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Jörg Karweick | RÖNUM

Leseprobe aus dem Roman »Rönum« von Jörg Karweick, erschienen 2015 bei O'Connell Oress

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<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong> | <strong>RÖNUM</strong>


Über das Buch:<br />

Der Leuchtturm, ein düsteres, riesiges Ungetüm.<br />

Er sendet sein Signal aus. Mensch, Tier und Wasser spielen verrückt.<br />

Gibt es einen Zusammenhang Und was ist eigentlich Rönum<br />

Ein abgelegenes Dorf an der Nordsee. Der Sommer neigt sich dem<br />

Ende zu. Rodacher ist zurückgekehrt, um im Ort seiner Kindheit das<br />

Reisebüro seines Vaters weiterzuführen. Doch jetzt, da die Nächte kalten<br />

Nebel von den Feuchtwiesen aufsteigen lassen und die Touristen<br />

verschwinden, kehren dunkle Bilder aus seiner Kindheit zurück und<br />

mit ihnen die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, für immer von<br />

hier fortzubleiben.<br />

Erst scheinen die Schafe den Verstand zu verlieren, dann verschwindet<br />

Rodachers langjährige Mitarbeiterin Maria Feinworth. Auf der Suche<br />

nach ihr entdeckt er, dass eine dunkle, geheimnisvolle Macht vom<br />

Leuchtturm und seinem Wärter ausgeht, der sich niemand entziehen<br />

kann. Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf.<br />

Über den Autor:<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong> ist 1965 in Hamburg geboren, studierte Anglistik und<br />

Hispanistik. Heute lebt er in Berlin. Bislang veröffentlichte er Kurzprosa,<br />

Krimis, Phantastik und Geschichten aus dem Mittelalter in zahlreichen<br />

Anthologien. Dies ist sein erster Roman.


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

<strong>RÖNUM</strong><br />

Roman


1. Auflage<br />

Copyright © 2015 by O‘Connell Press<br />

Sie finden uns im Internet unter www.OConnellPress.de<br />

Deutsche Erstausgabe 2015 by O‘Connell Press, Weingarten<br />

Titelillustration: © szefei/Shutterstock.com<br />

Umschlaggestaltung: O‘Connell Press<br />

Datenkonvertierung: O‘Connell Press<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

Herstellung: BoD, Books on Demand, Norderstedt<br />

ISBN 978-3-945227-17-6<br />

Urheberrechtshinweis:<br />

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk darf nicht, auch nicht in Auszügen, in<br />

irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert,<br />

vervielfältigt und verbreitet werden.


Rönum<br />

Abreisetag<br />

Der Polizeibeamte lächelte. Aber es war ein kaltes<br />

Lächeln, pflichtbewusst, und seine Stimme<br />

klang mechanisch, als er meine Personalien vorlas. Ganz klar, er<br />

wollte es schnell hinter sich bringen und von hier fort.<br />

»Name: Brigitte Sand.<br />

Alter: fünfunddreißig Jahre.<br />

Beruf: kaufmännische Angestellte.<br />

Familienstand: ledig.<br />

Zurzeit wohnhaft: Ferienpension ‚Haus Ebbe und Flut‘,<br />

Rönum.«<br />

Das Ganze trug die Überschrift »Protokoll«. Und auch wenn<br />

ich diese wenigen Tatsachen über mich schon wusste, gaben sie mir<br />

doch etwas Halt, als er mich bat, alles noch einmal zu erzählen, viel<br />

sei es ja nicht, er würde gleich mitschreiben.<br />

Es war also nicht viel, wie beruhigend, dazu passte<br />

jedenfalls, dass die Polizisten mit der regulären Fähre vom<br />

Festland herübergekommen waren. Ich hatte mir ihren<br />

Aufmarsch spektakulärer vorgestellt, aber so war es wohl am<br />

kostengünstigsten.<br />

Sie brachten ihr gesamtes Team mit, alle Gerätschaften, Absperr-<br />

band, als wenn es einen Menschenauflauf zu ver-<br />

7


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

hindern gegolten hätte auf Rönum, ich fand das<br />

maßlos übertrieben – aber ich bin wahrscheinlich<br />

die Letzte, die noch zu einer nüchternen Betrachtung fähig<br />

ist – Fotoapparate, die altertümliche Schreibmaschine, sogar<br />

das Papier. Mich hätte nicht gewundert, wenn sie sogar ein<br />

Ersatzfarbband dabei gehabt hätten. Und natürlich den Sack für<br />

die Leiche.<br />

So kamen sie mit den letzten Feriengästen der Saison herüber<br />

und so fuhren sie auch wieder zurück. Nur dass da der Sack voll<br />

war.<br />

Das ist vielleicht eine merkwürdige Formulierung, aber ich stehe wohl<br />

noch unter Schock, womit ich keinesfalls entschuldigen will, dass ich<br />

pietätlos klinge, vielmehr möchte ich betonen, dass es eben das erste<br />

Mal war, dass ich auf einem Strandspaziergang eine Leiche gefunden<br />

habe, obwohl ich schon viele Strandspaziergänge gemacht hatte in<br />

meinem Leben.<br />

Jedenfalls nahmen sie meine Aussage im Frühstückszimmer<br />

der kleinen Pension zu Protokoll. Die alte Wirtin brachte<br />

Kaffee und murmelte dabei: »Ach, meine Güte, meine Güte«, und<br />

»Die arme Kleine«.<br />

Damit meinte sie mich.<br />

Der Polizist nahm einen Schluck und sah mich dann<br />

erwartungsvoll an.<br />

Währenddessen war es im Zimmer still, fünf stumme Tische<br />

standen da, mit beigefarbenen Tischdecken, auf denen geblümte<br />

8


Rönum<br />

Salz- und Pfefferstreuer standen, und zu hören waren nur die<br />

gleichmäßigen Anschläge auf der Schreibmaschine sowie das<br />

Ticken der alten Wanduhr.<br />

Die hatte schon immer da gehangen und schon immer so<br />

getickt, tick, tack, tick, tack. Als Kind hatte ich mich bei diesem<br />

Klang behaglich gefühlt, aber heute Vormittag, dem steifen<br />

Polizeibeamten gegenüber, trieb er mich in den Wahnsinn. Die<br />

Zeit verging nicht. Sie stand.<br />

Dann begann ich zu erzählen und er begann zu tippen, nur mit<br />

den beiden Zeigefingern tippte er.<br />

Ab und an stellte er eine Frage, ich antwortete, er tippte weiter.<br />

Langsam, rhythmisch. Dieses dumpfe Tippen verbreitete sich im ganzen<br />

Raum, und selbst wenn es zwischendurch aussetzte, weil der Polizeibeamte<br />

einen Buchstaben suchte, so setzte es anschließend<br />

umso durchdringender wieder ein. Erst gab es einfach<br />

einen Takt vor, dem sich die wirren Bilder in meinem<br />

Kopf unterordneten, sodass die Erinnerungen, eine nach der<br />

anderen, ordentlich hervorkrochen. Dann folgte sogar meine<br />

Sprache dem Rhythmus der Anschläge auf dem Farbband, bis ich<br />

sogar das Gefühl bekam, ich würde Wort für Wort nacherzählen,<br />

was er gerade zuvor aufschrieb.<br />

Und selbst wenn ich kurz schwieg und überlegte, hörte das<br />

Tippen nicht auf. Dann war mir, als wenn es wie ein stetiges<br />

Wassertropfen auf meinen Schädel prallte. Und ihn irgendwann<br />

durchdrang.<br />

Wir saßen an dem Tisch direkt am Fenster, an dem ich am<br />

Morgen noch gefrühstückt hatte, starken Kaffee, zwei Brötchen,<br />

9


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

eines mit geschmacklosem, löchrigem Käse, das andere mit<br />

Erdbeermarmelade, dazu ein weich gekochtes Ei. Der Beamte<br />

hatte den Salzstreuer links, den Pfefferstreuer rechts von seinem<br />

Schreibungetüm aufgestellt, wie Schutzengel, schoss es mir durch<br />

den Kopf, welch ein Unsinn, und ich sah durch das Fenster über den<br />

kleinen Garten auf den Deich, über dem weiße Schäfchenwolken<br />

am Himmel grasten, als wäre nichts passiert.<br />

Irgendwann fiel mir auf, dass es noch ein Geräusch gab: Die<br />

Atemzüge des alten Mannes, der bewegungslos an einem Tisch in<br />

der Ecke saß.<br />

Es war der Mann der Wirtin oder so. Zumindest war er bei<br />

meinem letzten Aufenthalt hier vor dreißig Jahren plötzlich da<br />

gewesen und meine Eltern, die ich gleich nach meiner Ankunft<br />

in der Pension angerufen hatte, konnten sich noch lebhaft<br />

an ihn erinnern, was ich dem missbilligenden Schweigen am<br />

anderen Ende der Telefonleitung entnahm, als ich ihnen von den<br />

Wirtsleuten erzählte. Sie waren sowieso dagegen gewesen, dass ich<br />

auf ein paar Tage hierherfuhr. Natürlich war auch das ganz und gar<br />

unausgesprochen.<br />

Was nun den alten Mann anbelangte, fand ich nur merkwürdig,<br />

dass der Polizist ihn nicht hinausschickte. Im Grunde<br />

hatte ich das Gefühl, dass er ihn gar nicht bemerkte, was trotz<br />

seiner stattlichen Größe von knapp zwei Metern und seiner<br />

breiten Schultern nicht weiter verwunderlich war, denn er war<br />

unauffällig grau gekleidet und seine Haut schien sich stets der<br />

Farbe der Umgebung anzugleichen. Ging er tags auf dem Deich,<br />

schimmerte sie wässrig blau wie der Himmel, jetzt wässrig beige<br />

10


Rönum<br />

wie der Tisch, an dem er saß, immer wässrig, und am Strand<br />

wäre ich neulich fast gegen ihn gelaufen, so sehr hatte der Sand<br />

durch ihn durchgeschimmert. Nur nachts, da hatte ich ihn<br />

einmal im Garten gesehen, da blinkten seine Augen, im Takt,<br />

wie dieses Leuchtturmsignal in der Ferne, nur dass seine Augen<br />

ganz nah waren.<br />

Rot leuchteten sie. Fand ich. Und quollen ein wenig hervor, fast<br />

wie bei einer Echse.<br />

Am Strand hatte ich als Kind stundenlang mit<br />

Plastikschaufeln im Sand gebuddelt, bis von unten Wasser in<br />

die Löcher im Sand aufgestiegen war. Die Quallen mit bloßen<br />

Händen aufzusammeln und sie aufeinanderzulegen wie bunt<br />

schillernden Wackelpudding, hatte mir unendlichen Spaß<br />

gemacht. Natürlich hatte ich mich damals auch ab und zu an<br />

ihren Nesseln verbrannt und dann geheult. Aber die Freude<br />

daran, diese schleimigen Massen aufgeschichtet zu sehen, rot,<br />

gelb und blau glänzend, hatte überwogen.<br />

Wirklich traurig wurde ich als Kind nur, wenn die Sonne<br />

sie auszutrocknen begann und sie schrumpften und ineinander<br />

versanken und sich auflösten.<br />

Dass sie dabei starben, wusste ich nicht. Ebenso wenig, wie<br />

es mir klar gewesen war, dass sie zuvor gelebt hatten. Obwohl<br />

meine Eltern es mir immer wieder erklärt hatten, waren die<br />

Quallen für mich keine Tiere. Anders als die Seepferdchen.<br />

Wenn ich ein totes Seepferdchen am Strand fand, musste ich<br />

weinen, und zwar noch bitterlicher, als wenn die schönen<br />

Quallenberge in der Sonne vergingen.<br />

11


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

In diese Wärme, die der Sand selbst an Schlechtwettertagen<br />

ausstrahlte, hätte ich mich am liebsten eingegraben. Im Grunde<br />

habe ich mich immer danach zurückgesehnt. Ich erinnere<br />

mich, wie ich in den ersten Jahren nach unserem letzten Besuch<br />

dort meine Eltern fragte, wann wir wieder auf die Insel fahren<br />

würden.<br />

Die Antwort war eisiges Schweigen gewesen. Nur einmal hatte<br />

es geheißen: »Wir mögen es da nicht mehr.« Selbst den Namen<br />

Rönum nahmen sie nie mehr in den Mund.<br />

Aber ich habe die Insel nicht vergessen können.<br />

Doch das hätte ich besser getan.<br />

Auf die Leiche stieß ich heute Morgen, gleich nach dem Frühstück.<br />

Bis dahin hatte ich eine Woche lang auf meinen Spaziergängen<br />

dem sanften Wellenrauschen gelauscht und morgens bei Ebbe wie<br />

ein kleines Kind neugierig nachgeschaut, was die nächtliche Flut<br />

an Land gespült hatte.<br />

Jede Muschel hatte ich hochgehoben und darunter wer weiß<br />

was für Wunder vermutet, zahllose glänzende Kieselsteine ins<br />

Wasser zurückgeworfen und mich diebisch gefreut, wie sie dort<br />

untergingen. Und wenn früh abends die Flut zurückkehrte, hatte<br />

ich mich wie gebannt über meine eigenen Fußabdrücke im Sand<br />

gebeugt und zugesehen, wie das Wasser aus der Tiefe in das Negativ<br />

meiner Zehen und Fersen stieg und es langsam verschlang.<br />

Eine Woche, in der ich mich auf meinen Wanderungen am<br />

Wasser aber auch fragte, warum meine Eltern Rönum totschwiegen.<br />

Diese Insel war so voll von Erinnerungen für mich gewesen,<br />

12


Rönum<br />

doch immer wenn ich davon hatte reden wollen, hatte meine<br />

Mutter den Finger auf ihre gespitzten Lippen gelegt, die Augen<br />

geschlossen und »Scht« gemacht. Bis ich es mir abgewöhnt hatte.<br />

Als braves Mädchen dachte ich, dass sie mich vor irgendetwas<br />

bewahren wollten. Aber wovor wollen Eltern einen eigentlich<br />

bewahren<br />

Hier gab es nichts, was gefährlich wirkte oder auch nur<br />

unheimlich. Auch nicht heute früh. Ich ging über den Deich,<br />

durch die Dünen, den Strand entlang, sah die gleißende<br />

Morgensonne auf den Wellen und auf dem feuchten Sand tänzeln<br />

und hielt Ausschau nach meinen Muscheln und Steinen, als ich<br />

die angespülte Schaufensterpuppe sah. Sie lag ordentlich auf<br />

dem Rücken, die Kleidung war nass, aber makellos. Erst als ich<br />

näherkam und sah, dass Hände und Gesicht aufgedunsen waren,<br />

merkte ich, dass ich dabei war, in einem Albtraum zu versinken.<br />

13


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

Rönskoog,<br />

27. August, 00.57 Uhr<br />

Rodacher hörte einen Schrei, riss die Augen auf – und<br />

starrte in die Dunkelheit. Sie war mit einem dicken Pinsel<br />

gezogen, ohne Abstufungen oder Grautöne, einfach tiefschwarz<br />

und schwer. Obwohl die rote Digitalanzeige des Radioweckers<br />

durchs Schlafzimmer schimmern müsste und obwohl er die<br />

Vorhänge extra offen gelassen hatte, damit das Signal des<br />

Leuchtturms hereinschiene, alle fünfzehn Sekunden, war es<br />

einfach nur dunkel. Undurchdringlich.<br />

Rodacher zählte, einundzwanzig, zweiundzwanzig,<br />

dreiundzwanzig. Sein Herz klopfte und sein Atem raste.<br />

Er spürte ein Pochen in seinem Kopf. Siebenundzwanzig,<br />

achtundzwanzig, neunundzwanzig. Im Schlaf hatte er diesen<br />

dumpfen Schrei gehört und nun war er hellwach, starrte in<br />

absolutes Dunkel, hatte seinen Atem nicht unter Kontrolle und<br />

der trieb seinen Herzschlag vor sich her. Schweiß rann ihm von<br />

der Stirn. Zweiunddreißig, dreiunddreißig. Wieder pochte es<br />

zwischen den Schläfen, das war das Grausen.<br />

Jetzt war kein Schrei mehr zu hören, überhaupt nichts hörte<br />

er, genauso wenig wie er etwas sah. Noch zwei Sekunden bis zum<br />

Leuchtsignal. Vierunddreißig, fünfunddreißig – nichts.<br />

Finsternis.<br />

14


Rönum<br />

Er keuchte flach. Und zählte weiter, doch das Signal blieb<br />

aus. Die Hände zu Fäusten verkrampft, die Fingernägel in die<br />

Handflächen gebohrt, erstarrte nun sein Gesicht. Kiefer und<br />

Wangen brannten. Die Luft wurde dick. Zwei Dinge gingen ihm<br />

auf: So schweißgebadet war er, dass sein Pyjama ihm an der Haut<br />

klebte und – er lag nicht in seinem eigenen Bett. Es gab keinen<br />

Zweifel, Rodacher lag überhaupt nicht. Er stand.<br />

Rodacher japste und röchelte, unfähig sich zu rühren.<br />

Dann durchfuhr ihn der zweite Schrei, dumpf wie der erste, ein<br />

quälender Laut und jetzt war es ganz sicher: Der Schrei kam aus<br />

Rodachers eigener Brust. Als wenn ich im Traum schreie, aber es ist<br />

kein Traum, schoss es ihm noch durch den Kopf, als es plötzlich<br />

über ihn hereinstürzte. Von allen Seiten langte es gleichzeitig nach<br />

ihm, schwer, staubig, kratzte ihn, umklammerte ihn, legte sich<br />

ihm aufs Gesicht, auf Mund und Nase, raubte ihm den Atem,<br />

schlang sich ihm zwischen Beine und Arme. Stoffbahnen, von<br />

allen Seiten, grobe, feine, glatte, raue, alle drohten ihn zu fesseln<br />

und zu ersticken. Rodacher wankte, stolperte rückwärts gegen eine<br />

Wand. Und dann platzten die Schreie unkontrollierbar aus ihm<br />

hervor mit einer Wucht, die ihm beinah die Lunge zerriss.<br />

Wild schlug er um sich, verfing sich in Jackenärmeln,<br />

Hosenbeinen und Krawatten. Etwas Spitzes stach ihm ins Auge.<br />

Vor Schmerz jaulte er auf. Er wollte sich mit dem Gewicht seines<br />

Körpers zu den Seiten hin werfen, aber schon steckte er fest in<br />

all diesen Stoffmassen, nur noch den Kopf konnte er bewegen.<br />

Sein Herz raste. Es gab nur einen Ausweg: Nach vorn! Wieder<br />

eine Wand. Er hämmerte mit dem Kopf dagegen und hoffte, dass<br />

15


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

es die Tür war. Er musste aus dem Kleiderschrank heraus, sofort,<br />

bevor ihm das Herz aus dem Brustkorb sprang. Mit einem letzten<br />

Ächzen prellte er seinen Schädel noch einmal gegen die Schranktür,<br />

sodass sie endlich aufsprang, und fiel mit Mänteln, Hosen und<br />

Kleiderbügeln krachend auf den Holzfußboden.<br />

Regungslos lag er da, während der Aufprall zwischen seinen<br />

Schläfen nachhallte. Ihm war schwindlig und er konnte nicht<br />

ausmachen, ob ihm wirklich schwarz vor Augen war oder ob er<br />

die Lider geschlossen hielt. Der Schmerz war zu stark.<br />

Schließlich drehte Rodacher sich auf den Rücken und sah<br />

einen roten Schimmer durch die Luft wabern, er erkannte die<br />

Umrisse des Betts, des Nachtschranks, des Radioweckers darauf<br />

und des Glases mit Leitungswasser, das er sich, wie jeden Abend,<br />

dorthin gestellt hatte. Dann wurde sein Atem ruhiger.<br />

Irgendwann sah er das Zimmer ins gelbe Licht des<br />

Leuchtturms getaucht, dreimal nacheinander, für je eine<br />

Sekunde. Er schaffte es aufzustehen, trotz des Hämmerns in<br />

seinem Kopf und des stechenden Schmerzes in seinem linken<br />

Auge. Rodacher sah seine zerwühlte Bettdecke und trat ans<br />

Fenster: Nichts, nur dichter Nebel, der an der Scheibe klebte.<br />

Nach fünfzehn Sekunden kam wieder das Leuchtturmsignal,<br />

schwächer als gewöhnlich, fand er, der Nebel dort draußen fraß<br />

die Welt auf.<br />

Und er blieb allein zurück.<br />

Seit sechsunddreißig Jahren war er nicht mehr im Kleiderschrank<br />

aufgewacht, seit seinem neunten Geburtstag, um genau zu sein.<br />

Und jetzt fing alles wieder an.<br />

16


Rönum<br />

Der Nebel rann in schweren Tropfen an der Scheibe herab.<br />

Diese Glasscheibe gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, doch wusste<br />

er, dies war nichts als kindliche Illusion. Er sah sein Gesicht<br />

gespiegelt, nicht auf dem Fensterglas, auf den herabrinnenden<br />

Tropfen. Rodacher als kleiner Junge, mit Tränen in den Augen<br />

weinte er sich selber zu. Dieses Kaff, wenn er nicht aufpasste, würde<br />

er wahnsinnig werden in diesem gottverdammten Kaff. Er legte<br />

sich ins Bett und fing sofort zu zittern an. Krämpfe schüttelten<br />

seinen Körper und ihm war kalt. Außerdem bemerkte er, dass seine<br />

Kehle ausgetrocknet war und brannte.<br />

Mit Mühe griff er zum Wasserglas, es war fast leer. Er musste<br />

daraus getrunken haben, bevor er zu schlafwandeln begonnen<br />

hatte, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Nur noch ein<br />

kleiner Schluck war darin, den er mit zitternden Händen zum<br />

Mund führte. Gierig trank er – und spuckte das Wasser sofort<br />

wieder aus. Es schmeckte ekelhaft. Er konnte nicht sagen, ob bitter<br />

oder nach Mineralien oder einfach abgestanden. Das war ja auch<br />

kein Wunder, so wie es ihm ging in dieser Nacht!<br />

Rodacher stellte das leere Glas auf den Nachtschrank zurück,<br />

drehte sich und leckte sich noch eine Zeit lang mit der Zunge<br />

diesen widerlichen Geschmack vom pelzigen Gaumen. Allmählich<br />

gewöhnte er sich daran. Es beruhigte ihn sogar. Und mit dem<br />

verschwommenen Gedanken, dass er diesen Geschmack heute<br />

schon einmal in seinem Mund gehabt hatte, schlief er ein.<br />

17


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

Rönskoog,<br />

27. August, 00.58 Uhr<br />

Das Telefon riss Maria Feinworth aus dem Schlaf. Sie langte<br />

durchs Dunkel nach dem neuen, batteriebetriebenen<br />

Wecker auf dem Nachtschrank. Ihre Hand war schwer, die<br />

Finger steif, im Grunde schlief sie noch. Mühevoll zog sie dieses<br />

Plastikgerät vor ihre Augen und versuchte, den Knopf für die<br />

Zifferblattbeleuchtung zu ertasten. Es war ein billiges Teil, eine<br />

Notlösung, die sie sich vorgestern auf dem Heimweg vom Büro bei<br />

Grawens besorgt hatte, weil ihr Aufziehwecker über Nacht stehen<br />

geblieben war.<br />

Und er hatte sich nicht mehr aufziehen lassen, dabei hatte sie<br />

alles versucht.<br />

Das Telefon klingelte noch immer.<br />

Glücklicherweise hatte sie nicht verschlafen, vorgestern. Sie<br />

wachte immer um sechs Uhr auf, mehr als rechtzeitig, noch bevor<br />

der Wecker losging, ihre innere Uhr war da völlig im Lot. Kurz<br />

hatte sie deswegen sogar mit dem Gedanken gespielt, sich gar<br />

keinen neuen Wecker zu kaufen, hatte es für eine überflüssige<br />

Geldausgabe gehalten. Aber das war natürlich verrückt. Man<br />

brauchte ja einen Wecker.<br />

Sie drückte verschiedene Knöpfe des quadratischen Teils in<br />

ihrer Hand, aber das Licht ging nicht an. Entweder fand sie nicht<br />

18


Rönum<br />

den richtigen oder er war schon kaputt. Schließlich ging das Teil<br />

auch schon vor, um zwei Minuten. Drei neunundneunzig hatte es<br />

gekostet, natürlich ohne Batterien, die waren fast teurer gewesen,<br />

wahrscheinlich aus Fernost.<br />

Maria Feinworth seufzte leise und stellte das Ding auf den<br />

Nachtschrank zurück. Sie wusste auch so, wie spät es war, ihre<br />

schweren Glieder verrieten es ihr: Es war mitten in der Nacht. Und<br />

sie wusste auch, wer sie um diese Zeit anrief, und dass das Telefon<br />

so schnell nicht aufhören würde zu klingeln, dass es überhaupt<br />

nicht aufhören würde zu klingeln.<br />

Sie seufzte noch einmal, stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln<br />

und zog den Morgenmantel an, den sie am Abend über den Stuhl<br />

vor dem alten Schminktisch gelegt hatte. Dann nahm sie noch<br />

rasch einen Schluck Wasser aus dem Glas, das sie immer auf ihrem<br />

Nachtschrank stehen hatte, Rönskooger Leitungswasser, mild und<br />

weich, es schmeckte immer noch so wie in ihrer Kindheit; und das<br />

war der Grund, weshalb sie es am Bett stehen hatte: Wachte sie<br />

nachts aus einem dunklen Traum auf, tröstete sie schon ein kleiner<br />

Schluck.<br />

Doch jetzt war für Trost nicht die Zeit, das Telefon rief nach ihr,<br />

und langsam ging sie in den Flur.<br />

Licht zu machen war nicht nötig, denn durch die<br />

Glasscheibe der Haustür schimmerte es milchig weiß von der<br />

Hausnummernbeleuchtung, die sie jeden Abend einschaltete. Und<br />

die altrosa Stores zog sie im Sommer nicht zu.<br />

Draußen hing dichter Nebel. Sie nahm den Hörer ab.<br />

»Feinworth«, sagte sie förmlich.<br />

19


<strong>Jörg</strong> <strong>Karweick</strong><br />

»Habe ich dich geweckt«, fragte eine aufgeregte Frauenstimme,<br />

die eindeutig ihrer Schwester gehörte.<br />

»Sandra«<br />

Überflüssig, dachte Maria Feinworth – und ließ den Blick durch<br />

das Glas in der Tür hinausgleiten. Doch sie konnte nicht einmal<br />

die Eibenhecke erkennen, so dicht war der Nebel. Und ihr war so<br />

kühl. Ging es denn schon wieder auf Ende August<br />

Sandra schwieg störrisch, bis Maria Feinworth ihre Frage<br />

endlich beantwortete:<br />

»Ja, du hast mich geweckt.«<br />

»Ich konnte nicht schlafen.«<br />

Sandras Stimme zitterte und sie sprach leise, als wolle sie eben<br />

dieses Zittern verbergen: »Ich hab ihn gesehen.«<br />

»Papa«<br />

»Ja.«<br />

»Wo«<br />

»Regnet es denn bei euch nicht«<br />

Diesmal war es Maria Feinworth, die störrisch schwieg. Denn<br />

natürlich regnete es nicht, nirgends, weder hier an der Küste noch<br />

in der Stadt. Seit Wochen nicht. Die Frauen schwiegen und Maria<br />

Feinworth hörte ein unruhiges Atmen aus der Leitung, während sie<br />

dem fahlen Licht hinterhersah, das durch die Haustür hereinfiel,<br />

ihre roten Pantoffeln streifte und sich am Ende des engen Flurs, wo<br />

die Türen zum Bad und zu ihrem kleinen Schlafzimmer abgehen<br />

mussten, im Dunkel verlor.<br />

Ein Bungalow aus den Siebzigern, quadratisch, den die Eltern<br />

damals gebaut hatten, um ihn an Fremde zu vermieten, und in dem<br />

20

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