abfall. Einer davon hatte<br />

nur ein Ohr. So langsam wird es klarer: Das Restaurant wurde von<br />

uns Ritz getauft, der einohrige Hund nach van Goghs Vornamen<br />

Vincent. Und da es langsam Abend wurde: An Evening with<br />

Vincent van Ritz. Langweilige Titel wie Chorus I–VII habe ich leider<br />

ebenfalls zu verantworten. Und noch später konnte ich bei<br />

<strong>Résumé</strong> und Encore ganz einfach die Stücke nach der Stadt benennen,<br />

in denen sie aufgenommen wurden. So blieb mir viel<br />

Nachdenken erspart.<br />

Noch vor der Veröffentlichung von The Colours Of Chloë entstand<br />

großes Rätselraten, wie diese Musik denn eingeordnet<br />

werden konnte. Irgendwie tolle Musik, die gefällt. Aber kein richtiger<br />

Jazz. Der amerikanische Markt reagierte verwundert: Da<br />

kommt was aus Europa, in welche Schublade gehört das denn<br />

Selbst Manfred Eicher war sich nicht sicher, wie diese Musik<br />

zu bezeichnen war und bat mich, einen Begleittext zu formulieren.<br />

So geschah es auch, und noch Jahre danach fand ich in<br />

so mancher Besprechung meine damalige Wortwahl und meine<br />

Beschreibungen, obwohl sich inzwischen so manches geändert<br />

hatte.<br />

Eines Tages rief mich Eicher an: »Chloë hat den Großen Deutschen<br />

Schallplattenpreis gewonnen und du bist zum Künstler<br />

des Jahres 1975 gekürt worden.«


14<br />

Eine Housewarming Party bei Webers<br />

Ich hatte nicht mal mitbekommen, dass meine LP eingereicht<br />

worden war und freute mich darüber – umso mehr, weil ich in einer<br />

Kategorie gewonnen hatte, in der sich alle Musikschaffenden<br />

befanden, auch Schlager und Pop. Dies brachte Aufruhr in die<br />

Branche. Was macht ein Jazzer hier und gewinnt auch noch, verweist<br />

populäre Sänger wie Udo Jürgens auf die Plätze Sofort<br />

wurden für die Folgejahre weitere Kategorien ausgedacht und<br />

eingefügt, sodass es jetzt mehrere Gewinner geben konnte. Ich<br />

hatte mich also recht achtbar geschlagen, damals 1975.<br />

Preisgeld gab es nicht: nur eine Urkunde und eine kleine Plastiksäule,<br />

die ich nicht einmal selbst in Empfang nehmen konnte,<br />

weil ich an eben diesem Tag dringend einen Job annehmen musste.<br />

Die Miete musste eingespielt werden.<br />

Danach ging es wieder südwärts. Da ich nicht mehr bei »Spectrum«<br />

spielte, machte Wiesbaden für mich als Wohnort keinen<br />

Sinn mehr. Jetzt wollte ich näher bei ECM sein – und Maja und ich<br />

zogen ins Bayerische. In Gröbenzell bei München hatten wir im<br />

Jahr 1976 ein kleines Häuschen zur Miete gefunden. Angespornt<br />

durch die gesammelten Erfahrungen und den beginnenden Erfolg<br />

installierte ich auch dort und später in allen unseren Wohnungen


Neue Farben<br />

15<br />

ein kleines Heimstudio. In jedem meiner Studios ist eine neue<br />

LP entstanden. Im Durchschnitt zogen wir alle zwei, drei Jahre<br />

um – alle zwei bis drei Jahre komponierte ich also eine neue<br />

Platte.<br />

In Gröbenzell feierten wir eine Housewarming Party. Und wie<br />

es der Zufall wollte, befanden sich zur selben Zeit mehrere Kollegen<br />

in der Gegend: Jan Garbarek mit seinem skandinavischen<br />

Quartett und Ralph Towner war mit John Abercrombie auf Duo-<br />

Tournee. So erschienen alle in unserem neuen Domizil: Jan mit<br />

dem Bassisten Palle Danielsson und dem Pianisten Bobo Stenson,<br />

und Ralph und John. Es wurde ein vergnüglicher Abend und alle<br />

wohnten in unserem winzigen Häuschen, schliefen auf Couchen<br />

und Matratzen, die zum Teil bis in den halbhohen Keller verteilt<br />

worden waren – eine Freundin schlief in meinem Studio hinter<br />

dem Klavier. Ein hippieartiges Idyll.<br />

War der Freejazz noch eine Bewegung, wurde ECM eine Art<br />

Familie. Wer einmal bei ECM ist, bleibt in der Regel dabei. Trotz<br />

seines Welterfolgs ist das Label eine kleine Firma geblieben. Zu<br />

Anfang war es gerade mal eine Handvoll Mitarbeiter. Heute dürf-<br />

Keith Jarrett mit Maja Weber, rechts Thomas Stöwsand.<br />

ECM-Büro München, um1974


16<br />

ten zwei Hände vollkommen reichen. Alle sind unter der Rubrik<br />

»leicht verrückt« einzuordnen. Alle nehmen Anteil an Manfred<br />

Eichers Auswahl der Musiker und Produktionen. Jeder fühlt sich<br />

als Teil des Ganzen, denkt mit, arbeitet mit. Wenn ECM-Musiker<br />

in Deutschland sind, trifft man sich im kleinen Büro, auch ich<br />

schaue dort immer noch gern und immer wieder einmal vorbei.<br />

Die Covergrafiken sind mehrfach als stilbildend ausgezeichnet<br />

worden. Und man ist gewohnt, dass die Aufnahmequalität<br />

nichts zu wünschen übrig lässt. Eicher hat mit ECM etwas Besonderes<br />

geschaffen.<br />

Im Studio hat ohne Zweifel der Chef das große Sagen. In Manfred<br />

Eicher hat man einen idealen Produzenten gefunden. Er hat<br />

ausgezeichnete Ohren, hört »die Flöhe husten«, kennt auch die<br />

technischen Dinge, die zur Perfektion benötigt werden. Er ist ein<br />

wunderbarer Mitarbeiter im Studio. Aber, das gibt es auch: Wenn<br />

er die angebotene Musik nicht mag, hat man ein Problem. Er geht<br />

nur in Produktionen restlos auf, wenn sie ihm vollkommen entsprechen.<br />

Wenn diese Synchronität zwischen Künstler und Produzent<br />

fehlt, bedarf es der Stärke. Man muss sich seiner Sache<br />

absolut sicher sein. Es ist also ratsam, bestens vorbereitet im<br />

Studio zu erscheinen. Was ohnehin immer ratsam ist.

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