Revolution 1848/49 – auch im Enzkreis? - Landratsamt Enzkreis
Revolution 1848/49 – auch im Enzkreis? - Landratsamt Enzkreis
Revolution 1848/49 – auch im Enzkreis? - Landratsamt Enzkreis
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Das Pforzhe<strong>im</strong>er Umland war <strong>1848</strong>/<strong>49</strong> zweifellos kein Zentrum der Demokratiebewegung.<br />
Dennoch sind die hiesigen Ereignisse nicht so bedeutungslos, als dass es sich<br />
nicht lohnen würde, nach 150 Jahren an die Menschen zu erinnern, die bereit waren, für<br />
Freiheit und Demokratie einzustehen, und dafür hart bestraft wurden. Ausgangspunkt<br />
jeder Beschäftigung mit dem Thema sollte sein, sich die Lebensbedingungen der einfachen<br />
Bevölkerung vor Augen zu führen. In einer Gesellschaft, die noch keinerlei Freizeitkultur<br />
kannte, ist es schon sehr fortschrittlich, als <strong>1848</strong> die Forderung nach einem<br />
„nur“ 12-stündigen Arbeitstag erhoben wird. Auf dem Land fängt die Arbeit bei Morgengrauen<br />
an, endet aber bei Einbruch der Nacht oft noch nicht. Die Dorfstruktur ist geprägt<br />
von Bauern mittleren und kleinen Besitzes, Taglöhnern, Knechten und Mägden<br />
sowie Handwerkern, die alle nebenher noch Landwirtschaft betreiben. Es gibt weder<br />
elektrischen Strom noch fließendes Wasser <strong>im</strong> Haus. Schlechte kl<strong>im</strong>atische Bedingungen<br />
wie lange Winter oder verregnete Sommer gefährden rasch die wirtschaftliche Existenz<br />
der Familie. Zwar baut man neben Getreide <strong>im</strong>merhin schon die Kartoffel an, die bei<br />
schlechter Kornernte ausgleichend wirkt, doch verursacht die ab 1845 auftretende<br />
Kartoffelkrankheit <strong>auch</strong> in dem Pforzhe<strong>im</strong>er Umland eine große Preiserhöhung. Die Teuerung<br />
ruft große Not <strong>im</strong> Volk hervor und wird damit eine der Ursachen für die <strong>Revolution</strong><br />
von <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>.<br />
Einen Überblick zu den Geschehnissen der Jahre <strong>1848</strong>/<strong>49</strong> <strong>im</strong> badischen Teil des heutigen<br />
<strong>Enzkreis</strong>es geben uns die sogenannten Ortsbereisungsprotokolle, die ab dem Jahr<br />
1850 erhalten sind. Der Oberamtmann als Vorläufer des heutigen Landrats visitierte<br />
(„bereiste“) in regelmäßigen Abständen die Gemeinden seines Verwaltungsbezirks und<br />
ließ die dabei vorgefundenen Verhältnisse protokollieren.<br />
Überblick<br />
Die deutsche <strong>Revolution</strong> von <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>, deren spektakulärste Ereignisse sich in Berlin<br />
und Wien, vor allem aber <strong>auch</strong> in Baden abspielten und die letztlich <strong>im</strong> damaligen Großherzogtum<br />
blutig niedergeschlagen wurde, zieht sich in der ganzen Republik anlässlich<br />
des 150-jährigen Jubiläums wie ein roter Faden durch Presse, Rundfunk und Fernsehen.<br />
Doch was ereignete sich damals <strong>im</strong> Pforzhe<strong>im</strong>er Umland, was geschah <strong>im</strong> Gebiet des<br />
heutigen <strong>Enzkreis</strong>es? Diese Frage hat das Kreisarchiv aufgegriffen und in Zusammenarbeit<br />
mit der Volkshochschule Pforzhe<strong>im</strong>-<strong>Enzkreis</strong> eine Projektgruppe ins Leben gerufen.<br />
Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit wurde <strong>im</strong> Mai 1998 in einer vielbeachteten Ausstellung<br />
<strong>im</strong> <strong>Landratsamt</strong> des <strong>Enzkreis</strong>es der Öffentlichkeit präsentiert. 1 Auf mehrfachen<br />
Wunsch werden die Texte nun <strong>auch</strong> in diesem Jahrbuch veröffentlicht.<br />
Schlaglichter zur badischen Volkserhebung <strong>im</strong> Pforzhe<strong>im</strong>er Umland<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong> <strong>–</strong> <strong>auch</strong> <strong>im</strong> <strong>Enzkreis</strong>?<br />
Konstantin Huber<br />
57<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
Wenn wir den auf der Karte dargestellten Befund erläutern, so lassen sich die Gemeinden<br />
in verschiedene Kategorien einteilen.<br />
Zur ersten, der Kategorie 0 (in der Karte blau eingefärbt), gehören die Orte, die<br />
keinerlei Anteil an der <strong>Revolution</strong> genommen haben. Dies ist laut sechs der verwertbaren<br />
28 Protokolle der Fall. Als Beispiel sei hier ein Auszug aus dem Bilfinger Ortsbereisungsprotokoll<br />
vom 28. August 1851 wiedergegeben: 2 An der <strong>Revolution</strong> haben die Bewohner<br />
von Bilfingen sich nicht betheiligt. Sämtliche Gemeindebeamten haben der provisorischen<br />
Regierung den Eid verweigert und wenn <strong>auch</strong> ein paar Tage das erste Aufgebot 3<br />
exercirt wurden, so geschah dies erst, nachdem der Civilkommissär 4 einen eigenen Instructor<br />
5 gesandt hatte.<br />
In jahrzehntelanger Forschungsarbeit sind die Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe<br />
und des Staatsarchivs Freiburg nach Personen durchforstet worden, die <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit den Ereignissen <strong>1848</strong>/<strong>49</strong> stehen. Das 1998 veröffentlichte Ergebnis dieser<br />
Arbeit, Buch mit CD-ROM, enthält knapp 40.000 Namen aus Baden. 8 Damit sind freilich<br />
nicht alle, sondern nur die aktenkundig gewordenen Sympathisanten der <strong>Revolution</strong><br />
erfasst. Die eingearbeiteten Informationen beruhen vor allem auf Teilnehmerlisten von<br />
Volksvereinen, Verzeichnissen von in Rastatt inhaftierte Personen, Berichte der Posthalter<br />
Die badischen „<strong>Revolution</strong>äre“ <strong>im</strong> Pforzhe<strong>im</strong>er Umland<br />
viele Anhänger ohne revolutionäre Aktionen am Ort<br />
einzelne Anhänger<br />
keine Aussage möglich<br />
viele Anhänger und revolutionäre Aktionen am Ort<br />
kein Anteil an der <strong>Revolution</strong><br />
<strong>Revolution</strong>äre Tendenzen<br />
<strong>im</strong> ehemaligen Landkreis Pforzhe<strong>im</strong><br />
Zu Kategorie 1 (gelb) zählen elf Orte, an denen die Ereignisse ebenfalls spurlos vorbeigingen<br />
und lediglich einzelne Personen gewisse revolutionäre Tendenzen erkennen ließen.<br />
So berichtet beispielsweise das Ispringer Protokoll vom 31. Mai 1851: 6 Mit der Politik<br />
haben sie sich nicht befaßt und <strong>–</strong> einige junge Burschen ausgenommen <strong>–</strong> gar keinen<br />
Antheil an der <strong>Revolution</strong> genommen. Sie sind streng conservativ zu nennen, sie verlangen<br />
Ruhe, um ihre Landwirthschaft gehörig betreiben zu können und fürchten jede<br />
Störung, weil sie „Kosten und Steuern“ mit sich bringe. Nach allen Wahrnehmungen, die<br />
ich seither und <strong>im</strong> Laufe des heutigen Tages machte, kann ich diese Einleitung nur mit<br />
dem Wunsche schließen, daß das Vaterland viele Gemeinden wie diese Ispringer besitzen<br />
möge.<br />
Zu Kategorie 2 (hellrot) gehören zehn Dörfer, in denen zahlreiche Personen zwar als<br />
revolutionär gesinnt eingestuft wurden, Gewalt gegen die Obrigkeit jedoch nicht stattgefunden<br />
hat. So wird unter dem 2. Oktober 1851 aus Königsbach berichtet: 7 Die Saat,<br />
welche der berüchtigte Rößelwirth Dittler von Wilferdingen vor und während der <strong>Revolution</strong><br />
<strong>auch</strong> hier ausstreute, fiel auf guten Boden; indessen wurden die besseren Bürger<br />
Meister über die anderen und verhinderten, daß irgend Gewaltthätigkeiten gegen die<br />
Grundherrschaft vorfielen.<br />
Lediglich aus dem Nußbaumer Ortsbereisungsprotokoll sind tatsächlich revolutionäre<br />
Aktionen mit dem sogenannten Pfarrhaussturm zu vermelden. Der Ort ist damit der<br />
einzige, der zur Kategorie 3 (dunkelrot) zu zählen ist. Auf ihn wird später noch einzugehen<br />
sein. Zu insgesamt sechs Ortschaften (grau) fehlen leider die Protokolle jener Zeit<br />
oder aber diese enthalten keine entsprechende Aussage zur <strong>Revolution</strong>.<br />
Bei der kartographischen Darstellung fallen die Gemeinden <strong>im</strong> Nordwesten des <strong>Enzkreis</strong>es<br />
weit mehr auf als die weiter südlich gelegenen Orte. Dies mag zum Teil auf die<br />
Nähe zu Karlsruhe zurückzuführen sein; zu beachten ist jedoch <strong>auch</strong>, dass nicht alle<br />
Gemeinden zum selben Oberamt gehörten und daher <strong>auch</strong> verschiedene Oberamtleute<br />
die Visitationen protokollieren ließen. Nußbaum und Stein gehörten zum Oberamt Bretten,<br />
Königsbach, Singen und Wilferdingen zum Oberamt Durlach. In den übrigen, allesamt<br />
zum Pforzhe<strong>im</strong>er Bezirk gehörigen Ortschaften, mag der Pforzhe<strong>im</strong>er Oberamtmann<br />
Ludwig Wilhelm Fecht vielleicht teilweise <strong>auch</strong> zur Verharmlosung der Ereignisse<br />
geneigt haben. So findet er häufig einschränkende Formulierungen, die für gewisse<br />
revolutionäre Tendenzen persönliche Antipathien oder <strong>auch</strong> überhöhten Alkoholgenuss<br />
als Ursache ausmachen wollen.<br />
Quelle: Ortsbereisungsakten 1850 <strong>–</strong>1852<br />
(Generallandesarchiv Karlsruhe, Bestände 343, 348, 369)<br />
59<br />
58 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
über Abonnenten demokratischer Zeitungen, auf Gerichtsverfahren oder auf diplomatischer<br />
Korrespondenz mit Ländern, in denen Flüchtlinge Aufnahme gefunden haben.<br />
Im ehemals badischen Gebiet des heutigen <strong>Enzkreis</strong>es sowie der um 1970/75 nach<br />
Pforzhe<strong>im</strong> eingemeindeten Ortschaften sind in der nach ihrem Bearbeiter benannten<br />
Raab’schen Datei insgesamt über 400 Personen nachgewiesen. 9 Die Gesamteinwohnerzahl<br />
der 34 Dörfer betrug damals etwa 26.000. Sehr viele, genau 120, der genannten Männer<br />
waren von hier gebürtige Soldaten des badischen Heeres, gegen die nach der <strong>Revolution</strong><br />
vorgegangen wurde <strong>–</strong> der Großteil des badischen Militärs hatte be<strong>im</strong> Maiaufstand<br />
18<strong>49</strong> dem Großherzog den Dienst verweigert und gemeutert. 29 weitere Männer<br />
sind als Freischärler oder ähnlich benannt. Die Analyse der Berufs- und Ämterzugehörigkeit<br />
lässt erkennen, dass den Lehrern (27) eine besonders aktive Rolle in der <strong>Revolution</strong><br />
zukam. Exemplarisch seien hier die Lehrer Wilhelm Dörner (Kieselbronn), Fuchs (Huchenfeld),<br />
Karl Machauer (Neuhausen) und Georg Stier (Nußbaum) genannt. Viele Gemeinderäte<br />
(30) und andere Amtspersonen wurden nach dem Scheitern der <strong>Revolution</strong> ihres<br />
Amtes enthoben. Besonders hervorzuheben ist <strong>auch</strong> die Anzahl der Gastwirte (16), deren<br />
politische Beteiligung durch Gemeinderatssitzungen sowie die Tagungen der Volksvereine<br />
geprägt war, die in ihren Räumlichkeiten stattfanden.<br />
<strong>Revolution</strong>är gesinnte Volksvereine sind für Eutingen, Neuhausen, Nußbaum, Singen,<br />
Stein und Wilferdingen, eventuell <strong>auch</strong> für Nöttingen überliefert. 29 Abonnenten des<br />
„Volksführers“ oder anderer demokratischer Zeitungen sind in der Datei nachgewiesen.<br />
Nur 24 Personen wurden der unmittelbaren Gewaltanwendung <strong>im</strong> Pforzhe<strong>im</strong>er Umland<br />
bezichtigt, darunter 16 be<strong>im</strong> sogenannten Pfarrhaussturm in Nußbaum. Weiterhin sind<br />
Personen namhaft zu machen, die zum ersten Aufgebot der Volkswehr gehörten, das in<br />
der kurzen Zeit der badischen Republik zu deren Verteidigung gebildet worden war. Ein<br />
Ausrücken dieses Aufgebots konnte <strong>–</strong> anders als für die Stadt Pforzhe<strong>im</strong> <strong>–</strong> jedoch nirgends<br />
nachgewiesen werden. 74 Männer sind bekannt, die nach dem Scheitern der <strong>Revolution</strong><br />
geflohen sind. Die meisten Flüchtlinge <strong>–</strong> hauptsächlich Soldaten <strong>–</strong> gingen in die<br />
Schweiz. Mindestens 63 davon kehrten später wieder nach Baden zurück. Nachweislich<br />
wanderten insgesamt 26 demokratische Gesinnungsgenossen aus dem Pforzhe<strong>im</strong>er Umland<br />
nach Amerika, Frankreich und sogar nach Australien aus. Gegen 71 Personen wurden<br />
Untersuchungsverfahren wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung eingeleitet,<br />
allerdings hat das Hofgericht letztendlich nur 14 verurteilt. Unter diesen befanden sich<br />
<strong>auch</strong> Soldaten, denen man nebst Hochverrat noch Meuterei anlastete. Des Weiteren<br />
kam es zu 15 Verurteilungen wegen Gewaltanwendung; den größten Anteil nahmen<br />
dabei die Nußbaumer ein.<br />
Eine genauere Analyse des Teilnehmerkreises aus Nußbaum, Göbrichen und Bauschlott<br />
lässt es zu, für diese drei Orte ein Bild vom „durchschnittlichen <strong>Revolution</strong>är“ zu<br />
zeichnen: Dieser ist 31 Jahre alt, ledig und Handwerker- oder Bauernsohn. Nur wenige<br />
über 40-jährige Personen sind in der Datei genannt. Diese hatten zwar zumeist eine<br />
(größere) Familie zu ernähren, was die wirtschaftliche Notlage in Krisenzeiten verstärkte,<br />
doch hatten sie durch das mit der Erhebung verbundene hohe Risiko <strong>auch</strong> „mehr zu<br />
verlieren“. Zudem war mit zunehmendem Alter insgesamt sicher weniger „revolutionärer<br />
Elan“ vorhanden.<br />
Das Nußbaumer Pfarrhaus, Ort<br />
des sogenannten „Pfarrhaussturmes“<br />
in der <strong>Revolution</strong> 18<strong>49</strong><br />
1851, zwei Jahre nach der Niederschlagung der <strong>Revolution</strong>, stellt der Brettener Oberamtmann<br />
Philipp Flad be<strong>im</strong> Besuch der damals zu seinem Bezirk gehörigen Gemeinde<br />
Nußbaum fest: 10 Die politische St<strong>im</strong>mung war wohl nach der Stadt Bretten die ganze<br />
<strong>Revolution</strong>speriode hindurch nirgends <strong>im</strong> Amtsbezirke schlechter als gerade hier. Denn<br />
Der Pfarrhaussturm in Nußbaum<br />
Übrigens: Unter den 406 Personen befinden sich nur zwei Frauen. Das weibliche<br />
Geschlecht war an der <strong>Revolution</strong> bei weitem nicht so unterrepräsentiert, wie es diese<br />
Zahlen nahelegen. Doch wurde bei revolutionärer Gesinnung von Frauen in der Regel<br />
gegen deren Ehemänner ermittelt. Zudem befanden sich unter den Militärangehörigen,<br />
die einen erheblichen Teil der Nachweise in der Datei ausmachen, keine Frauen. Die<br />
beiden <strong>im</strong> Pforzhe<strong>im</strong>er Umland genannten Frauen waren Christina Krämer aus Dietlingen,<br />
die gemeinsam mit ihrem Mann der Majestätsbeleidigung beschuldigt wurde, sowie<br />
Katharina Jung aus Königsbach, die <strong>im</strong> Dezember 18<strong>49</strong> wegen nicht näher bezeichneter<br />
Umstände <strong>im</strong> Karlsruher Rathausturm inhaftiert war.<br />
61<br />
60 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
die demokratischen Bestrebungen fanden hier bei der Mehrzahl der Bürger großen Beifall.<br />
Ein Volksverein bildete sich hier, welcher in lebhaftem Verkehr mit den radikalen<br />
Helden von Bretten stand. Lehrer Stier war ein Hauptagent für die revolutionäre Propaganda<br />
und der Haupturheber des unternommenen Pfarrhaussturmes, welcher über so<br />
viele Familien Unglück gebracht hat. Was war geschehen?<br />
In Nußbaum kommt es in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 18<strong>49</strong> zu einem Aufruhr<br />
von Mitgliedern des ersten Aufgebotes der dortigen Bürgerwehr, also der kampftauglichen<br />
und ledigen 18- bis 30-jährigen Männer, gegen Pfarrer Friedrich Wilhelm Schember.<br />
Anlass für diese Empörung ist der <strong>–</strong> zu niedrige <strong>–</strong> Beitrag des Pfarrers in Höhe von nur<br />
einem Gulden für dieses Aufgebot. Schember hatte jedoch schon zuvor in Nußbaum<br />
einen schweren Stand. In jener Nacht zieht eine tobende Menge unter lautem Geschrei<br />
vor das Pfarrhaus und zertrümmert mit Steinwürfen und Axthieben Fensterläden, Hausund<br />
Kellertüren. Die wütende Meute fordert 150 Gulden in bar. Pfarrer Schembers Gegenangebot<br />
beläuft sich aber nur auf 50 Gulden. Daraufhin wird der Pfarrer weiter bedroht<br />
<strong>–</strong> 68 Gulden, die dieser aus dem Fenster schleudert, beruhigen die Menge nicht.<br />
Dieses kleine Ablenkungsmanöver ermöglicht es Schember jedoch, sich und seine Familie<br />
durch die Hintertür und Scheune unbemerkt ins nahe gelegene Sprantal in Sicherheit zu<br />
bringen.<br />
Aus seinem „Exil“ wendet sich Schember am 13. Juni 18<strong>49</strong> an das zuständige Evangelische<br />
Oberkirchenamt, um seine Versetzung zu erwirken. Er empfindet es als unzumutbar,<br />
nach den geschilderten Vorkommnissen nochmals in Nußbaum tätig zu werden.<br />
Sein Versetzungsgesuch wird zunächst abschlägig beschieden: er muss am 24. Juni nach<br />
Nußbaum zurückkehren. Der Neubeginn Schembers in Nußbaum aber steht <strong>–</strong> erwartungsgemäß<br />
<strong>–</strong> unter keinem guten Stern. Sein erster Morgengottesdienst an jenem Tag wird<br />
von der Bürgerwehr aus Bretten unterbrochen, die dort die ländliche Umgebung nach<br />
Lebensmitteln absucht, um die in Bretten lagernden <strong>Revolution</strong>struppen und Freischaren<br />
zu versorgen. Erst <strong>im</strong> September 1850 wird seinem Versetzungsgesuch entsprochen: er<br />
kommt nach Freistett bei Kehl und wird später Dekan des Kirchenbezirks Rheinbischofshe<strong>im</strong>.<br />
Gegen die Aufrührer aber werden nach der <strong>Revolution</strong> strafrechtliche Untersuchungen<br />
eingeleitet. Die Gemeinde Nußbaum muss der großherzoglichen Staatskasse 870 Gulden<br />
als Maiaufstandskosten entrichten, was diese wiederum auf die Einwohnerschaft<br />
umlegt. Insgesamt werden 15 Männer zu Arbeitshausstrafen verurteilt: Jacob Augenstein,<br />
Christian Widmann und Johann Lindemann je zu einem Jahr, Johann Hauser, Gottlieb<br />
Merker, Jacob Fretz, Andreas Fretz, Ernst Lansche, Gottlieb Lansche, Leonhard Gauß,<br />
Leonhard Klein, Michael Bischoff und Johann Adam Götz je zu sechs Monaten sowie<br />
Stephan Klein und Christian Wanner zu drei Monaten Arbeitshaus. Elf weitere Angeklagte<br />
werden freigesprochen.<br />
Die Verurteilten legen Widerspruch be<strong>im</strong> Oberhofgericht in Mannhe<strong>im</strong> ein. Die zu<br />
sechs beziehungsweise drei Monaten Verurteilten können dabei eine Halbierung ihrer<br />
Strafen erreichen. Pfarrer Schember hat sich, damals noch in Nußbaum, übrigens schriftlich<br />
für die Verurteilten be<strong>im</strong> Großherzog eingesetzt. Sie hätten zwischenzeitlich ihre<br />
Tat bereut und nähmen sogar regelmäßig am Gottesdienst teil.<br />
Im Jahre 1806 wird das südöstlich Pforzhe<strong>im</strong>s gelegene Herrschaftsgebiet der Freiherren<br />
von Gemmingen dem neu geschaffenen Großherzogtum Baden eingegliedert. Die<br />
Gemmingen verlieren damit ihren Status als Ortsherrschaft, bleiben aber Besitzer des<br />
größten Teils an Grund und Boden. 1818 garantiert die relativ liberale badische Verfassung<br />
den „neuen Landeskindern“ Steuer- und Rechtsgleichheit.<br />
Schon 1820 beginnt dann ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen den Bewohnern der<br />
acht Bietdörfer (Hamberg, Hohenwart, Lehningen, Mühlhausen, Neuhausen, Schellbronn,<br />
Steinegg und Tiefenbronn) und ihrem Grundherrn, Freiherr Julius von Gemmingen. Streitpunkt<br />
sind die grundherrschaftlichen Abgaben und Frondienste. Die Einwohner nämlich<br />
empfinden es als ungerecht, dass sie sowohl an den badischen Staat als <strong>auch</strong> weiter an<br />
den Grundherrn Abgaben entrichten müssen. Diese Doppelbelastung ist den ohnehin<br />
meist sehr armen Bauern und Handwerkern zuviel: Amtmann Thierry, der für den Freiherrn<br />
Geld als Ersatz für die Frondienste einziehen soll, wird in sämtlichen Dörfern des<br />
Biets mit Zahlungsverweigerung konfrontiert. Julius von Gemmingen ist daraufhin fest<br />
entschlossen, seine Geldforderungen sogar mit Hilfe von Polizei und Militär durchzusetzen.<br />
Das Oberamt Pforzhe<strong>im</strong> jedoch lässt es nicht so weit kommen und vermittelt <strong>im</strong>mer<br />
wieder zwischen den Parteien.<br />
Der Widerstand der Bietbewohner wird maßgeblich von Adlerwirt Albert Leicht (1798<strong>–</strong><br />
1858), dem ehemaligen Amtmann Josef Anton Württemberger (1769<strong>–</strong>1823), beide aus<br />
Neuhausen, Hirschwirt Franz Josef Württemberger (1808<strong>–</strong>1873) aus Hohenwart, Hirschwirt<br />
Volz aus Schellbronn und Lammwirt Volz aus Tiefenbronn organisiert. Über die<br />
Weihnachtsfeiertage des Jahres 1830 ist sogar der badische Landtagsabgeordnete Karl<br />
von Rotteck in Neuhausen und unterstützt die Bürger <strong>im</strong> Kampf um ihre verfassungsmäßigen<br />
Rechte. Geschürt wird der Protest <strong>auch</strong> durch den Schreiner August Kern (1816<strong>–</strong><br />
1892) aus Neuhausen, der die Auswirkungen der Julirevolution von 1830 in Paris erlebt<br />
und die revolutionären Gedanken von dort in seine He<strong>im</strong>at gebracht haben soll. Auch<br />
die <strong>–</strong> noch vom Grundherrn eingesetzten <strong>–</strong> Ortsvorsteher der Bietdörfer stehen auf der<br />
Seite ihrer Einwohnerschaft.<br />
Als Julius von Gemmingen 1831 gegen die Bietgemeinden klagt, wird der Karlsruher<br />
Advokat Stebel beauftragt, die Interessen der Abgabepflichtigen zu vertreten. Die Streitsache<br />
geht sogar bis vor das badische Hofgericht in Rastatt. Ein endgültiges Urteil wird<br />
erst 1834 verkündet: beide Parteien erhalten Zugeständnisse, die Gerichtskosten werden<br />
geteilt. Doch Julius von Gemmingen bleibt nicht mehr lange Herr <strong>im</strong> Biet: 1839 verkauft<br />
er seinen Besitz um 535.000 Gulden an den badischen Staat. Auch danach wird ein Teil<br />
der ursprünglichen Abgaben weiter erhoben. Die endgültige Ablösung der Frondienste<br />
erfolgt dann erst um 1860.<br />
Vor dem Hintergrund der dargestellten Vorgeschichte verwundert es nicht mehr so<br />
sehr, dass in dem doch etwas abgelegenen ehemaligen Gebiet der Freiherren von Gemmingen<br />
eine nicht unerhebliche freiheitliche Bewegung feststellbar ist. 1851 klagt das<br />
Oberamt Pforzhe<strong>im</strong>, dass die Gemeinde Neuhausen als die erste unter den wenigen<br />
bezeichnet werden muß, in welchen die Lehren der Democratie tiefe Wurzeln geschla-<br />
Die <strong>Revolution</strong> <strong>im</strong> „Biet“<br />
63<br />
62 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
gen haben. 11 Weiterhin bestehe noch ein guter Zusammenhalt der Mitglieder des Volksvereins,<br />
welcher <strong>im</strong> Jahre 18<strong>49</strong> hier geblüht hat. Im Bezirk besteht neben Pforzhe<strong>im</strong> und<br />
Eutingen nur noch in Neuhausen ein sogenannter Volksverein. Diese demokratischen<br />
Vereinigungen beeinflussen die öffentliche Willensbildung und entwickeln ein starkes Gruppenbewusstsein.<br />
Auf Einladung des dortigen Volksvereins findet in Neuhausen am 27.<br />
Mai 18<strong>49</strong> eine Volksversammlung statt, bei der <strong>auch</strong> die Bewohner der umliegenden<br />
Ortschaften für die demokratischen Ziele mobilisiert werden sollen. Vorstand des Volksvereins<br />
ist Joseph Kern (1793<strong>–</strong>1862), Schriftführer der Schneider Wendelin Hausenstein<br />
(1815<strong>–</strong>1900). Der von 1846<strong>–</strong>1850 in Neuhausen tätige Hauptlehrer Karl Machauer wird<br />
später als Hauptwühler bezeichnet und vom Schuldienst suspendiert. Gemäß den Anordnungen<br />
der revolutionären Regierung kommt man 18<strong>49</strong> in Neuhausen unter Anleitung<br />
von Wendelin Hausenstein („Schneider Wendel“) und August Kern („Schreinerle“) bei<br />
der Wendelinskapelle zum Exerzieren zusammen.<br />
Neuhausen war zweifellos das Zentrum der demokratischen Bewegung <strong>im</strong> Biet. Die<br />
Ereignisse in den übrigen sieben Dörfern bleiben dahinter deutlich zurück. Der Pforzhe<strong>im</strong>er<br />
Oberamtmann berichtet 1851 von dort meist lapidar: An der <strong>Revolution</strong> haben sich<br />
die Bewohner nicht beteiligt. Als Ursache gibt er die Erschlaffung der Bewohner und die<br />
Abgelegenheit der Orte an. Dennoch engagieren sich <strong>auch</strong> hier einige Männer für die<br />
Freiheit. In Hamberg kommt es zur Gründung einer republikanischen Garde, wobei <strong>im</strong><br />
Gewann Eiche tüchtig exerziert wird. Das Oberamt Pforzhe<strong>im</strong> stellt später verharmlosend<br />
fest, dass dies mehr aus Spielerei denn aus revolutionärer Tendenz und freilich nur<br />
mit hölzernen Gewehren geschehen 12 sei.<br />
Der aus Hamberg stammende Unteroffizier Joseph Sickinger wird wegen Meuterei<br />
und Treulosigkeit 1850 vom Kriegsgericht in Karlsruhe zum Tode durch Erschießen verurteilt.<br />
Glücklicherweise kann er flüchten und wandert nach Amerika aus. In Hohenwart<br />
fällt besonders der reiche und einflussreiche ehemalige Notar Franz Joseph Württemberger<br />
auf. Ihm gehört <strong>auch</strong> das Wirtshaus „Zum Hirsch“. Er fordert bei einer Volksversammlung<br />
in Würm die Anschaffung von Waffen. Weiterhin schickt er zurückkehrende Soldaten<br />
der <strong>Revolution</strong>sarmee wieder zu ihrer Einheit. Württemberger ist <strong>auch</strong> aktiv bei der Volks-<br />
Als ein Mann von edlem Herzen und besten Willen, ein redlich gesinnter, friedliebender<br />
Bürger und menschenfreundlicher Unterstützer der Armen wird Carl Dittler <strong>im</strong> Juli<br />
1850 in einer von fast 80 Wilferdinger Bürgern unterzeichneten Bittschrift an das Oberhofgericht<br />
in Mannhe<strong>im</strong> beschrieben. Sie mussten es eigentlich wissen, hatte doch der am<br />
10. April 1850 in Abwesenheit wegen Hochverrats zu acht Jahren Zuchthaus verurteilte<br />
und jetzt flüchtige Bauer und Rösslewirt 18 Jahre lang ihre Interessen <strong>im</strong> Bürgerausschuss<br />
der Gemeinde vertreten. Als dessen Obmann, so wird ihm weiter bescheinigt, habe er<br />
durch vernünftige Vorschläge die Lasten der Gemeinde mit eiserner Aufopferung zu<br />
vermindern gesucht.<br />
Carl Dittler wird am 18. September 1802 in Wilferdingen geboren. Dort haben es<br />
zuvor (seit 1680) bereits vier Dittler-Generationen als Küfer und Gastwirte zu Ansehen<br />
und Wohlstand gebracht. Auch Carl Dittler übern<strong>im</strong>mt 1825 von seinem gleichnamigen<br />
Vater die Rössle-Wirtschaft. Da t<strong>auch</strong>t <strong>im</strong> Juni <strong>1848</strong> sein Name (ein sehr reicher Mann<br />
und echter Republikaner) in einer an Friedrich Hecker übermittelten Liste zuverlässiger<br />
Republikaner <strong>im</strong> Schwarzwald auf. Zusammen mit dem Steinhauer Philipp Jakob Krauß<br />
und dem Metzger Christian Maier sowie einer Reihe weiterer Bürger gründet Dittler in<br />
Wilferdingen einen Demokratischen Volksverein, dessen Aktivitäten <strong>auch</strong> in die Nachbarorte<br />
ausstrahlen.<br />
Carl Dittler aus Wilferdingen <strong>–</strong> der <strong>Revolution</strong>är des Pfinztals<br />
Im Gasthaus zur Traube in Neuhausen<br />
fand am Pfingstsonntag<br />
18<strong>49</strong> eine Volksversammlung<br />
statt<br />
versammlung in Neuhausen und wird in behördlich angeordneten Spitzelberichten als<br />
Wühler und Winkeladvokat bezeichnet. In Steinegg wird von Emil Dieringer eine republikanische<br />
Garde gegründet, die auf dem Schelmenwasen be<strong>im</strong> heutigen Sportplatz mit<br />
alten Flinten und Säbeln exerziert. Der spätere Bürgermeister Valentin Leopold dient<br />
18<strong>49</strong> als Richtkanonier in Rastatt. Auf eine Wette hin soll er genau in das Rohr einer<br />
preußischen Kanone getroffen haben. Aus Schellbronn sind Egidius und Robert Zirut<br />
Mitglieder der deutsch-polnischen Legion und nehmen an den Gefechten in Kuppenhe<strong>im</strong><br />
und vor Rastatt teil; sie wandern später nach Amerika aus. Mehrere andere Schellbronner<br />
fliehen in die Schweiz. Auch in Lehningen wird exerziert. Der von dort stammende<br />
Feldwebel Roman Morlock wird bei den Offizierswahlen 18<strong>49</strong> zum Scharfschützenleutnant<br />
gewählt und nach seiner Gefangenschaft wieder in die alte Dienststellung eingewiesen.<br />
Einige Lehninger Soldaten flüchten ebenfalls in die Schweiz. In Mühlhausen reißen<br />
national gesinnte Männer die Grenzpfosten zum benachbarten Königreich Württemberg<br />
nieder. Das Dorf ist quasi die Spitze des badischen Gebiets um Pforzhe<strong>im</strong>, das<br />
auf der Landkarte weit nach Württemberg hineinragt. Die wehrfähigen Männer exerzieren<br />
<strong>auch</strong> hier. Nach der Niederschlagung der <strong>Revolution</strong> durchsuchen preußische Soldaten<br />
die Häuser nach Waffen. Drei Pforzhe<strong>im</strong>er, die <strong>im</strong> Vorstand des dortigen Volksvereins<br />
waren, kommen <strong>im</strong> Mai 18<strong>49</strong> wegen des ersten Aufgebots nach Tiefenbronn. Der<br />
Tiefenbronner Gemeinderat Adrian Kern beteiligt sich an einer Sammlung zur Unterstützung<br />
der revolutionären Neckararmee. Er wird, wie viele andere Gemeinderäte und<br />
Bürgerausschussmitglieder aus dem „Biet“, später wegen wühlerischem Treiben suspendiert.<br />
65<br />
64 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
Am 3. Juni 18<strong>49</strong> <strong>–</strong> Wilferdingen zählt damals<br />
etwa 850 Einwohner <strong>–</strong> wird Carl Dittler<br />
<strong>im</strong> Wahlbezirk 14 (Durlach, Bretten, Pforzhe<strong>im</strong>)<br />
mit fast 8.000 St<strong>im</strong>men in die Constituierende<br />
Versammlung für Baden gewählt.<br />
Dre<strong>im</strong>al ergreift der als „gemäßigt“ geltende<br />
Dittler in der nur zwei Wochen währenden Sitzungsperiode<br />
das Wort. Noch am 25. Juni 18<strong>49</strong><br />
kämpft der Rösslewirt an der Seite seiner Gesinnungsgenossen<br />
bei Durlach gegen die Übermacht<br />
der preußischen Armee. Im Morgengrauen<br />
des darauffolgenden Tages bringt ihn<br />
sein Schwiegersohn, der spätere Bürgermeister<br />
Friedrich Schlemm, in einem J<strong>auch</strong>efass versteckt,<br />
über Feldwege ins nahe Württemberg.<br />
Dort soll er in der Hochmühle bei Ottenhausen<br />
und in Conweiler, zeitweilig <strong>auch</strong> bei seiner<br />
mit dem Iptinger Müller Jacob Burger verheirateten<br />
Tochter Henriette Unterschlupf gefunden<br />
haben.<br />
Aus dem Exil bittet der inzwischen Verur-<br />
Carl Dittler (1802<strong>–</strong>1876) in den USA 1875<br />
teilte am 6. März 1851 in einem persönlichen<br />
Schreiben an den Großherzog um Straferlass,<br />
zumindest aber um freien Abzug nach Amerika.<br />
Beides wird nicht gewährt, dafür die Fahndung umso intensiver fortgesetzt. Obwohl<br />
der Kontakt zur Familie nie abreißt, gelingt es weder der badischen noch der württembergischen<br />
Gendarmerie, den Flüchtigen zu stellen. Erst Mitte des Jahres 1853 setzt er<br />
sich mit dem Wissen seiner Frau Barbara über die Schweiz und Frankreich nach Nordamerika<br />
ab. Außer ihr lässt er acht unversorgte Kinder, darunter eine geistig behinderte<br />
Tochter zurück. Ein weiterer Sohn und zwei Töchter aus erster Ehe mit der verstorbenen<br />
Schwester seiner Frau sind auswärts verheiratet. Das umfangreiche Vermögen des Rösslewirts<br />
hat man schon 18<strong>49</strong> beschlagnahmt. In einem langwierigen Prozess muss Barbara<br />
Dittler um den von ihr eingebrachten Anteil kämpfen.<br />
Im Sommer 1859 kehrt Carl Dittler in seine He<strong>im</strong>at zurück. Aufgrund einer zwei Jahre<br />
zuvor verkündeten Amnestie wird ihm seine Strafe erlassen. Doch erst <strong>im</strong> Dezember<br />
1863 gibt ihm das badische Innenministerium die entzogene Staatsangehörigkeit und<br />
die Gemeinde Wilferdingen sein Bürgerrecht zurück. Zu sehr hat sich Dittler an die Freiheitsluft<br />
in den Vereinigten Staaten gewöhnt. Zum zweiten Mal verlässt er Wilferdingen,<br />
erneut ohne seine Frau Barbara, die es ablehnt, mit ihren Kindern nach Amerika auszuwandern.<br />
Sie überlebt ihren Mann, der am 21. März 1876 in Orange (New Jersey) stirbt, um<br />
13 Jahre.<br />
An der Seite seiner dritten Frau Wilhelmina geborene Burger wird Carl Dittler auf<br />
dem Rosedale-Friedhof in Orange beigesetzt. Einem Nachruf <strong>im</strong> Newark Daily Advertizer<br />
Jähriger nach der Meuterei in Rastatt die Wahl<br />
der Offiziere seines Reg<strong>im</strong>ents und nahm auf<br />
Seiten der <strong>Revolution</strong>sarmee an den Gefechten<br />
von Heppenhe<strong>im</strong> und Waghäusel gegen<br />
die preußischen Interventionstruppen teil.<br />
Andreas Counis war in Genf geboren worden.<br />
1832 zog die Familie nach Pforzhe<strong>im</strong>, wo<br />
der Vater die erste Scheideanstalt errichtete.<br />
Andreas besuchte das traditionsreiche Pädagogium<br />
am Schulplatz, den Vorläufer des Reuchlin-Gymnasiums.<br />
Sein Bruder Adam reist übrigens<br />
später nach Rastatt und lässt den Leichnam<br />
seines hier hingerichteten Bruders nach<br />
Pforzhe<strong>im</strong> überführen. Andreas Counis findet<br />
seine letzte Ruhestätte auf privatem Grund: <strong>im</strong><br />
Garten neben der Fabrik seines Bruders. Heute<br />
steht auf diesem Grundstück die Alfons-Kern-<br />
Schule. Adam Counis lässt für seinen Bruder<br />
Bei Ausbruch der Meuterei in der Festung Rastatt <strong>im</strong> Mai 18<strong>49</strong> werden (noch) regierungstreue<br />
Truppen aus Karlsruhe nach Rastatt befohlen. Unter den Soldaten befindet<br />
sich <strong>auch</strong> Andreas Counis aus Pforzhe<strong>im</strong>, ein Gefreiter <strong>im</strong> 1. Dragonerreg<strong>im</strong>ent. Als sich<br />
die Situation dramatisch zuspitzt und der Befehl erteilt wird, die Säbel zu ziehen und auf<br />
die Meuterer einzuhauen, sprengt Andreas Counis vor die Front und ruft: Nicht gegen<br />
unsere Brüder kämpfen! Die Säbel stecken lassen! Zugleich droht er, jeden niederzustechen,<br />
der gegen die Meuterer vorgehe. Ein großer Teil der Soldaten folgt spontan<br />
dieser Aufforderung. Mit lautem Hurrah! und Hecker hoch! macht die Schwadron kehrt.<br />
Doch Counis muss seine mutige Tat mit dem Leben bezahlen: Am 23. Juli wird Rastatt<br />
nach langer Belagerung durch preußische Truppen eingenommen. Counis wird wegen<br />
Treuebruchs und Hochverrats am 14. September 18<strong>49</strong> von einem preußischen Standgericht<br />
zum Tode verurteilt. Das Todesurteil vollstreckt man schon am darauf folgenden<br />
Tag: Andreas Counis wird am 15. September erschossen. Ausschlaggebend für dieses<br />
besonders harte Urteil war <strong>auch</strong>, dass Counis<br />
schon vor der <strong>Revolution</strong> aufreizende Reden<br />
gehalten habe. Zudem leitete er als etwa 22- Gedenkstein für Andreas Counis<br />
Andreas Counis aus Pforzhe<strong>im</strong> <strong>–</strong> gestorben für die Freiheit<br />
vom 21.3.1876 mit der Überschrift Death of a German <strong>Revolution</strong>ist ist zu entnehmen,<br />
dass sich Carl Dittler nach einem Aufenthalt in Newark als Farmer in Green Village (Morris<br />
County) angesiedelt hatte und dort <strong>auch</strong> als Postmeister tätig war. Außerdem ist vermerkt,<br />
dass er Besitzer eines Hotels in Madison gewesen sei. Auch vergaß man nicht<br />
hinzuzufügen, dass der Verstorbene <strong>im</strong> Jahre 18<strong>49</strong> in Baden der Constitutional Convention<br />
angehört habe.<br />
67<br />
66 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
dend sein werden. 1847 studiert er in Heidelberg<br />
Philosophie und ist Mitarbeiter der liberalen<br />
„Mannhe<strong>im</strong>er Abendzeitung“. Als <strong>im</strong><br />
Frühjahr <strong>1848</strong> Hecker in Südbaden zum bewaffneten<br />
Kampf aufruft, folgt ihm Carl Heinrich<br />
Schnauffer begeistert. Er kommandiert ein<br />
Freikorps Mannhe<strong>im</strong>er Republikaner. Nach<br />
dem ebenso baldigen wie kläglichen Ende dieses<br />
<strong>Revolution</strong>sversuches muss Schnauffer fliehen:<br />
er geht über die Grenze und hält sich einige<br />
Zeit <strong>im</strong> benachbarten Elsass und in der<br />
Schweiz auf. Er wirkt als Redakteur der in Rheinfelden<br />
gedruckten Zeitung Volksfreund und<br />
emigriert <strong>–</strong> wie <strong>auch</strong> Hecker <strong>–</strong> in die USA (St.<br />
Louis). Bereits zum Maiaufstand 18<strong>49</strong> kommt<br />
Schnauffer wieder zurück und befehligt eine<br />
Kompanie der Mannhe<strong>im</strong>er Bürgerwehr. Im<br />
Juni wird er von den Preußen verhaftet, jedoch<br />
von Frauen aus Mannhe<strong>im</strong> befreit. Erneut<br />
gelingt ihm die Flucht in die Schweiz. Infolge<br />
seines politischen Engagements in sei- Carl Heinrich Schnauffer (1823<strong>–</strong>1854)<br />
nem Exil und auf Drängen der reaktionären<br />
deutschen Regierungen wird Carl Heinrich<br />
Schnauffer jedoch von den schweizerischen Behörden nach Frankreich ausgewiesen. Er<br />
wandert <strong>im</strong> Jahre 1851 über England endgültig nach Balt<strong>im</strong>ore, Maryland, aus, wo er<br />
seine ebenfalls emigrierte Mannhe<strong>im</strong>er Jugendliebe Elise Moos heiratet. Doch <strong>auch</strong> dort<br />
bleibt Schnauffer kein „unbeschriebenes Blatt“. Er gründet die damals einzige republikanische<br />
und deutsche Tageszeitung, den Balt<strong>im</strong>ore Wecker. Wenig später, am 4. September<br />
1854, stirbt Carl Heinrich Schnauffer <strong>im</strong> Alter von nur 31 Jahren in Balt<strong>im</strong>ore an<br />
Typhus. Er hinterlässt seine Witwe mit zwei kleinen Kindern. Elise Schnauffer heiratet<br />
Carl Heinrichs Bruder Wilhelm, der 1854 ausgewandert ist, und setzt gemeinsam mit<br />
ihm die Herausgabe der Zeitung fort. So behält das Blatt das „<strong>im</strong>portierte“ demokratische<br />
Gedankengut seines Gründers bei. Es bekämpft die Unterdrückung allgemein und die<br />
amerikanische Sklaverei <strong>im</strong> Besonderen und propagiert während des nordamerikanischen<br />
Bürgerkriegs (1861<strong>–</strong>1865) die Ziele des Republikaners Abraham Lincoln. Die politische<br />
Bedeutung Schnauffers wird daraus ersichtlich, dass er mehrfach <strong>im</strong> Briefwechsel zwischen<br />
Karl Marx und Friedrich Engels erwähnt ist.<br />
Carl Heinrich Schnauffer wählt in seinen Gedichten und Liedern oft eine drastische, ja<br />
teils blutrünstige Ausdrucksweise. Er hat <strong>auch</strong> ein fünf Akte umfassendes Drama König<br />
Carl I. oder Cromwell und die englische <strong>Revolution</strong> geschrieben, das er während seines<br />
Aufenthaltes in England begonnen hat. Sinngemäß heißt es darin: Die Engländer haben<br />
ihren königlichen Tyrannen auf’s Schafott gebracht <strong>–</strong> warum können wir das in Deutschland<br />
nicht <strong>auch</strong>?<br />
Einer der Männer, die nach der <strong>Revolution</strong> enttäuscht in die USA emigrieren und sich<br />
dort als Fourty Eighter (Achtundvierziger) einen Namen machen, ist der Dichter und<br />
Journalist Carl Heinrich Schnauffer aus He<strong>im</strong>she<strong>im</strong>. In den Staaten ist sein Bekanntheitsgrad<br />
weitaus größer als hierzulande, wo man ihn fast vergessen hat.<br />
Schnauffer wird am 4. Juli 1823 als Sohn eines Färbers in der Schleglerstadt geboren.<br />
Nach einer Lehre bei einem Händler in Großbottwar wird er Angestellter in der Mannhe<strong>im</strong>er<br />
Handelsfirma von Joseph M. Tunna. In dieser Zeit knüpft er erste Kontakte zu<br />
Friedrich Hecker und Gustav Struve, die für Schnauffers weiteren Lebensweg entschei-<br />
Carl Heinrich Schnauffer aus He<strong>im</strong>she<strong>im</strong> <strong>–</strong> Dichter und Journalist<br />
Joseph Anselment wird am 6. März 1781 in Ersingen geboren und stirbt dort hochbetagt<br />
am 16. Januar 1869. Sein Leben in der katholischen, ehemals zum Kloster Frauenalb<br />
gehörigen Ortschaft verläuft wenig spektakulär. Und dennoch soll heute, 150 Jahre<br />
nach der <strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>, an ihn erinnert werden.<br />
Joseph Anselment ist ein einfacher, aber aufrechter und wohl <strong>auch</strong> etwas fanatischer<br />
Mann. Der Ersinger Ortschronist bezeichnet ihn als Feuergeist. Von seinem Äußeren her<br />
<strong>–</strong> langer Frack, Kniehosen, weiße Strümpfe und Schnallenschuhe <strong>–</strong> erweckt Anselment<br />
eher einen konservativen Eindruck. Doch dies täuscht: er ist ein fortschrittlich gesinnter<br />
und für die Demokratie begeisterter Mann. Auf einer Versammlung, die <strong>1848</strong> in Durlach<br />
stattfindet, erkl<strong>im</strong>mt er als der obligate, schlichte Landmann das Podest und hält den<br />
Anwesenden eine leidenschaftliche politische Rede. Noch von dem Rednerpult herab<br />
wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Auch nach dem Scheitern der <strong>Revolution</strong><br />
bleibt Joseph Anselment, von der Obrigkeit streng überwacht, dem demokratischen<br />
Gedankengut treu. Noch 1865 stellt man rügend fest, dass fanatische Männer wie der<br />
bekannte Prophet Anselment 13 als Kreiswahlmänner gewählt werden.<br />
Den Beinamen Prophet verdankt Joseph Anselment seiner politischen Wahrsagerei.<br />
18<strong>49</strong> werden seine Neuesten Weissagungen strengstens verboten. Sie enthalten in vielen<br />
Stellen die gröbsten Schmähungen und heftigsten Aufreizungen gegen die Regenten<br />
und Regierungen und es ist deshalb deren Verbreitung strengstens zu untersagen. 14 Alle<br />
badischen Bezirksbehörden erhalten den Befehl zur Beschlagnahme des Textes und zur<br />
Bestrafung von deren Verbreiter. Nach der in Baden-Baden gedruckten Broschüre wird<br />
landesweit gefahndet <strong>–</strong> offenbar mit Erfolg, denn es hat sich wohl leider kein Exemplar<br />
bis heute erhalten.<br />
„Der Prophet“ <strong>–</strong> Joseph Anselment aus Ersingen<br />
einen Gedenkstein in Form eines Obelisken fertigen. Die Inschriften lauten: Hier ruhen<br />
die blutigen Überreste meines unvergeszlichen Bruders <strong>–</strong> und auf der anderen Seite:<br />
Zum Andenken an Andreas Counis den 15. September 18<strong>49</strong> gewidmet von Adam Counis.<br />
Der Stein befindet sich heute <strong>im</strong> Stadtmuseum, eine Kopie davon auf dem Hauptfriedhof<br />
Pforzhe<strong>im</strong> in der Nähe des Ehrenfriedhofes für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges.<br />
69<br />
68 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
Im Wahlkreis Vaihingen, zu dem <strong>auch</strong> das Oberamt Maulbronn gehört, wird bei der<br />
Abgeordnetenwahl für die Frankfurter Nationalversammlung <strong>im</strong> Mai <strong>1848</strong> Rechtskonsulent<br />
Carl August Fetzer aus Stuttgart gewählt. Als politischer Essayist schreibt er 1851<br />
verbittert: Die deutsche <strong>Revolution</strong> aber ist mißlungen und mit Freiheit und Einheit ist es<br />
schl<strong>im</strong>mer geworden als zuvor.<br />
Ende Mai 18<strong>49</strong> füllen württembergische Truppen die Straßen und Häuser von Knittlingen.<br />
Warum sie da sind, weiß eigentlich niemand. Es wird behauptet, eine Invasion<br />
badischer Freischaren aus Bretten, die Knittlingen in Schutt und Asche legen wollen,<br />
stünde bevor. Kein Mensch aber glaubt das. Dennoch veröffentlicht der Brettener Gemeinderat<br />
ein Dementi zu dieser boshaften Lüge. Einigen Republikanern aus Bretten ist<br />
„Merkwürdiges“ aus Knittlingen<br />
Auch vor dem Königreich Württemberg macht die <strong>Revolution</strong> nicht halt. Die durch<br />
Missernten entstandene Teuerung löst bereits <strong>im</strong> Mai 1847 sogenannte Hungerkrawalle<br />
aus. Soziale Unruhe und das Drängen der <strong>auch</strong> in Württemberg starken liberalen Landtagsopposition<br />
erzeugt eine spannungsgeladene Atmosphäre. Nach der Pariser Februarrevolution<br />
<strong>1848</strong> sieht sich <strong>–</strong> wie in Baden <strong>–</strong> <strong>auch</strong> König Wilhelm I. gezwungen, die Regierung<br />
<strong>im</strong> liberalen Sinne umzubilden. Von den Liberalen spalten sich <strong>auch</strong> in Württemberg die<br />
Demokraten ab, es bilden sich republikanische Volks- und liberale Vaterländische Vereine.<br />
Die Regierung geht hart gegen die Linke vor, die sich durch die Aufstände der<br />
Demokraten in Baden zu regerer Tätigkeit ermutigt sieht. In den Garnisonen gärt es;<br />
<strong>auch</strong> entstehen Arbeitervereine mit sozialistischen Zielen.<br />
Die Verhandlungen der Nationalversammlung in Frankfurt, deren württembergische<br />
Abgeordnete überwiegend demokratisch gesinnt sind, best<strong>im</strong>men das politische Leben<br />
<strong>auch</strong> in Württemberg. Auf Drängen von Regierung und zweiter Kammer gibt Wilhelm I.<br />
als einziger deutscher König <strong>im</strong> April 18<strong>49</strong> die Reichsverfassung bekannt, obwohl bereits<br />
zuvor Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die deutsche Kaiserkrone zurückgewiesen<br />
hatte. Dessen endgültige Ablehnung gibt der radikalen Bewegung wieder Auftrieb. Höhepunkt<br />
ist eine Massenversammlung der demokratischen Volksvereine in Reutlingen. Mit<br />
den Aufständischen in Baden und der Pfalz n<strong>im</strong>mt man Verbindung auf, einzelne Freischärler-Legionen<br />
beteiligen sich <strong>auch</strong> aktiv am Freiheitskampf.<br />
Die Frankfurter Nationalversammlung, auf die Linke zusammengeschrumpft, verlegt<br />
ihren Sitz nach Stuttgart. Die liberale Regierung löst dieses „Rumpfparlament“ jedoch<br />
auf und wird damit Vollstrecker der Gegenrevolution. Wenig später wird sie selbst durch<br />
eine reaktionärere ersetzt, und es gilt wieder die Verfassung von 1819. Somit herrscht<br />
<strong>auch</strong> in Württemberg wieder „Ruhe und Ordnung“. Bleibende Ergebnisse sind der Abbau<br />
der bäuerlichen Lasten, die Schwurgerichte, die Entstehung von Parteien und eine<br />
aktivere Teilnahme der Bevölkerung am gesellschaftlichen Geschehen. Doch <strong>auch</strong> in Württemberg<br />
n<strong>im</strong>mt die wirtschaftlich und politisch motivierte Auswanderung enorm zu:<br />
18<strong>49</strong><strong>–</strong>1855 verlassen über 70.000 Schwaben ihr Land.<br />
Knittlingen. Lithographie um 1885 von F. Kallmorgen<br />
Und Württemberg ?<br />
es gelungen, mehrere schwäbische Soldaten in ihre Stadt zu locken und sich mit ihnen<br />
<strong>im</strong> Wirtshaus bei Hecker-Bier und Struvelwürst zu verbrüdern. Anfang Juni 18<strong>49</strong> beschließt<br />
der Brettener Volksverein, die zwischen Bretten und Knittlingen verlaufende<br />
badisch-württembergische Grenze durch symbolische Entfernung der Grenzstöcke quasi<br />
zu beseitigen. Mitglieder des Vereins machen sich auf den Weg und bringen unter musikalischer<br />
Begleitung den badischen Grenzstock vor das Brettener Rathaus. Die Inszenierung<br />
gleicht einem Triumphzug. Man fordert die öffentliche Verbrennung des Pfahls. Dies<br />
aber geht der Brettener Obrigkeit zu weit, sie verwahrt den Grenzstock <strong>im</strong> dortigen<br />
Rathaus. Während der folgenden Nacht verschwindet <strong>auch</strong> der württembergische Pfahl,<br />
dessen Verbleib bis heute nicht geklärt ist.<br />
Etwas merkwürdig mutet <strong>auch</strong> eine Seite des oberamtlichen Mitteilungsblattes „Der<br />
Bürgerfreund“ vom 30. Juni 18<strong>49</strong> an. Darin wird zunächst der Knittlinger Buchbinder<br />
August Frasch steckbrieflich gesucht. Wenige Zeilen darunter ist ein offener Brief Fraschs<br />
an seine Freunde abgedruckt, in dem dieser mitteilt, dass er sich in kurzer Zeit der zuständigen<br />
Behörde stellen werde. Er wolle nur abwarten, bis die Lust, Demokraten zu fangen,<br />
etwas gesättigt ist. August Frasch, geboren 1817 in Murrhardt, betreibt neben<br />
seinem Hauptberuf eine Auswandereragentur und <strong>auch</strong> einen Buchhandel in Knittlingen.<br />
Frasch stirbt 1862 als Kaufmann in Kupferzell.<br />
71<br />
70 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>
Die am 2. März <strong>1848</strong> durch König Wilhelm I. von Württemberg aufgehobene Pressezensur<br />
ist eine der ersten Errungenschaften der beginnenden <strong>Revolution</strong>szeit. Das oberamtliche<br />
Amts- und Intelligenzblatt für Neuenbürg nennt sich von da an Der Enztäler.<br />
Am 20. März <strong>1848</strong> kommt es in der Oberamtsstadt zu einer großen Demonstration der<br />
Landbevölkerung aus den Bezirksgemeinden. Die Ziele sind weitgehend unpolitisch, es<br />
geht um Rechtsansprüche am Staatswald.<br />
In der Oberamtsstadt selbst fallen einige liberal gesinnte Honoratioren in jenen Jahren<br />
besonders auf. Stadtschultheiß Wilhelm Fischer versucht aufgrund seiner Mitgliedschaft<br />
in der württembergischen Ständekammer, den Neuenbürger Stadtrat für freiheitliche<br />
Ideen zu begeistern. Im Sommer <strong>1848</strong> tritt Fischer <strong>–</strong> infolge Differenzen mit dem<br />
Oberamtmann <strong>–</strong> zusammen mit anderen Stadträten zurück. Schulmeister Georg Konrad<br />
Kaiser gründet eine private Schule, die sich die Schullehrerausbildung zum Ziel setzt. Während<br />
seiner Lehrtätigkeit verfasst er <strong>auch</strong> ein Lesebuch. Die Teilnahme an einem Vortrag<br />
Joseph Ficklers, Redakteur der Konstanzer Seeblätter, in Reutlingen setzt aber seinem<br />
Lebenswerk <strong>–</strong> der Schule <strong>–</strong> ein jähes Ende. Die württembergische Regierung verbietet<br />
seiner Privatschule strikt jede weitere Lehrtätigkeit. Wilhelm Ganzhorn, der aus Sindelfingen<br />
stammt, wirkt seit 1844 als zweiter Amtsrichter in Neuenbürg. Er steht schon vor<br />
der <strong>Revolution</strong> in engem Kontakt mit dem bekannten Publizisten Hermann Kurz. Ganzhorn<br />
fungiert gewissermaßen als Mittelsmann zwischen Karlsruhe und Stuttgart. Mit Pfarrer<br />
Brock aus Ottenhausen ruft er schon am 13. Dezember 1847 zu einer Spendenaktion<br />
auf. Die Einnahmen sollen den damals liberal gesinnten Vaterländischen Vereinen zugute<br />
kommen. Ganzhorn wird in Neuenbürg Vorstandsmitglied und treibende Kraft des<br />
dortigen Vereins. Neben seinem Beruf und seinem politischen Interesse widmet er sich<br />
der Poesie. Bekannt wird er vor allem als Dichter des Volksliedes Im schönsten Wiesengrunde,<br />
das vermutlich <strong>im</strong> Burgtal bei Conweiler entstand.<br />
Bemerkenswert ist, dass der Führer der badischen Liberalen, Karl Mathy, die Interessen<br />
des Wahlkreises Neuenbürg-Calw-Altensteig in der Frankfurter Paulskirche vertritt.<br />
Seine Kandidatur in Württemberg ergibt sich auf Empfehlung des Vaterländischen Hauptvereins<br />
in Stuttgart, da ihm nur geringe Chancen für einen Wahlsieg in seiner He<strong>im</strong>atstadt<br />
Mannhe<strong>im</strong> eingeräumt werden. Mathy hatte nämlich den Hecker-Aufstand verhindern<br />
wollen und den radikalen Demokraten Joseph Fickler verhaften lassen. Der populäre<br />
Politiker avancierte zum erklärten Feind der badischen Linken. Im gemäßigten Nordschwarzwald<br />
dagegen hat Mathy bessere Chancen, und so vermittelt Wilhelm Ganzhorn<br />
Mathys Kandidatur. Am 24. April <strong>1848</strong> wird Mathy in einer großen Volksversammlung<br />
auf dem Neuenbürger Marktplatz von den dortigen Wahlmännern gewählt. Das<br />
Votum für den Mannhe<strong>im</strong>er Publizisten als Ausländer ist ein Signal in der schwäbischen<br />
Oberamtsstadt für die angestrebte deutsche Einheit. Aber <strong>auch</strong> die Neuenbürger sind<br />
schon bald mit ihrem Abgeordneten unzufrieden. Im September st<strong>im</strong>mt die Nationalversammlung<br />
dem das deutsche Nationalbewusstsein empfindlich treffenden Waffenstillstand<br />
Preußens mit Dänemark zu. Auch Mathy votiert hierfür. Seine Wähler versammeln<br />
sich deshalb in Calmbach und schreiben ihm: Wir erklären Ihnen, daß Sie unsere<br />
1937, S. 352.<br />
14 GLA Karlsruhe 376/94:92.<br />
15 Der Enztäler vom 16.9.<strong>1848</strong>, S. 333.<br />
1 Ich danke meinen „Mitrevolutionären“ <strong>–</strong> den Mitgliedern der VHS-Arbeitsgruppe <strong>–</strong> Udo R. Behner, Werner<br />
Engel, Doris Hartwich, Alexander Morlock, Reinhold Müller und Anna Zeeb für ihre Mitarbeit sowie<br />
Alois Amann, Hartmut Harfensteller, Olaf Schulze und dem Kulturhaus Osterfeld e.V. sowie Rudolf Vögele<br />
für Auskünfte und die Bereitstellung von Material. Werner Engel und Alexander Morlock haben darüber<br />
hinaus die Kapitel zu Carl Dittler beziehungsweise zur <strong>Revolution</strong> <strong>im</strong> „Biet“ in diesem Beitrag verfasst.<br />
2 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 229/8594:41.<br />
3 Erstes Aufgebot = unverheiratete Männer zwischen 18 und 30 Jahren der in der Mairevolution von 18<strong>49</strong><br />
neuaufgestellten Bürgerwehren.<br />
4 Neu verpflichteter Bezirksvorsteher, der 18<strong>49</strong> die Anordnungen der revolutionären Regierung durchzusetzen<br />
hat.<br />
5 Ausbilder des „ersten Aufgebots“ <strong>im</strong> Auftrag des Zivilkommissärs.<br />
6 GLA Karlsruhe 369/1476:25.<br />
7 GLA Karlsruhe 369/3291:2.<br />
8 Raab, Heinrich: <strong>Revolution</strong>äre in Baden <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>. Biographisches Inventar für die Quellen <strong>im</strong> Generallandesarchiv<br />
Karlsruhe und <strong>im</strong> Staatsarchiv Freiburg (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung<br />
Baden-Württemberg, Band 48). Stuttgart 1998.<br />
9 Die hier genannten Zahlen beruhen auf Listenausdrucken der Datei von Heinrich Raab, Karlsruhe, der<br />
diese vor Veröffentlichung seiner Arbeit dem Kreisarchiv des <strong>Enzkreis</strong>es dankenswerterweise zur Verfügung<br />
gestellt hat. Die Datei wurde für die Drucklegung noch überarbeitet.<br />
10 GLA Karlsruhe 243/1944.<br />
11 GLA Karlsruhe 369/1889.<br />
12 GLA Karlsruhe 369/1341.<br />
13 Reiling, Gustav Adolf: Geschichte der ehemals frauenalbischen Dörfer Ersingen und Bilfingen. Pforzhe<strong>im</strong><br />
Anmerkungen<br />
Ein Badener für Neuenbürg!<br />
Ansicht nicht mehr vertreten. Wir erinnern Sie an Ihr Wort in Neuenbürg, daß, wenn Sie<br />
nicht <strong>im</strong> Sinn Ihrer Wähler handeln, wir es Ihnen sagen sollen, dann werden Sie wissen,<br />
was Sie zu thun haben. Diese Zeit ist gekommen. 15 Auch Wilhelm Ganzhorn unterzeichnet<br />
diese Aufforderung. Karl Mathy wird aus Frankfurt abberufen.<br />
Das Jahr 18<strong>49</strong> verläuft <strong>im</strong> Oberamt Neuenbürg relativ ruhig. Die Niederschlagung<br />
der badischen <strong>Revolution</strong> verursacht lediglich einige Nervosität. Der revolutionäre Eifer<br />
<strong>–</strong> soweit in der Bevölkerung überhaupt vorhanden <strong>–</strong> war schnell verflogen.<br />
73<br />
72 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>