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Humanistische Körperpsychotherapie - Werner Eberwein

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<strong>Humanistische</strong> <strong>Körperpsychotherapie</strong><br />

Das wichtigste in Kürze: Was ist <strong>Körperpsychotherapie</strong><br />

<strong>Körperpsychotherapie</strong> ist eine Richtung der <strong>Humanistische</strong>n Psychotherapie, die auf den Arbeiten von Wilhelm Reich aufbaut.<br />

Reich war Psychoanalytiker und Schüler von Sigmund Freud in Wien; daher sind viele Konzepte der <strong>Körperpsychotherapie</strong> aus<br />

psychodynamischen Ansätzen heraus entwickelt worden. Einer der bekanntesten direkten Schüler von Reich war Alexander<br />

Lowen, der Begründer der Bioenergetik. Weitere bedeutende Reich-Nachfolger sind David Boadella, Gerda Boyesen, Ron Kurtz<br />

und Georg Downing.<br />

In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> wird in der Therapie mit aktivierten Gefühlen gearbeitet, daher wird <strong>Körperpsychotherapie</strong> als<br />

"erlebnisaktivierendes Verfahren" bezeichnet. Durch Körperarbeit können die Gefühle des Patienten mobilisiert, aber auch<br />

beruhigt werden.<br />

In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> werden ausgefeilte Methoden der Körperdiagnostik angewandt. Anhand von Körperhaltungen,<br />

Bewegungen, Mimik, Atemmustern und Kontaktverhaltens des Patienten werden Hypothesen über den psycho-energetischen<br />

Zustand und über lebensgeschichtliche Prägungen entwickelt ("Body-Reading").<br />

Technisch arbeitet man in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> vor allem mit<br />

� Körperwahrnehmung: das Gewahrsein des Patienten wird in seinen Körper hinein gelenkt, so dass er die Themen, Probleme<br />

und Prozesse, die ihn beschäftigen, im Hier-und-Jetzt in seinem Körper wahrnehmen und empfinden kann,<br />

� Körperausdruck: der Patient wird eingeladen, sein Befinden körperlich auszudrücken, was es ihm ermöglicht, auch solche<br />

Gefühle zu vermitteln, die er durch Worte nicht angemessener ausdrücken könnte,<br />

� Berührung: der Therapeut kann den Patienten in den Grenzen der therapeutischen Ethik mit den Händen berühren, um<br />

Kontakt zu ihm aufzunehmen oder um symbolisch eine Beziehungskonstellation erlebbar zu machen; eine spezielle Form der<br />

therapeutischen Berührung sind die diversen Massagetechniken, die in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> entwickelt wurden,<br />

� Atemarbeit: der Patient wird eingeladen, sein Atemmuster wahrzunehmen und gegebenenfalls zu verändern, was intensive<br />

Auswirkungen auf sein aktuelles Befinden haben kann.<br />

Grundlagen<br />

<strong>Werner</strong> <strong>Eberwein</strong><br />

Diplom-Psychologe<br />

Einzel-, Paar-, Gruppenpsychotherapie<br />

Fortbildung • Supervision • Coaching<br />

Das Unbewusste spricht durch den Körper.<br />

George Downing<br />

Postadresse<br />

Seminarort<br />

Fon<br />

Mail<br />

Web<br />

Aachener Str. 27 • 10713 Berlin<br />

Baruther Str. 21 • 10961 Berlin<br />

(030) 82 70 28 34 • Fax -35<br />

info@werner-eberwein.de<br />

www.werner-eberwein.de<br />

Wilhelm Reich (1897-1957)<br />

Wilhelm Reich war Psychiater, Psychoanalytiker und der Begründer der <strong>Körperpsychotherapie</strong>.<br />

Er studierte in Wien Medizin, wurde 1920 mit 23 Jahren in die Wiener Psychoanalytische<br />

Vereinigung aufgenommen und praktizierte als Psychoanalytiker. 1924 bis 1930 war er Leiter<br />

des „Wiener Seminars für psychoanalytische Therapie“. Reich erforschte die Folgen der<br />

Unterdrückung der Sexualität für die Entstehung seelischer Störungen. 1933 floh Reich vor den<br />

Nazis nach Dänemark und später nach Norwegen, wo er sein körperpsychotherapeutisches<br />

Verfahren ausarbeitete. Reich entwickelte das Konzept der Muskelpanzerung als körperliches<br />

Substrat der Verdrängung, sowie eine Reihe von körperlichen Interventionen, um die Panzerung<br />

abzutragen und die Lebensenergie zu befreien. 1939 emigrierte Reich in die USA und übte dort<br />

großen Einfluss auf bekannte Psychotherapeuten wie Alexander Lowen, Fritz Perls und Ronald<br />

Laing aus.


Wurzeln und Richtungen. Die wichtigsten Wurzeln der <strong>Körperpsychotherapie</strong> sind:<br />

2<br />

die Psychoanalyse (z.B. Groddeck, Ferenczi, Rank und v.a. Reich),<br />

die Reform-Bewegungslehren (v.a. Gindler, Selver) und<br />

die Tanztherapie (z.B. Laban, Schoop, Espenak, Wigman, Whitehouse).<br />

Die Unterschiede und aktuellen Diskussionen in und zwischen den verschiedenen Richtungen der<br />

<strong>Körperpsychotherapie</strong> sind im „Handbuch der <strong>Körperpsychotherapie</strong>“ (Marlock & Weiss 2006) detailliert<br />

dargestellt. Einen Überblick über die vielfältigen Ursprünge und Richtungen der <strong>Körperpsychotherapie</strong> geben<br />

darin Geuter (2006) und Langfeld & Rellensmann (2006).<br />

Gymnastik. Die Berliner Gymnastiklehrerin Elsa Gindler (1885-1961) übte, gemeinsam mit dem<br />

Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889-1964) einen starken, indirekten Einfluss auf die Körper- und<br />

Bewegungstechniken der <strong>Körperpsychotherapie</strong> aus. Anfang der 1930er Jahre studierten unter anderem Elsa<br />

Lindenberg, die damalige Frau von Wilhelm Reich und Laura Perls, die zusammen mit Fritz Perls als Begründerin<br />

der Gestalttherapie gilt, bei Gindler deren Bewegungslehre. Charlotte Selver (1901-2003), eine deutsche<br />

Musikpädagogin und Schülerin von Gindler führte die Gindler-Arbeit unter dem Name „Sensory Awareness“<br />

(Brooks 1991) fort und übte am Esalen-Institut in Kalifornien, in dem sie ab 1963 lehrte, einen entscheidenden<br />

Einfluss auf viele Vertreter der Human-Potential-Bewegung aus. Ihre bekanntesten Schüler waren der<br />

Psychoanalytiker Erich Fromm, die Zen-Philosophen Daisetz Taitaro Suzuki und Allan Watts, Fritz Perls, der<br />

Begründer der Feldenkrais-Methode, Moshe Feldenkrais, und die Begründerin des Rolfing, Ida Rolf, die alle<br />

ebenfalls am Esalen-Institut lehrten. Die Sensory-Awareness-Methode stellt darüber hinaus die Basis der „Esalen-<br />

Massage“ dar, die auf der klassischen schwedischen Massage basiert und durch Elemente verschiedener<br />

Körpertherapien wie Feldenkrais, Craniosacrale Therapie, Rolfing, Polarity und Akupressur ergänzt wurde<br />

(Downing 1998).<br />

Psychotherapeutische Körperarbeit. Die <strong>Körperpsychotherapie</strong> basiert auf psychodynamisch orientierten<br />

Theorien der körperlichen Dynamik von Abwehrprozessen, wie sie von Reich (191970), Lowen (1981), Janov<br />

(1981), Boyesen (1987), Downing (1994), Kurtz (1985), Boadella (1986) und vielen anderen ausgearbeitet wurden.<br />

<strong>Körperpsychotherapie</strong> will psychische Veränderungen durch Arbeit mit dem Körper bewirken.<br />

Körperpsychotherapeutische Techniken ermöglichen es, mit Gefühlsprozessen dort zu arbeiten, wo sie<br />

stattfinden, nämlich im Körper. Gefühle können im Körper zugänglich gemacht, aktiviert, durchgearbeitet,<br />

befreit, verstärkt oder auch gedämpft und harmonisiert werden. Durch Körperübungen und<br />

Berührungstechniken können Abwehraffekte, Abspaltungen und Fragmenierungszustände körperlich<br />

bearbeitet werden. Der innere Andrang der Emotionen (emotionaler Auftrieb) kann durch Körperarbeit<br />

zielgerichtet, beschleunigt oder verlangsamt, also gesteuert werden.<br />

Der Körper als Ort der Gefühle. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> betrachtet man den Körper als den Ort der<br />

Gefühle, und die vegetativen Körperprozesse als die materielle, physiologische Seite der Emotionen. Gefühle<br />

sind nach Damasio (1994) subjektiv als bedeutungsvoll wahrgenommene vegetative Zustände, die im Körper<br />

gespürt werden können (vgl. Abschnitt „Bedürfnisse, Werte, Sinn und Gefühle“). Seelische Probleme wie z.B.<br />

Ängste, Depressionen oder Beziehungsstörungen werden im Körper erlebt. Wenn wir uns freuen, hüpft das Herz,<br />

oder es wird weit im Brustraum. Bei Angst zittern die Hände, und das Gesicht wird bleich. Bei Depressionen sinkt<br />

der Muskeltonus und die Augen verlieren ihren Glanz. Beziehungsprobleme können sich als drückende Last auf<br />

den Schultern oder als quälende Schlaflosigkeit äußern.<br />

Was kann psychotherapeutische Körperarbeit? Mit körperpsychotherapeutischen Techniken ist es möglich,<br />

über den Körper die Seele zu erreichen. Die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper ist die am stärksten<br />

erlebnisaktivierend und transformativ wirkende Technik der <strong>Humanistische</strong>n Psychotherapie. Körperarbeit kann<br />

relativ schnell von abgehobenem Darüber-Reden zum tieferen Erleben und zu psychotherapeutisch relevanten<br />

Veränderungen führen. Körperpsychotherapeuten kommunizieren mit ihren Klienten auch jenseits der Sprache<br />

und können dadurch Leib-seelische Schichten erreichen, die unterhalb der sprachlich-kognitiven Ebene liegen.<br />

Die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper öffnet die Tür zum Unbewussten und zur präverbalen Phase<br />

der Biografie (zum „inneren Säugling“), zur Psychosomatik sowie zu den körperlich fixierten Mustern der<br />

Traumaverarbeitung.


3<br />

Alexander Lowen (1910-2008)<br />

Alexander Lowen war ist ein Schüler von Wilhelm Reich und der Begründer der Bioenergetischen<br />

Analyse. Lowen war ursprünglich Jurist. Nach seiner Lehranalyse bei Reich studierte er Medizin, um<br />

Psychotherapeut zu werden. Zusammen mit John Pierrakos (1921-2001) gründete er 1956 das<br />

„International Institute for Bioenergetic Analysis“ in New York. Lowen differenzierte Reichs Lehre von<br />

den Charakterpanzerungen und bemühte sich um die Verbindung zwischen der <strong>Körperpsychotherapie</strong><br />

und den psychodynamischen Richtungen. Seit Mitte der 1950er Jahre bis ins hohe Alter von über 90<br />

Jahren lehrte und arbeitete Lowen in vielen Ländern der Welt.<br />

Ziel. Das Ziel der <strong>Körperpsychotherapie</strong> ist es, abgewehrte (verdrängte,. gespaltene oder dissoziierte)<br />

psychische und psychosomatische Anteile durch Arbeit mit dem Körper zu integrieren und die Leib-Seele-<br />

Einheit zu harmonisieren. Ansatzpunkt der körperpsychotherapeutischen Arbeit sind körperenergetische<br />

Dysharmonien, die auf Grundlage der Theorien des psychovegetativen Zyklus und der verkörperten<br />

Charakterstrukturen im Körper zugänglich gemacht und transformiert werden.<br />

Verbale und nonverbale Psychotherapie. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> wird die Arbeit mit dem Körper und<br />

die verbale Arbeit ineinandergewoben. Auch während der Körperarbeit wird oft gesprochen, um dem Klienten<br />

zu ermöglichen, seine Erlebnisse zu verstehen und bewusst zu verarbeiten. In der Regel beginnt die Sitzung im<br />

Gespräch, geht dann in Körperarbeit über und endet wieder im integrierenden Gespräch.<br />

<strong>Körperpsychotherapie</strong> und Körpertherapie. Der Ansatz und die Arbeitsweise der <strong>Körperpsychotherapie</strong> geht<br />

über die verschiedenen Richtungen der Körpertherapien (ohne „-psycho-“) hinaus. Körpertherapien haben<br />

keinen psychotherapeutischen Anspruch. Sie arbeiten körperenergetisch, aber nicht zentral an der Linderung<br />

chronischen psychischen Leids und an der Integration von Abgewehrtem. Sie arbeiten im Hier-und-Jetzt mit<br />

dem Körpererleben des Klienten, aber nicht psychodynamisch mit biografischen Bedeutungen. In<br />

Körpertherapien wird die Beziehungs- und Übertragungsdynamik zwischen Klient und Therapeut nicht<br />

bearbeitet. Die Reflexion der Psychodynamik von Gefühlen und Beziehungsmustern geschieht höchstens<br />

beiläufig. Körpertherapien in diesem Sinne sind zum Beispiel die Feldenkrais-Methode, Klassische Massage,<br />

Osteopathie, Rolfing/Strukturelle Integration, Physiotherapie, Yoga, Alexandertechik und Shiatsu. Umgekehrt<br />

arbeiten Körperpsychotherapeuten aber oft mit Techniken, die in den Körpertherapien entwickelt wurden.<br />

Verkörpererung des Widerstandes. Freud stellte in seinen psychoanalytischen Behandlungen fest, dass<br />

manche seiner Klienten einen „Widerstand“ gegen ihre Gesundung zu entwickeln schienen, so als ob sie nicht<br />

gesund werden wollten. Freud führte diesen Widerstand auf einen postulierten Todestrieb zurück, der die<br />

Klienten dazu bringe, in ihrem Leiden zu verharren und sich gegen ihr therapeutisches Fortkommen zu wehren.<br />

Wilhelm Reich war einer der ersten, der diese Sichtweise Freuds in Frage stellte. Reich ging von einem einzigen<br />

„Lebenstrieb“ aus und betrachtete die „Widerstände“ als körperenergetischen Niederschlag sozialer Repression.<br />

Reich stellte fest, dass die nonverbalen Äußerungen der Klienten, ihre Körperhaltungen und ihre unwillkürlichen<br />

Ausdrucksgesten entscheidende Hinweise auf die Widerstände und Übertragungsmuster des Klienten zuließen.<br />

In der Analyse der Behandlungswiderstände im Zusammenhang mit „negativen“ Übertragungen sah Reich die<br />

primäre Aufgabe des Analytikers. Diese Arbeitsweise bezeichnete er als „Charakteranalyse“ (Reich 1970). (Das<br />

griechische Wort „charakter“ bezeichnete ursprünglich den Prägestempel für Münzen und Siegel sowie die<br />

Prägung selbst. In der Psychologie versteht man darunter die biografisch gewordenen Eigenarten und Merkmale<br />

einer Person.)<br />

Muskelpanzerung. Reich entdeckte Muster chronischer Muskelspannungen als körperliche Basis der<br />

Abwehrprozesse („Muskelpanzer“). Er sprach von einer „funktionalen Einheit“ zwischen Beziehungsmustern,<br />

psychischer Struktur und körperlicher Struktur. Dieses Konzept überbrückte die dualistische Spaltung des<br />

Menschen in Körper und Psyche und begründete eine ganzheitliche (holistisches) Sichweise einer Seele-Körper-<br />

Einheit.


Körperenergie<br />

4<br />

Körperenergie<br />

Als Körperenergie bezeichnen wir die psychosomatische Erregung, die die Basis unserer Lebensprozesse und<br />

Lebensäußerungen ist. Körperenergie wird im Stoffwechsel des Körpers durch den Umsatz von Nahrung mit Sauerstoff<br />

metabolisch erzeugt und durch muskuläre und neuronale Aktivität sowie durch die Tätigkeit der inneren Organe und des<br />

Gehirns verbraucht. Körperenergie wird durch Motivationen mobilisiert und duch Abwehrprozesse dysreguliert.<br />

Die Wahrnehmung der Körperenergie. Körperenergie wird subjektiv als Erregung, Aktiviertheit, Vitalität, Kraft,<br />

Lust, Ladung, Wachheit, Interesse, Teilnahme, Berührtheit oder Durchströmtheit wahrgenommen. In<br />

Gipfelerlebnissen, in Momenten leidenschaftlicher sexueller Vereinigung, im Anblick grandioser Natur, im<br />

Genuss großer kultureller Werke, beim meditativem Einsinken in innere Stille, in beruflichen oder sportlichen<br />

Erfolgserlebnissen, in dynamischen Körperübungen oder tiefen emotionalen Begegnungen spüren wir, wie wir<br />

durchflutet sind von Lebendigkeit: es strömt in uns, Erregung schießt durch den Körper, Wellen fluten durch das<br />

Innere, es rieselt im Bauch, das Herz glüht, die Gedanken sprudeln, der Körper ist ausgefüllt mit Kraft und<br />

Lebensfreude. Umgekehrt werden Zustände von Depression, Blockiertheit oder Ausgebranntheit als<br />

Energiemangel erlebt. Wenn wir erschöpft, deprimiert, blockiert oder gelangweilt sind, spüren wir im Körper,<br />

dass unser Energieniveau niedrig ist. Der Körper fühlt sich schwach und schwer an, wir sind müde und lustlos,<br />

wir fühlen uns dumpf, taub, eingesperrt in uns selbst, ausgehöhlt, erschöpft, müde und kraftlos.<br />

Das Niveau der Körperenergie. Das Niveau der Körperenergie kann also hoch oder niedrig sein, wie eine<br />

Batterie, die aufgeladen oder entladen sein kann. Die innere Batterie kann auch überladen sein, was in Stress-,<br />

Spannungs-, Stauungs- oder Überflutungszuständen der Fall ist. Dann ist mehr Energie mobilisiert, als genutzt<br />

bzw. verarbeitet, das heißt gefühlt und in Handeln umgesetzt werden kann, wie z.B. in posttraumatischen<br />

Erregungszuständen, bei akuten Ängsten, im Stress, in manischen oder paranoiden Zuständen.<br />

Psychosomatische Zyklen<br />

Der psychovegetative Zyklus. Das Konzept des „psychovegetativen Zyklus“ wird in einigen Schulen der<br />

<strong>Körperpsychotherapie</strong> verwandt, um körperenergetische Aufladungs- und Entladungsprozesse zu beschreiben.<br />

Grundgedanke ist, dass sich der Tonus der Körperenergie rhythmisch verändert und dabei einem zyklischen<br />

Muster von Aufladung und Entladung folgt, das mit einem Wechsel zwischen einem sympathischen und einem<br />

parasympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems einhergeht.<br />

Die Aktivierung und das Aufsteigen der Körperenergie von unten nach oben entspricht dem<br />

sympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems. Dabei werden vegetative Aktivitäts, Kampf- oder<br />

Fluchtmuster aktiviert.<br />

Das Herunterfahren und Absinken der körperenergetischen Erregung von oben nach unten entspricht<br />

dem parasympathischen Tonus des vegetativen Nervensystems. Dabei werden Harmonisierungs-,<br />

Erholungs- und Verdauungsmuster aktiviert.<br />

Ein Löwenrudel<br />

Als Metapher zur Verdeutlichung des psychovegetativen Zyklus kann das Aktivitätsniveau eines Löwenrudels dienen.<br />

Nehmen wir an, ein Löwenrudel befindet sich gerade in einem entspannten (parasympathischen) Zustand. Die Löwen ruhen<br />

sich aus und dösen in der Sonne. Nach einiger Zeit wird das Löwenrudel hungrig. Die Tiere werden unruhig und trotten hin und<br />

her. Dann finden sie eine Zielrichtung, sie gehen auf die Jagd. Ihr Energieniveau schnellt in die Höhe (sympathischer<br />

Zustand). Die Löwen jagen eine Antilope, schlagen sie und fressen sie. Wenn die Löwen satt sind, legen sie sich hin um zu<br />

verdauen. Sie entspannen sich und ruhen sich aus (parasympathischer Zustand). Nach einer Weile beginnt der Zyklus von<br />

neuem.<br />

Aktivität und Ruhe. Das Modell des psychovegetativen Zyklus geht von einem biologischen, organismischen<br />

Paradigma aus - zur Beschreibung der Dynamik spezifisch menschlicher Motivationen ist es nur begrenzt<br />

geeignet. Dennoch gibt es solche psychovegetative Zyklen auch beim Menschen. Nehmen wir an, ein Mensch<br />

befindet sich gerade in einer (parasympathischen) Entspannungsphase. Er schläft, ruht sich aus, plaudert<br />

entspannt mit Freunden oder sieht fern. Nach einer Weile entstehen in seinem Inneren Bedürfnisse, oder er<br />

spürt Verpflichtungen. Wenn es sich um ein Kind handelt, muss es vielleicht zur Schule, es will spielen oder sich<br />

mit Freunden treffen. Ein Erwachsener muss vielleicht zur Arbeit, will einkaufen, zu einer Sitzung oder zum Sport.<br />

Sein (sympathisches) Aktivitätsniveau erhöht sich aufgrund seiner biologischen oder sozialen Bedürfnisse. Die<br />

Bedürfnisse geben die Zielrichtung der Aktivität der Person vor. In der Aktivität wird die Körperenergie


5<br />

umgesetzt und realisiert. Danach geht der Mensch in eine (parasympathischen) Ruhephase, um sich zu erholen<br />

und das Erlebte zu verdauen. Er entspannt sich, und nach einer Weile beginnt ein neuer Zyklus.<br />

Der psychovegetative Zyklus<br />

Der affektive Zyklus. Geuter & Schrauth (2001, 2006) haben unter der Bezeichnung „affektiver Zyklus“ ein<br />

Modell vorgeschlagen, das von einer zyklischen Gleichzeitigkeit affektiver Prozesse auf der vegetativen, der<br />

muskulären und der zentralnervösen Ebene ausgeht.<br />

Der affektive Zyklus<br />

Der vasomotorische Zyklus. Das Konzept des vasomotorischen Zyklus wurde von Gerda Boyesen (1987) in<br />

Anlehnung an Grundgedanken von Wilhelm Reich (1970) entwickelt. Sie ging davon aus, dass sich der<br />

psychovegetative Tonus eines Menschen auf die Durchblutung der Gewebe des Körpers auswirkt. Im<br />

sympathischen Tonus sind die Blutgefäße im Kopfbereich und in der Skelettmuskulatur geöffnet<br />

(Vasodilatation), die Blutgefäße in der unteren Körperregion, in den inneren Organen und in den Extremitäten<br />

sind verengt (Vasokonstriktion). Daher erhöht sich im sympathischen Tonus der Blutdruck, die Stirn ist erhitzt,<br />

das Gesicht ist gerötet oder geschwollen, Hände und Füße sind kühl. Im parasympathischen Tonus ist<br />

umgekehrt: die Stirn kühl, die Hände, die Füße und die Bauchregion sind warm, und der Blutdruck ist niedriger.<br />

Anhand der Durchblutung der verschiedenen Körperregionen, die z.B. an der Hauttemperatur festgestellt<br />

werden kann, kann der psychovegetative Tonus des Klienten eingeschätzt werden. Durch verschiedene


6<br />

Techniken der Körperarbeit kann die Durchblutung der Gewebe verändert und dadurch der psychovegetative<br />

Tonus des Klienten beeinflusst werden.<br />

Dysharmonien des psychovegetativen Zyklus. Wenn der psychovegetative und der des vasomotorische<br />

Zyklus sich nicht auf seine natürliche Weise bewegen kann, sondern an einer oder an mehreren Stellen seines<br />

Ablaufes blockiert ist, so entstehen körperenergetische Dysharmonien („vegetative Dystonie“). Diese sind die<br />

körperenergetische Seite Leid aufrecht erhaltender Beziehungsmuster:<br />

Ein chronischer Sympathikotonus bewirkt eine Neigung, sich in Stress zu verwickeln, z.B. in Form des<br />

Workaholic-Syndroms, der Managerkrankheit, des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS),<br />

Übererregtheit und Überagitiertheit, zwanghaftes Zu-viel-Reden, Typ-A-Muster des Herzinfarkt-Risikos.<br />

Ein chronischer Parasympathikotonus bewirkt eine Tendenz zu Erschlaffung, Depression, Mutlosigkeit,<br />

Energiemangel, Antriebsarmut und Trägheit, chronische Passivität und Mangel an Initiative.<br />

Vegetative Blockaden. Dysharmonien des psychovegetativen Zyklus können wie folgt weiter differenziert<br />

werden:<br />

Aufladungsblockade. Nehmen wir an, eine Person befindet sich gerade in einer Entspannungsphase.<br />

Nehmen wir weiter an, diese Person hat gerade ein schwer belastendes Ereignis erlebt (ein geliebter<br />

Mensch ist gestorben, die Person wurde entlassen, gedemütigt, vernachlässigt, misshandelt oder<br />

missbraucht). Nehmen wir an, das psychovegetative System der Person kann das Erlebte aufgrund<br />

mangelnder struktureller Stabilität und mangelnder sozialer Unterstützung nicht verarbeiten. Der<br />

psychovegetative Aufschwung kann dann durch unverarbeitete, überwältigende Gefühle gehemmt<br />

werden. Das unverarbeitete Erlebnis bewirkt eine Tendenz des Vegetativums, in der<br />

Entspannungsphase (quasi in einer dauernden Schonhaltung) zu verbleiben. Körperenergetische<br />

Aufladung und Erregung werden vermieden, weil sie ein unerträgliches Gefühl der Hilflosigkeit<br />

aktiviert. In der Person entsteht eine Tendenz zum sozialen Rückzug und zur Antriebsschwäche. Die<br />

Aufladungsphase des psychovegetativen Zyklus ist blockiert. Die Person entwickelt eine Depression.<br />

Ausdrucksblockade. Eine zweite Möglichkeit der Dysharmonie des psychovegetativen Zyklus besteht<br />

darin, dass die Realisation eines Bedürfnisses bzw. der Ausdruck eines Gefühls unterdrückt ist. Das wäre<br />

beispielsweise der Fall, wenn jemand sexuelles Begehren, Wünsche nach Sozialkontakt oder kreativer<br />

Selbstverwirklichung nicht realisieren kann, oder auch, wenn eine Person wütend ist, aber nicht wagt,<br />

ihren Ärger auszudrücken. Es kann dann ein Überladungszustand entstehen. Die Körperenergie ist<br />

aufgeladen, kann aber nicht umgesetzt werden. Die Person fühlt sich angespannt, übererregt und<br />

nervös. Sie hat eine sich ansammelnde Aktionsbereitschaft in sich, die sie nicht in Handeln oder Erleben<br />

verwirklichen kann. Es entsteht ein chronisch sympathischer Zustand mit Anspannung, Überregung<br />

und Stress.<br />

Restspannungsstau. Eine dritte Variante von Dysharmonie des psychovegetativen Zyklus besteht<br />

darin, dass zwar Bedürfnisse in gewissem Umfang realisiert wurden, aber nicht vollständig. Es blieb eine<br />

Restspannung übrig, die sich ansammelt und im Laufe der Zeit ebenfalls zu einem chronischen<br />

Stauungszustand führt. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn ein Mensch intensive positive oder<br />

negative Erfahrungen macht, sich danach aber nicht die Ruhe nimmt oder nicht die sozialen<br />

Bedingungen dafür vorfindet, um das Erlebte zu verdauen, oder wenn ein Mensch bestimmte sozial<br />

nicht akzeptierte Aspekte seiner Gefühle und Bedürfnisse zurückhält.<br />

Entspannungsblockade. Eine vierte Möglichkeit der Dysharmonie des psychovegetativen Zyklus<br />

besteht darin, dass ein Mensch in einem angespannten Zustand verbleibt, weil er sich nicht entspannen<br />

kann. Er lebt in Unruhe und Erschöpfung zugleich, weil er seine energetischen Batterien nicht wieder<br />

aufladen kann. Das ist beispielsweise, bei Leistungs- und Aktivitätszwängen der Fall, in einer Umgebung<br />

mit invasivem sensorischem Input (Fluglärm, Überarbeitung, Dauerfernsehen) oder wenn ein Mensch in<br />

einer andauernden Bedrohungssituation lebt, so dass er sich nicht entspannen und erholen kann.


7<br />

Dysharmonien des psychovegetativen Zyklus<br />

Harmonisierung des psychovegetativen Zyklus. Psychotherapeutische Interventionen zur Harmonisierung<br />

des psychovegetativen Zyklus setzen dort an, wo die natürliche Bewegung blockiert ist:<br />

Bei antriebsblockierten Menschen sind energetisierende Körperübungen, mobilisierende Massagen oder<br />

aktivierende Alltagsplanung hilfreich.<br />

Bei ausdrucksblockierten Menschen sind Entladungsübungen, entpanzernde Körperarbeit oder das<br />

Üben eines angemessenen emotionalen Ausdrucks im Rollenspiel angezeigt.<br />

Wenn die Verdauungsphase blockiert ist, ist die emotionale Verarbeitung des Erlebten im empathischen<br />

Gespräch, Halt gebende Körperarbeit oder ausleitende Massage sinnvoll.<br />

Wenn die Entspannungsphase blockiert ist, helfen meditative Entspannungsübungen, Trance-Arbeit,<br />

harmonisierende Massagen oder entspannungsfördernde Körperarbeit.<br />

Körperenergie-Diagnostik<br />

Äußere Anzeichen des körperenergetischen Zustandes. In bestimmten Merkmalen der äußeren Erscheinung<br />

des Klienten findet der Körperpsychotherapeut Hinweise auf den Energiezustand des Klienten und kann daraus<br />

Rückschlüsse auf seine körperenergetische Gestimmtheit ziehen. Der Körperenergiezustand eines Menschen ist<br />

nach außen hin sichtbar durch Äußerungen seiner vegetativen Prozesse:


8<br />

Körperenergiezustand<br />

vital gedämpft übererregt erstarrt<br />

Augenausdruck offen<br />

verhangen<br />

flirrend<br />

starrend<br />

beweglich<br />

trüb<br />

flatterig defokussiert<br />

leuchtend<br />

dumpf<br />

aufgerissen trancig<br />

strahlend<br />

wach<br />

blicklos<br />

bohrend<br />

Muskeltonus kraftvoll<br />

erschlafft<br />

angespannt starr<br />

agil<br />

schlaff<br />

überaktiv mechanisch<br />

beweglich<br />

träge<br />

fahrig<br />

hölzern<br />

kraftlos<br />

zittrig<br />

verkrampft<br />

gebremst<br />

gespannt<br />

versteift<br />

Hände und Füße warm<br />

kühl<br />

hektisch kalt<br />

kräftig<br />

schlapp<br />

nervös<br />

starr<br />

beweglich<br />

schwer<br />

heiß<br />

steif<br />

Bewegungen harmonisch träge<br />

hektisch angespannt<br />

anmutig<br />

behäbig<br />

ziellos<br />

mechanisch<br />

geerdet<br />

verlangsamt nervös<br />

Gesicht rosig<br />

erschlafft<br />

rot<br />

blass<br />

gut durchblutet hängend<br />

grau<br />

bewegungsarm<br />

gespannt blutleer<br />

Körperstruktur und psychische Struktur. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> geht man von einer funktionellen<br />

Parallelität zwischen der Körperstruktur, der psychovegetativen Dynamik, den Beziehungsmustern, der<br />

frühkindlichen Biografie, dem emotionalen und dem kognitiven Erleben eines Menschen aus. Die Dynamik der<br />

Abwehrprozesse hat Auswirkungen sowohl auf die Körperstruktur eines Menschen als auch auf seine<br />

Beziehungsmuster und Einstellungen. Die biografischen Erfahrungen eines Menschen wirken sich in gewissem<br />

Umfang auf seine Körperstruktur aus. So hat beispielsweise die Muskulatur einen Grundtonus, der die Dicke der<br />

Muskelschichten bestimmt, denn das Muskelgewebe wird durch ständige Abbau- und Neuwachstumsprozesse<br />

reproduziert. Der Muskeltonus ist abhängig vom psychovegetativen Tonus dieses Menschen. Ein dauerhaft<br />

hoher Tonus der Nackenmuskulatur bspw. erzeugt verdickte Muskelstränge („Myogelosen“) im Nacken. Ebenso<br />

ist die Körperhaltung, die Körpermasse und der habituelle körperliche und mimische Ausdruck geprägt von der<br />

Psychodynamik der Person: die Gefühle formen den Körper.<br />

Ab einem gewissen Alter ist jeder Mensch für sein Gesicht selbst verantwortlich.<br />

Albert Camus<br />

Körperdiagnistik. Durch Diagnose der Körperstruktur kann ein Körperpsychotherapeut Hypothesen über das<br />

Niveau und die Richtung der Körperenergie des Klienten entwickeln. In der Körperstruktur findet er Hinweise<br />

darauf, wie die Körperenergie verteilt ist und welche Bewegungsdynamik sie aufweist:<br />

Bei manchen Menschen ist die körperenergetische Dynamik nach vorne gerichtet. Sie sitzen auf einem<br />

Stuhl auf der vorderen Kante, stets bereit aufzuspringen. Sie stehen auf dem Fußballen, als ob sie nach<br />

vorne kippen könnten. Sie sind auf dem Sprung wie ein Sprinter, jederzeit bereit zum Loslaufen.<br />

Bei anderen Menschen ist die Richtung ihrer psychomotorischen Energie nach hinten verlagert. Sie<br />

stehen fersenlastig, wirken träge und behäbig. Sie „kommen nicht in die Pötte“, versinken beim Sitzen<br />

in das Sitzmöbel und haben Mühe, sich von einem Stuhl oder Sessel zu erheben.<br />

Bei manchen Menschen ist der Schwerpunkt ihrer Körperenergie nach unten verlagert. Die untere<br />

Bauchregion, Hüften, Po und Oberschenkel und Waden wirken breiter und fülliger als der Oberkörper.<br />

Ihr Körper ist nach unten hin birnenförmig erweitert.<br />

Andere Menschen haben eine athletische Körperform. Der Brust- und Schulterbereich wirkt gedehnt.<br />

Die Schultern sind trapezförmig erweitert. Sie haben ein großes Atemvolumen, aber die Beine und Füße<br />

wirken dünn, die Füße sind klein, die Bodenhaftung ist schwach. Ihre Energie ist nach oben verlagert.


9<br />

Beispiel: Eine Klientin ist klein, zierlich und agil. Sie ist ständig in Bewegung, häufig im Laufschritt, immer auf dem Sprung,<br />

stets bereit, Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Selbst in einem Entspannungssessel in meinem Therapieraum sitzt<br />

sie wippend und ungeduldig auf der vordersten Kante. In den Therapiesitzungen beschäftigt sie oft, was ich von ihr erwarte<br />

und wie sie meine Erwartungen erfüllen kann. Ich möchte ihr helfen, mit ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst, in ihren Körper<br />

hinein und zu mehr Ruhe zu kommen. Ich lade sie ein, sich auf eine Matratze zu legen, sich zuzudecken, in ihren Körper<br />

hineinzuspüren und still zu werden, ohne etwas zu tun. Zunächst spürt sie einen Impuls, aufzuspringen und unruhig im<br />

Therapieraum hin und her zu laufen. Ich fordere sie auf, der unruhigen Getriebenheit in ihrem Inneren auf den Grund zu gehen.<br />

Nach einer Weile spricht sie über Gefühle von innerer Leere und Wertlosigkeit und von ihrer zwanghaften Tendenz, diese<br />

durch Überaktivität zu kompensieren.<br />

Bodyreading. Für die Körperstruktur eines Menschen spielt die Vererbung eine Rolle. Die individuelle<br />

Ausprägung der körperlichen Gestalt auf Basis der ererbten Determinanten wird jedoch von der Lebensweise,<br />

der Lebensgeschichte und der Körperenergiedynamik der Person bestimmt. Abwehrformationen führen zu<br />

körperenergetischen Ungleichgewichten, und die verkörperten Abwehrstrukturen korrespondieren mit<br />

dominierenden Beziehungsmustern. Daher kann man die Abwehrdynamik und die Beziehungsmuster eines<br />

Menschen in gewissem Umfang an seiner Körperstruktur ablesen. Die körperorientierte Diagnosetechnik, in der<br />

der Therapeut aus der Körperstruktur des Klienten Hypothesen über seine Psychodynamik entwickeln kann, wird<br />

in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> als „Körperlesen“ („Bodyreading“) bezeichnet:<br />

Ein Mensch, der Schuldgefühle oder Depressionen wie eine schwere Last mit sich herumträgt, hält<br />

sich oft gebeugt; man sieht das Gewicht, das auf ihm lastet an der Gekrümmtheit seiner oberen<br />

Wirbelsäule.<br />

Ein Mensch mit einer dünnen Ich-Grenze hat in der Regel wenig Muskulatur, schwaches<br />

Bindegewebe und eine dünne, blasse, wenig durchblutete Haut. Ein Mensch mit einer „dünnen<br />

Haut“ erlebt starke emotionale Resonanzen mit der Außenwelt, fühlt sich aber auch schnell durch<br />

Außenreize irritiert oder beeinträchtigt.<br />

Ein Mensch, der dazu neigt, andere Menschen durch Dominanz zu beeindrucken, hat in der Regel<br />

viel Muskelmasse und einen breiten, aufgeblähten Oberkörper.<br />

Wer seine Muskeln gebraucht, um Gefühle zurückzuhalten, der entwickelt eine chronisch<br />

angespannte Muskulatur, vor allem in den Muskelpartien auf der Rückseite des Körpers, die<br />

expressive, nach vorn gerichtete Bewegungen zurückhalten.<br />

Wer dazu neigt, Gefühle in sich hineinzufressen oder sich durch Nahrungsaufnahme zu beruhigen,<br />

entwickelt eine Tendenz zur Fettleibigkeit.<br />

Ein Mensch mit einem „dicken Fell“, also jemand, der massige Abwehrschichten um sich herum<br />

trägt, ist emotional schwer erreichbar, aber auch geschützt gegen emotionale Invasionen.<br />

Verkörperte Einstellungen. Auch auf Einstellungen und Überzeugungsmuster finden sich Hinweise in<br />

Körperstruktur und im nonverbalen Körperausdruck.<br />

Beispiel: Eine Teilnehmerin einer körperorientierten Fortbildungsgruppe fühlt sich oft einsam und verlassen, obwohl sie de<br />

facto sozial gut eingebunden ist. Ihr Augenausdruck wirkt verschleiert, hart und abweisend. In einer Einzelarbeit in der<br />

Gruppe sagt sie, sie habe Angst, andere Menschen anzuschauen, weil sie befürchtet, sich im Augenkontakt aufzulösen. Sie<br />

bedeckt die Augen mit beiden Händen und sagt: „Mir ist alles zu viel. Ich möchte mich nur noch verkriechen.“ Die Augenregion<br />

der Teilnehmerin wirkt also oberflächlich verschlossen, aber darunter ist sie entgrenzt und über-offen. Wenn Kontakt der<br />

Teilnehmerin zu nah wird, zieht sie sich in innere Leere zurück und ihr Augenausdruck wird undurchdringlich und starr. Ihre<br />

korrespondierende kognitive Einstellung ist: „Wenn es nah wird, muss ich mich zurückziehen, sonst löse ich mich auf.“<br />

Der Körper als Substanz. Auch aus der „Substanz-Anmutung“ der Körperstruktur des Klienten kann beim<br />

Bodyreading auf seine Körperenergiedynamik geschlossen werden. Der Körper kann z. B. kräftig, zart, zäh, fragil,<br />

rigide, prall, aufgeschwemmt, dünn, weich, elastisch, gestreckt, gestaucht, wacklig, warm oder kühl wirken.<br />

Dabei können einzelne Körperpartien eine unterschiedliche Anmutungsqualität haben.<br />

Wozu Körperstrukturdiagnistik? Die Körperstrukturdiagnostik gibt dem Therapeuten erste Orientierungen für<br />

den körperpsychotherapeutischen Prozess. Die Diagnostik der Körperstruktur kann in Verbindung mit der<br />

psychodynamischen Strukturdiagnostik, die besonders von Kernberg entwickelt worden ist (Buchheim et al<br />

2006), dem Therapeuten wertvolle Hinweise geben, bei welchen Klienten eine eher stützende, stabilisierende<br />

therapeutische Arbeit und bei welchen Klienten eine eher mobilisierende oder konfrontative Therapie indiziert<br />

ist. So hat ein Klient mit einer eher massigen Körperstruktur, einem dicken Muskelpanzer und einem kräftigen,<br />

gedrungenen Körper vermutlich viel körperliches Abwehrpotenzial zur Verfügung. Er kann in seiner Muskulatur


10<br />

und seiner Körpersubstanz viel emotionale Ladung halten oder anstauen. Dagegen hat ein Klient mit einem eher<br />

dünnen Körper, schwacher Muskulatur, blasser Haut und wenig Körpergewebe weniger Möglichkeiten der<br />

Körperabwehr. Er ist vermutlich stärker von Überflutungen bedroht und neigt mehr zu Dissoziationen. Diese<br />

diagnostischen Hinweise sind jedoch nur als Hypothesen zu betrachten, die im psychotherapeutischen Dialog<br />

geprüft und entwickelt werden müssen.<br />

Körperstruktur und Charakterstruktur. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> unterscheidet man traditionell eine Reihe<br />

von Abwehrmustern, die mit bestimmten Körperstrukturen einhergehen (Reich 1970, Boadella 1986, Keleman<br />

1992, Kurtz 1985, Lowen 1981, Reich 1970, Sartory 2006):<br />

Charaktertypen nach Reich. Wilhelm Reich (1970) unterschied folgende Körpercharaktertypen:<br />

- Der Zwangscharakter zeichne sich durch eine insgesamt angespannte Muskulatur und harte<br />

Gesichtszüge sowie einen pedantischen Ordnungssinn und einen Hang zu umständlichem,<br />

grüblerischem Denken aus.<br />

- Der masochistische Charakter habe einen gedrungenen Körperbau, er neige zum Klagen und habe<br />

ständig das Gefühl zu leiden, sei ungeschickt im Umgang mit Menschen und neige zu Selbstschädigung<br />

und Selbsterniedrigung.<br />

- Der phallisch-narzisstische Charakter habe einen athletischen Körperbau, scharfe Gesichtszüge und ein<br />

selbstsicheres, imponierendes Auftreten.<br />

- Der hysterische Charakter sei kokett in Bewegungen, Blick und Sprache, weich und überhöflich, sexuell<br />

provozierend und unbeständig in seinen Reaktionen, neige zu gesteigerter Suggestibilität, zum<br />

Fantasieren und zu überstarken Enttäuschungsreaktionen.<br />

Charaktertypen nach Lowen und Kurtz. Lowen (1981) und sehr ähnlich Kurtz (1985) unterscheiden nach<br />

angenommenen Phasen der psychosexuellen Entwicklung in der frühen Kindheit folgende<br />

Charaktermuster:<br />

- Der schizoide Charakter wirke eingefroren und leblos, die Augen seien abwesend und misstrauisch, der<br />

Körper sei kontrahiert, unkoordiniert, zurückgezogen, scheu und sensitiv.<br />

Beispiel: Eine Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe ist relativ klein, sie wirkt dünn und hohlwangig, ihre Haut ist blass,<br />

ihre Augen wirken groß, fragend und ratlos. Ihre Haare sind dünn, ihre Haut ist blass, die Hände sind drahtig, ihre<br />

Bewegungen wirken überkontrolliert, als würde sie vor jeder Bewegung nachdenken, ob und wie sie diese Bewegung<br />

ausführen sollte. Sie neigt zu allergischen Hauterkrankungen. Sie hat Schwierigkeiten, sich verbal emotional<br />

auszudrücken. In der Körperarbeit entstehen oft relativ schnell heftige emotionale Entladungen. Ihre psychophysische<br />

Gestalt entspricht weitgehend der von Lowen und Kurtz als schizoid beschriebenen Charakterstruktur.<br />

- Der orale Charakter wirke kollabiert, neige zu einer Trichterbrust, wirke energielos, Halt suchend und<br />

sehnsüchtig, der Muskeltonus sei gering, der Klient wirke Kontakt suchend, gefällig und abhängig.<br />

- Der oral-kompensierte Charakter habe die selbe Grundstruktur wie der orale Typ, sei aber bemüht, diese<br />

Tendenz überzukompensieren durch einen hohen Muskeltonus und die Betonung von Autonomie in<br />

Beziehungen.<br />

- Der masochistische Charakter wirke gedrungen und zugeschnürt, er neige zu passivem Widerstand, Schuld-<br />

und Schamgefühlen sowie zu einem Babyface, der Körperschwerpunkt liege tief, der Klient wirke überlastet<br />

und verlangsamt.<br />

- Der psychopathische Charakter wirke hochgezogen und aufgeblasen, der Blick sei intensiv und geladen, die<br />

Person wirke manipulativ und leistungsstark, der Körperschwerpunkt sei oben, der Klient wirke dominant,<br />

großzügig, kontrollierend, charmant und opportunistisch.<br />

- Die rigide Struktur wird bei Frauen als hysterisch und bei Männern als phallisch bezeichnet, sie wirke<br />

wohlproportioniert, die Muskeln hätten einen hohen Tonus, die Augen seien ausdrucksvoll, die Person habe<br />

viel Energie, Angst vor Hingabe und Passivität, sei überfokussiert und sehr emotional.<br />

Charaktertypen nach Keleman. Keleman (1992) beschreibt folgende Strukturen:<br />

Die verdichtete Struktur wirke kompakt, zusammengezogen, unter Druck stehend, sie verhalte sich<br />

skeptisch und abgesondert und lebe in Fantasien.<br />

Die kollabierte Struktur wirke zusammengefallen, zurückgezogen, eingesunken, resigniert, leer,<br />

unterwürfig und verzweifelt.<br />

Die aufgeschwollene Struktur wirke aufgebläht, ballonartig aufgeblasen, manipulierend, besitzergreifend<br />

und benutze andere, um sich selbst als real fühlen zu können.<br />

Die rigide Struktur wirke nach oben und hinten festgehalten, angespannt und spröde, hart und<br />

durchdringend, mache sich größer als sie ist und halte ihre Gefühle unter Verschluss.


11<br />

Körpertypen nach Keleman: die rigide, die aufgeschwollene, die kollabierte und die verdichtete Struktur<br />

Grenzen der Körperstrukturdiagnostik. Körperstrukturelle Zuordnungen sind nicht als diagnostische<br />

Schablonen zu verstehen. Sie dürfen nur als Hinweise betrachtet werden, aus denen Hypothesen abgeleitet<br />

werden können. Sie können nämlich in die Irre führen, u.a. weil unter den nach außen hin unmittelbar<br />

sichtbaren Schichten von Körperabwehr tiefere Schichten verborgen sein können.<br />

Beispiel: Ein Klient hat einen massigen Körperbau mit dicken Schichten aus angespannter Muskulatur und prall gefülltem<br />

Gewebe. Auf den ersten Blick erscheint er mir verkrampft, erstarrt und gestaut, so dass mobilisierende und lockernde<br />

Körperarbeit angezeigt erscheinen könnte. In der Therapie stellt sich aber heraus, dass dieser Klient nur mühsam massive<br />

Überladungen und Fragmentierungsneigungen unter Kontrolle halten kann. Seine Panzerungen sind ein notdürftiger Versuch,<br />

sich gegen drohende Überflutung zu schützen. Daher darf bei diesem Klienten entpanzernde Therapie wenn überhaupt nur<br />

sehr behutsam angewandt werden.<br />

Heranführen des Klienten an psychotherapeutische Körperarbeit<br />

Der Therapieraum. Für körperpsychotherapeutische Arbeit ist es sinnvoll, einen geeigneten Therapieraum zur<br />

Verfügung zu haben. Der Therapieraum sollte eine gewisse Größe haben, um Bewegungsarbeit zu ermöglichen<br />

(mindestens ca. 20 Quadratmeter). Er sollte lärmfest sein, damit sich die Klienten bei Bedarf durch Schreien,<br />

Trampeln, Hüpfen, Schlagen auf Kissen o.ä. emotional ausdrücken können.<br />

Utensilien. Hilfreiche Utensilien für Körperarbeit sind:<br />

mehrere flexible Sitzgelegenheiten wie Stühle, Hocker, Sessel oder Kissen,<br />

Plüschtiere, Seile und Hula-Hoop-Reifen für Systemaufstellungen und Rollenspiele,<br />

Decken, eine bezogene Schaumstoffmatratze und ein weicher Teppich für die Arbeit im Liegen,<br />

eine Massagebank,<br />

ein großer, bezogener Schaumstoffklotz und Tennisschläger für Aggressionsarbeit,<br />

einfache Musikinstrumente wie Trommeln, Rasseln und Rhythmusinstrumente für nonverbalen<br />

Ausdruck,<br />

für Biodynamiker ein Stethoskop und<br />

für Bioenergetiker eine bioenergetische Rolle.<br />

Settings. Während in nur-verbalen Therapieformen nur ein einziges Setting möglich ist (entweder<br />

Gegenübersitzen oder der Klient liegt, der Therapeut sitzt hinter ihm), sind in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> viele<br />

Positionen und räumliche Arrangements von Klient und Therapeut („Settings“) möglich. Der Klient kann sitzen,<br />

stehen, liegen, sich im Raum herumbewegen, oder zwischen Stühlen, Ringen, Decken oder Kissen hin und her<br />

wechseln. Der Therapeut kann ebenfalls in den verschiedensten Körperhaltungen und räumlichen<br />

Arrangements mit dem Klienten kommunizieren. Der Abstand zwischen Therapeut und Klient kann variieren<br />

und sich während der Sitzung mehrfach verändern.


12<br />

Der Übergang vom Reden zur Körperarbeit. Eine körperpsychotherapeutische Sitzung beginnt in der Regel<br />

verbal. Der Klient erzählt dem Therapeuten, wie es ihm geht und was ihn belastet. Der Übergang zum<br />

körperpsychotherapeutischen Setting geschieht am einfachsten durch einen Wechsel des Ortes und der<br />

Körperhaltung. Wenn der Therapeut den Klienten zu körperpsychotherapeutischer Arbeit einladen möchte,<br />

kann er ihn z.B. bitten, aufzustehen, im Raum herumzugehen, sich auf eine Massagebank, auf den Teppich oder<br />

eine Matratze zu legen, eine Szenerie im Raum aufzubauen oder eine dynamische Körperhaltung einzunehmen.<br />

Beispiel: Eine Klientin berichtet über Schmerzen in der Kreuzbeingegend, die trotz medizinischer und physiotherapeutischer<br />

Behandlung weiter auftreten. Ich frage sie, wie lange sie die Beschwerden schon hat, wie die medizinische Behandlung<br />

verläuft und in welchen Situationen die Beschwerden auftreten. Dann bitte ich die Klientin, vom Sessel aufzustehen und sich<br />

auf eine Matratze auf den Bauch zu legen, lege meine Hand auf ihre Kreuzbeingegend und bitte sie, sich dort hineinzuspüren.<br />

Damit beginnt die Körperarbeit.<br />

Motivation für Körperarbeit. Klienten, die einen Körperpsychotherapeuten aufsuchen, wollen in der Regel<br />

körperpsychotherapeutisch arbeiten. Sie erwarten und wünschen körperorientierte Arbeit und lassen sich gern<br />

auf nonverbale Techniken ein. Dennoch kann es vorkommen, dass ein Klient eine bestimmte<br />

körperpsychotherapeutische Techniken oder Körperarbeit überhaupt als unpassend empfindet und sich nicht<br />

darauf einlassen möchte. Ein <strong>Humanistische</strong>r Körperpsychotherapeut wird das akzeptieren und die<br />

Körperintervention nach den Bedürfnissen des Klienten variieren, zunächst oder überhaupt im Gesprächssetting<br />

arbeiten, um die Bedürfnisse, Befürchtungen und Grenzen des Klienten zu erkennen und zu verstehen. Jeder<br />

Körperpsychotherapeut sollte auch in der Lage sein, nur auf der verbalen Ebene psychotherapeutisch zu<br />

arbeiten.<br />

Sich allmählich anähern. Bei Klienten, denen körperorientierte Techniken neu sind, oder die sich einem<br />

angstbesetzten psychischen Bereich nur behutsam annähern können, ist es wichtig, dass der Therapeut ihnen<br />

ermöglicht, sich der körperpsychotherapeutischen Umsetzung des Themas in vorsichtigen, kleinen Schritten<br />

anzunähern, wobei sich der Klient bei jedem Schritt aufs neue entscheiden kann, ob er diesen Schritt gehen<br />

möchte, oder nicht.<br />

Beispiel: Ein Klient fühlt sich nach einem (narzisstischen) Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls niedergeschlagen und<br />

mutlos (depressiv). Er quält sich selbst, weil er einer Person, die er liebt, etwas nach seinem Gefühl Demütigendes angetan<br />

hat. Das betreffende Ereignis liegt schon Jahre zurück und ist für den Klienten mit großer Scham verbunden. Ich lade den<br />

Klienten ein, die Situation mit Plüschtieren symbolisch im Raum aufzubauen und aus einem Abstand von einigen Metern<br />

anzuschauen und zu beschreiben. Dann bitte ich ihn, sich der Situation schrittweise räumlich zu nähern, bis die<br />

Schamgefühle spürbar, aber noch nicht überwältigend sind. Auf diese Weise kann sich der Klient der schambesetzten<br />

Situation emotional annähern, aber auch einen gewissen Abstand dazu halten, um nicht von Scham und Autoaggression<br />

überflutet zu werden (dissoziiertes Integrieren).<br />

Anleitung von Gruppenübungen. Auch Körperübungen in Gruppen können schrittweise aufgebaut werden,<br />

um einen sanften Übergang von einem verbalen Setting zur Körperarbeit zu ermöglichen.<br />

Beispiel: Zu Beginn einer Therapiegruppensitzung lade ich die Teilnehmer ein, aufzustehen und sich im Raum<br />

herumzubewegen. Dann bitte ich sie, sich einen Partner zu suchen, der etwa ihre Statur hat, sich mit ihm Rücken an Rücken<br />

zu stellen und wahrzunehmen, wie sich das anfühlt. Nach 2-3 Minuten lade ich die Teilnehmer in den Paaren ein, mit<br />

aufrechtem Oberkörper leicht in die Knie zu gehen, so dass eine gewisse Spannung in den Oberschenkeln zu spüren ist. Nach<br />

weiteren 2-3 Minuten bitte ich die Teilnehmer, zusammen noch etwas tiefer zu gehen und die dabei spürbar werdenden<br />

Gefühle mit ihrer Stimme auszudrücken. Auf diese Weise führe ich die Gruppenteilnehmer über eine Reihe von<br />

Zwischenschritten in eine bioenergetische Ausdrucksübung hinein.<br />

Körperwahrnehmung<br />

Wahrnehmung des Körpers. Die Förderung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Sensibilisierung<br />

für die Wahrnehmung der eigenen Gefühle als Körperzustände ist eine Basistechnik der <strong>Körperpsychotherapie</strong>.<br />

Die Lenkung der Aufmerksamkeit des Klienten in den Körper hinein ist der einfachste, schnellste und sanfteste<br />

körperpsychotherapeutische Weg, um zu einer vertieften Selbstreflexion zu gelangen. Wenn sich der Klient in<br />

die Körperempfindungen hinein versenkt, die er als Reaktion auf das Thema, das ihn gerade beschäftigt,<br />

verspürt, so führt ihn das in einen körperzentrierten Trancezustand hinein, der die psychotherapeutische Arbeit<br />

intensiviert, vertieft und beschleunigt. In der einfachsten Form kann das durch die Aufforderung des<br />

Therapeuten geschehen, der Klient möge mit seiner Aufmerksamkeit in sein Körperinneres hineinspüren und<br />

fühlen, was er dort wahrnimmt.


13<br />

Beispiel: In einer körperorientierten Fortbildungsgruppe frage ich eine Teilnehmerin, wie sie sich fühlt. Sie antwortet schnell:<br />

„Ich fühle mich gut“, wirkt aber deutlich verstört, belastet und abwesend. Ich bitte sie, die Augen zu schließen, in ihren Körper<br />

hineinzufühlen, ihren Atem wahrzunehmen und zu spüren, wie sich ihr Körperinneres anfühlt. Nach etwa einer Minute sagt<br />

die Teilnehmerin: „Ich bin sehr traurig, weil ich einfach keinen Weg mehr finde, mich mit meinem Freund zu verständigen.“ Das<br />

Hineinspüren in ihren Körper hat sie in Kontakt mit ihren Gefühlen gebracht.<br />

Wahrnehmung des Atems. Wenn sich der Klient mit Themen beschäftigt, die ihm Schwierigkeiten bereiten, so<br />

ist sein Atem in der Regel begrenzt. Das Unterdrücken, Kontrollieren oder Zurückhalten von Emotionen und die<br />

Hemmung seiner Spontaneität führen dazu, dass sein Atem stockt, unrhythmisch, flach und in der Aus- oder<br />

Einatemphase festgehalten ist. Der Therapeut kann den Klienten bitten, sein Atemmuster wahrzunehmen, um<br />

zu spüren, wann und wie er Gefühle einschränkt oder blockiert.<br />

Atemdiagnostik. Der Therapeut kann das Atemmuster des Klienten beobachten, das ihm diagnostische<br />

Hinweise auf die körperenergetische Dynamik des Klienten geben kann:<br />

Bewegt sich der Atem langsam und fließend, so fühlt sich der Klient vermutlich ruhig und entspannt.<br />

Geht der Atem schnell und unruhig, ist der Klient vermutlich in einem Erregungszustand.<br />

Atmet der Klient überwiegend im Bauch und ruhig, so fühlt er sich vermutlich geerdet und sicher, seine<br />

Emotionen sind ruhig und gedämpft.<br />

Atmet der Klient dagegen beschleunigt und überwiegend im Brustkorb, während der Bauch angespannt<br />

ist, so erlebt der Klient vermutlich heftige Emotionen; Gefühle kommen hoch und fluten in sein<br />

Bewusstsein.<br />

Ist der Atem gebremst und verlangsamt, so sind die Emotionen des Klienten vermutlich gehemmt und<br />

zurückgehalten.<br />

Wenn der Atem frei fließt, sich spontan bewegt und verändert, so sind auch die Emotionen<br />

wahrscheinlich in freier, spontaner Bewegung.<br />

Ist der Atem flach, mit geringer Amplitude der Atembewegungen und längeren Pausen nach der<br />

Ausatemphase, so ist der Klient vermutlich abwesend, versunken, dissoziiert oder in Trance.<br />

Ist der Atem voll und rund, so fühlt sich der Klient vermutlich präsent, anwesend und seiner Energie<br />

bewusst.<br />

Ist in der Atembewegung des Klienten die Ausatmung betont, so erlebt der Klient vermutlich ein<br />

Abfließen seiner Emotionen, oder er drückt sie gerade aus.<br />

Ist dagegen eher die Einatmungsphase betont, so hat der Klient vermutlich gerade das Gefühl, Energie zu<br />

gewinnen, sich mit Vitalität aufzuladen oder Energie anzustauen.<br />

Psychovegetative Entsprechungen verschiedener Atemmuster


14<br />

Quellen der Atemwahrnehmungstechnik:<br />

Pranayama (von Sanskrit Prana: Lebensenergie, Ayama: kontrollieren, erweitern) - eine Form des Raja<br />

Yoga, eines Körperübungssystems aus der hinduistischen Tradition mit dem Ziel der<br />

Zusammenführung von Körper und Geist durch Atembewusstsein und -kontrolle. Ziel ist verstärktes<br />

Gewahrsein und Beruhigung des Bewusstseins.<br />

Vipassanā (Pali/Sanskrit für: Einsicht, Klarsicht) ist eine im 5. Jahrhundert vor Chr. von Gautama (genannt<br />

Buddha) beschriebene Methode des Geistestrainings durch Übung von Achtsamkeit. Ziel ist das<br />

Gewahrsein und unabhängige Erfassen jenseits des diskursiven Denkens. Als Einstieg in die<br />

buddhistische Gewahrseinsmeditation dient das nicht-eingreifende Beobachten des Atems zur<br />

Erlangung von geistiger Ruhe und achtsamer Präsenz.<br />

Frieda Goralewski (1893-1989) entwickelte eine Atem- und Bewegungslehre, in der durch unmittelbares<br />

Spüren Fehlhaltungen und Verspannungen erkannt und ohne Zwang und Anspannung in einen<br />

ausgeglichenen, harmonischen Tonus geführt werden können.<br />

Ilse Middendorf (geb. 1910) hat unter der Bezeichnung „Der erfahrbare Atem“ (1984) eine Meditations-<br />

und Entspannungstechnik entwickelt, bei der der natürliche Atem zugelassen und bewusst<br />

wahrgenommen wird, um die Empfindungsfähigkeit sowie die körperliche und geistige Präsenz zu<br />

fördern.<br />

Wahrnehmung der Gefühle. Der Körperpsychotherapeut ermutigt den Klienten oft, seine Gefühle im Körper<br />

wahrzunehmen. Manchen Klienten fällt es schwer, ein Spürbewusstsein für das Innere ihres Körpers zu<br />

entwickeln. Sie brauchen die Unterstützung des Therapeuten, um Kontakt mit ihrem Körperempfinden<br />

aufzunehmen. Andere Klienten nehmen in ihrem Körper zunächst nur physikalische Empfindungen wie Druck,<br />

Spannung, Wärme, Schwere oder Festigkeit wahr, aber sie können diese Körperempfindungen nicht als Gefühle<br />

identifizieren. Diese Klienten brauchen Unterstützung in ihrer Sensibilität für ihre Emotionen im Körper.<br />

Beispiel: Ein Klient leidet seit Jahren unter psychosomatischen Erscheinungen, die ihn oft in Panik versetzen, z.B. an<br />

nächtlichem Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Schwindelgefühlen. Er ruft häufig nachts den Notarzt und hat bereits jede<br />

erdenkliche medizinische Untersuchung und Behandlung erfolglos hinter sich. Er spürt körperliche Reaktionen, die er nicht<br />

versteht, und mit denen er nicht umgehen kann. In einer Sitzung berichtet er über ein Zusammenziehen in der Magengegend,<br />

ein Kloßgefühl in der Kehle sowie eine geschwollene Empfindung in seinen Augenlidern. Ich frage ihn: „Bist du vielleicht<br />

traurig?“ Er antwortet: „Das könnte schon sein.“ Es fällt ihm schwer, seine vegetativen Körperprozesse als Gefühle zu spüren<br />

und zu verstehen. In der klassischen Diagnostik wird dieses Muster als „Alexithymie“ bezeichnet, als eine eingeschränkte<br />

Fähigkeit, Körperempfindungen als Emotionen zu dekodieren.<br />

Ein Thema im Körper fühlen. Der Therapeut kann den Klienten auffordern, die Gefühle, die mit einem Thema<br />

verbunden sind, mit dem er sich gerade beschäftigt, in seinem Körper zu spüren. Die Wahrnehmung des Themas<br />

im Körper hilft dem Klienten, seinen emotionalen Bezug zu dem zu fühlen, worüber er gerade spricht.<br />

Beispiel: In einer Supervisionssitzung berichtet eine Psychotherapeutin, dass es ihr schwer fällt, einer bestimmten Klientin<br />

zuzuhören. In den Sitzungen mit der Klientin schweifen ihre Gedanken ab. Die Therapeutin empfindet sich als unkonzentriert,<br />

gelangweilt und müde. Ich bitte sie, sich an die letzte Sitzung mit der betreffenden Klientin zu erinnern, dabei mit ihrer<br />

Aufmerksamkeit in ihren Körper zu gehen und zu spüren, wie sich die Situation körperlich anfühlt. Sie schweigt etwa fünf<br />

Minuten lang, dann sagt sie: „Ich glaube, die Klientin ist mir ziemlich ähnlich. Ich habe Angst, mich mit ihr zusammen in einen<br />

diffusen Nebel hinein aufzulösen.“ Das körperliche Nachspüren hat der Therapeutin geholfen, sich ihrer<br />

Gegenübertragungsempfindungen mehr gewahr zu werden.<br />

Wahrnehmung der Phantasien und Impulse. Der Therapeut kann den Klienten ermutigen, sich seiner<br />

Fantasien und Bewegungsimpulse gewahr zu sein.<br />

Beispiel: Eine Klientin mit Flugangst bitte ich, sich vorzustellen, dass sie in einem Flugzeug sitzt. Sie solle auf Fantasien und<br />

Bewegungsimpulse achten, die mit ihrer Flugangst im Zusammenhang stehen. Sie berichtet, sie habe die Fantasie, sie könne<br />

durch den metallenen Boden des Flugzeugs hindurchschauen und sehe „das endlose Nichts“ unter sich. Sie hat den Impuls,<br />

sich am Sessel festzukrampfen, den Atem anzuhalten, die Augen und die Zähne zusammenzupressen. Ihre Phantasien gehen<br />

mit motorischen Impulsen einher, die ihr körperenergetisches Erregungspotential verstärken, das keine Auflösung findet,<br />

wodurch sich immer mehr Angst aufbaut. Im weiteren Verlauf der Sitzung benutzen wir ihre Fantasien und Impulse, um ihre<br />

Flugangst körperorientiert zu bearbeiten.


Veränderung des Atemmusters<br />

15<br />

Verstärkung des Atems. Eine chronische Atemhemmung kann (ebenso wie ein dauerndes Über-Atmen)<br />

verstanden werden als eine Form der Körperabwehr. Durch ein Festhalten des Atems wird die Intensität des<br />

Erlebens (besonders der Emotionen) gedämpft. Durch Förderung des vollen Atems kann die Atem-Abwehr<br />

gelockert werden. Techniken der Verstärkung des Atems wurden bereits von Wilhelm Reich (1987) gelegentlich<br />

angewandt. Eingebunden in einen umfassenden körperpsychotherapeutischen Prozess, behutsam und mit<br />

Rücksicht auf die strukturelle Stabilität des Klienten angewandt, können Techniken der Atemverstärkung ein<br />

kraftvolles Instrument des Zugangs zum Unbewussten sein. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> dienen Techniken zur<br />

Verstärkung des Atems dazu, halb bewusste oder unbewusste Inhalte erlebbar zu machen und latente<br />

Emotionen zu intensivieren. Der Therapeut läd den Klienten ein, seinen Atem zu intensivieren, um zu spüren,<br />

welche Veränderungen in seinen psychovegetativen Prozessen dadurch geschehen. Eine Verstärkung der<br />

Atmung, also eine Beschleunigung des Atmungsprozesses oder eine Vergrößerung des Atemvolumens oder<br />

beides führt zu einer Verstärkung der energetischen Ladung und Zirkulation im Körper. Die psychovegetativen<br />

Prozesse werden intensiviert, dadurch werden die Emotionen und der emotionale Auftrieb verstärkt. Die<br />

Erregung des Klienten steigt, und latente, untergründige Gefühle werden manifest spürbar. Emotionen, die<br />

vorher unter der Wahrnehmungsschwelle oder unter der Abwehr verborgen waren, kommen ins Bewusstsein.<br />

Um dies zu bewirken, kann der Therapeut den Klienten auffordern, voller, schneller und höher in die Brust zu<br />

atmen.<br />

Beispiel: Eine 46-jährige Klientin beschreibt eine „feststeckende, krampfartige Empfindung“ in der Bauchregion, die sie nicht<br />

versteht, und die sie vor allem dann spürt, wenn sie allein ist. (Eine gründliche fachärztliche Untersuchung blieb ohne<br />

medizinischen Befund.) Ich bitte sie, sich hinzulegen und auf ihre Atmung zu achten. Sie atmet praktisch ausschließlich im<br />

Bauch. Die Atemwelle endet am Brustbein, ihr Brustkorb bleibt beim Atmen unbeweglich. Ich mache sie auf dieses Muster<br />

aufmerksam und bitte sie, den Brustkorb in die Atembewegung mit einzubeziehen. Daraufhin entsteht eine Spannung in der<br />

Kieferregion, und die Klientin presst die Lippen zusammen. Ich bitte sie, den Kiefern zu lockern, den Mund zu öffnen und mit<br />

einem Stimmlaut auszuatmen. Nach einer Weile kommt sie in Kontakt mit alten Gefühlen von Einsamkeit und Angst. Ihre<br />

Körperhaltung gleicht der eines Babys, das auf den Rücken liegt und haltsuchend strampelt. Sie sagt sie „Ich fühle mich wie<br />

ein ausgesetztes Kind.“ Sie spricht darüber, dass sie ab einem Alter von sechs Wochen zuerst in einem Säuglingsheim, dann<br />

bei Pflegeeltern untergebracht war.<br />

Zu einem Gefühl hin atmen. Um die Wahrnehmung eines Gefühls zu intensivieren und den Klienten zu<br />

ermutigen, sich in das Gefühl hinein zu versenken, kann der Therapeut den Klienten auffordern, das Gefühl im<br />

Körper zu lokalisieren und zu dem Gefühl hin zu atmen.<br />

Beispiel: Eine Klientin berichtet von einem Spannungsgefühl auf ihrer Stirn, das sich wie ein „Brett vor dem Kopf“ anfühlt. Ich<br />

bitte sie, zu dieser Stelle hin zu atmen. Sie atmet etwas stärker und sieht in ihrer Fantasie eine dicke, schwarze Schieferplatte<br />

in ihrer Stirn. Ich bitte sie, in die Schieferplatte hinein zu atmen. Nach einer Weile sagt sie: „Ich habe Angst, etwas zu denken,<br />

was ich nicht ertragen könnte.“<br />

Stanislav Grof<br />

Stanislyv (genannt Stan) Grof (* 1931) ist ein aus der Tschechoslowakei stammender USamerikanischer<br />

Psychotherapeut und Psychiater. Grof studierte Medizin und Philosophie und gilt als<br />

Begründer der transpersonalen Psychologie. Er wirkte als junger Arzt bei einer klinischen Studie zur<br />

Untersuchung der Wirkung von LSD in der Psychiatrie mit. Er war Leiter des psychiatrischen<br />

Forschungszentrums und Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Universitätsklinik der Hopkins<br />

Universität in Maryland/USA. 1973 bis 1987 unterrichtete er am Esalen-Institut in Big Sur in Kalifornien.<br />

Hier entwickelte er zusammen mit seiner Frau Christina Grof die Technik und Theorie des Holotropen<br />

Atmens. Seit 1987 lebt und arbeitet er in Mill Valley in Kalifornien und leitet Workshops in vielen<br />

Ländern der Welt.


16<br />

Holotropes Atmen. Holotropes Atmen ist eine von Stan Grof entwickelte Atemtechnik, mit deren Hilfe man in<br />

tiefe Erfahrungsbereiche eintreten kann, die dem Alltagsbewusstsein normalerweise nicht zugänglich sind. Ziel<br />

ist die Erfahrung und Integration abgespaltener Persönlichkeitsanteile und eine Hinbewegung auf die Ganzheit<br />

der Person, was durch den Begriff „holotrop“ zum Ausdruck gebracht werden soll (von gr. holos: ganz, trepein:<br />

sich richten auf). Die Holotrope Atemarbeit besteht aus einer Kombination von:<br />

beschleunigtem und vertieftem Atmen,<br />

erlebnisevozierender Weltmusik,<br />

gezielten Körperinterventionen (z.B. Druckmassage, Ermutigung des Ausdrucks von Gefühlen)<br />

… sowie im Anschluss an die Atemerfahrung aus:<br />

Mandalamalen und<br />

Sharing (Erfahrungsaustausch).<br />

Atem-Trance. Holotropes Atmen ist eine nonverbale Tieftrance-Erfahrung auf einem stark erhöhten<br />

Energieniveau. Der Protagnoist atmet so tief und schnell, wie es ihm möglich ist und drückt, unterstützt durch<br />

einen Begleiter (den „Sitter“) und den Leiter der Gruppe seine Emotionen körperlich und mit der Stimme aus. Die<br />

Veränderung des Bewusstseinszustandes entsteht durch Verstärkung des Atems, durch Bewegung und Stimme,<br />

durch Musik und körperlichen Kontakt. Die dynamische Atemtrance wird beim Holotropen Atmen als<br />

Eintauchen in die Abgründe der eigenen Seele erlebt, das mit einem hochenergetischen Träumen im<br />

Wachzustand oder mit Erlebnissen mit halluzinogenen Drogen vergleichbar ist. Der Prozess, der in der<br />

Originalform drei Stunden dauert, findet in der Regel in einem Paarsetting in Gruppen statt. Er beginnt langsam,<br />

intensiviert sich, erreicht einen Höhepunkt und klingt dann allmählich aus. Im Laufe des Prozesses kann es zu<br />

kathartischen Ausbrüchen und ekstatischen Erfahrungen kommen, die unterstützend begleitet werden.<br />

Deutung der Atemtrance-Erlebnisse. In dynamischen Atemtrancen kommt es oft zu intensiven,<br />

wachtraumartigen Erlebnissen.<br />

Beispiele:<br />

- Ein Klient fühlt sich im Laufe einer Atemtrance als Walfisch und glaubt, er könne die Sprache der Wale verstehen.<br />

- Eine Klientin erlebt ein mittelalterliches Ritual, in dem sie geopfert wird.<br />

- Eine andere Klientin erlebt eine Szenerie, in der sie ein böser Dämon ist, der alles Leben auf der Erde auslöscht.<br />

Solche quasi-halluzinatorischen Atemtrance-Erlebnisse aus den Tiefen der inneren Bilderwelt müssen auf<br />

ähnliche Weise integriert, deutend verstanden und verarbeitet werden wie Träume oder vergleichbare<br />

Erlebnisse während dynamischer Körperübungen.<br />

Rebirthing. Rebirthing ist eine in den 1960er Jahren von dem US-amerikanischen Theologen und<br />

Unternehmensberater Leonhard Orr (* 1937) entwickelte Technik des verbundenen (zirkulären) Atmens (Ein-<br />

und Ausatmen ohne Pause) zur Selbsterfahrung, zur Erweiterung des inneren Gewahrseinsraums und zur<br />

energetischen Aufladung. Beim Rebirthing können ebenfalls abgewehrte Emotionen und Erinnerungen ins<br />

Bewusstsein treten.<br />

Kontraindikationen und Probleme. Bei der Arbeit mit Techniken der Atemverstärkung kann es zu starken<br />

vegetativen und emotionalen Reaktionen kommen. Daher sollten Personen, die z.B. unter Herz-<br />

Kreislaufkrankheiten, Epilepsie oder schwerem Asthma leiden, schwangere Frauen oder Menschen mit frischen<br />

Operationswunden nicht am Holotropen Atmens teilnehmen. Ebenso sind diese Techniken für Klienten mit<br />

fragiler Struktur nicht oder nur in abgeschwächten Varianten (z.B. nur der Musik zuhören) geeignet. Am<br />

Holotropen Atmen und am Rebirthing wird kritisiert, dass die Atemtranceerlebnisse nicht psychotherapeutisch<br />

bearbeitet, nicht kritisch reflektiert und gedeutet werden, und dass die körperliche und seelische Stabilität der<br />

Teilnehmer vor der Teilnahme oft nicht ausreichend geprüft wird. Ich verwende Techniken der Atemverstärkung<br />

behutsam und eingebettet in langfristige psychotherapeutische Prozesse, um Kontraindikationen ausschließen,<br />

die Intensität des Erlebens begrenzen und die Atemerfahrungen hinterher mit dem Klienten aufarbeiten und<br />

integrieren zu können.<br />

Die Energie mit dem Atem im Körper bewegen. Aus den asiatischen Bewegungskünsten Tai Chi und Qi Gong<br />

stammt eine Technik, mit der der Klient seiner Körperenergie mit dem Atem und mit Bewegungen eine Richtung<br />

gibt.


17<br />

Beispiel: In einem körperorientierten Selbsterfahrungsworkshop zum Thema „Abgrenzung“ bitte ich die Teilnehmer, sich so<br />

im Raum zu verteilen, dass unmittelbar vor ihnen niemand steht. Sie sollen leicht in die Knie gehen und den rechten Fuß nach<br />

hinten stellen. Dann sollen sie beide Handflächen nach vorne heben und mit dem ganzen Körper eine rhythmische Bewegung<br />

entstehen lassen, als ob sie einen schweren Schrank nach vorne schieben. Dabei sollen sie beim „Schieben“ ausatmen und<br />

all ihre Kraft in die Bewegung nach vorne geben. Als nächstes bitte ich die Teilnehmer, sich zu zweit einander gegenüber zu<br />

stellen, die Handflächen aneinander zu legen und abwechselnd die selbe Bewegung zu machen mit den Worten. „Nein, ich will<br />

das nicht.“<br />

Ausdrucksarbeit<br />

Vegetotherapie. In seinem Buch „Charakteranalyse“ (1970) beschrieb Wilhelm Reich die Theorie und Technik<br />

der Vegetotherapie. Nach Reich können psychische Abwehrsymptome geheilt werden, wenn abgewehrte<br />

Anteile und Erinnerungen zugänglich gemacht werden, indem die damit verbundenen Gefühle von Wut, Hass,<br />

Trauer, Ekel, Schmerz, Angst oder Verzweiflung durch emotionale Ausdrucksbewegungen wie Zittern, Weinen<br />

oder Schlagen auf ein Kissen körperlich ausgedrückt werden. Nach Reichs Anschauung werden auf diese Weise<br />

„gestaute“ körperenergetische Ladungen befreit und die darunter liegenden primären Energien spürbar. (Dieses<br />

„hydraulische“ Konzept Reichs wurde in der weiteren Geschichte der <strong>Körperpsychotherapie</strong> vielfach verändert<br />

und weiterentwickelt.)<br />

Ausdruck und Charakter. Freud hatte mit seinem Grundkonzept „Erinnern statt Agieren“ alle Formen des<br />

körperlichen Ausdrucks von Gefühlen sowie jeden körperlichen Kontakt zwischen Therapeut und Klient aus der<br />

Psychotherapie ausgeschlossen und die Psychoanalyse zu einem rein verbalen Verfahren gemacht (Freud 1914).<br />

Reich überschritt diese Einschränkungen. Er forderte seine Klienten auf, ihre Gefühle körperlich auszudrücken, er<br />

massierte ihre verhärteten Muskelpartien und bat sie, tiefer und schneller zu atmen. Durch die<br />

psychotherapeutische Arbeit unmittelbar am Körper gelang es Reich, zu verdrängten Emotionen vorzudringen,<br />

die im psychosomatischen System des Klienten als Einheit von Gefühlen, Körperimpulsen und Erinnerungen<br />

festgehalten sind. Diese körperlich fixierte Verdrängungsmuster nannte er „Charakterpanzer“.<br />

„Es überrascht immer wieder, wie die Lösung einer muskulären Verkrampfung nicht nur vegetative<br />

Energie entbindet, sondern darüber hinaus diejenige Situation in der Erinnerung reproduziert, in der die<br />

Triebunterdrückung sich durchgesetzt hatte. Wir dürfen sagen: Jede muskuläre Verkrampfung enthält die<br />

Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung.“ (Reich 1987, S. 226 f).<br />

Körperausdruck von Gefühlen. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> kann der Therapeut den Klienten einladen, seine<br />

Gefühle und Impulse körperlich auszudrücken. Das ist besonders dann sinnvoll, wenn der Therapeut bemerkt,<br />

dass sich ein körperlicher Ausdruck beim Klienten bereits in Ansätzen zeigt, aber zurückgehalten wird, oder<br />

wenn bestimmte Emotionen oder körperliche Ausdrucksformen beim Klienten dauerhaft unterdrückt oder<br />

zurückgehalten sind. Der körperliche Ausdruck von Gefühlen verstärkt und differenziert die Wahrnehmung<br />

dieser Gefühle.<br />

Körperpsychotherapeutische Ausdrucksübung


18<br />

Der Therapeut kann den Klienten auch auffordern, einen spontanen Körperausdruck zu wiederholen, zu<br />

intensivieren, zu übertreiben, zu verändern oder in sein Gegenteil zu verkehren. Wenn sich der Klient mit einem<br />

realen oder imaginierten Gegenüber auseinandersetzt, kann der Therapeut den authentischen emotionalen<br />

Ausdruck (bei gleichzeitigem Respekt für das reale oder imaginierte Gegenüber) fördern. Dabei kann der<br />

Ausdruck intensiv und raumgreifend, aber auch nur subtil und beiläufig geschehen (Makro- bzw. Mikro-<br />

Ausdrucksbewegungen).<br />

Überbetonung des Ausdrucks. Die intensiven emotionalen Erfahrungen in der Arbeit mit<br />

vegetotherapeutischen Techniken führten in den 1970er Jahren in einigen körperpsychotherapeutischen<br />

Schulen vorübergehend zu einer Überbetonung der Förderung des emotionalen Ausdrucks. Zeitweise entstand<br />

eine neue Moral, nach der man als umso gesünder galt, je lauter man schrie oder weinte, und je mehr man sich<br />

körperlich ausagierte. Bisweilen kam es zu relativ unbeteiligten Formen des körperlichen Ausdrucks, etwa indem<br />

Teilnehmer von körperpsychotherapeutischen Workshops mechanisch mit einem Teppichklopfer auf ein Kissen<br />

einschlugen, dabei aber wenig oder gar nichts fühlten - was psychotherapeutisch nicht hilfreich ist.<br />

Fühlen. In der <strong>Körperpsychotherapie</strong> gehen wir heute davon aus, dass die psychische Integration nicht primär<br />

durch den Ausdruck abgewehrter Emotionen gefördert wird, sondern hautpsächlich durch das Fühlen des<br />

vorher Ungefühlten, durch Integration von Abspaltungen in das Selbsterleben und durch die Wiederherstellung<br />

natürlicher Pulsationsbewegungen und körperenergetischer Rhythmen (Boyesen 1987, Levin 1998, Janov 1993).<br />

Ausdrucksarbeit wird vor allem als ein (sehr effektiver) Weg dorthin verstanden. Der entscheidende Schritt zur<br />

Integration abgewehrter Anteile besteht darin, in einer Halt gebenden therapeutischen Beziehung abgewehrte<br />

Emotionen und Zustände im Erleben zuzulassen und kognitiv ein- und zuzuordnen, was mit einer allmählichen<br />

strukturellen Harmonisierung des Selbst und der Beziehungsmuster des Klienten einhergeht.<br />

Körperausdruck als Zugang zu Gefühlen. Manchmal werden relevante Selbst- und Beziehungsaspekte gar<br />

nicht, nur subtil, beiläufig, gedämpft, kaum eben wahrnehmbar oder als Double-Bind (vermischt mit ihrem<br />

Gegenteil) ausgedrückt. In diesem Fall kann der Therapeut den Klienten einladen, das Gefühl direkt<br />

auszudrücken oder eine nur angedeutete Geste zu verstärken und zu übertreiben.<br />

Beispiel: Eine 26jährige Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe wirkt gehemmt und zurückgenommen. In körperlichen<br />

Übungen weint sie viel und manchmal fast endlos lange. Sie scheint dann in einem Meer von Leid und Tränen zu versinken.<br />

Ansonsten wirkt sie überfreundlich, aggressionsgehemmt und sehr bedürftig nach Aufmerksamkeit. Sie berichtet in der<br />

Gruppe, dass vor vier Wochen ihre Großmutter gestorben sei, an der sie sehr gehangen habe, und dass sie auf kindliche Weise<br />

wütend sei, weil sie sich von der Großmutter verlassen fühle. Ich bitte sie, aufzustehen und die Wut körperlich auszudrücken.<br />

Sie stellt sich in die Mitte der Gruppe, sagt: „Ich bin wütend“, schüttelt kurz die rechte Faust - und beginnt zu weinen. Ich stelle<br />

einen großen Schaumstoffklotz vor sie hin, gebe ihr einen Tennisschläger in die Hand, nehme selbst einen zweiten, schlage<br />

einige Male fest auf den Schaumstoffklotz und bitte die Teilnehmerin, es mir gleichzutun. Die Teilnehmerin schlägt zuerst<br />

zögerlich, dann immer stärker werdend und schließlich mit voller Kraft auf den Schaumstoffklotz und macht dabei ihrer Wut<br />

und ihrem Schmerz mit ihrer Stimme Luft. Danach sagt sie: „Das war gut … das habe ich mich nie getraut.“<br />

Impulse von innen. Bei Klienten, deren Problem vor allem in Selbstunterdrückung und gewohnheitsmäßiger<br />

Hemmung ihrer Vitalität und Impulsivität besteht, kann der Therapeut durch einen gewährenden, erlaubenden,<br />

nicht-direktiven Stil der Körperarbeit einen Selbsterfahrungsraum öffnen, in dem der Klient seinen inneren<br />

Impulsen körperlich folgen und dadurch sein Inneres erkunden kann.<br />

Beispiel: In einem Fortbildungsworkshop arbeiten wir im Sommer auf einer Wiese hinter einem Tagungshaus. Eine<br />

Teilnehmerin berichtet über einen Zustand von Diffusität, Kontaktlosigkeit, Erstarren und Nicht-Fühlen. Ich lade sie ein, sich<br />

in die Mitte der Gruppe zu stellen und ihren spontanen Impulsen zu folgen. Die Teilnehmerin geht in die Mitte der Gruppe,<br />

schließt die Augen und verweilt dort für etwa zehn Minuten reglos. Ohne weitere Anleitung entsteht eine kleine Unruhe in<br />

ihrem Körper. Sie wiegt sich, streckt sich, tastet mit geschlossenen Augen um sich her, lässt sich zu Boden sinken, krabbelt<br />

auf allen Vieren, rollt sich im Gras, trappelt im Liegen mit den Füßen auf den Boden usw. Es entstehen immer neue<br />

Bewegungsimprovisationen. Nach etwa 15 Minuten liegt sie mit weit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Bauch im<br />

Gras und sagt: „Ich habe das Gefühl, als würde ich die ganze Erde umarmen.“<br />

Freie Assoziation mit dem Körper. Die Technik der freien Assoziation mit dem Körper (<strong>Eberwein</strong> 1990) ist eine<br />

nicht-direktive, prozessorientierte Technik der <strong>Körperpsychotherapie</strong>. Grundidee ist es, die psychoanalytische<br />

Technik der freien Assoziation auf körperliche Impulse und Ausdrucksbewegungen anzuwenden. Der Klient wird<br />

ermutigt, seinen körperlichen Bewegungsimpulsen zu folgen und sich durch seine spontanen Ausdrucksgesten<br />

in die Tiefe seiner Emotionen hinein führen zu lassen. Wichtig ist, dass die Bewegungen nicht absichtlich<br />

„gemacht“ werden, sondern von innen her, intuitiv entstehen, sich aus dem Körpergefühl heraus entwickeln und


19<br />

verändern. Durch die Arbeit mit seinen „Impulsen von innen“ lernt der Klient, der Spontaneität und Intuition aus<br />

seinem Unbewussten und den Selbstheilungskräften seines körperenergetischen Flusses zu vertrauen. Der<br />

Therapeut kann den Klienten z.B. mit den Worten: „Lass dich fühlen, was der Körper tun will, und folge dem“<br />

auffordern, seinen emotio-motorischen Impulsen zu folgen. Eine solche Formulierungsweise lädt den Klienten<br />

ein, sich seinen Impulsen zu überlassen, nicht aber willentliche, gewohnheitsmäßige und kopfgesteuerte<br />

Handlungen auszuführen. So kann ein körperenergetischer Fluss, verbunden mit imaginierten Situationen<br />

entstehen, also eine Körper-Trance-Dynamik, die sich spontan aus dem Inneren heraus ausarbeitet.<br />

Beispiel: Zu Beginn einer Therapiegruppensitzung bitte ich die Teilnehmer, aufzustehen und sich im Raum zu verteilen, ihre<br />

Augen zu schließen, ihre Körperhaltung und ihre Atmung wahrzunehmen. Dann bitte ich sie, ihre Aufmerksamkeit auf die<br />

Region ihres Körpers zu fokussieren, die sie am deutlichsten wahrnehmen, und sich in die körperlichen Empfindungen zu<br />

versenken, die sie dort spüren. Dann leite ich sie an, aus dieser Körperregion heraus Bewegungen entstehen zu lassen. Es<br />

entstehen vielfältige Arten der spontanen Bewegung mit verschiedenen Körperteilen. Ich bitte die Teilnehmer, die<br />

Bewegungen stärker und größer werden zu lassen, sie mit ihrem Atem zu koordinieren und daraus Stimmlaute entstehen zu<br />

lassen. Bei einigen Teilnehmern einsteht ein leiser Singsang, bei anderen ein Stöhnen, Weinen, Lachen, Wimmern oder<br />

Schnauben. Ich gehe zwischen den Teilnehmern umher und lade sie ein, den Impulsen ihres Körpers zu folgen, wodurch<br />

immer neue und andere Bewegungsformen und Stimmlaute entstehen. Nach etwa 15 Minuten bitte ich die Teilnehmer, die<br />

Bewegungen wieder kleiner werden zu lassen. Dann fordere ich sie auf, weiter in Bewegung bleibend durch den Raum zu<br />

gehen und mit Bewegungen und Stimmlauten Kontakt zu anderen Gruppenteilnehmern aufzunehmen. Für etwa 10 Minuten<br />

entstehen vielfältige Kontaktimprovisationen in Paaren und in kleinen Gruppen, die sich in ständig neuen Varianten, teilweise<br />

mit Stimmlauten begleitet, fortentwickeln. Nachdem die Dynamik dieser Bewegungen von selbst ausgeklungen ist, bitte ich<br />

die Teilnehmer, sich mit ihren Partnern zusammenzusetzen und auszutauschen, was sie erlebt haben. Anschließend<br />

besprechen wir das Erlebte in der Gruppe. Die Teilnehmer berichten über vielfältige Gefühle, Impulse, Phantasien und<br />

Erinnerungen während der Übung.<br />

Körperliche Entladung. Die Arbeit mit dem körperlichen Ausdruck kann zum ritualisierten (und dadurch<br />

gefahrlosen) Entladen gestauter oder gehemmter Emotionen genutzt werden.<br />

Beispiel: Ein Teilnehmer einer Therapiegruppe berichtet, er sei wütend auf einen anderen Gruppenteilnehmer, der ihn in der<br />

letzten Sitzung gekränkt habe. Ich bitte den Teilnehmer, in die Mitte der Gruppe zu gehen und seine Gefühle körperlich<br />

auszudrücken ohne zu sprechen und ohne den anderen Teilnehmer zu berühren. Der Teilnehmer nimmt sich ein großes<br />

Ölfass, das in meinem Therapieraum steht und zwei hölzerne Schlägel und schlägt für etwa zehn Minuten mit großer Wut<br />

heftig und laut auf das Ölfass. Danach sagt er: „Das war gut … das hilft … das erleichtert.“ Nun setzt er sich dem anderen<br />

Gruppenteilnehmer gegenüber und beginnt, unterstützt durch mich und die anderen Teilnehmer, sich mit ihm<br />

auseinanderzusetzen. Es wird deutlich, dass er sich durch das Trommeln von einem Großteil seiner Wut befreit hat. Dadurch<br />

wird das Konfliktklärungsgespräch friedfertig und konstruktiv und führt nach etwa 30 Minuten zu einem offenen,<br />

warmherzigen Kontakt zwischen beiden.<br />

Dialog von körperlichen Anteilen. Der Therapeut kann einen Dialog zwischen verschiedenen Anteilen<br />

anleiten, indem er den Klienten einläd, Symptome, Befindlichkeiten, Gefühle, Stimmungen oder Organe<br />

„sprechen zu lassen“. So können verkörperte psychische Dynamiken körperlich ausgearbeitet und dissoziierte<br />

Anteile miteinander und in das Bewusstsein integriert werden. Voraussetzung dafür ist, dass der Dialog nicht nur<br />

auf der Kopfebene als intellektuelles Pingpong-Spiel stattfindet, sondern sinnlich vital erlebt wird. Immer wieder<br />

lenkt der Therapeut daher die Aufmerksamkeit des Klienten auf seine Gefühle und auf tiefere Schichten des<br />

Gewahrseins.<br />

Beispiel: Eine Klientin mit Autoritätsproblemen umfasst während einer Sitzung ihre rechte Hand kräftig mit der linken und<br />

hält sie fest. Ich lade die Klientin ein, ihre Hände weiter miteinander interagieren zu lassen und ihre Assoziationen dazu<br />

mitzuteilen. Die rechte Hand wird zu einem Symbol für den Anteil der Klientin, in dem sie sich aggressiven Zugriffen<br />

ausgesetzt fühlt. Die linke Hand repräsentiert ihr Bedürfnis nach Selbstbeherrschung und Kontrolle. Ich fordere sie auf, die<br />

beiden Positionen nacheinander gestisch und verbal auszudrücken. Es entsteht ein Dialog zwischen ihrem kontrollierenden<br />

und ihrem eingeschüchterten Anteil, was unter anderem eine Beziehungsdynamik der Klientin als Kind zu ihrer Mutter<br />

spiegelt.<br />

Impulsressourcen. In der Körper-Trance-Realität kann der Klient ressourcenvolle emotio-motorische Impulse<br />

entwickeln, aus denen kreative, neue Körperbeziehungsmuster erwachsen, die sich in der Kindheit des Klienten<br />

nicht entwickeln konnten. Dadurch findet ein „Nachreifungsprozess“ statt.


20<br />

Beispiel: Eine Klientin mit multiplen Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend hat nie gelernt, sich von einem<br />

Mann, der sich ihr mit sexuellen Absichten nähert, abzugrenzen. „Wenn ein Mann mich bedrängt, lasse ich mich darauf ein,<br />

auch wenn ich gar nicht will“, sagt sie. In einer altersregressiven Körpertrance im zweiten Jahr der Therapie inszenieren wir<br />

symbolisch die übergriffige Annäherung durch einen Nachbarn, die sie als Kind erlebt hat. Ich spiele den Nachbarn und<br />

nähere extrem langsam meine Hand ihrer Wange an, ohne sie zu berühren und fordere die Klientin auf, genau zu spüren, wie<br />

sich diese Annäherung anfühlt. Sie sagt: „Ich bin verwirrt. Ich will Nähe, aber es ist auch unangenehm.“ Ich fordere sie auf,<br />

ihrer Verwirrung auf den Grund zu gehen, zu spüren, wie sich die Annäherung anfühlt, ob sie die Art von Nähe, die ihr der<br />

Nachbar anbietet, wirklich will, oder ob sie eigentlich eine andere Nähe von einer anderen Person will. Sie solle mit ihrem<br />

heutigen Wissen als Erwachsene prüfen, ob das, was der Nachbar tut, als Kind gut für sie ist oder nicht. Sie kommt in Kontakt<br />

mit alten Ekel- und Hassgefühlen, die sie aufgrund ihrer Verwirrung als Kind nicht angemessen spüren und ausdrücken<br />

konnte. Ich lade sei ein, diese Gefühle dem Nachbarn gegenüber auszudrücken, sich deutlich gegen ihn zu wehren und zu<br />

verhindern, dass er sich ihr auf unangemessene Weise nähert. In der folgenden Sitzung berichtet die Klientin, dass sie seit<br />

der letzten Sitzung hochsensibel selbst für kleine Grenzüberschreitungen in ihrem Alltag sei und sich schon bei kleinen<br />

Ansätzen in dieser Richtung sehr deutlich abgrenze.<br />

Aggressionsübungen<br />

Bioenergetische Aggressionsrituale. Aus der bioenergetischen Tradition der <strong>Körperpsychotherapie</strong> stammt<br />

die Arbeit mit körperlichen Aggressionsritualen um Klienten mit gestauten Aggressionen oder gehemmtem<br />

emotionalem Ausdruck das gefahrlose Ausdrücken und Durchleben aggressiver Impulse zu ermöglichen. Für<br />

einen Klienten mit einem akuten Aggressionsstau kann es sehr befreiend und erleichternd sein, wenn der<br />

Therapeut ihn einlädt, seinen aufgestauten Wut- und Hassgefühlen Luft zu machen, ohne dass er selbst oder<br />

jemand anders dabei zu Schaden kommt. Aggressionsrituale können als Erste Hilfe dienen, um dem Klienten<br />

unmittelbar Entlastung zu verschaffen. Aggressionsübungen können aber auch angewandt werden, damit der<br />

Klient seine Angst vor seiner eigenen Wut verliert und aggressive Gefühle als Teil seiner emotionalen<br />

Wirklichkeit anzunehmen lernt. Bei Klienten, die zu emotionalen Überladungen neigen, können<br />

Aggressionsrituale helfen, Hassgefühle zu kanalisieren und zu ritualisieren, so dass sie sie nicht destruktiv<br />

ausagiert werden müssen. Aggressionsarbeit kann dazu dienen, ausdrucksgehemmte Klienten, die<br />

Schwierigkeiten haben, ihre Interessen angemessen zu vertreten oder sich gegen Angriffe angemessen<br />

abzugrenzen mit ihrer (im positiven Sinn) aggressiven Energie in Kontakt zu bringen. Sie können lernen, Energie<br />

einzusetzen, um mit Kraft auf etwas Begehrtes zuzugehen, sich von Giftigem abzuwenden oder Destruktives zu<br />

bekämpfen.<br />

Aggressionsübungen ohne Gegenüber. Der Therapeut kann den Klienten einladen, seine Wutgefühle<br />

nonverbal auszudrücken, indem der Klient spürt, „was der Körper tun will“. Eine offene, Erlaubnis gebende<br />

Anleitung ist jedoch für manche Klienten eine Überforderung, weil sie klar vorgegebene, ritualisierte Strukturen<br />

brauchen. In diesem Fall kann der Therapeut zum Beispiel einen großen, bezogenen Schaumstoffklotz vor den<br />

Klienten hinstellen, ihm einen Tennisschläger in die Hand geben, selbst einen solchen nehmen, einige Male<br />

modellhaft mit aggressiven Stimmlauten auf den Schaumstoffklotz schlagen und den Klienten auffordern, es<br />

ihm gleichzutun.<br />

Beispiel: Eine kleine, zarte, aggressionsgehemmte Klientin sagt: „Ich könnte platzen vor Wut. Nach außen hin bin ich zu allen<br />

lieb und nett. Darum können alle mit mir machen, was sie wollen. Innerlich könnte ich alles kaputtschlagen.“ Ich gebe ihr<br />

einen Tennisschläger, stelle ihr einen Schaumstoffklotz hin und bitte sie, auf den Klotz zu schlagen. Sie tut es zuerst<br />

zögerlich, schließlich kraftvoll und lautstark. Als sie dabei den Atem anhält, bitte ich sie, ihren Atem fließen zu lassen und mit<br />

einem Stimmlaut auf den Klotz zu schlagen. Es entsteht eine emotionale Entladung, die ich der Klientin in ihrer Intensität<br />

vorher kaum zugetraut hätte. Danach sagt sie: „Das war sehr gut … Ich habe eine große Kraft in mir gespürt.“


21<br />

Aggressionsübung<br />

Der Schaumstoffklotz eignet sich auch dafür, um dagegen zu treten. Alternativ kann der Klient Kissen an die<br />

Wand oder auf den Boden werfen, mit den Fäusten auf eine Matratze, ein Kissen oder einen dicken, weichen<br />

Teppich schlagen, eine Rolle Küchentücher „würgen“, zerreißen oder zerfleddern. Er kann auch ohne<br />

Gegenstände beispielsweise seine in die Luft erhobenen Fäuste schütteln und dabei laut rufen: „Warum?!<br />

Warum?!“ In der Regel fantasiert der Klient bei solchen Ausdrucksübungen ein Gegenüber, gegen das sich seine<br />

Wutgefühle richten, beispielsweise seine/n Partner/in, einen Elternteil, Kollegen, Vorgesetzte, Institutionen, „das<br />

Schicksal“ oder auch sich selbst. Dies kann in der Folge weiter bearbeitet werden.<br />

Aggressionsübungen mit Gegenüber. Manchen Klienten fällt es relativ leicht, Aggressionen zu spüren und<br />

auszudrücken, so lange sich diese nicht gegen eine Person richten. Es kann für manche Klienten jedoch eine<br />

wertvolle Erfahrung sein, sich in ihrer aggressiven Kraft auch gegenüber einer anderen Person wahrzunehmen,<br />

ohne dass diese oder sie selbst zu Schaden kommen. Zu diesem Zweck dienen Aggressionsrituale im Zweier-<br />

oder Gruppensetting. Diese Arbeitsweise ist nur möglich, wenn für alle Beteiligten unzweifelhaft klar ist, dass das<br />

Gegenüber nicht körperlich verletzt werden darf, und dass auch der Klient selbst sich nicht verletzen darf. Der<br />

Therapeut weist vor Beginn eines solchen Rituals darauf hin, dass jeder Beteiligte die Übung mit dem Wort<br />

„stop“ jederzeit unterbrechen kann. Für Aggressionsrituale mit Gegenüber werden manchmal<br />

schaumstoffgepolsterte Plastikröhren (Batakas) oder (sehr dicke, weich gepolsterte Trainings-)Boxhandschuhe<br />

benutzt. (Bei der Arbeit mit Boxhandschuhen darf nicht zum Kopf, zu den Genitalien und bei Frauen nicht im<br />

Brustbereich geschlagen werden.) Auch tragbare Schaumstoffpolster, wie sie im Karate-Training verwandt<br />

werden, können eingesetzt werden. Im Rahmen von Therapie oder Fortbildung verstehen selbst massiv<br />

wütende oder sonst abgrenzungsschwache Klienten, dass es sich um eine therapeutische Übung, und nicht um<br />

eine Prügelei handelt. Die meisten Klienten sind eher zögerlich mit Übungen dieser Art. Wenn zu befürchten ist,<br />

dass die schützenden Regeln nicht eingehalten werden können, oder wenn das Ritual über die Grenzen zu<br />

gehen droht, muss der Therapeut die Übung sofort begrenzen oder beenden. Die Arbeit mit Aggressionsritualen<br />

erfordert, dass der Therapeut seine eigenen aggressiven Energien so weit integriert hat, dass er sie weder<br />

unterdrücken noch ausagieren muss.


22<br />

Aggressionsübung<br />

Beispiel: In einer Therapiegruppe ist eine aggressiv geladene Atmosphäre zu spüren, wobei die Teilnehmer sich nach außen<br />

hin konfliktscheu und gehemmt verhalten. Ich lade sie dazu ein, sich in Paaren in etwa einem Meter Abstand einander<br />

gegenüber hinzustellen, die Arme halb gebeugt zur Seite auszustrecken, die Fäuste zu ballen, ein Stück weit in die Knie zu<br />

gehen und ihr Gegenüber anzuschauen. Nachdem sie eine Weile so gestanden haben (was eine gewisse Belastung für die<br />

Oberschenkelmuskeln ist), bitte ich sie, sich mit aufgerichtetem Oberkörper gemeinsam mit ihrem Gegenüber zu einer Seite<br />

hin zu bewegen, so dass ihr Gewicht nur noch von einem Bein getragen wird, wobei der Oberkörper weiter aufrecht und gerade<br />

bleibt. Diese Position ist ziemlich anstrengend und kann nur für kurze Zeit aufrechterhalten werden. (Es handelt sich um eine<br />

bioenergetische Übung, die durch muskulären Stress Aggression aktiviert.) Die Partner sollen, während sie sich weiter<br />

fixieren, die Zähne fletschen und Knurrlaute ausstoßen. In der Gruppe entsteht eine sehr lebendige Atmosphäre spielerischer<br />

Aggression. Die Teilnehmer drücken auf vielerlei Weise Wut aus, und das macht ihnen sichtlich Spaß. Ich bitte sie nach einigen<br />

Minuten, wieder zur Mitte zurückzukommen und dort zu bleiben. Durch die Entlastung der Beine kommen die Teilnehmer zur<br />

Ruhe, die Wutäußerungen klingen ab und die Partner spüren im Augenkontakt die eigene Präsenz und die Präsenz ihres<br />

Gegenübers. Dann leite ich die Teilnehmer dazu an, in die andere Richtung und dann wieder zurückzugehen, um den<br />

Übergang zwischen freundlichem und aggressivem Kontakt wahrzunehmen. Sie erleben unmittelbar, dass sie die eigenen<br />

Wutgefühle und die des Gegenübers zulassen und ausdrücken können, ohne dass einer von beiden körperlich oder emotional<br />

verletzt wird.<br />

Halt gebende Körperarbeit<br />

Holding. Unter „Holding“ versteht man in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> eine Form der Berührung (oder<br />

Selbstberührung), bei der dem Klienten ein Gefühl von Halt und Sicherheit, Kontakt und Begleitung sowie von<br />

Erdung im eigenen Körper gegeben wird.


23<br />

Holding<br />

Holding kann eingesetzt werden, um chronisch verspannten und gestressten Klienten ein Gefühl von<br />

Geborgenheit und Loslassen zu vermitteln. Es kann in Krisen- oder Überflutungssituationen als Erste-Hilfe-<br />

Maßnahme dienen, um einen emotional überfluteten Klienten zu beruhigen und ihm ein Gefühl von Halt und<br />

Sicherheit zu geben. Das ist therapeutisch allerdings nur dann indiziert, wenn der Klient und ggf. die Gruppe an<br />

die Arbeit mit körperlichem Kontakt gewohnt ist. Der Klient darf die Berührung weder als einengend noch als<br />

zudringlich oder sexualisierend empfinden. Er muss sich jederzeit darüber im Klaren sein, dass er die volle<br />

Kontrolle über die Situation hat, d.h. entscheiden kann, ob ihm die Berührung zu nah, zu kräftig, zu viel oder<br />

auch zu leicht oder zu diffus ist, ob er mehr oder davon haben oder das Holding beenden möchte.<br />

Beispiel: In einer Therapiegruppe berichtet eine Teilnehmerin aufgewühlt davon, dass sie in ihrer Brust einen Knoten ertastet<br />

habe und nun Angst vor Brustkrebs habe, am nächsten Tag habe sie einen Termin zur Mammographie. Sie sei panisch, vor<br />

allem weil sie vor einigen Jahren miterlebt habe, wie eine Freundin an Krebs gestorben sei. Ich bitte die Teilnehmerin, sich in<br />

die Mitte der Gruppe zu legen. Die anderen Gruppenteilnehmer und ich setzen uns um sie herum, schieben behutsam unsere<br />

Hände unter ihren Körper und geben ihr das Gefühl, gehalten, getragen und geborgen zu sein. Die Teilnehmerin sagt: „Das ist<br />

sehr schön … es könnte noch mehr sein.“ Die Gruppenteilnehmer und ich legen unsere Hände auf ihre Stirn, ihre Schienbeine,<br />

ihre Arme und Hände und geben ihr ein Gefühl von Gehaltenwerden und Geborgenheit. Die Teilnehmerin schluchzt heftig und<br />

zittert am ganzen Körper. Nach ca. 10 Min. beruhigt sie sich. Ihr Atem wird tiefer und ruhiger. Ihre Gesichtszüge entspannen<br />

sich. Sie sagt: „Vielen Dank an euch alle … Ich fühle mich viel ruhiger.“<br />

Holding in der Gruppe


24<br />

Korrektive Erfahrungen. Wenn sich der Klient in einem Körper-Trance-Zustand mit geöffneten Abwehrgrenzen<br />

befindet, ist es ihm möglich, korrektive Erfahrungen zu verinnerlichen, die dauerhaft auch solche Muster<br />

verändern können, die im Alltagsbewusstsein durch Abwehrprozesse fixiert sind und nur immer wieder<br />

automatisch reproduziert werden.<br />

Beispiel: Ein Teilnehmer einer Therapiegruppe lebt in einem chronischen Gefühl des Unwillkommenseins. Er hat in seiner<br />

frühen Kindheit die Erfahrung verinnerlicht, von seinen Eltern eher geduldet als liebevoll empfangen zu sein. Er fühlt sich<br />

schnell abgelehnt und ignoriert und zieht sich dann in ein Schneckenhaus zurück. In einer altersregressiven Körper-Trance<br />

erlebt er die entleerte, depressive Atmosphäre seines Elternhauses, die Belastetheit und Ausgelaugtheit seiner Eltern und<br />

deren Mangel an emotionalen Ressourcen für ihn als Kind. Während er sich in der Altersregression befindet, frage ich ihn, wie<br />

er als Kind sich seine Familie idealerweise wünschen würde, so dass er zu einem kraftvollen, in sich selbst ruhenden Mann<br />

heranwachsen könne. Er beschreibt als Wunschbild zufriedene Eltern mit einer liebevollen Bindung zueinander und zu ihm<br />

als Kind, die stark und ausgeglichen sind, und mit ihrem Leben gut zurechtkommen. Wir inszenieren diese Erfahrung in der<br />

Gruppe in einem körperorientierten Psychodrama mit Stellvertretern für die „guten Eltern“. In der Positiv-Inszenierung sitzt<br />

die ganze Familie auf einer Bank an einem See, die „Eltern“ lächeln und schauen sich liebevoll an, beide streichen dem „Kind“<br />

liebevoll über den Kopf und sagen ihm, dass sie es lieb haben. Der Klient ist tief berührt. Danach sagt er: „Das ging mir durch<br />

und durch … Es ist, als ob ich die Welt jetzt viel farbiger sehe als zuvor.“<br />

Umprägung. Korrektive Erfahrungen auf der Erwachsenenebene bleiben therapeutisch oft relativ wirkungslos.<br />

Wenn ein Mensch mit einer alten Selbstbildprägung, hässlich, dumm oder nicht liebenswert zu sein, als<br />

Erwachsener die Erfahrung macht, als attraktiv, klug oder liebenswert gesehen und behandelt zu werden, wird<br />

er das unter Umständen nicht glauben und entsprechende Angebote nicht wirklich annehmen können.<br />

Geschieht das aber im Zustand einer altersregressiven Körper-Trance mit geöffneten Grenzen, so wird das auf<br />

der Ebene der verinnerlichten Beziehungsmuster des Klienten nahezu ebenso verarbeitet, als ob es sich um eine<br />

Kindheitserfahrung handelte. Es entsteht ein regressiver Umprägungsprozess, der Einstellungen und<br />

Beziehungsmuster dauerhaft verändern kann.<br />

Körperarbeit mit Klienten mit starker struktureller Instabilität. Auch mit Klienten, deren psychische Struktur<br />

instabil oder verzerrt ist, zum Beispiel bei schwer traumatisierten oder psychotischen Klienten, sowie im<br />

stationären oder forensischen Setting kann mit körperorientierten Techniken gearbeitet werden (Asbeck und<br />

Tasche 2007). Hier wird in der Regel mit einfachen Techniken der Körperwahrnehmung oder mit minimalen<br />

Veränderungen der Körperhaltung gearbeitet, wobei besonders behutsam vorgegangen und immer wieder<br />

betont wird, dass die Arbeit freiwillig ist und jederzeit nach dem Gefühl und den Bedürfnissen des Klienten<br />

abgebrochen oder unterbrochen werden kann. Mit diesen Klienten arbeiten Körperpsychotherapeuten vor<br />

allem mit Techniken des Containment, des Ausleitens und Beruhigens. Durch empathisches Begleiten, durch<br />

Halt- und Kontakt-Geben, sowie durch behutsame, nicht-direktive Körperwahrnehmungsübungen wird die<br />

Fähigkeit des Klienten gefördert, sich zu spüren und energetisch zu erden, Energie im Körper zu halten, ihr Form<br />

und Richtung zu geben und dadurch seine Ich-Struktur zu stabilisieren.<br />

Arbeit mit Körperhaltungen<br />

Symbolische Körperhaltungen. Der Therapeut kann die Aufmerksamkeit des Klienten auf gewohnheitsmäßige<br />

Körperhaltungen und deren symbolische Bedeutungen lenken. Er kann den Klienten z.B. einladen, eine<br />

symbolische Körperhaltung einzunehmen, die geeignet ist, eine emotionale Dynamik zu öffnen. Der Therapeut<br />

kann auch beobachten, was der Klient durch eine spontan eingenommene Körperhaltung ausdrückt und ihn<br />

auffordern, diesen Körperausdruck zu wiederholen oder zu verstärken. Oder er lädt den Klienten ein, ein Gefühl,<br />

über das der Klient spricht, das er aber nicht ausdrückt, körperlich auszudrücken. Er kann den Klienten<br />

auffordern, eine gezeigte Körperhaltung oder Ausdrucksgeste beizubehalten und dabei auf seine Gefühle,<br />

Fantasien und Impulse zu achten. Auf diese Weise führt er den Klienten in ein Körper-Trance-Erlebnis hinein, in<br />

dem sich biografische Bezüge des Klienten öffnen, die in körperorientierter Altersregression durchgearbeitet<br />

werden können.


25<br />

Beispiel: Ein Teilnehmer einer Therapiegruppe hat sich in eine Gruppenteilnehmerin verliebt. Diese hat gerade eine neue<br />

Beziehung begonnen und ist für einen anderen Mann nicht offen. Der Gruppenteilnehmer spricht davon, dass er sich<br />

schrecklich fühle, das aber nicht näher beschreiben könne. Ich bitte ihn, das Gefühl körperlich auszudrücken. Er kauert sich<br />

auf dem Boden zusammen, bedeckt sich mit einer Decke, zieht sich zusammen, als ob er versuchen würde, im Boden zu<br />

verschwinden. Nach einer Weile sagt er: „Ich schäme mich so sehr … Wie konnte ich hoffen, bei dir anzukommen.“ Die<br />

Ausdrucksübung hat ihm geholfen, Zugang zu intensiven Schamgefühlen zu finden, die im weiteren Verlauf durchgearbeitet<br />

werden.<br />

Bioenergetische Übungen. Die psychotherapeutische Arbeit mit Körperhaltungen, in denen bestimmte<br />

Muskelpartien einer Stressspannung ausgesetzt werden, stammt aus der Bioenergetik und wurde von Lowen<br />

(1986) und Pierrakos (1999) entwickelt. Der Therapeut leitet den oder die Klienten an, sich in eine Körperhaltung<br />

zu begeben, bei der bestimmte Muskelpartien einer Belastung ausgesetzt sind oder bei denen der Körper in<br />

bestimmten Bereichen gedehnt wird. Lowen und Pierrakos haben etwa zwanzig solcher Stresspositionen<br />

entwickelt und detailliert beschrieben.<br />

Beispiel: Als Anfangsübung eines Therapiegruppenwochenendes bitte ich die Teilnehmer, sich im Raum zu verteilen und so<br />

hinzustellen, dass um sie herum etwas Abstand ist, die Füße etwa schulterbreit, die Augen geschlossen, den Mund geöffnet,<br />

und durch den Mund zu atmen. Die Arme werden seitlich ausgestreckt, die Teilnehmer gehen leicht in die Knie und biegen<br />

dann ihren Körper langsam nach hinten, so dass von den Knöcheln bis zum Scheitel ein Bogen entsteht, der möglichst<br />

nirgendwo durch einen Knick unterbrochen sein soll. Wenn die Teilnehmer merken, dass die Position anstrengend wird, sollen<br />

sie die aufkommenden Empfindungen mit der Stimme ausdrücken. Es entsteht ein Vibrieren in den Beinen der Teilnehmer,<br />

das sich durch die Vorderseite des Körpers nach oben fortsetzt und durch wütende, stöhnende oder schluchzende<br />

Stimmlaute zum Ausdruck gebracht wird. Ich bitte die Teilnehmer, zur Verstärkung der Übung die Arme ausgestreckt<br />

seitwärts und dann langsam nach oben bis über den Kopf zu führen, was zu einer weiteren energetischen Aufladung sowie<br />

zum Ausdruck intensiver Emotionen führt. Nach einigen Minuten führe ich die Teilnehmer behutsam aus der<br />

bioenergetischen „Bogenhaltung“ heraus, leite sie an, innerlich in Kontakt mit den gerade gefühlten Emotionen zu bleiben,<br />

sich in Paaren zusammenzusetzen und sich darüber auszutauschen, was sie gerade erlebt haben.


Berührungstechniken<br />

26<br />

Bioenergetische Übungen<br />

Ziele. Im Rahmen der <strong>Humanistische</strong>n Psychotherapie kann die Arbeit mit körperlichen Berührungen dazu<br />

dienen, die Wahrnehmung des Klienten für seinen Körper, für seine Präsenz und seine Gefühle zu fördern.<br />

Berührung kann als Medium der nonverbalen Kommunikation genutzt oder zur Stimulation von<br />

Ausdrucksbewegungen eingesetzt werden. Sie kann in Form von Massage den körperenergetischen Zustand<br />

des Klienten aktivieren, harmonisieren oder beruhigen. Berührung kann Halt gebende Zuwendung und<br />

Fürsorge sein und therapeutische Regression fördern. Sie kann geschützte positive Erfahrungen mit<br />

körperlichem Kontakt ermöglichen oder einen nonverbalen Kommunikationskanal zu Erlebnisschichten<br />

unterhalb des kognitiv-sprachlich Zugänglichen eröffnen.<br />

Wahrnehmungsfördernde Berührungen. Bei wahrnehmungsfördernde Berührungen geht es darum, die<br />

Selbstwahrnehmungsfähigkeit des Klienten für seinen eigenen Körper zu stärken und ihn mit seinem Körper und<br />

mit seinen Gefühlen in Kontakt zu bringen.


27<br />

Beispiel: Eine 42jährige Klientin berichtet aufgeregt, sie habe ein Wochenende mit ihrer Schwester und ihrer Mutter verbracht<br />

und sich mit beiden heftig zerstritten. Die Klientin wirkt aufgelöst und redet wie ein Wasserfall, aber ohne wirklichen<br />

emotionalen Kontakt zu sich selbst. Nachdem ich ihr etwa 15 Minuten zugehört habe, bitte ich sie, ihren Redefluss zu<br />

unterbrechen, sich hinzulegen und in sich hineinzuspüren. Sie sagt: „Ich habe Angst.“ Ich frage sie, wo sie die Angst körperlich<br />

spüre. Sie deutet auf ihren Bauch, etwa eine Handbreit über dem Nabel. Ich lege vorsichtig meine Hand auf diese Stelle. Die<br />

Klientin beruhigt sich etwas. Nach einigen Minuten werden ihre Augen feucht, und sie sagt: „Es ist so traurig. Wir haben uns<br />

doch eigentlich lieb.“ Die Berührung hat ihr geholfen, vom Darüberreden zu ihren Gefühlen zu kommen.<br />

Berührung im Rahmen von Ausdrucksarbeit. Im Rahmen von ausdrucksfördernder<br />

körperpsychotherapeutischer Arbeit wird Berührung eingesetzt, um Verspannungen zu lockern oder Emotionen<br />

eine Richtung zu geben, um Halt, Sicherheit und Grenzen zu geben, um Festhaltemuster zu übernehmen, oder<br />

um Ausdrucksimpulsen Widerstand zu geben.<br />

Körperausdrucksarbeit<br />

Beispiel: Ein Klient berichtet, er sei angenervt von sich selbst, weil er sich gefangen fühle in der Rolle des immer braven,<br />

netten Kerls. Ich bitte ihn, sich hinzulegen und zu spüren, wo er die Angenervtheit in seinem Körper wahrnimmt. Er deutet auf<br />

seine Magengegend und sagt: „Hier sitzt es … Es will heraus.“ Ich lege meine Fingerspitzen auf seine Magenregion und lockere<br />

mit einer leichten, vibrierenden Bewegung die Spannungen seiner Bauchmuskulatur. Der Klient beginnt, tiefer zu atmen und<br />

bewegt seine Hände in schlangenartigen Greifbewegungen in der Luft. Ich frage ihn: „Wie fühlt sich das an?“ Er antwortet: „Da<br />

ist etwas wie eine Krake in meinem Bauch … Es kommt nur bis hierher und bleibt hier stecken“, der Klient zeigt mit der Hand<br />

auf seine Kehle. Ich massiere den Solarplexus und die Zwerchfellregion und streiche leicht über Brustbein, Kehle und Kinn bis<br />

zum Mund. Der Klient äußert zunächst würgende, dann wütende Geräusche. Er tritt mit den Beinen in die Luft und sagt: „Die<br />

Krake tritt mich von innen … Sie sagt zu mir: ‚Hau auf den Tisch! Sei ein Mann!’“ Die Aggression, die der Klient zu Beginn innen<br />

festgehalten und gegen sich selbst gerichtet hatte, beginnt, eine Richtung zu finden.<br />

Symbolische Berührung. Symbolische Berührung findet in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> oft im Rahmen eines<br />

improvisierten Rollenspiels statt. Symbolische Berührungen drücken eine Beziehungsdynamik mit Hilfe einer<br />

Körpersymbolik aus.


28<br />

Beispiel: Ein Klient berichtet, er fühle sich oft Männern gegenüber unterlegen, wie geschrumpft und eingeigelt in einem<br />

Gefühl der Unfähigkeit. Ich bitte ihn, dieses Gefühl körperlich auszudrücken. Er krümmt sich auf dem Boden zusammen und<br />

zieht den Kopf ein. Er sagt: „Ich fühle mich wie ein Sklave, der für die Großartigkeit anderer Männer herhalten muss.“ Ich lege<br />

ein Kissen auf seinen Rücken, setze mich darauf und „mache es mir dort bequem“. Der Klient sagt: „Ja genau, so fühlt sich<br />

das an … Ich schäme mich, dass ich das immer wieder mit mir machen lasse“. Die Körpersymbolik lässt eine (narzißtische)<br />

Beziehungs- und Übertragungsdynamik unmittelbar erlebbar und bearbeitbar werden.<br />

Beispiel: Eine Gruppenteilnehmerin verbrachte ihre ersten Lebensjahre bei ihren Großeltern in einem anderen Land. Sie<br />

fühlte sich dorthin abgeschoben und ihren gleichaltrigen Cousins und Cousinen gegenüber benachteiligt. Sie reagiert<br />

ablehnend auf eine andere Gruppenteilnehmerin, die sie an ihre Cousine aus der damaligen Zeit erinnert, und die die<br />

Lieblingsenkeltochter des Großvaters war. Ich setze mich leicht erhöht schräg hinter die zweite Gruppenteilnehmerin,<br />

streiche dieser symbolisch übers Haar wie ein Großvater seiner Enkelin und schaue dabei wie unbeteiligt zu der ersten<br />

Gruppenteilnehmerin hinüber. Diese sagt: „Es macht mich wahnsinnig, das so zu sehen … Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich<br />

bin total eifersüchtig.“ Die symbolische Berührung hat das emotionale Erleben einer alten Beziehungsdynamik aktiviert.<br />

Casriel-Bonding. Eine dynamisch wirkende Variante der Arbeit mit körperlicher Nähe wird als „Bonding“<br />

bezeichnet (Casriel 1975, Wehrli 2005, 2007). Die Bonding-Methode wurde in den 1960er Jahren von dem New<br />

Yorker Psychiater und Psychoanalytiker Daniel (genannt Dan) Casriel (1924-1983) in der Arbeit mit schwer<br />

drogenabhängigen und persönlichkeitsgestörten Jugendlichen entwickelt. Sie wird auch als „New Identity<br />

Process“ (NIP) bezeichnet. In Deutschland wurde die Bonding-Methode insbesondere durch Walther Lechler,<br />

den ehemaligen Chefarzt der sozio-psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb und von Konrad Stauss, dem<br />

ehemaligen Chefarzt der psychosomatischen Klinik Grönenbach aufgegriffen und weiterentwickelt (Lechler<br />

2007, Stauss 2006, Wehrli 2006/2007). In seinem 1972 veröffentlichten Buch „Wiederentdeckung des Gefühls“<br />

entwickelt Casriel die Theorie, dass Menschen, die sich in stabilen Bindungen und auch körperlich sicher<br />

gehalten und wahrgenommen fühlen, und die in vertrauensvoller Nähe zu anderen Menschen leben,<br />

belastbarer in Krisen und widerstandsfähiger besonders gegen Süchte und destruktives, antisoziales Verhalten<br />

sind.<br />

„Casriel konnte beobachten, dass die meisten seiner Patienten unter einem Mangel an menschlicher<br />

Nähe litten. Die Patienten waren nicht verrückt, sondern emotional am Verhungern.“ (Wehrli 2005, S. 16)<br />

Bonding wird vor allem in Gruppen angewandt. Ziel ist es, dass die Teilnehmer ihre Wünsche nach Nähe spüren<br />

und sich mit Ängsten vor Nähe auseinandersetzen können.<br />

Bonding in der Praxis. Beim Bonding legt sich der Protagonist auf dem Rücken auf den Boden, und ein anderer<br />

Gruppenteilnehmer legt sich mit seinem ganzen Körper auf seinen Bauch. Wenn das Gewicht des oben<br />

liegenden Teilnehmers zu groß ist, kann dieser sich mit den Knien und den Ellenbogen abstützen. Die Übung<br />

kann auch im Stehen durchgeführt werden. Sie kann nur einige Minuten dauern, aber auch über mehrere<br />

Stunden ausgedehnt werden. Der Protagonist kann durch volles, intensiviertes Atmen tiefer in das Erleben des<br />

nahen körperlichen Kontaktes hineingehen und seine Empfindungen und Impulse körperlich und stimmlich<br />

ausdrücken. Er wird in eine körperorientierte Altersregression geführt und kann seine verletzten Bedürfnisse<br />

nach Bindung, körperlicher Nähe und emotionaler Offenheit durchfühlen und seine (oft frühkindlichen)<br />

Empfindungen dabei durch Schreien ausdrücken. Der Prozess kann mit der Aufforderung eingeleitet werden,<br />

einen Initialsatz (eine verbale Sonde) zu schreien, z.B. „Warum hast du mich nicht geliebt?“, „Warum hast du nie<br />

Zeit für mich?“, „Mama, ich hätte deine Liebe gebraucht!“ oder „Ich brauche Liebe!“ Dabei kommen oft starke<br />

Gefühle und abgespaltene Erinnerungen ins Bewusstsein. Der Protagonist soll dann nicht vorschnell getröstet,<br />

sondern in seinem Schreien und beim Atmen unterstützt werden, bis der „Boden seiner Gefühle“ (Casriel)<br />

erreicht ist. Oft führt die Bonding-Erfahrung zu Erlebnissen aus der präverbalen Zeit, die z.B. mit<br />

überkontrollierendem oder einengendem Festgehaltenwerden oder mit einem Mangel an Geborgenheit und<br />

Halt verbunden sind. Die Arbeit mit Bonding-Techniken ist nur in Gruppen und mit Klienten empfehlenswert, die<br />

Erfahrung mit intensiver Körperarbeit haben. Sie setzen eine respektvolle, beschützende Athmosphäre voraus,<br />

sowie die Fähigkeit der Teilnehmer und des Therapeuten, dem Sinn der Übung zu folgen, die eigenen Grenzen<br />

zu schützen und sich den anderen Teilnehmern gegenüber respektvoll und klar abgegrenzt zu verhalten.<br />

Psychotherapeutische Massage<br />

Ziel. Massage im Rahmen einer <strong>Körperpsychotherapie</strong> kann unspezifisch wohltuend und stressreduzierend<br />

wirken, aber sie wirkt auch psychodynamisch. Sie kann dem Klienten helfen, sich in seinem Körpergefühl zu<br />

verwurzeln und sich seiner körperlichen Regungen bewusster zu werden. Massage kann eingekapselte,


29<br />

blockierte oder gestaute Lebensenergie zum Fließen bringen. Sie kann die psychosomatischen<br />

Selbstheilungsfunktionen des Körpers aktivieren, körperliche Fehlhaltungen korrigieren, einschränkende<br />

Atemmuster befreien, die Integration von Denken und Fühlen fördern, psychosomatische Beschwerden lindern<br />

oder Klienten nach traumatischen Ereignissen helfen, sich zu stabilisieren und zu vitalisieren. Sie kann helfen,<br />

verhärtete, gepanzerte Muskelpartien zu lockern, Klienten in Auflösungszuständen Halt geben oder Stauungen<br />

im Gewebe ausleeren. Sie kann die Körperabwehr lockern, so dass unbewusstes Material leichter ins Gewahrsein<br />

eintritt. Sie kann die Ich-Stabilität stärken, so dass sich die Integrität des Ich gegenüber dem Unbewussten und<br />

gegenüber äußeren Einflüssen festigt.<br />

Massage-Intentionen. Die Richtung, in die der Körperpsychotherapeut die vegetative Dynamik des Klienten<br />

durch die Massage zu beeinflussen versucht, wird als „Intention“ bezeichnet. Die Intention der Massage kann<br />

sein:<br />

erstarrte und gestaute Lebensenergie zu mobilisieren, so dass der Klient sich hinterher vitaler und<br />

emotionaler fühlt,<br />

körperenergetische Disharmonien auszugleichen, z.B. Körperenergie durch Massage aus einer<br />

gestauten, überladenen Region zu einer energiearmen, unterladenen Körpergegend zu transportieren,<br />

gestaute und rigide Bereiche des Körpers zu schmelzen, also angespannte Körperregionen weicher<br />

werden zu lassen, so dass der Klient loslassen und sich entspannen kann,<br />

Überladungen aus dem Körperenergiesystem auszuleiten, so dass sich der Klient nach der Massage<br />

ruhiger und entspannt fühlt,<br />

das Gewahrsein des Klienten für sein materielles Sein im Körper zu stärken, also sein Bewusstsein im<br />

Körper zu erden.<br />

Massage-Intentionen<br />

Mobilisieren<br />

Ausgleichen<br />

Schmelzen<br />

Ausleiten<br />

Erden<br />

Gerda Boyesen (1922-2005)<br />

Gerda Boyesen war die Begründerin der Biodynamischen Psychotherapie. Sie war Klientin<br />

von Ola Raknes in Oslo, einem Schüler von Wilhelm Reich. Sie studierte Psychologie und<br />

wurde als Physiotherapeutin ausgebildet. Sie verband Ansätze von Reich, Jung und Freud<br />

und erforschte den Zusammenhang von unterdrückten Gefühlen, Muskelspannungen und<br />

gestautem Bindegewebe. 1968 ging sie nach London und gründete dort ein Lehr- und<br />

Ausbildungsinstitut. Boyesen arbeitete mit der Vegetotherapie und mit dem<br />

empathischen Gespräch und entwickelte eine Theorie des Abbaus von psychischen<br />

Stresses über das Verdauungssystem sowie spezifische psychotherapeutisch wirksame<br />

Massagetechniken. Ihre Kinder Mona-Lisa, Ebba und Paul Boyesen entwickelten die<br />

biodynamische Arbeit ihrer Mutter mit eigenen Schwerpunkten weiter.<br />

Deep Draining. Deep Draining ist eine tiefe, psychodynamisch wirksame Muskelmassage, die von Gerda<br />

Boyesen (1987) aufbauend auf die dynamische Physiotherapie von Adel Bülow-Hansen entwickelt wurde. Es<br />

ähnelt dem Rolfing (auch: „Strukturelle Integration“), das die US-amerikanische Biochemikerin Ida Rolf (1896-<br />

1979) in den 1960er Jahren entwickelt hat. Deep Draining dient dazu, die in chronisch verhärteten Muskelpartien<br />

eingeschlossenen Emotionen, Impulse und Erinnerungen zu befreien, um die abgewehrten Dynamiken der<br />

emotionalen Zirkulation zuzuführen. Deep Draining ist besonders geeignet für Klienten, die aufgrund einer<br />

rigiden Muskelpanzerung Schwierigkeiten haben, sich selbst zu spüren, und die daher in der Therapie dazu<br />

neigen, in rationalisierender Oberflächlichkeit zu verharren. Wenn solche Klienten über einen längerten<br />

Zeitraum (etwa einige Monate) hinweg regelmäßig tiefe Muskelmassage erhalten, lockert sich allmählich ihr<br />

Panzer. Der Körper des Klienten wird weich und emotional durchlässig. Er kommt mehr mit sich selbst in


30<br />

Kontakt. Die unter der muskulären Abwehrpanzerung verborgenen Emotionen kommen an die Oberfläche<br />

seines Gewahrseins können psychotherapeutisch bearbeitet werden. Darüber hinaus wirkt jede einzelne Sitzung<br />

tiefer Muskelmassage vitalisierend, mobilisierend und befreiend. Der Klient hat danach das Gefühl, ein Stück<br />

inneres Gefängnis losgeworden zu sein.<br />

Technik. Die Technik des Deep Draining besteht darin, dass der Therapeut in einer festgelegten Abfolge von<br />

Griffen in allen wichtigen Muskelpartien des Körpers verhärtete Muskelstränge massiert. Dabei wendet er einen<br />

Massagegriff an, der dem Anschlagen einer Gitarrensaite ähnelt, so dass beim Klienten ein reflektorischer<br />

Einatemimpuls ausgelöst wird. Ein mit dieser Technik unerfahrener Klient hält ab einer bestimmten Massage-<br />

Intensität instinktiv den Atem an und verspannt sich. Daher gibt der Therapeut dem Klienten die Anleitung, „in<br />

den Massageimpuls hinein loszulassen“ und das reflektorische Einatmen geschehen zu lassen. Auf diese Weise<br />

wird die Muskulatur gelockert, und die im Bereich von Panzerungen chronisch festgehaltene Atmung angeregt,<br />

was zu einem Abschmelzen der Muskelpanzerung führt.<br />

Anwendung. Deep Draining sollte nur von gut ausgebildeten Körperpsychotherapeuten angewandt und stets<br />

kombiniert werden mit psychotherapeutischer Arbeit zur Integration der auftauchenden Gefühle und<br />

Dynamiken, entweder innerhalb der Deep-Draining-Sitzung selbst, also während der Massage, oder durch einen<br />

Wechsel von Massage- und integrierenden Therapiesitzungen.<br />

Dynamischer Auftrieb. Die Deep-Draining-Massage lockert den Muskelpanzer und bringt abgewehrte<br />

Körperenergie ins Fließen (dynamischer Auftrieb). Bei Klienten mit schwacher Ich-Struktur und schwacher<br />

Körperabwehr kann ein zu intensiv oder zu häufig angewandtes Deep Draining zu Überflutungszuständen<br />

führen. Der Klient fühlt dann in seinem Inneren eine Überenergie, die er nicht halten und nicht zuordnen kann,<br />

mit der er nicht weiß, wohin. Er fühlt sich aufgeknackt und aufgewühlt.<br />

Beispiel: Im Rahmen meiner körperpsychotherapeutischen Ausbildung erhielt ich eine längere Serie von Deep-Draining-<br />

Massagen. Am Abend vor einer dieser Sitzungen hatte ich in der Tagesschau eine Meldung gesehen, dass in Indien ein<br />

Flugzeug abgestürzt war, wobei es 148 Tode gegeben habe. Vor der Massage konnte ich mich davon gut distanzieren. Am<br />

Ende der Massage wurde mir plötzlich das unsägliche Leid bewusst, das es für die Angehörigen schon eines einzigen Opfers<br />

einer Flugzeugkatastrophe bedeuten musste, einen geliebten Menschen zu verlieren. Dieses Leid über hundertfach konnte<br />

ich kaum ertragen. Die Massage hatte meine körperliche Schutzschicht, mit der ich mich gewohnheitsmäßig von<br />

Katastrophennachrichten dieser Art abgrenzen konnte, vorübergehend geöffnet, so dass das Leid, das mit diesen<br />

Ereignissen einhergeht, mein Inneres unmittelbar erreichte. Erst nach einigen Stunden schloss sich meine Abgrenzung<br />

wieder. Ich fühlte mich nun wieder zwar berührt, aber nicht mehr erschüttert.<br />

Ein Klient in einem solchen übermäßig geöffneten Zustand braucht feinfühlige Empathie seitens eines<br />

Therapeuten, der den latenten Fragmentierungszustand, in dem sich der Klient befindet und seine Folgen im<br />

Erleben des Klienten erfasst, dem Klienten spiegeln und erklären und ihn beruhigen kann, sowie ggf. eine<br />

erdende und ausleitende Formen von Massage.<br />

Feedback durch Bauchgeräusche. Dass ein akustischen oder elektronischen Stethoskops als<br />

Biofeedbackinstrument für bestimmte Formen der psychotherapeutischen Massage verwendet werden kann,<br />

wurde von Gerda Boyesen entdeckt. Als junge Physiotherapeutin bemerkte sie, dass in manchen Momenten<br />

während ihrer Massagesitzungen bei ihren Klienten deutlich vernehmbare Bauchgeräusche zu hören waren.<br />

Diese Klienten berichteten nach der Sitzung von einem besonders angenehmen, tief entspannten Zustand und<br />

einem Gefühl der Befreiung und Erleichterung im Vergleich zu ihrem Befinden vor der Behandlung. Boyesen<br />

begann daraufhin, während ihrer Massagebehandlungen die peristaltischen Bewegungen der<br />

Verdauungsorgane mit einem Stethoskop zu verfolgen und orientierte sich an diesen bei der Massage.


31<br />

Stethoskopmassage<br />

Psychoperistaltik. Zur Erklärung der Massagebehandlung mit Stethoskop-Feedback entwickelte Boyesen eine<br />

Theorie der Psychoperistaltik (Boyesen 1987). Durch Stethoskopmassage sei es möglich, den Organismus vom<br />

sympathischen zum parasympathischen Tonus hin umzustimmen und den Klienten körperlich und psychisch<br />

aus einer chronischen Stressposition zu einem psychosomatischen Loslassen und Verdauen von<br />

Restspannungen zu führen, was an einer Zunahme bestimmter peristaltischer Geräusche festzustellen sei.<br />

Gleichzeitig würden die selbstheilenden Fähigkeiten des Organismus und die selbstregulativen Funktion der<br />

Psyche aktiviert.<br />

Beispiel: Ein 48jähriger Klient beschreibt seinen Zustand als „überangespannt, gestresst, hektisch und aufgebracht“. Er<br />

befindet sich in einer akuten Krise, die von einem Konflikt am Arbeitsplatz ausgelöst wurde. Sein Gesicht ist gerötet und wirkt<br />

aufgequollen. Seine Stirn und seine Wangen sind heiß, seine Hände und Füße sind kühl. Sein Körperenergiesystem wirkt wie<br />

ein Heißluftballon, der nach oben steigt. Seine Körperenergie sammelt sich im Kopfbereich, weil sie keine angemessene<br />

Möglichkeit der Entladung oder Beruhigung findet. Ich bitte den Klienten, sich auf den Massagetisch zu legen, lege ihm ein<br />

Stethoskop auf den Bauch und massiere 40 Minuten lang seinen Kopf, seine Hände und seine Füße. Während der Massage<br />

höre ich im Stethoskop ein dauerhaftes, lautes Gurgeln. Der Kopf des Klienten wird kühler, die Ödem-artigen Schwellungen im<br />

Gesicht nehmen ab, Hände und Füße werden warm, Atmung und Herzschlag beruhigen sich. Am Ende der Sitzung sagt der<br />

Klient: „Ich fühle mich viel ruhiger … als ob ich innerlich wieder auf dem Teppich bin.“<br />

Wirkung. Wenn die Stethoskopmassage über einen längeren Zeitraum angewandt wird, schmilzt sie die<br />

Abwehrstauungen in den Geweben des Körpers allmählich ab und öffnet auf sanfte Weise die<br />

Wahrnehmungskanäle des Klienten nach innen und nach außen. Auch diese Massageform sollte durch<br />

integrierende Psychotherapie begleitet werden, denn auch sanft schmelzende Massage wirkt längerfristig<br />

entpanzernd und kann, vor allem wenn im Untergrund hoch geladenes, abgewehrtes Material lagert, zu<br />

Überflutungszuständen führen.<br />

Weitere körperpsychotherapeutische Techniken<br />

Sonden. Unter einer Sonde (Kurtz 1985) versteht man in der <strong>Körperpsychotherapie</strong> die Aufforderung an den<br />

Klienten, zu beobachten, was emotional im Körper als Reaktion auf etwas geschieht, was der Therapeut oder der<br />

Klient tut oder sagt (Kurtz 1985). Sonden dienen dazu, Reaktionen, die normalerweise automatisch und<br />

unbewusst ablaufen, ins Bewusstsein zu bringen.


32<br />

Verbale Sonden sind Schlüsselsätze oder -worte, also beziehungsorientierte Aussagen, die dazu dienen,<br />

das Empfinden des Klienten versuchsweise auf den Begriff zu bringen, um abgewehrten Anteile zu<br />

stimulieren oder um emotionale Reaktionen im Klienten auszulösen.<br />

Beispiel: Ein Einzelklient leidet unter Depressionen, Energie- und Antriebsmangel und einem unerfüllbaren Leistungsdruck.<br />

Er sagt: „Gelobt wurde ich von meinen Eltern nur, wenn ich besonders gute Schulnoten nach Hause brachte. Eine 1 war nicht<br />

ausreichend, es musste eine 1 plus sein.“ Ich bitte den Klienten, sich auf sein Inneres zu fokussieren und langsam den Satz<br />

zu sprechen: „Ich habe das Recht, glücklich zu sein.“ Er sagt den Satz einige Male und variiert ihn dann in: „Ich habe so ein<br />

ungeheures Bedürfnis, glücklich zu sein.“ Er weint und spricht über sein tiefes Bedürfnis, sich unabhängig von Leistung<br />

angenommen zu fühlen.<br />

Bei nonverbalen Sonden führt der Therapeut statt eines Satzes eine Handlung aus, oder er bittet den<br />

Klienten, eine Handlung auszuführen, zum Beispiel seine Haltung zu verändern oder ein Gefühl durch<br />

eine Geste auszudrücken und zu beobachten, was darauf hin in seinem Inneren geschieht. Auch eine<br />

Berührung oder das körperliche Stimulieren einer Bewegung kann als Sonde dienen. Der Therapeut<br />

kann z.B. einer angedeuteten Ausdrucksgeste des Klienten einen körperlichen Widerstand<br />

entgegensetzen, um den Klienten zu ermutigen, die Ausdrucksbewegung zu verstärken.<br />

Beispiel: Ein Klient berichtet über ein krampfartiges Brennen im Oberbauch. Er wurde mehrfach gastroskopisch untersucht<br />

und wird medizinisch mit säuredämpfenden Mitteln und mit Antibiotika gegen Heliobacter behandelt. Dennoch spürt er, vor<br />

allem in akuten Belastungssituationen, noch immer Krampfgefühle in der Oberbauchregion. Ich bitte ihn, sich auf den Rücken<br />

auf eine Matratze zu legen. Seine Beine wirken verkrampft. Die Bauchregion wirkt angespannt. Ich hebe als Körper-Sonde sein<br />

linkes Bein und drücke gegen seine Fußsohlen, so dass sein Knie in Richtung Bauch wippt. In dem Klienten entsteht der<br />

Impuls, gegen den Druck meiner Hand zu treten. Nach kurzer Zeit beginnt der Klient, abwechselnd mit beidem Beinen nach<br />

unten in die Luft zu treten. Ich stelle ihm einen großen Schaumstoffklotz hin, gegen den er treten kann und stütze diesen mit<br />

meinem Körpergewicht ab. Der Klient tritt etwa zehn mal mit zunehmender Intensität gegen den Schaumstoffklotz, dabei<br />

wölbt sich sein Körper nach oben und die Bauchregion streckt sich. Danach sagt er: „Mein Bauch fühlt sich jetzt viel freier an.“<br />

Durch die Körper-Sonde wurde der Tret-Impuls ausgelöst, und ein zurückgehaltener Ausdrucksimpuls wurde befreit, was eine<br />

emotionale Stauung in der Bauchregion lockerte.<br />

Übernehmen von Abwehrspannungen. Unterdrückte Gefühle und Impulse können verstärkt und dem<br />

Bewusstsein zugänglich gemacht werden, indem der Therapeut die körperlichen Abwehrmuster des Klienten<br />

„übernimmt“ und damit als Gegenregulation den unterdrückten Ausdrucksimpuls stimuliert. Die Technik des<br />

Übernehmens körperlicher Abwehrspannungen basiert auf dem Gedanken, dass in einem homöostatischen<br />

System die Verstärkung einer Seite eines Gleichgewichts eine Gegenregulation auf der anderen Seite<br />

hervorbringt. Das kann dadurch geschehen, dass der Therapeut mit seinen Händen mit dem Körper des Klienten<br />

das tut, was der Klient gewohnheitsmäßig selbst tut. Wenn ein Klient z.B. habituell die Schultern nach vorn<br />

zusammenzieht, um sein Herz zu schützen, kann der Therapeut die Schultern des Klienten nach vorn<br />

zusammendrücken, also die Spannung des Klienten übernehmen, so dass der Klient die Schultern loslassen<br />

kann. So können auch solche Muskelpartien gelockert werden, die durch bewusstes Loslassen des Klienten oder<br />

durch Massage seitens des Therapeuten nicht erreicht werden können.


33<br />

Übernehmen von Abwehrspannungen<br />

Explizitation. Als Explizitation wird eine Technik bezeichnet, bei der der Klient aufgefordert wird, eine spontane,<br />

nonverbale Ausdrucksgeste in eine verbale Mitteilung umzuwandeln. Der Therapeut bittet den Klienten, die<br />

Botschaft einer Ausdrucksgeste mit Worten auszudrücken, um explizit mitzuteilen, was vorher nur nonverbal<br />

ausgedrückt wurde.<br />

Beispiel: Eine Klientin hält über längere Zeit mit ihrer linken Hand ihr rechtes Handgelenk fest. Ich bitte sie: „Fühl mal, was<br />

deine linke Hand gerade mit deiner rechten tut … Wenn dein rechtes Handgelenk sprechen könnte, was würde es sagen?“ Die<br />

Klientin sagt (als rechtes Handgelenk): „Du tust mir weh, lass mich los.“ Eine Beziehungsdynamik beginnt zu sprechen.<br />

Extrojektion. Extrojektion ist eine körperpsychotherapeutische Technik, die darin besteht, dass der Therapeut<br />

den Klienten auffordert, mit ihm, dem Therapeuten, das zu tun, was der Klient normalerweise automatisiert mit<br />

sich selbst tut.<br />

Beispiel: Eine Klientin berichtet über ein eingeklemmtes Gefühl in der Herzgegend, was sie daran hindert, durchzuatmen. Sie<br />

sitzt auf dem Boden und hat den Kopf eingezogen, in einer Haltung, die mich an eine Schildkröte erinnert. Ihre Körperhaltung<br />

wirkt, als läge ein schweres Gewicht auf ihrem Nacken. Ich stelle mich hinter sie, lege meine Hände in ihren Nacken und<br />

drücke ihren Nacken leicht nach unten. Ich frage: „Wie fühlt sich das an?“ Sie antwortet: „Das ist noch viel zu schwach.“ Ich<br />

drücke allmählich fester werdend die Nackenregion der Klientin nach unten, übernehme also mehr und mehr die habituelle<br />

Zusammengedrücktheit der Klientin mit meinen Händen. Nach einer Weile spüre ich einen Aufrichtungsimpuls, also einen<br />

Druck des Oberkörpers der Klientin gegen meine Hände nach oben. Ich gebe diesem Impuls Widerstand, halte also mit<br />

meinen Händen gegen den Aufrichtungsimpuls, damit die Klientin die Kraft ihres Impulses deutlich erleben kann. Langsam<br />

arbeitet die Klientin sich gegen den Druck meiner Hände in eine aufrechte Position empor, findet schließlich zu einer stolzen,<br />

selbstbewussten Körperhaltung mit dem „Gefühl, Belastungen standhalten zu können“. In der nächsten Sitzung ist wieder<br />

das Gefühl von Niedergedrücktheit Thema. Diesmal setze ich mich auf den Boden und bitte die Klientin, mich auf die selbe<br />

Weise niederzudrücken, wie sie das gewohnheitsmäßig mit sich selbst tut und Sätze dabei entstehen zu lassen, die dazu<br />

passen. Sie drückt meine Nackengegend nach unten und sagt: „Ich mache dich klein … Du hast hier überhaupt nichts zu<br />

melden.“ Sie drückt die Beziehungsdynamik ihres Körpermusters auf extrojizierte Weise aus.


34<br />

Extrojektion<br />

Biodrama. Als „Biodrama“ wird eine Technik des körperorientierten Rollenspiels bezeichnet. Es handelt sich um<br />

eine Verbindung von Techniken aus Körperarbeit, Psychodrama, Gestalttherapie, NLP und Hypnotherapie. Im<br />

Kern wird körperpsychotherapeutische Arbeit innerhalb eines psychodramatischen Settings durchgeführt. Oft<br />

werden Schlüsselsituationen aus der Lebensgeschichte des Klienten nachgespielt, wobei der Klient in eine<br />

Altersregression hineingeführt wird, oder es werden schwierige künftige Ereignisse vorweggenommen. Der<br />

Schwerpunkt der Interaktion liegt dabei im körperlichen Bereich. Der Klient, der Therapeut und ggf. andere<br />

Gruppenteilnehmer drücken die Gefühle, Impulse und Zustände ihrer Rollen körperlich aus und interagieren auf<br />

körperliche Weise miteinander.<br />

Beispiel: In einer Fortbildungsgruppe berichtet eine Teilnehmerin, dass sie Schwierigkeiten habe, sich zu entspannen, weil<br />

immer, wenn sie das versucht, unbegründete Katastrophenängste sie wie „Wadenbeißer“ in Anspannung versetzen. Ich bitte<br />

sie, den Versuch sich zu entspannen sowie den „Wadenbeißer“ räumlich aufzubauen. Sie wählt für jeden Anteil eine<br />

zusammengefaltete Decke und platziert die Decken verteilt im Raum. Sie legt sich am Ort der Entspannung auf den Boden mit<br />

einem Kissen unter dem Kopf und zugedeckt mit einer weiteren Decke. Ich führe sie suggestiv in Stück weit in die<br />

Entspannung hinein. Als sie beginnt, sich zu entspannen, stelle ich ihr linkes Knie hoch und zwicke sie überraschend in die<br />

Wade. Sie schreckt hoch und sagt: „Ja, genauso ist es immer.“ Im weiteren Verlauf der Sitzung spielt die Teilnehmerin selbst<br />

den Wadenbeißer und „beißt“ mich mit ihrer Hand in meinen Oberarm, so dass ich „zusammenschrecke“. Der Wadenbeißer<br />

verwandelt sich in einen frechen kleinen Kobold, dann in ein kleines Mädchen, das Aufmerksamkeit und Grenzen von Mama<br />

und Papa einfordert. Das Biodrama beginnt eine lebensgeschichtliche Perspektive zu öffnen.


35<br />

Der körperpsychotherapeutische Prozess

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