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Animation, Darstellendes Spiel und Video in der ... - Vitos Akademie

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Dynamik <strong>und</strong> Milieu <strong>der</strong> Stationsgruppe:<br />

Gruppenpädagogische Ansätze<br />

Von Hanswerner Kruse, Gießen 1<br />

1. EINLEITUNG............................................................................................................................................... 2<br />

2. ZUR THEORIE DER GRUPPE........................................................................................................................ 2<br />

3. GRUPPENPÄDAGOGIK IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE ............................................................ 6<br />

3.1 Die Stationsgruppe als Gruppe........................................................................................................... 6<br />

3.2 Abschweifungen zur Stationsgruppe, zum Geme<strong>in</strong>samen Tun <strong>und</strong> zu Ritualen............................ 11<br />

3.3 Beurteilung <strong>der</strong> Gruppensituation.................................................................................................... 13<br />

3.4 Planung <strong>der</strong> pflegerisch-erzieherischen Gruppenarbeit.................................................................. 16<br />

3.5 Fallbeispiel ........................................................................................................................................ 17<br />

4. SCHLUSSBEMERKUNG.............................................................................................................................. 19<br />

5. ZUM WEITERLESEN ................................................................................................................................. 20


1. E<strong>in</strong>leitung<br />

„H. hat <strong>in</strong> den letzten drei Tagen so gut wie ke<strong>in</strong>e Körperpflege mehr betrieben. Auch ihre<br />

Kleidung hat sie nicht gewechselt. In <strong>der</strong> Gruppe werden erste kritische Äußerungen laut, zu<br />

ihrem M<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Schweißgeruch, gerade am Esstisch...“<br />

„K. fühlt sich durch das ‚Tätscheln‘ e<strong>in</strong>es Jungen belästigt, traut sich aber nicht, ihm das zu<br />

sagen o<strong>der</strong> ihm Grenzen zu setzen. Sie erfährt im Gruppengespräch, dass es an<strong>der</strong>en Mädchen<br />

auch so geht <strong>und</strong> sie das Grabbeln nicht mögen. Nun traut sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, das<br />

dem Jungen auch zu sagen...”<br />

„Wir hatten mal e<strong>in</strong>en Jungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, <strong>der</strong> war nicht so helle <strong>und</strong> wir befürchteten,<br />

dass er Schwierigkeiten mit den an<strong>der</strong>en bekommen könnte. Es war ja klar, dass er wenig<br />

kann, Regeln e<strong>in</strong>halten <strong>und</strong> so. Also haben wir danach geschaut was er denn so für Fähigkeiten<br />

hat <strong>und</strong> wir haben dann herausgef<strong>und</strong>en, dass er sehr rhythmisch veranlagt ist. Also haben<br />

wir viel Musik gemacht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe damals, da stand er dann ganz oft im Mittelpunkt...”<br />

2<br />

Die von Mitarbeiter<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Mitarbeitern des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes berichteten<br />

Beispiele machen die Vielfalt von dem deutlich, was ‚Gruppe‘ im Alltag <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

- neben sonstigen therapeutischen Gruppen - alles se<strong>in</strong> <strong>und</strong> leisten kann. Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te,<br />

auffällig gewordene o<strong>der</strong> psychisch kranke K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche werden nicht<br />

nur aus Kostengründen <strong>in</strong> Gruppen untergebracht, son<strong>der</strong>n Gruppen werden <strong>in</strong> sozial- <strong>und</strong><br />

beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenpädagogischen E<strong>in</strong>richtungen o<strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>iken für K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

ausdrücklich als Möglichkeit zum sozialen Lernen aufgefasst. Trotz unterschiedlicher Formen<br />

ist Gruppenpädagogik gekennzeichnet durch<br />

• Alltagsorientierung, d.h. Lernen, Verän<strong>der</strong>ung, Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung f<strong>in</strong>det im Alltag <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> alltäglichen Situationen statt<br />

• Ganzheitlichkeit, d.h. es s<strong>in</strong>d kognitive, emotionale <strong>und</strong> soziale Lernerfahrungen möglich<br />

• relative Offenheit, d.h. die Lern- <strong>und</strong> Verän<strong>der</strong>ungsprozesse s<strong>in</strong>d nicht völlig plan- <strong>und</strong><br />

berechenbar <strong>und</strong> auch die Betreuenden selbst s<strong>in</strong>d Lernende.<br />

E<strong>in</strong>e Gruppe ist nicht gr<strong>und</strong>sätzlich heilend o<strong>der</strong> pädagogisch s<strong>in</strong>nvoll, sie kann auch zur Stabilisierung<br />

vorhandener Probleme beitragen o<strong>der</strong> neue Schwierigkeiten für e<strong>in</strong>zelne K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> Jugendliche schaffen. Deshalb s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> bewusste Umgang des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes<br />

mit Gruppenprozessen im Stationsalltag sowie Planung <strong>und</strong> Durchführung beson<strong>der</strong>er<br />

Gruppenaktivitäten e<strong>in</strong> wichtiges <strong>und</strong> notwendiges Arbeitsfeld. Wie die oben zitierten<br />

Beispiele zeigen, kann <strong>der</strong> Gruppenalltag zur Gruppenpädagogik werden, wenn er bewusst als<br />

soziales Lernfeld für alle Beteiligten verstanden wird. Beson<strong>der</strong>e Gruppen – d.h. M<strong>in</strong>igruppen<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Stationsgruppe o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e, gruppenübergreifende Gruppen – können diesen<br />

Lernprozess unterstützen, <strong>in</strong> dem es immer um die Realisierung von Lern- <strong>und</strong> Behandlungszielen<br />

für die e<strong>in</strong>zelnen Patienten geht!<br />

2. Zur Theorie <strong>der</strong> Gruppe<br />

Wenn wir uns <strong>in</strong> verschiedenen Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungen mit Gruppe, Gruppenstrukturen<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsproblemen <strong>in</strong> Gruppen beschäftigen, taucht schnell immer wie<strong>der</strong> die<br />

Frage auf, „Was ist denn nun mit <strong>der</strong> Gruppendynamik“ o<strong>der</strong> es werden konkrete Tips <strong>und</strong><br />

Hilfsmöglichkeiten „für die Gruppendynamik“ gefor<strong>der</strong>t. Sprechen wir von <strong>der</strong> Analyse <strong>und</strong><br />

bewußten Gestaltung des Gruppenalltags, fragen die Erziehenden <strong>und</strong> Pflegenden oft unwillig<br />

nach „Erlebnisorientierung“ <strong>und</strong> schwärmen von Wald- o<strong>der</strong> Paddelpädagogik. Im ersten Teil<br />

-2-


unserer Überlegungen werden wir deshalb versuchen, näher zu beschreiben, wie e<strong>in</strong>e Gruppe<br />

‚funktioniert‘, im zweiten Teil wollen wir die Alltagsorientierung <strong>der</strong> Stationsgruppe <strong>und</strong> im<br />

dritten Teil beson<strong>der</strong>e pflegerisch-erzieherische Gruppen <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP ansehen.<br />

Das Wort Gruppe geht auf das althochdeutsche Wort Kropf zurück <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t damit<br />

e<strong>in</strong>en Knoten. Der Urvater <strong>der</strong> Gruppendynamik HOFSTÄTTER schreibt dazu „Wo sich die<br />

Lebens- o<strong>der</strong> Erlebensl<strong>in</strong>ien mehrerer Wesen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger verknoten, haben<br />

wir e<strong>in</strong>e Gruppe vor uns“ 3 .<br />

Gruppendynamik ist heute ke<strong>in</strong> präziser Begriff, ke<strong>in</strong>e bestimmte Theorie mehr son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong><br />

„Sammelsurium“ (GUDJONS 1993) unterschiedlicher Ansätze mit verschiedenen Theorieh<strong>in</strong>tergründen,<br />

die sich mit <strong>der</strong> Struktur <strong>und</strong> Entwicklung von Gruppen befassen. Aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Ebenenvielfalt bleibt <strong>der</strong> Begriff „unscharf“ (KÖNIG 1999 S.11). Ursprünglich war<br />

Gruppendynamik die Bezeichnung für e<strong>in</strong>e von Lew<strong>in</strong> begründete Forschungsrichtung <strong>der</strong><br />

Sozialpsychologie, um Arten, Formen <strong>und</strong> Funktionen von Gruppen zu untersuchen. Sie wird<br />

heute auch verstanden als e<strong>in</strong> Potpourri von Übungen <strong>und</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsmethoden, die zur Bee<strong>in</strong>flussung<br />

von Gruppenprozessen o<strong>der</strong> zum sozialen Lernen nützlich s<strong>in</strong>d.<br />

Gruppendynamik lehrt uns, das Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von Menschen als e<strong>in</strong>en dynamischen Prozess<br />

zu analysieren, zu beschreiben, zu begreifen <strong>und</strong> auf diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> Handlungsmuster<br />

im hier <strong>und</strong> jetzt zu verän<strong>der</strong>n. Menschliches Handeln ist nicht zufällig son<strong>der</strong>n<br />

bildet sich aus <strong>der</strong> Wechselbeziehung zwischen Individuen, die sich <strong>in</strong> ihrem Handeln an<br />

wechselseitigen Erwartungen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>stellungen orientieren <strong>und</strong> dadurch zu festen Handlungsmustern<br />

kommen.<br />

Gruppenpädagogik ist e<strong>in</strong> Nebenzweig <strong>der</strong> Gruppendynamik, <strong>der</strong> - nach <strong>der</strong> sozialpädagogischen<br />

Reformeuphorie <strong>in</strong> den 70er Jahren - etwas <strong>in</strong> Vergessenheit geraten ist. Die Übergänge<br />

von Gruppendynamik <strong>und</strong> Gruppenpädagogik s<strong>in</strong>d fließend, denn auch Gruppenpädagogik<br />

wird als Möglichkeit gesehen, das Handeln von Individuen <strong>in</strong> <strong>und</strong> durch die Gruppe sowie die<br />

gesamte Gruppe zu bee<strong>in</strong>flussen. Sie geht mit ihrem Anspruch weit über ‚Gruppenarbeit‘ h<strong>in</strong>aus,<br />

die unterstellt, Aufgaben seien <strong>in</strong> Gruppen gr<strong>und</strong>sätzlich schneller <strong>und</strong> effektiver zu lösen<br />

4 . Gruppenpädagogik ist zielorientiert <strong>und</strong> betont ihre spezifische Ausrichtung als<br />

erzieherische E<strong>in</strong>wirkung, sie „ist die Anwendung gruppendynamischer Konzepte im<br />

pädagogischen Kontext. Sie ist e<strong>in</strong> Ansatz pädagogischen Handelns, <strong>der</strong> die Gruppe als Ort<br />

<strong>und</strong> Medium sowohl <strong>in</strong>dividueller als auch sozialer Reifung betrachtet“ (SCHMIDT-<br />

GRUNERT 1999 S.7). Berücksichtigt wird dabei die Wechselwirkung von Aufgabenlösung<br />

<strong>und</strong> Beziehungsstruktur <strong>und</strong> es wird – im S<strong>in</strong>ne demokratischer Erziehung – viel Wert auf<br />

große Selbsttätigkeit <strong>der</strong> Gruppen gelegt. Dadurch be<strong>in</strong>haltet Gruppenpädagogik immer auch<br />

soziales Lernen, d.h. Erlernen neuer Beziehungsformen, Aushandeln von Regeln, Lösungsmöglichkeiten<br />

für Spannungen <strong>und</strong> Konflikte, Kooperation (KLAFKI 1993).<br />

Als wichtige Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Gruppenpädagogik 5 gelten seit jeher die ‚Fünf goldenen Regeln‘<br />

für die Gruppenleitung: Individualisieren, d.h. mit den Stärken <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen arbeiten (1).<br />

Anfangen, wo die Gruppe steht (2). Sich entbehrlich machen <strong>und</strong> viel Raum für Selbständigkeit<br />

gewähren (3). Hilfe durch Programmgestaltung (4). Erzieherisch notwendige Grenzen<br />

setzen (5).<br />

Die Chancen <strong>der</strong> Gruppenpädagogik lassen sich meist jedoch nur <strong>in</strong> ‚echten‘ Kle<strong>in</strong>gruppen<br />

bzw. <strong>in</strong> ihrem Entwicklungsprozess verwirklichen. Um Überfor<strong>der</strong>ungen von Leitern o<strong>der</strong><br />

Mitglie<strong>der</strong>n auszuschließen, ist es oft notwendig herauszuf<strong>in</strong>den, ob manche Menschenansammlungen<br />

überhaupt ‚Gruppen‘ s<strong>in</strong>d. Im folgenden soll deshalb etwas genauer h<strong>in</strong>geschaut<br />

werden wenn von Gruppe die Rede ist, denn viele soziale Gebilde, die man so bezeichnet,<br />

s<strong>in</strong>d häufig gar ke<strong>in</strong>e 6 :<br />

-3-


Die Gruppe <strong>der</strong> Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen im Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst <strong>der</strong> KJPs<br />

<strong>in</strong> Deutschland wird schlecht bezahlt... Auf dem zweitägigen Kongress zu Fragen <strong>der</strong> KJP<br />

trafen sich die Teilnehmer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Teilnehmer <strong>in</strong> vielen Arbeitsgruppen... Die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter <strong>der</strong> Stationsgruppe P3 führen seit Jahren regelmäßig ihre Therapiekonferenz<br />

am Mittwoch durch...<br />

Als ‚echte‘ Gruppe - als Kle<strong>in</strong>gruppe - wird man wohl nur das Team <strong>der</strong> Stationsgruppe bezeichnen<br />

können, denn hier kennen sich alle von Angesicht zu Angesicht <strong>und</strong> es haben sich<br />

feste Strukturen im Team herausgebildet. Die schlecht bezahlten psychiatrisch Tätigen s<strong>in</strong>d<br />

dagegen e<strong>in</strong>e ‚soziale Kategorie‘, die geme<strong>in</strong>same Merkmale haben wie ihre Ausbildung <strong>und</strong><br />

das Tätigse<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP, sie kennen sich nicht persönlich. Die Kongressteilnehmer lernen<br />

sich zwar näher kennen, aber sie treffen nur kurzzeitig zusammen, <strong>in</strong> ihren Arbeitsgruppen<br />

bilden sie lediglich m<strong>in</strong>imale Strukturen heraus (‚situative Gruppierung).<br />

Für e<strong>in</strong>e ‚echte‘ Kle<strong>in</strong>gruppe sollten viele <strong>der</strong> folgenden Merkmale erfüllt se<strong>in</strong>. Man darf sich<br />

diese Eigenschaften allerd<strong>in</strong>gs nicht als sture Checkliste vorstellen, denn diese Kriterien können<br />

auch die Gruppenarbeit anregen <strong>und</strong> zu – bewusst angepeilten - Zielebenen werden:<br />

„Echte“ Kle<strong>in</strong>gruppen s<strong>in</strong>d Gruppen, zu denen weniger als 12 – 15 Personen gehören (1), die<br />

sich persönlich kennen (2) <strong>und</strong> die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nicht zufälligen, sich meist wie<strong>der</strong>holenden Bezug<br />

zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. Kle<strong>in</strong>gruppen s<strong>in</strong>d also überschaubar groß <strong>und</strong> haben e<strong>in</strong>e Gruppenstruktur<br />

ausgebildet (3). In ihnen spielen die Gefühle <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Rolle (4) <strong>und</strong> es gibt geme<strong>in</strong>same sachliche <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> emotionale, von allen verfolgte Ziele<br />

(5). Normen werden oft geme<strong>in</strong>sam entwickelt (6) <strong>und</strong> für die Lösung e<strong>in</strong>er Aufgabe ist die<br />

Qualität <strong>der</strong> Beziehungen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wichtig (7). Je<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>wechsel verän<strong>der</strong>t die<br />

Gruppe (8) <strong>und</strong> schließlich entwickelt man <strong>in</strong> diesen Gruppen auch e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit,<br />

e<strong>in</strong> Wir-Gefühl (9).<br />

Es gibt unterschiedliche Kommunikationsstrukturen <strong>in</strong> Gruppen: Kontaktaufnahmen zwischen<br />

den Beteiligten können e<strong>in</strong>seitig o<strong>der</strong> wechselseitig se<strong>in</strong>, es können alle Kontakt mit<br />

allen haben o<strong>der</strong> die Kontakte können ungleich verteilt se<strong>in</strong>. Da die Kontakte zwischen den<br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong>n häufig typisch <strong>und</strong> regelmäßig verlaufen, entstehen „Quasirollen“. Quasirollen<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Bündel typischer Handlungen e<strong>in</strong>zelner Gruppenmitglie<strong>der</strong> (‚Verhaltenstypisierungen‘),<br />

denen man e<strong>in</strong>en treffenden Namen geben kann. Beispielsweise versucht<br />

<strong>der</strong> ‚sachliche Führer‘ immer wie<strong>der</strong> die geme<strong>in</strong>same Arbeit ernsthaft voranzubr<strong>in</strong>gen,<br />

die ‚Gruppenmutter‘ sorgt für gute Stimmung <strong>und</strong> den Ausgleich zwischen Streitenden <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Clown‘ macht ständig Witzchen, kann nichts ernst nehmen <strong>und</strong> stört oft die Arbeit. Der<br />

F<strong>und</strong>us an Quasirollen ist nicht unbegrenzt, es f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Gruppen immer wie<strong>der</strong> gleiche<br />

o<strong>der</strong> ähnliche, typische Verhaltensweisen. Obwohl nicht ausdrücklich als Rolle gefor<strong>der</strong>t -<br />

deshalb Quasirollen - agieren Menschen <strong>in</strong> Gruppen h<strong>in</strong>sichtlich<br />

• <strong>der</strong> Aufgabe als sachliche Führer, Koord<strong>in</strong>atoren, Macher usw.<br />

• <strong>der</strong> sozialen Situation <strong>der</strong> Gruppe als emotionale Führer, Streithähne <strong>und</strong> Friedensstifter,<br />

aber auch schwarze Schafe usw.<br />

• <strong>in</strong>dividueller Bedürfnisse als Clowns, Mauerblümchen, Angeber usw.<br />

Quasirollen lassen sich auch mit leicht an<strong>der</strong>er Perspektive <strong>in</strong> ‚Aufgabenrollen‘, ‚Erhaltungsrollen‘<br />

<strong>und</strong> Störungsrollen‘ differenzieren. Diese typischen Handlungen können vor allem<br />

aber nur verstanden werden, wenn man die ganze Quasirollenstruktur e<strong>in</strong>er Gruppe betrachtet,<br />

denn Quasirollen s<strong>in</strong>d häufig nicht Sache <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen, son<strong>der</strong>n sie stützen sich wechselseitig:<br />

Helfer brauchen Hilflose, Vielredner brauchen Schweiger, Führer brauchen gefolgsame<br />

Mitmacher, Witzbolde brauchen Lacher.<br />

-4-


Solche Strukturen können sich negativ auf das Klima auswirken, weil ke<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

mehr stattf<strong>in</strong>den kann o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne unzufrieden mit ihrer Quasirolle s<strong>in</strong>d. Witzbolde werden<br />

nicht ernst genommen wenn sie Probleme haben, Verunsicherung tritt auf, wenn die Macher<br />

ke<strong>in</strong>e Initiative zeigen o<strong>der</strong> Helfer zu Hilfsbedürftigen werden. Bei dieser Betrachtungsweise<br />

wird die vertikale Kommunikationsstruktur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Blick genommen. Daneben gibt es die horizontale<br />

Kommunikationsstruktur d.h. die Macht- o<strong>der</strong> Hierarchiestruktur. Denn ob jemand<br />

Vielredner (Quasirolle) o<strong>der</strong> offizieller Gruppenleiter (formale Rolle) ist, sagt noch wenig<br />

über die tatsächliche Machtverteilung. Man spricht dann von Macht <strong>in</strong> sozialen Beziehungen ,<br />

wenn Gruppenmitglie<strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Handeln an<strong>der</strong>er Gruppenmitglie<strong>der</strong> – auch gegen<br />

<strong>der</strong>en Willen – bee<strong>in</strong>flussen können.<br />

In <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Differenzierung von Gruppen gibt es auch e<strong>in</strong> häufig diskutiertes Muster von<br />

Rangpositionen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich Quasirollen <strong>und</strong> Macht mischen 7 :<br />

• Die herausragende Alpha-Position (Führer, Leithammel), mit sachlichem <strong>und</strong> emotionalem<br />

Aspekt. Beide Positionen können auf e<strong>in</strong>e Person fallen, häufiger werden sie von unterschiedlichen<br />

Personen besetzt.<br />

• Die eher abseits des Machtgerangels stehende aber auch herausgehobene Beta-Position<br />

(Experte, Kritiker). Eher e<strong>in</strong>e Randposition, denn <strong>der</strong> Betarepräsentant ist meist nicht so<br />

sehr auf die Gruppe angewiesen. Sehr konstruktiv kann e<strong>in</strong>e Art Paarbildung von Alpha<br />

<strong>und</strong> Beta se<strong>in</strong>. Wird die Betaposition als negativ empf<strong>und</strong>en, kann „das Beta-Tierchen“<br />

leicht <strong>in</strong> die Omega-Position – z.B. als Sündenbock – abrutschen.<br />

• Die für die Gruppe wichtige <strong>und</strong> meist mehrfach besetzte Gamma-Position (normales<br />

Mitglied, Helfer, Mitläufer, Schweiger, Schleimer).<br />

• Die rangniedrige Omega-Position (Außenseiter, Sündenbock), die oft als Stellvertreter<br />

e<strong>in</strong>es äußeren Fe<strong>in</strong>des <strong>der</strong> Gruppe betrachtet wird.<br />

Die Herausbildung von Gruppenstrukturen <strong>und</strong> Quasirollen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Prozess, <strong>in</strong> dem<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel verschiedene Entwicklungsphasen ausmachen lassen 8 . Es ist s<strong>in</strong>nvoll,<br />

sowohl die Aufgabe d.h. die Themen <strong>und</strong> Inhalte <strong>der</strong> Gruppe als auch ihre Beziehungsentwicklung<br />

<strong>in</strong> den Blick zu nehmen.<br />

Phase 1: Orientierung <strong>und</strong> Gruppenbildung<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Aufgabe <strong>und</strong> Abtasten <strong>der</strong> Beziehung zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, es wird<br />

nach Sympathie <strong>und</strong> Abneigung geschaut, Geme<strong>in</strong>samkeiten werden herausgef<strong>und</strong>en<br />

usw.. Es gibt noch ke<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl, die E<strong>in</strong>zelnen denken nur an sich. Der Leiter<br />

muss <strong>in</strong> dieser Situation Regeln vermitteln sowie Orientierung <strong>und</strong> Sicherheit bieten.<br />

Konflikt <strong>und</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

Annahme o<strong>der</strong> Ablehnung <strong>der</strong> Aufgabe bzw. Zustimmung o<strong>der</strong> Verweigerung. Kampf um<br />

(Quasi-) Rollen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fluss (Macht), je<strong>der</strong> sucht e<strong>in</strong>en anerkannten Platz - auch negativ<br />

als ‚Störer‘ o<strong>der</strong> ‚schwarzes Schaf‘. Es entsteht e<strong>in</strong> Netz von Sympathie <strong>und</strong> Abneigung.<br />

Manche Gruppen kommen nie über diese Phase h<strong>in</strong>aus! Der Leiter muss sich gegen Vere<strong>in</strong>nahmung<br />

wehren <strong>und</strong> unparteiisch handeln sowie Grenzen setzen, die Festschreibung<br />

von negativen (Quasi-) Rollen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, schwache Mitglie<strong>der</strong> unterstützen <strong>und</strong> se<strong>in</strong> eigenes<br />

Verhalten als Modell anbieten<br />

Phase 3: Konsens <strong>und</strong> Pseudoharmonie<br />

Die Gruppe rauft sich zusammen, Schwächen <strong>und</strong> Stärken <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen s<strong>in</strong>d erkannt,<br />

Quasi-Rollen werden ausgehandelt also angenommen o<strong>der</strong> abgewehrt – sie stabilisieren<br />

sich. Es entsteht e<strong>in</strong> Gruppenzusammenhalt, allerd<strong>in</strong>gs auch Pseudoharmonie durch Abgrenzung<br />

nach außen. In jugendlichen Vere<strong>in</strong>igungen häufig mit eigener Gruppensprache<br />

-5-


<strong>und</strong> ‚coolen‘ Erkennungszeichen. Der soziale Druck zur E<strong>in</strong>fügung <strong>und</strong> Anpassung (Normen,<br />

Sprache usw.) an die E<strong>in</strong>zelnen ist hoch. Neue werden als Bedrohung erlebt. Die<br />

Gruppe ist aber <strong>in</strong> dieser Phase sehr offen für Sachthemen <strong>und</strong> <strong>in</strong>haltliche Arbeit. Der Leiter<br />

muss die Rollenstruktur im Blick haben, offen Konflikte, Beziehungen usw. ansprechen,<br />

die Stärken E<strong>in</strong>zelner herausf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> Hilfe zur Entfaltung geben.<br />

Phase 4: Identität bzw. Differenzierung <strong>der</strong> Gruppe wird selten erreicht<br />

Es gibt feste Gruppenstrukturen <strong>und</strong> emotionale Beziehungen, geme<strong>in</strong>same Normen <strong>und</strong><br />

Zielvorstellungen, alle 9 Merkmale e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>gruppe s<strong>in</strong>d erfüllt! Sowohl Rollenverän<strong>der</strong>ungen,<br />

Gefühlsäußerungen <strong>und</strong> sachliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen s<strong>in</strong>d möglich.<br />

Phase 5: Trennungsphase<br />

3. Gruppenpädagogik <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

3.1 Die Stationsgruppe als Gruppe<br />

Während ich diesen Text schreibe, mache ich e<strong>in</strong>en Praxisbesuch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hessischen K<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>und</strong><br />

Jugendpsychiatrie, die Sonne sche<strong>in</strong>t, ich sitze im ebenerdigen Gruppenraum <strong>und</strong> lese im<br />

Stationskonzept etwas zur psychotherapeutischen Begleitung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> bei Bewegungsspielen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Turnhalle. Draußen krabbeln drei K<strong>in</strong><strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>em Baum herum. „Dürfen die das<br />

denn“ frage ich überrascht den Erzieher; er erläutert mir die Regeln: Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> dürften<br />

e<strong>in</strong>zig diesen Baum beklettern, es könnten nur so viel K<strong>in</strong><strong>der</strong> auf den Baum, wie dieser tragen<br />

kann, wie viele ist allerd<strong>in</strong>gs offen. Den K<strong>in</strong><strong>der</strong> seien ke<strong>in</strong>e Hilfsmittel zum Besteigen erlaubt,<br />

damit sie alle<strong>in</strong> wie<strong>der</strong> herunterkämen. E<strong>in</strong> etwas dickes, ungeschicktes K<strong>in</strong>d habe gerade<br />

e<strong>in</strong>e Woche lang den Aufstieg geübt, nachdem ihm die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> die Regel erläutert<br />

hätten...<br />

Es gab <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit viele Argumente, die dem Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst <strong>in</strong> den<br />

Kl<strong>in</strong>iken für K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie großen E<strong>in</strong>fluss auf die Behandlung zubilligen –<br />

etwa diese Betreuenden verbrächten viel Zeit mit den Patienten, sie hätten wichtige Kontakte<br />

mit den Eltern o<strong>der</strong> könnten die psychotherapeutischen Ziele im Alltag fortsetzen. Dieser E<strong>in</strong>fluss<br />

kann aber nicht „von <strong>der</strong> Kooperationsbereitschaft alljährlich wechseln<strong>der</strong> Stationsärzte“<br />

abhängen, wie es e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Krankenschwester beklagte. Es ist notwendig, dass <strong>der</strong> Pflege-<br />

<strong>und</strong> Erziehungsdienst – hier im Zusammenhang mit unserem Thema Gruppenpädagogik –<br />

selbst se<strong>in</strong>en eigenständigen Behandlungsbeitrag erkennt <strong>und</strong> def<strong>in</strong>iert, am besten auch konzeptionell<br />

verankert sowie im multiprofessionellen Team durchsetzt. So kann er se<strong>in</strong>en therapeutischen<br />

Anteil professionalisieren <strong>und</strong> von Zufälligkeit, Verschwommenheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition<br />

an<strong>der</strong>er Berufsgruppen befreien. In diesem Zusammenhang sei daran er<strong>in</strong>nert, dass<br />

gerade mal vor 15 Jahren mit <strong>der</strong> Neufassung des Krankenpflegegesetzes die „verantwortliche<br />

Mitwirkung bei <strong>der</strong> Verhütung, Erkennung <strong>und</strong> Heilung von Krankheiten“ (§ 4, KrPflG) <strong>der</strong><br />

Krankenpflegeberufe festgeschrieben wurde.<br />

In <strong>der</strong> Erwachsenenpsychiatrie muss die Notwendigkeit <strong>der</strong> Gruppenarbeit für den Pflegebereich<br />

häufig erst begründet werden o<strong>der</strong> ist aufgr<strong>und</strong> großer Stationen <strong>und</strong> kurzer Verweildauer<br />

kaum möglich. Dagegen gehören Gruppe <strong>und</strong> Gruppenpädagogik von den gr<strong>und</strong>legenden<br />

Verordnungen, den Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> vom beruflichen Selbstverständnis her zum<br />

genu<strong>in</strong>en Aufgabenbereich des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP: Geme<strong>in</strong>sames<br />

Tun im Alltag 9 <strong>und</strong> pflegerisch-erzieherische Gruppenangebote s<strong>in</strong>d notwendige Elemente<br />

des Behandlungsprozesses.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Streifzug durch Verordnungen <strong>und</strong> Theorien soll das noch etwas deutlicher machen:<br />

-6-


Das Ges<strong>und</strong>heitsreformgesetz (1.1.89) verpflichtet die Krankenhäuser <strong>und</strong> ihre Träger zur<br />

Qualitätssicherung. Die Voraussetzung für die Entwicklung <strong>und</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Qualitätssicherung<br />

ist die Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV KUNZE 1994), die wie<strong>der</strong>um<br />

die Umsetzung <strong>der</strong> therapeutischen Inhalte <strong>und</strong> Ziele e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t, um die Patienten zu befähigen,<br />

außerhalb stationärer E<strong>in</strong>richtungen ihr Leben weitgehend selbst zu gestalten (S.34). Die<br />

notwendige Behandlung wird im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Team durchgeführt, explizit werden „k<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

<strong>und</strong> jugendpsychiatrische Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung“ genannt <strong>und</strong> „Soziotherapie“<br />

gefor<strong>der</strong>t, die <strong>in</strong> diesem Zusammenhang def<strong>in</strong>iert wird als „alle behandlungsorientierten E<strong>in</strong>flussmaßnahmen<br />

auf die Wechselwirkung zwischen <strong>der</strong> Erkrankung des Patienten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em<br />

sozialen Umfeld“ (S.61).<br />

Weiter heißt es: „Basis <strong>der</strong> stationären K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> jugendpsychiatrischen Behandlung ist die<br />

pflegerisch-heilpädagogische Behandlungsgruppe. E<strong>in</strong>e Station umfasst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel zwei<br />

Behandlungsgruppen. Das gr<strong>und</strong>sätzliche Erfor<strong>der</strong>nis des Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>und</strong> Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

von Therapie <strong>und</strong> Erziehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> stationären K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie ergibt sich daraus,<br />

dass sich K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em lebhaften Entwicklungsprozess bef<strong>in</strong>den <strong>und</strong><br />

auf Stützung, Erziehung <strong>und</strong> Führung angewiesen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn sie psychisch erkranken<br />

(...). Nach dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Gruppenpflege gewährleisten die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen des<br />

Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes die Sicherstellung <strong>der</strong> Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, die für die Therapie<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fachkl<strong>in</strong>ik erfor<strong>der</strong>lich s<strong>in</strong>d. Dabei handelt es<br />

sich um die Sicherstellung <strong>der</strong> Aufsichtspflicht, um die Schaffung e<strong>in</strong>er emotional tragenden<br />

Atmosphäre mit persönlichen B<strong>in</strong>dungen (...) <strong>und</strong> die Beziehungsaufnahme über <strong>Spiel</strong>, Gespräche<br />

sowie Aktivitäten <strong>in</strong>nerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Krankenhauses.“ (S.60f.).<br />

Das wichtigste Arbeits- <strong>und</strong> Handlungsfeld des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes ist die<br />

Stationsgruppe im Alltag: Hier wird gegessen, getrunken, gestritten, getröstet, geliebt, gekämpft<br />

– Alltag kann Spaß machen, vielfältige Lernmöglichkeiten bieten <strong>und</strong> ‚gel<strong>in</strong>gen‘, Alltag<br />

kann aber auch <strong>in</strong> drögen Rout<strong>in</strong>en mit ‚Ämtchen‘ (Diensten) <strong>und</strong> fragwürdigen Regeln<br />

(„Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d Nutella zum Frühstück isst, darf es ke<strong>in</strong>en Kakao tr<strong>in</strong>ken...“) erstarren. Vor<br />

gut e<strong>in</strong>em Jahrzehnt machte <strong>der</strong> 8. Jugendbericht (BUNDESREGIERUNG 1990) vehement<br />

deutlich, dass die Schwierigkeiten <strong>der</strong> Alltagsbewältigung <strong>in</strong> vielen E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

darauf zurückzuführen seien, dass „Alltag oft nur verkürzt verstanden wird“ <strong>und</strong> die<br />

bewusste Gestaltung des Alltagslebens e<strong>in</strong>e „Restkategorie“ bleibe (S.156). Diesem e<strong>in</strong>geschränkten<br />

Verständnis setzen die Verfasser kritisch entgegen: „Alltag ist bestimmt durch die<br />

unmittelbar erfahrenen räumlichen, zeitlichen <strong>und</strong> sozialen Bezüge (...) <strong>und</strong> durch das pragmatische<br />

Interesse an <strong>der</strong> Bewältigung <strong>der</strong> sich stellenden Aufgaben“ (S.80). Die Idee des<br />

„gel<strong>in</strong>genden Alltags“ (Thiersch) kann aus diesem Verständnis heraus zu e<strong>in</strong>er pflegerischerzieherischen<br />

Praxis führen, die <strong>der</strong> tendenziellen Verödung <strong>und</strong> Übertherapeutisierung des<br />

Gruppenlebens entgegenwirkt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Selbstentwertung des Alltags vermeidet.<br />

Erlebnispädagogik ist e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Ergänzung zum gel<strong>in</strong>genden Stationsalltag, wird aber<br />

offensichtlich immer noch verb<strong>und</strong>en mit nicht-alltäglichen <strong>und</strong> aufwendigen Inszenierungen<br />

wie Kanufahren, Bergsteigen usw.. Die Notwendigkeit dieser Maßnahmen soll nicht unterschätzt<br />

werden – gerade auf dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> von Erlebnissucht u.a. Risikofaktoren, denen<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen heute ausgesetzt s<strong>in</strong>d 10 . Notwendig ist es aber vor allem, elementare<br />

S<strong>in</strong>nes- <strong>und</strong> Sozialerfahrungen sowie aufregende o<strong>der</strong> entspannende Erlebnisse <strong>in</strong> den Alltag<br />

e<strong>in</strong>zubauen wie beispielsweise das oben beschriebene Bäumeklettern, den Bau riesiger Burgen<br />

im Sandkasten, die Pflege des Esels im Stall nebenan, die Produktion eigener Fotoromane<br />

wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bravo, das Ansehen o<strong>der</strong> Selbsterstellen von <strong>Video</strong>clips zu Liebe <strong>und</strong> Werbung.<br />

Gruppenpädagogik leitet sich auch aus dem – vom Fortbildungszentrum des LWV Hessen<br />

entwickelten 11 - Handlungsrahmen psychiatrischer Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP<br />

ab. Psychiatrische Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung umfasst alle patientenbezogenen pflegerischerzieherischen<br />

Maßnahmen. Sie hat im allgeme<strong>in</strong>en die Aufgabe, Patienten so zu pflegen,<br />

-7-


unterstützen <strong>und</strong> zu för<strong>der</strong>n, dass die Aktivitäten des täglichen Lebens selbständig ausgeübt<br />

werden können. Dazu stehen dem Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst fünf Handlungsfel<strong>der</strong> zur<br />

Verfügung. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen sollen unterstützt werden<br />

• den eigenen Körper wahrzunehmen <strong>und</strong> zu pflegen sowie Aktivitäten des täglichen Lebens<br />

selbständig auszuüben<br />

• Beziehungen zu sich selbst, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zu den eigenen Gefühlen <strong>und</strong> zu an<strong>der</strong>en Menschen<br />

zu entwickeln <strong>und</strong> zu pflegen<br />

• die Stationsgruppe o<strong>der</strong> Tagesstätte als Lern- <strong>und</strong> Übungsfeld für soziale Beziehungen<br />

<strong>und</strong> soziale Regelungen des Zusammenlebens zu nutzen<br />

• Lebenspraktische Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten anzueignen o<strong>der</strong> zu erhalten<br />

• <strong>und</strong> die Wirkung <strong>und</strong> Nebenwirkungen von Medikamenten zu kontrollieren 12 .<br />

Der Prozess <strong>der</strong> k<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> jugendpsychiatrischen Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung wird als<br />

problemlösen<strong>der</strong> Beziehungsprozess bezeichnet. Im Gegensatz zur herkömmlichen Krankenpflege<br />

fallen <strong>in</strong> <strong>der</strong> pflegerisch-erzieherischen Arbeit Problemlösungs- <strong>und</strong> Beziehungsprozess<br />

sehr häufig zusammen. Diese Tatsache resultiert aus <strong>der</strong> erweiterten Krankheitsdef<strong>in</strong>ition<br />

(DÖRNER 1996, S.35) durch die deutlich wird, „dass e<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> krank, abweichend,<br />

irre, verrückt ist, <strong>in</strong> Beziehung zu An<strong>der</strong>en, zu sich selbst, zu se<strong>in</strong>em Körper, den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

am Arbeitsplatz verfehlt handelt“. Berücksichtigt man den Aspekt <strong>der</strong> gestörten Beziehung,<br />

so darf <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne nicht mehr als isolierter Krankheitsträger wahrgenommen werden,<br />

vielmehr müssen auch an<strong>der</strong>e Teile se<strong>in</strong>es sozialen Geflechts berücksichtigt werden.<br />

„E<strong>in</strong>e solche Sichtweise ermöglicht, dem Begriff ‚krank‘ e<strong>in</strong>e breitere Bedeutung zu geben.<br />

Die Suche nach den kranken Anteilen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Menschen wird zur Suche nach den <strong>der</strong>zeitigen<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Unmöglichkeiten, e<strong>in</strong>e Beziehung zu sich, zu an<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> zur Umwelt<br />

aufzunehmen“ (ebd.).<br />

Was für die Erwachsenenpsychiatrie gilt – „e<strong>in</strong>e solche Sichtweise erübrigt auch die leidige<br />

Diskussion darüber, wer krank, irre o<strong>der</strong> verrückt ist, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Mensch, die Gesellschaft,<br />

die Familie“ – bekommt e<strong>in</strong>e noch größere Schärfe für die K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie.<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht nur „psychisch krank“ <strong>und</strong> entwickeln gestörte<br />

Beziehungen zu sich <strong>und</strong> An<strong>der</strong>en. Son<strong>der</strong>n nicht bewältigte Entwicklungskrisen etwa <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Pubertät, belastende Lebensumstände wie Scheidung <strong>der</strong> Eltern sowie aktuelle gesellschaftliche<br />

Verän<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> Risikofaktoren s<strong>in</strong>d Ursache o<strong>der</strong> Teil – gleichsam „multifaktorielle<br />

Bed<strong>in</strong>gung“ – psychischer Auffälligkeiten, Störungen <strong>und</strong> Krankheiten im K<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>und</strong><br />

Jugendalter 13 .<br />

Diesen sozialen Bed<strong>in</strong>gungen trägt das k<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> jugendpsychiatrische Klassifikationssystem<br />

ICD-10 – mit <strong>der</strong> „Achse V“ – bewusst Rechnung <strong>und</strong> versucht Störungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>terpersonellen<br />

Beziehungen <strong>und</strong> nicht gel<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Bewältigung von sozialen Situationen zu berücksichtigen.<br />

Die hochspannenden dreißig Fallgeschichten (POUSTKA 2000) machen e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich<br />

deutlich, <strong>in</strong>wieweit sich zwar nicht für alle beschriebenen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen „kausale<br />

Beziehungen zwischen Umwelte<strong>in</strong>flüssen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Psychopathologie“ (S.8) herstellen<br />

lassen. „Dennoch bilden ernste Probleme im mittelbaren o<strong>der</strong> engeren Umfeld des betreffenden<br />

K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> Jugendlichen wichtige, wenn auch für die Entstehungsgeschichte unspezifische<br />

Faktoren, die aber e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Therapie ernstlich stören, ja verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n können, wenn<br />

sie nicht bewältigt werden“ (ebd). Deshalb müssten die „psychosozialen Belastungssituationen<br />

<strong>und</strong> Begleitumstände“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Therapieplanung berücksichtigt werden (S.10). Sie hätten<br />

m.E. auch im stationären Alltag mehr Beachtung als bisher verdient.<br />

Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Psychologisierung des Gruppenlebens <strong>und</strong> die<br />

Überbetonung <strong>der</strong> Vorgeschichte <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen im Behandlungsalltag.<br />

-8-


Vielmehr ist es s<strong>in</strong>nvoll – <strong>und</strong> dazu kann die Betrachtung <strong>der</strong> sozialen Belastungsfaktoren<br />

beitragen – die „Bed<strong>in</strong>gungen des Handelns“ bzw. des gestörten Handelns (DÖR-<br />

NER) <strong>der</strong> Patienten herauszuf<strong>in</strong>den: Welchen S<strong>in</strong>n verb<strong>in</strong>den K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche mit<br />

ihrem Handeln Was hat sie sozial geprägt Ist ihre Perspektive <strong>der</strong> Welt e<strong>in</strong>e völlig an<strong>der</strong>e<br />

als me<strong>in</strong>e Wie die zu Beg<strong>in</strong>n dieses Textes skizzierten Beispiele zeigen, liegt die Chance des<br />

Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes im alltäglichen hier <strong>und</strong> jetzt. Bedeutsam ist die Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Patienten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begegnung mit ihrer unmittelbaren Realität <strong>und</strong> das Ermöglichen<br />

neuer Interaktionsformen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe. Im alltäglichen Umgang mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> können sie<br />

Grenzen, aber auch Beziehungskonstanz, Angstfreiheit, Sicherheit usw. erfahren (vergl. auch<br />

ROTTHAUS 1990 S.178): Jedes K<strong>in</strong>d, je<strong>der</strong> Jugendlicher hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stationsgruppe e<strong>in</strong>e neue<br />

Chance, da die An<strong>der</strong>en mit ihm noch ke<strong>in</strong>e negativen Erfahrungen gemacht haben bzw. das<br />

K<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> Jugendliche mit den An<strong>der</strong>en auch noch nicht. So können sie u.a. neue Quasiollen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe ausprobieren <strong>und</strong> f<strong>in</strong>den, die Gruppenleitung kann durch E<strong>in</strong>griffe <strong>und</strong> Hilfen<br />

ungewünschte Quasirollen bee<strong>in</strong>flussen (ARNDT).<br />

E<strong>in</strong> etwas dicklicher Vierzehnjähriger geht den an<strong>der</strong>en Patienten aus dem Weg <strong>und</strong> wird von<br />

Ihnen geschnitten, als „Fettsack“ beschimpft. In Konfliktsituationen mit an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

bzw. Jugendlichen wird er schnell aggressiv. Er spielt sich als Erwachsener auf, hält schlaue<br />

Reden, bei Konflikten mit <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong> fängt er dagegen rasch an zu we<strong>in</strong>en. Die Mutter ist<br />

sehr übergriffig, <strong>der</strong> Vater mag ihn nicht. Natürlich ist <strong>der</strong> Junge e<strong>in</strong> gef<strong>und</strong>enes Fressen für<br />

alle möglichen psychologischen Deutungen – aber im Stationsalltag geht es jetzt darum, dass<br />

er mit Unterstützung <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong> Möglichkeiten f<strong>in</strong>det, mit an<strong>der</strong>en Patienten klar zu<br />

kommen. Beispielsweise sich gegen das Beschimpfen zu wehren <strong>und</strong> aktiv auf K<strong>in</strong><strong>der</strong> zuzugehen!<br />

Geme<strong>in</strong>sam f<strong>in</strong>den die Erzieher<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Junge entsprechende Ziele z.B. dass <strong>der</strong> Junge<br />

sich gegen die Diffamierung wehrt o<strong>der</strong> Kontakt mit An<strong>der</strong>en zum <strong>Spiel</strong>en aufnimmt.<br />

Gruppen s<strong>in</strong>d für K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche als ‚peer groups‘ beson<strong>der</strong>s wichtig, weil sie Bedürfnisse<br />

nach Zugehörigkeit <strong>und</strong> Identifikation mit Gleichaltrigen ermöglichen. Hier können<br />

sie Anerkennung <strong>und</strong> Akzeptanz erfahren, <strong>in</strong> ihrer Identität jenseits <strong>der</strong> Familie bestätigt werden<br />

<strong>und</strong> zu neuen Orientierungen kommen, die über die Gepflogenheiten <strong>der</strong> Familie h<strong>in</strong>ausführen:<br />

In ‚ihrer‘ Gruppe s<strong>in</strong>d sie nicht länger nur als ‚Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d‘, ‚Bru<strong>der</strong>‘ o<strong>der</strong> ‚Schwester‘<br />

<strong>in</strong> den möglicherweise engen Grenzen <strong>der</strong> Geschwisterkonstellation gefangen: „E<strong>in</strong>e tragfähige<br />

Gruppenzugehörigkeit wird so gerade zum Garanten für das bessere Gel<strong>in</strong>gen von Ablösung<br />

<strong>und</strong> Verselbständigung <strong>und</strong> bereitet so, lange vor <strong>der</strong> beruflichen Ausbildung, auf die<br />

spätere Lebensbewährung vor. Die Gruppe <strong>und</strong> die Vielfalt <strong>der</strong> durch sie ermöglichten Beziehungen<br />

ist das Übungsfeld für die Unterschiedlichkeit <strong>und</strong> Angemessenheit sozialer Verhaltensweisen.<br />

(...) E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das im Schulalter ohne solche Erfahrungen auskommen muss, ist<br />

von Regression <strong>und</strong> Depression o<strong>der</strong> aggressiv-destruktiven Fehlkompensationen bedroht“<br />

(FLOSDORF S.130f.).<br />

Hier kann die Stationsgruppe ansatzweise Alternativen anbieten. Deshalb hat die wechselseitige<br />

Bee<strong>in</strong>flussung – die soziale Interaktion – <strong>der</strong> Patienten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e große Bedeutung<br />

für den Behandlungsverlauf <strong>und</strong> ihre weitere Entwicklung (was lernen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, was entwickeln sie für Regeln <strong>und</strong> Normen). Hier liegt e<strong>in</strong>e große<br />

Chance <strong>der</strong> Gruppenleitung, das Lernen sozial erwünschter Handlungsweisen zu unterstützen.<br />

Die Situation birgt aber auch Risiken – etwa die Ausgrenzung E<strong>in</strong>zelner als ‚Sündenböcke‘<br />

o<strong>der</strong> ihr Rückzug <strong>in</strong> die ‚peer-group‘, wenn die Patienten ke<strong>in</strong>e verlässlichen o<strong>der</strong> vertrauensvollen<br />

Erwachsenenbeziehungen erlebt haben – <strong>und</strong> macht die Notwendigkeit pflegerischerzieherischer<br />

E<strong>in</strong>griffe deutlich.<br />

E<strong>in</strong>richtungs- <strong>und</strong> Stationskonzepte bestimmen die Zusammensetzung <strong>der</strong> Gruppen. Möglich<br />

s<strong>in</strong>d sowohl die breite Altersmischung von 5 – 17 Jahren, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

„familienähnliche“ Erfahrungen machen sollen als auch altersmäßig eher homogene Gruppen.<br />

Bei <strong>der</strong> Belegung sollte auch die Zusammensetzung nach Geschlecht, Krankheitsbil<strong>der</strong>n, Per-<br />

-9-


sönlichkeit, sozialer Herkunft <strong>der</strong> Patienten usw. berücksichtigt werden. In <strong>der</strong> Praxis lassen<br />

sich diese Ansprüche jedoch häufig nicht durchhalten.<br />

Fassen wir zusammen:<br />

Die Stationsgruppe u.a. gruppenbezogene E<strong>in</strong>zelmaßnahmen des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes<br />

s<strong>in</strong>d wichtiger therapeutischer Bestandteil <strong>der</strong> k<strong>in</strong><strong>der</strong> – <strong>und</strong> jugendpsychiatrischen<br />

Behandlung. Der erweiterte Krankheitsbegriff <strong>und</strong> belastende soziale Lebensumstände machen<br />

die Notwendigkeit gezielter, systematischer Bee<strong>in</strong>flussung im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> soziotherapeutischen<br />

Def<strong>in</strong>ition deutlich.<br />

Der Alltag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stationsgruppe<br />

• för<strong>der</strong>t durch bewusste Gestaltung <strong>der</strong> Betreuenden die lebenspraktische Selbständigkeit<br />

<strong>in</strong> <strong>und</strong> durch die Gruppe (dabei <strong>in</strong>dividuell bezogen auf jeweilige Aktivitäten des täglichen<br />

Lebens),<br />

• ist Lern- <strong>und</strong> Übungsfeld für soziale Beziehungen <strong>und</strong> soziale Regeln des Zusammenlebens<br />

• <strong>und</strong> unterstützt die Beziehungsaufnahme zu sich selbst <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

Soziales Lernen ist nach diesem Verständnis nicht nur e<strong>in</strong> verhaltenstherapeutisch orientiertes<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramm – obwohl Verstärker durchaus s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>gesetzt werden<br />

können – son<strong>der</strong>n die Möglichkeit zur Entwicklung von Ich-Identität (nach KRAPP-<br />

MANN 1975). Gruppenpädagogik ermöglicht die Entwicklung personaler <strong>und</strong> sozialer Identität,<br />

d.h. die Gruppenmitglie<strong>der</strong> können lernen, sich durchzusetzen, ihre persönlichen Interessen<br />

zu vertreten (personale Identität) aber auch befähigt werden, die Interessen an<strong>der</strong>er Menschen<br />

wahrzunehmen <strong>und</strong> soziale Regeln <strong>und</strong> Normen e<strong>in</strong>zuhalten (soziale Identität). Mit<br />

diesen beiden, sich ausschließenden Erwartungen müssen die jungen Menschen im geme<strong>in</strong>samen<br />

Handeln umgehen. Sie werden lernen, ihre Bedürfnisse für an<strong>der</strong>e verständlich zu formulieren,<br />

zwischen Selbst- <strong>und</strong> Fremdwahrnehmung zu unterscheiden, sich <strong>in</strong> An<strong>der</strong>e h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen<br />

<strong>und</strong> Kompromisse e<strong>in</strong>zugehen. Die anzustrebende Ich-Identität wäre also die<br />

immer wie<strong>der</strong> neu zu leistende Balance zwischen eigenen <strong>und</strong> fremden Interessen unter Berücksichtigung<br />

eigener Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Krankheit. Diese muss von den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

als Teil ihrer Identität <strong>und</strong> vom Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst als erschwerte Lernbed<strong>in</strong>gung<br />

akzeptiert werden 14 .<br />

An dieser Stelle soll ke<strong>in</strong>e endlos langweilige Aufzählung von E<strong>in</strong>zelzielen zum sozialen<br />

Lernen erfolgen. Sie können vom Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst leicht für das allgeme<strong>in</strong>e<br />

Pflege- <strong>und</strong> Erziehungskonzept sowie für die <strong>in</strong>dividuelle Planung aus <strong>der</strong> oben formulierten<br />

Zusammenfassung abgeleitet werden. Die Möglichkeiten <strong>der</strong> stationsüblichen Gruppenaktivitäten<br />

s<strong>in</strong>d vielfältig <strong>und</strong> können ebenfalls von den o.g. Handlungsfel<strong>der</strong>n her bestimmt werden.<br />

Im folgenden Text werden wir das mit weiteren Beispielen deutlich machen.<br />

-10-


3.2 Abschweifungen zur Stationsgruppe, zum Geme<strong>in</strong>samen Tun <strong>und</strong> zu Ritualen<br />

E<strong>in</strong>ige wichtige Aspekte des Alltäglichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe sollen im folgenden deutlich hervorgehoben<br />

werden.<br />

Stationsgruppe werden die regelmäßigen Gruppenversammlungen genannt. In <strong>der</strong> „Mittagsr<strong>und</strong>e“<br />

treffen sich beispielsweise alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendlichen <strong>der</strong> Gruppe mit den anwesenden<br />

Pflege- <strong>und</strong> Erziehungskräften. Es wird nach <strong>der</strong> Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen gefragt,<br />

<strong>der</strong> weitere Tag wird geplant, Wünsche <strong>und</strong> Bedürfnisse können geäußert werden. O<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em „Abendkreis“ berichten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendlichen wie Ihnen <strong>der</strong> Tag gefallen hat,<br />

welche Konflikte es gab, auf was sie sich am nächsten Tag freuen, was sie befürchten usw.. In<br />

Jugendlichengruppen können die Patienten auch - mit Unterstützung - die Leitung <strong>der</strong> Gruppen<br />

übernehmen o<strong>der</strong> Protokolle schreiben. Insgesamt können diese rituellen Gruppen also<br />

<strong>der</strong> Tages- <strong>und</strong> Wochenplanung, <strong>der</strong> Reflexion des Tages <strong>und</strong> dem Informationsaustausch<br />

dienen. Sie bieten Möglichkeiten für e<strong>in</strong>zelne Patienten, ihre Gefühle wahrzunehmen <strong>und</strong> zu<br />

äußern sowie Konflikte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe anzusprechen <strong>und</strong> zu lösen. Dabei s<strong>in</strong>d sie auf Strukturierung,<br />

Ermunterung <strong>und</strong> Hilfe <strong>der</strong> Betreuenden angewiesen. E<strong>in</strong>e Variante <strong>der</strong> Stationsgruppe<br />

ist die – meist wöchentliche – Stationsversammlung, bei <strong>der</strong> alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

aller Gruppen <strong>der</strong> Station zusammenkommen.<br />

Das Konzept des Geme<strong>in</strong>samen Tuns 15 weist zunächst weit über das Thema Gruppenpädagogik<br />

h<strong>in</strong>aus. Der Tagesablauf <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie bietet zahllose Begegnungsmöglichkeiten<br />

zwischen Pflegenden/Erziehenden <strong>und</strong> Patienten. Vom geme<strong>in</strong>samen<br />

Bettenmachen über kle<strong>in</strong>ere <strong>Spiel</strong>e, Hilfe bei den Hausaufgaben o<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>same Mahlzeiten<br />

bis h<strong>in</strong> zur Freizeitgestaltung.<br />

Der psychiatrische Krankenpflege- <strong>und</strong> Erziehungsprozess lässt sich als Prozess <strong>der</strong> sozialen<br />

Interaktion beschreiben. Das wichtigste ‚Handwerkszeug‘ des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes<br />

ist die bewusste Gestaltung dieser sozialen Interaktion im Geme<strong>in</strong>samen Tun. Das kann <strong>in</strong><br />

unterschiedlichen Sozialformen (Zweierbeziehung, Spontangruppen, festere Gruppen usw.)<br />

sowie zufällig o<strong>der</strong> geplant <strong>und</strong> systematisch stattf<strong>in</strong>den. Für viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche ist<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal das Geme<strong>in</strong>same Tun <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zweierbeziehung die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit zur<br />

Kontaktaufnahme, bevor sie sich <strong>in</strong> größeren Gruppierungen zurechtf<strong>in</strong>den können.<br />

Im Geme<strong>in</strong>samen Tun werden die Patienten nicht (nur) zum Diagnoseobjekt o<strong>der</strong> Ziel therapeutischer<br />

Maßnahmen son<strong>der</strong>n es entstehen Begegnungen, <strong>in</strong> denen sich Beziehungen ansp<strong>in</strong>nen.<br />

„Dort gab es e<strong>in</strong> paar Mitarbeiter, die mir das Gefühl gaben, e<strong>in</strong> Mensch mit e<strong>in</strong>er<br />

Krise zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> nicht e<strong>in</strong> theoretischer, diagnostizierter Fall“ (Patient<strong>in</strong>). Es f<strong>in</strong>den nicht<br />

nur pflegerisch-erzieherische Alltagsgespräche statt, denn im Geme<strong>in</strong>samen Tun werden vor<br />

allem Fähigkeiten <strong>und</strong> Ressourcen aber auch Probleme <strong>der</strong> Patienten schärfer sichtbar. Diese<br />

können von sozialer Situation zu sozialer Situation o<strong>der</strong> von Anfor<strong>der</strong>ung zu Anfor<strong>der</strong>ung<br />

unterschiedlich se<strong>in</strong>. „Ich merkte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppensituation hat U. oft sehr viele Schwierigkeiten<br />

Alltägliches angemessen anzusprechen <strong>und</strong> zu klären. Dabei bekam ich e<strong>in</strong>en ganz an<strong>der</strong>en<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Bedürfnisse als <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelgesprächen <strong>und</strong> konnte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe an<strong>der</strong>e<br />

Lösungsmöglichkeiten anbieten. In <strong>der</strong> Zweiersituation gelang es ihm häufig mich bezüglich<br />

se<strong>in</strong>er Fähigkeiten zu täuschen, während <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe viele Schwierigkeiten offen zutage<br />

traten“ berichtet e<strong>in</strong>e Krankenschwester. Dagegen äußerte er „größere Ängste nur <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelsituationen<br />

mit mir, während er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe eher ‚cool‘ gab“.<br />

Die Aktivierung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zum Geme<strong>in</strong>samen Tun ist häufig ke<strong>in</strong>e Frage, weil sie selbst<br />

darauf drängen. Die Klage e<strong>in</strong>er Mutter, „Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> lernen hier ja nur spielen“ unterschätzt<br />

das geme<strong>in</strong>same Tun als Kern des problemlösenden Bezieungsprozesses <strong>in</strong> k<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> jugendpsychiatrischer<br />

Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung 16 . Bei vielen Jugendlichen bedarf es dagegen<br />

schon methodischer Fantasie um sie zum geme<strong>in</strong>samen Tun zu motivieren. Hilfreich ist<br />

-11-


sicher die Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber den Patienten, die me<strong>in</strong> Kollege RICHTER (1994) aus <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe so unnachahmlich formulierte: „Ich habe das <strong>und</strong> das vor. Ich möchte gern, dass<br />

du mir dabei hilfst. Ich will dich besser kennenlernen. Vielleicht gel<strong>in</strong>gt es uns dabei auch<br />

geme<strong>in</strong>sam, Ideen zu f<strong>in</strong>den, wie du aus de<strong>in</strong>em Schlamassel herauskommst. Diese Form ist<br />

e<strong>in</strong> Fähigkeiten unterstellendes, auf Zusammenarbeit ausgerichtetes, strukturiertes Beziehungsangebot,<br />

das Möglichkeiten e<strong>in</strong>er aufgabenbezogenen Kommunikation eröffnet...“. Hilfreich<br />

<strong>und</strong> motivierend kann es auch se<strong>in</strong>, gerade die Unlust <strong>und</strong> den Frust vieler Jugendlicher<br />

mit unterschiedlichsten Methoden zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen: Durch „Verarschung als Erkenntnispr<strong>in</strong>zip“<br />

(HARTWIG) können sie sich selbst <strong>und</strong> ihren 0-Bock <strong>in</strong> Fotoserien, Rollenspiel-<br />

o<strong>der</strong> <strong>Video</strong>szenen darstellen o<strong>der</strong> Blödeltexte über die Psychiatrie schreiben 17 . Sie<br />

können aber auch angeregt werden, ihre Situation nach außen ‚ernsthafter‘ darzustellen, wie<br />

<strong>in</strong> den Texten des Buches „Wenn die Seele überläuft“ (KNOPP 2000).<br />

Im Geme<strong>in</strong>samen Tun blitzen Momente auf, <strong>in</strong> denen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen mögliche<br />

Fähigkeiten zeigen o<strong>der</strong> auch mal den Betreuenden überlegen se<strong>in</strong> dürfen (Memoryspiel, PC-<br />

<strong>Spiel</strong>e). So können sich komplementäre Beziehungen vielleicht kurzzeitig <strong>in</strong> symmetrische<br />

Beziehungen verwandeln o<strong>der</strong> auch die Helfenden selbst deutlich e<strong>in</strong>mal zu Lernenden werden.<br />

Im Kontext mit unserem Thema Gruppenpädagogik ermöglicht die bewusste Nutzung <strong>und</strong><br />

Gestaltung des geme<strong>in</strong>samen Tuns kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>griffe <strong>der</strong> Betreuenden zur Entwicklung neuer<br />

Handlungsmöglichkeiten, För<strong>der</strong>ung des Sozialverhaltens <strong>und</strong> Verwirklichung an<strong>der</strong>er Ziele<br />

(Erfolgserlebnisse steigern das Selbstwertgefühl, För<strong>der</strong>ung lebenspraktischer Fertigkeiten<br />

usw.). Mit dieser Gr<strong>und</strong>haltung kann Alltägliches zur Gruppenpädagogik werden statt<br />

dass Betreuende – wie sie manchmal klagen - „vor lauter Arbeit nicht zur Pädagogik<br />

kommen“.<br />

Wichtig s<strong>in</strong>d die Rituale im Stationsalltag, Fixpunkte des Tages wie geme<strong>in</strong>same Mahlzeiten<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> regelmäßiger Abendspaziergang. Sie för<strong>der</strong>n die Gruppenentwicklung <strong>und</strong> geben<br />

vielen Patienten Stabilität bzw. Sicherheit, die ihnen im familiären Umfeld gefehlt hat. E<strong>in</strong>e<br />

Erzieher<strong>in</strong> erzählt, dass sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Zeit Abends allen Jugendlichen <strong>der</strong> Gruppe etwas<br />

vorliest. Jedoch f<strong>in</strong>den das nicht alle Mitarbeiter gut, e<strong>in</strong>ige weigern sich auch, diese Tradition<br />

fortzusetzen, wenn die Kolleg<strong>in</strong> nicht im Dienst ist. Die Gruppe ist <strong>der</strong> Ort für solche Rituale!<br />

Sie s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> rout<strong>in</strong>eartiger Selbstzweck, vielmehr werden „frustrierte rituelle Sehnsüchte”<br />

(VOPEL) befriedigt. Rituelle Zusammenkünfte ermöglichen ganz elementare Interaktionsformen<br />

<strong>und</strong> helfen, Menschen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu verb<strong>in</strong>den, Wir-Gefühl zu entwickeln, für<br />

kurze Augenblicke auch Macht- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>flussdifferenzen <strong>in</strong> Gruppen aufzuheben (VOPEL<br />

1997).<br />

-12-


3.3 Beurteilung <strong>der</strong> Gruppensituation<br />

Sicher ist es üblich <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvoll im Alltagshandeln ständig – auf dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Pflege<strong>und</strong><br />

Erziehungsplanung – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe zu <strong>in</strong>tervenieren <strong>und</strong> fortlaufend die angestrebten<br />

Ziele h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>zelner Patienten zu überprüfen <strong>und</strong> zu dokumentieren. Empfehlenswert<br />

ist es aber auch, immer wie<strong>der</strong> mal <strong>in</strong>nezuhalten <strong>und</strong> im Team die gesamte Gruppensituation -<br />

mit Hilfe <strong>der</strong> im Abschnitt „Zur Theorie <strong>der</strong> Gruppe“ zusammengefassten Überlegungen – zu<br />

beleuchten 18 . Daraus lassen sich dann wie<strong>der</strong> (neue) Orientierungsmöglichkeiten ableiten.<br />

Die Stationsgruppe funktioniert im Alltag als Gruppe im oben def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n, die Beziehungsstrukturen<br />

s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs sehr viel komplexer. Es gibt vom Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst<br />

spontan o<strong>der</strong> feste, halboffen o<strong>der</strong> geschlossen <strong>in</strong>itiierte Gruppierungen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

Stationsgruppe o<strong>der</strong> als übergreifende Gruppen. Daneben existieren häufig e<strong>in</strong>e Vielzahl weiterer<br />

therapeutischer Gruppen <strong>der</strong> Psycho-, Sozial-, Ergo-, Kunst- <strong>und</strong> sonstigen Therapeuten.<br />

In den E<strong>in</strong>richtungs- <strong>und</strong> Stationskonzepten wird festgelegt, welche gezielten Aktivitäten mit<br />

welchen Zielen angeboten werden. Alle diese Gruppen o<strong>der</strong> situative Gruppierungen s<strong>in</strong>d<br />

meist fester Bestandteil <strong>der</strong> gesamten Behandlungsplanung. Daneben entfalten sich ‚wildwüchsige‘<br />

Cliquen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>in</strong>nerhalb <strong>und</strong> außerhalb <strong>der</strong> Station, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kl<strong>in</strong>ikschule usw.. In allen diesen Gebilden wachsen Beziehungen, die natürlich auf die gesamte<br />

Kommunikationsstruktur <strong>der</strong> Stationsgruppe e<strong>in</strong>wirken.<br />

Diese Vielfalt kann aber auch manche, „<strong>in</strong> ihrer Beziehung zu sich <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en gestörte“ Patienten<br />

verwirren, überfor<strong>der</strong>n <strong>und</strong> orientierungslos machen. Hier ist es unbed<strong>in</strong>gt notwendig,<br />

Komplexität zu reduzieren <strong>und</strong> das Gruppenleben durch geeignete Maßnahmen überschaubar<br />

zu machen.<br />

Die folgenden Kriterien zur Durchleuchtung <strong>der</strong> Stationsgruppe eignen sich auch, um Strukturen<br />

<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en pflegerisch-erzieherischen Gruppen (siehe weiter unten) herauszuf<strong>in</strong>den<br />

<strong>und</strong> zu verän<strong>der</strong>n:<br />

• Mit Hilfe <strong>der</strong> o.g. 9 Merkmale kann man prüfen, ob die Gruppe überhaupt e<strong>in</strong>e Gruppe ist.<br />

Die zweifelhaften Bereichen sollten diskutiert werden, aus ihnen können Gruppenziele<br />

<strong>und</strong> gruppenpädagogische Maßnahmen abgeleitet werden:<br />

Die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Regeln anregen um zu geme<strong>in</strong>samen Normen zu kommen,<br />

d.h. beispielsweise den Umgang <strong>der</strong> Geschlechter mit Hilfe von Übungen <strong>und</strong> <strong>Spiel</strong>en<br />

thematisieren 19. . Die Gruppenmitglie<strong>der</strong> können – ebenfalls mit Hilfe von Übungen o<strong>der</strong><br />

<strong>Spiel</strong>en – ermuntert werden, schwelende Konflikte auszutragen. Das Wir-Gefühls kann<br />

durch anregende, erlebnispädagogische Aktivitäten für alle geför<strong>der</strong>t werden. Informationen<br />

über Krankheiten können die Quasirollen <strong>der</strong> „Außenseiter“ o<strong>der</strong> „Verrückten“ etwas<br />

abmil<strong>der</strong>n.<br />

• Anhand e<strong>in</strong>er Zeichnung die grobe Struktur <strong>der</strong> Gruppe aufzeichnen: Wer hat mit wem<br />

verbale <strong>und</strong> nonverbale Kontakte (‚Kommunikationen‘), wie stark s<strong>in</strong>d diese Kontakte,<br />

s<strong>in</strong>d sie negativ o<strong>der</strong> positiv, e<strong>in</strong>seitig o<strong>der</strong> wechselseitig<br />

• Um welche Inhalte geht es bei den Kontakten Eifersucht Macht Kompromisse Sich<br />

wie<strong>der</strong>holende Streitereien Umgang mit Kritik Äußern eigener Bedürfnisse Achtung<br />

<strong>der</strong> Bedürfnisse An<strong>der</strong>er<br />

• Sich dann die Quasirollen <strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong> vergegenwärtigen. Welche Quasirollen<br />

gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, welche Quasirollen werden von den an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen<br />

gestützt Beispielsweise „Verrückte“, „Störenfriede“, „Eigenbrötler“, „Führer“,<br />

„E<strong>in</strong>schleimer“ (beim Führer), „Langeweiler“, „Exoten/Fremde“. Wie kommen die Quasirollen<br />

zustande, s<strong>in</strong>d sie krankheitsbed<strong>in</strong>gt o<strong>der</strong> br<strong>in</strong>gt das K<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Jugendliche sie<br />

-13-


aus an<strong>der</strong>en Gruppen mit Welchen S<strong>in</strong>n verb<strong>in</strong>den die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen mit ihrem<br />

typischen Handeln das zur Quasirolle führt, was s<strong>in</strong>d die „Bed<strong>in</strong>gungen ihres Handelns“<br />

Wie kann das Team e<strong>in</strong>zelne Quasirollen <strong>und</strong> die Quasirollenstruktur im Alltagshandeln,<br />

im geme<strong>in</strong>samen Tun o<strong>der</strong> <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Kle<strong>in</strong>gruppen bee<strong>in</strong>flussen Können<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en sozialen Situationen an<strong>der</strong>s handeln <strong>und</strong> neue Rollen ausprobieren<br />

Das Erkennen <strong>und</strong> Bearbeiten von Quasirollen <strong>und</strong> Rollenstrukturen ist <strong>der</strong> Schlüssel<br />

für soziotherapeutisches Arbeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe (die Zeichnung von Ulrich DIEHL<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Auszug aus se<strong>in</strong>er Gruppenanalyse sollen das veranschaulichen).<br />

• Wie sieht die vertikale (Macht-)Struktur <strong>der</strong> Gruppe aus Sie wird meist durch Alter,<br />

Stärke, Aussehen <strong>und</strong> Durchsetzungsfähigkeit <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> bzw. Jugendlichen bestimmt<br />

<strong>und</strong> ihre sozialen Konzepte (Normen, typischen Verhaltensweisen usw.) abgesichert: „Auf<br />

die Kle<strong>in</strong>en muss man aufpassen, was die Großen sagen wird gemacht. Neben den hübschesten<br />

Mädchen dürfen nur die stärksten Jungen sitzen...“. Abweichungen werden sanktioniert,<br />

„nur die stärkeren Jungen dürfen sich Fehltritte erlauben ohne dafür ‚bestraft‘ zu<br />

werden“ (Erzieher<strong>in</strong>).<br />

• Die Problematik <strong>der</strong> ewig offenen Gruppe prüfen – stagniert <strong>der</strong> Entwicklungsprozess<br />

immer auf <strong>der</strong> Stufe 2 mit ständigen Reibereien <strong>und</strong> Machtkämpfen o<strong>der</strong> auf Stufe 3 mit<br />

Pseudoharmonie <strong>und</strong> Gruppendruck Hier können sich die Betreuenden an den entsprechenden<br />

Aufgaben <strong>der</strong> Gruppenleitung orientieren: Selbst Vorbild im Handeln se<strong>in</strong>, klare<br />

Orientierungen bieten <strong>und</strong> Grenzen setzen. Konflikte <strong>und</strong> Gruppensituationen immer wie<strong>der</strong><br />

ansprechen, zum Thema machen <strong>und</strong> Lösungsmöglichkeiten anbieten. Neue K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> Jugendliche müssen quasi für sich selbst – mit Unterstützung <strong>der</strong> Betreuenden – die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Phasen <strong>der</strong> Gruppenentwicklung nachvollziehen (siehe oben „Zur Theorie <strong>der</strong><br />

Gruppe“).<br />

DIEHL, Ulrich 2001: Quasirollenstruktur e<strong>in</strong>er Stationsgruppe<br />

Die Pfeilrichtungen deuten e<strong>in</strong>seitige o<strong>der</strong> wechselseitige Kommunikationen an, ihre Stärke <strong>der</strong>en Intensität. Verschiedene<br />

Farben (die hier nicht sichtbar s<strong>in</strong>d) positive o<strong>der</strong> negative Kommunikationen.<br />

-14-


Gibt es Konflikte zwischen ‚alten Hasen‘ <strong>und</strong> ‚Neuen‘ (alten <strong>und</strong> neuen Gruppenmitglie<strong>der</strong>n)<br />

Mit entsprechenden Methoden Konflikte ansprechen, Lösungsmöglichkeiten anbieten<br />

<strong>und</strong> viele Aktivitäten mit <strong>der</strong> ganzen Gruppe machen, ‚Alte‘ übernehmen Patenschaften für<br />

‚Neue‘.<br />

• Pflegerisch-erzieherische E<strong>in</strong>griffe im geme<strong>in</strong>samen Tun <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>stgruppenarbeit:<br />

„Stille Patienten direkt ansprechen, an<strong>der</strong>e zu Antworten motivieren, ‚Übersetzen‘ von<br />

Aussagen die eventuell missverständlich ankommen, Korrektur von ablehnenden o<strong>der</strong> ungerechten<br />

Äußerungen bei ‚unbeliebten‘ Patienten, redselige K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche<br />

stoppen, Stärken E<strong>in</strong>zelner hervorheben, ihnen beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit zukommen<br />

lassen. Deutlich starke Patienten auch vor <strong>der</strong> Gruppe kritisieren um ihre mächtige Rolle<br />

zu mäßigen...“ (ARNDT).<br />

(...) Torsten war offensichtlich schnell als problematischer Kommunikationspartner <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gruppe abgestempelt, da er rasch als ‚Angeber‘ auftrat <strong>und</strong> die Kommunikationsdizipl<strong>in</strong> (Ausreden<br />

lassen, Wortwahl, E<strong>in</strong>stellung zum Kommunikationspartner etc.) nicht e<strong>in</strong>hielt. Dieses<br />

Image wurde sicherlich auch durch die Mitarbeiter ungewollt geför<strong>der</strong>t, da sie Torsten häufig<br />

aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Kommunikationsdefizite <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Vokabulars e<strong>in</strong>grenzen mußten. Torsten<br />

reagiert dann sehr gekränkt <strong>und</strong> zieht sich häufig, manchmal auch we<strong>in</strong>end, <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer<br />

zurück. Ist sich Torsten <strong>der</strong> Unterstützung se<strong>in</strong>er Mitpatienten sicher, entwickelt er häufig<br />

unangemessene kommunikative Umgangsformen, beson<strong>der</strong>s gegenüber Mitarbeitern. Im Gruppenalltag verbündet<br />

sich Torsten häufig mit <strong>der</strong> Mehrheit, welche gegen e<strong>in</strong>zelne Gruppenmitglie<strong>der</strong> front macht. Zu Benjam<strong>in</strong><br />

pflegt Torsten jedoch e<strong>in</strong> durchgängig fast fre<strong>und</strong>schaftliches Verhältnis.<br />

Tania verbündet sich häufig mit Nad<strong>in</strong>e gegen Brit, versucht aber an<strong>der</strong>erseits auch zwischen den<br />

beiden Rival<strong>in</strong>nen zu vermitteln <strong>und</strong> gerät dann schnell <strong>in</strong> die altkluge ‚Betreuerrolle‘. In letzter<br />

Zeit wendet sich Tania auch mal von Nad<strong>in</strong>e ab <strong>und</strong> unterstützt Brit, was ihr jedoch sche<strong>in</strong>bar<br />

<strong>in</strong>nerliche Konflikte bereitet. Wenn Nad<strong>in</strong>e nicht anwesend ist, pflegt Tania nach me<strong>in</strong>er<br />

Wahrnehmung e<strong>in</strong>en angemessen Kontakt zu allen Mitpatienten. Häufig übernimmt sie auch die<br />

Rolle <strong>der</strong> ‚Problemversteher<strong>in</strong>‘ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe. Tania f<strong>in</strong>det Benjam<strong>in</strong> ganz nett, versucht<br />

ansche<strong>in</strong>end, e<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft zu ihm aufzubauen.<br />

Brit wechselt nach me<strong>in</strong>er Wahrnehmung auffallend häufig ihre (Quasi-)Rolle, wenn sie offensiv auftritt (z.B.<br />

gegenüber Nad<strong>in</strong>e) wirkt sie, unterstützt durch ausgeprägte Gestik <strong>und</strong> Mimik entschlossen, teilweise bedrohlich<br />

<strong>und</strong> entsprechend stark. Fühlt sie sich angegriffen o<strong>der</strong> ungerecht behandelt <strong>und</strong> greifen ihre kommunikativen<br />

Strategien nicht, wird Brit zunächst verbal ausfällig. Dann wechselt sie ihre Rolle zum ‚Opfer‘<br />

(‚Sündenbock‘), welches häufig we<strong>in</strong>t <strong>und</strong> Trost bei den Mitarbeitern sucht, was ihr dann wie<strong>der</strong><br />

von den an<strong>der</strong>en Patienten als Schwäche ausgelegt wird. Gleichzeitig s<strong>in</strong>d nach me<strong>in</strong>er<br />

Wahrnehmung die Mitpatienten (beson<strong>der</strong>s Nad<strong>in</strong>e) von Brits extrovertierten Gefühlsausbrüchen<br />

bee<strong>in</strong>druckt. Teilweise wird sie sche<strong>in</strong>bar sogar darum beneidet, da ihr Verhalten <strong>in</strong> solchen<br />

Situationen authentisch wirkt. Außerdem erreicht sie mit diesem Verhalten natürlich auch die<br />

Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Mitarbeiter <strong>und</strong> häufig <strong>der</strong>en Zuwendung. Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe<br />

erlebt Brit eigentlich nur durch zw<strong>in</strong>gend vorgegebenen Umstände, wie Mahlzeiten o<strong>der</strong> Gruppenaktivitäten <strong>und</strong><br />

Gesprächsr<strong>und</strong>en. Sie zieht sich häufig zurück, sucht alle<strong>in</strong>e Beschäftigung, manchmal spielt sie mit Tania (...).<br />

Diehl, Ulrich 2001: Analyse <strong>der</strong> Quasirollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stationsgruppe(Auszug)<br />

-15-


3.4 Planung <strong>der</strong> pflegerisch-erzieherischen Gruppenarbeit<br />

Mit spezieller pflegerisch-erzieherischer Gruppenarbeit werden allgeme<strong>in</strong>e Ziele für viele<br />

bzw. alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendlichen verfolgt – beispielsweise Anregungen zur Freizeitgestaltung<br />

(Aktivitätengruppe) o<strong>der</strong> die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Geschlechterrollen <strong>und</strong> eigener<br />

Sexualität (Mädchen-/Jungengruppe). Für e<strong>in</strong>zelne Patienten können ganz bestimmte Gruppenmaßnahmen<br />

empfohlen o<strong>der</strong> angeordnet werden, mit denen <strong>in</strong>dividuelle Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsziele<br />

(spezielle Ziele) unterstützt bzw. verwirklicht werden sollen. Beispielsweise die<br />

Teilnahme an <strong>der</strong> Kochgruppe, um lebenspraktische Fertigkeiten zu üben sowie Kooperation<br />

<strong>und</strong> Regelverständnis zu för<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> die Teilnahme an <strong>der</strong> entspannenden ‚Mondschaukelgruppe‘,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> aufgedrehte K<strong>in</strong><strong>der</strong> Ruhe <strong>und</strong> Ausgleich f<strong>in</strong>den können. Diese Gruppen können<br />

als ‚Kle<strong>in</strong>stgruppen‘ Schonraum <strong>und</strong> Übungsfeld se<strong>in</strong>, wenn Beziehungen <strong>und</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Stationsgruppe o<strong>der</strong> gar auf <strong>der</strong> gesamten Station (noch) nicht gel<strong>in</strong>gen.<br />

Geme<strong>in</strong>sames Tun <strong>in</strong> Gruppen soll <strong>und</strong> darf den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen e<strong>in</strong>fach nur Spaß<br />

machen, <strong>Spiel</strong> <strong>und</strong> Beschäftigung können entspannend o<strong>der</strong> aufregend se<strong>in</strong>, zur s<strong>in</strong>nvollen<br />

Freizeitgestaltung anregen usw.. Insgesamt kann das Milieu dadurch allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en positiven<br />

E<strong>in</strong>fluss auf den Behandlungsverlauf haben <strong>und</strong> auf <strong>in</strong>haltlicher <strong>und</strong> Beziehungsebene<br />

zahlreiche Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsanreize bieten. Aber zur Realisierung <strong>der</strong> o.g. Ziele ist<br />

• die Anordnung zur regelmäßigen Teilnahme an ausgewählten <strong>und</strong> geeigneten pflegerischerzieherischen<br />

Gruppen als Teil des Wochenplans ebenso wichtig<br />

• wie die Planung, Dokumentation <strong>und</strong> Zielüberprüfung dieser Maßnahmen,<br />

wenn die Gruppenarbeit nicht nur zum netten Selbstzweck werden soll. Dieses systematische<br />

<strong>und</strong> zielorientierte Vorgehen schließt nicht aus, dass die Betreuenden auch ihre eigenen Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Interessen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen (Fotografieren, Theaterspielen, Kochen, Lesen, Meditieren,<br />

Musikmachen <strong>und</strong> was sie sonst noch so können...).<br />

Im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en Autoren <strong>und</strong> Kollegen b<strong>in</strong> ich <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass es nicht gleichgültig<br />

ist, mit welchen Methoden ich – beispielsweise – Bewegungserfahrungen <strong>und</strong> soziales<br />

Lernen o<strong>der</strong> die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit eigenen Gefühlen anstrebe. Sportliche <strong>Spiel</strong>e <strong>und</strong><br />

Wettkämpfe haben an<strong>der</strong>e Wirkungen als bewegungsorientierte Theaterarbeit (Körpertheater),<br />

die Patienten möglicherweise völlig neue Ausdrucks- <strong>und</strong> Kommunikationsmöglichkeiten<br />

eröffnen kann. Vielleicht gel<strong>in</strong>gt es ihnen eher als <strong>in</strong> manchen Gesprächsgruppen über bildhafte<br />

Symbolarbeit (Malen, Zeichnen, Collagen machen, <strong>Video</strong>arbeit, Fotografie), ihre Gefühle<br />

auszudrücken o<strong>der</strong> zur ‚Sprache‘ br<strong>in</strong>gen. Auch das gilt es bei <strong>der</strong> Zielfestlegung zu<br />

bedenken!<br />

Folgendes Vorgehen hat sich nach unseren Erfahrungen bei <strong>der</strong> Planung längerfristiger pflegerisch-erzieherischer<br />

Gruppenarbeit als hilfreich erwiesen 20<br />

1. Zielsetzung:<br />

Welche Ziele sollen auf <strong>der</strong> Inhalts- <strong>und</strong> Beziehungsebene mit <strong>der</strong> Gruppe realisiert werden<br />

Abwägen, ob es e<strong>in</strong>e freiwillige o<strong>der</strong> angeordnete Gruppe werden soll!<br />

2. Zielgruppe:<br />

Welche Patienten sollen warum teilnehmen Konkrete Zielfestlegung für e<strong>in</strong>zelne Patienten<br />

auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Behandlungsplanung<br />

3. Gruppenleitung: Regelung <strong>der</strong> kont<strong>in</strong>uierlichen Leitung <strong>und</strong> Vertretung<br />

4. Organisatorische Regelungen: Gruppengröße <strong>und</strong> Räume (abhängig von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong><br />

Gruppe), Material, Kosten, Zeitraum, Regelmäßigkeit mit festem Platz <strong>in</strong> Wochenplan<br />

-16-


5. Absprache mit Leitung <strong>und</strong> Team, E<strong>in</strong>holen entsprechen<strong>der</strong> Genehmigungen<br />

6. Möglichst Erstellung e<strong>in</strong>er kurzen schriftlichen Konzeption, <strong>in</strong> denen die Punkte 1- 4 dargestellt<br />

werden<br />

7. Information <strong>der</strong> Patienten im persönlichen Gespräch, mit Wandzeitung, Flyern usw. bei<br />

offenen Gruppen<br />

8. E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Patienten bei <strong>in</strong>dividueller Problemformulierung <strong>und</strong> Zielf<strong>in</strong>dung<br />

9. Dokumentation <strong>der</strong> Durchführung mit knappen Protokollen zu Teilnehmern <strong>und</strong> zum<br />

Verlauf <strong>der</strong> Gruppe (<strong>in</strong>haltliche Arbeit <strong>und</strong> Beziehungen). Nach unseren Erfahrungen wird<br />

anfangs zu ausführlich dokumentiert – <strong>und</strong> dann überhaupt nicht mehr. E<strong>in</strong>e Dokumentation<br />

ist ke<strong>in</strong> Erlebnisaufsatz. Sie sollte neben dem Verlauf e<strong>in</strong>e kurze E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong><br />

Gruppene<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> Bezug auf das Gruppenziel <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ziele für e<strong>in</strong>zelne Patienten enthalten.<br />

Für die Teilnehmer ist es schön <strong>und</strong> ihr Wir-Gefühl wird geför<strong>der</strong>t, wenn das geme<strong>in</strong>same<br />

Tun mit Fotos, Zeichnungen, Speisekarten, <strong>Video</strong> o.ä. dokumentiert <strong>und</strong> möglicherweise<br />

auch nach außen dargestellt wird.<br />

10. Zusammenfassende Verlaufsdokumentation für e<strong>in</strong>zelne Patienten (wie haben sie sich<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitraum – h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> angestrebten Ziele auf Problemlösungs-<br />

<strong>und</strong> Beziehungsebene entwickelt) <strong>und</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Therapiekonferenz<br />

11. Überprüfung <strong>der</strong> angestrebten Gruppenziele im Team <strong>und</strong> gegebenenfalls Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Gruppenarbeit. Wie im Pflegeprozess wird wie<strong>der</strong> mit dem 1. Schritt begonnen.,<br />

damit es nicht wie bei BRECHT heißen mag: „Ja mach‘ nur e<strong>in</strong>en Plan/Sei nur e<strong>in</strong> großes<br />

Licht/Und mach auch noch ‘nen zweiten Plan/Gehn‘ tun sie beide nicht...“.<br />

3.5 Fallbeispiel<br />

Die Gruppenarbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> im folgenden dargestellten Kochgruppe ist sehr langfristig angelegt<br />

– wie es im Konzept heißt „bis zur Entlassung“ – damit auch wirklich stabile Beziehungen<br />

zwischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Betreuenden sowie zwischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n entstehen können. Außerdem<br />

lassen sich die Pflegeziele auf <strong>der</strong> Handlungs- <strong>und</strong> Beziehungsebene ebenfalls nur über e<strong>in</strong>en<br />

längeren Zeitraum h<strong>in</strong>weg dauerhaft verwirklichen. Die Teilnahme an dieser, im Wochenplan<br />

auf 2 St<strong>und</strong>en angesetzten Kochgruppe ist bei den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n sehr beliebt <strong>und</strong> genießt hohes<br />

Prestige auf <strong>der</strong> Station. Der Zeitaufwand für die Gruppenarbeit ist aber für alle Beteiligten<br />

wesentlich höher (E<strong>in</strong>kauf oft am Vortag, Vorbereitung des Kochens schon am Nachmittag).<br />

-17-


Beispiel Konzeption für e<strong>in</strong>e Kochgruppe Auszüge) 21<br />

Hunger <strong>und</strong> Durst s<strong>in</strong>d Gr<strong>und</strong>gefühle. Das Gefühl <strong>in</strong> unserem Bauch bestimmt vom ersten<br />

Tag unseres Leben unser Dase<strong>in</strong>, unsere Stimmung...<br />

Zielsetzung auf <strong>der</strong> Beziehungsebene<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Beziehungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Beziehungsaufnahme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe; Entgegenwirken<br />

von Rückzugs- <strong>und</strong> Isolierungstendenzen; Entwicklung e<strong>in</strong>es Wir-Gefühls; auftretende Konflikte<br />

sollen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe besprochen <strong>und</strong> bearbeitet werden, um aufzuzeigen, dass e<strong>in</strong>e Problemlösung<br />

möglich ist <strong>und</strong> dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe zwangsläufig zu Konflikten kommt <strong>und</strong><br />

dass dies völlig normal ist; Vertrauen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Menschen; Sozialverhalten; Mitverantwortung<br />

für Gestaltung <strong>der</strong> Gruppe; Wecken von Bedürfnissen <strong>in</strong> Bezug auf die eigene Versorgung<br />

(Was wünsche ich mir Was schmeckt mir); Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung üben (Wer macht<br />

was); Erleben, dass das geme<strong>in</strong>same Tun e<strong>in</strong> Ergebnis hat <strong>und</strong> die An<strong>der</strong>en sich darüber<br />

freuen; Selbstwertgefühl<br />

Zielsetzung auf <strong>der</strong> Handlungsebene<br />

Geme<strong>in</strong>sames Tun üben; lebenspraktische Tätigkeiten planen, vorbereiten <strong>und</strong> durchführen;<br />

Motivation zu eigenem Tun för<strong>der</strong>n; Kennenlernen e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Essverhaltens/bewusster<br />

Ernährung <strong>und</strong> Gerichte frem<strong>der</strong> Län<strong>der</strong> („Län<strong>der</strong>kochen“ wenn ausländische K<strong>in</strong><strong>der</strong> teilnehmen);<br />

Wünsche äußern <strong>und</strong> diese <strong>in</strong> Eigen<strong>in</strong>itiative umsetzen können (Liebl<strong>in</strong>gsrezepte<br />

von zu Hause mitbr<strong>in</strong>gen) usw.<br />

Inhalte <strong>der</strong> Kochgruppe<br />

Es wird e<strong>in</strong>e Warme Mahlzeit mit Dessert für alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> (!) <strong>der</strong> Station zubereitet. Die Gerichte<br />

werden für e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Kochbuch mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aufgeschrieben. Die Aktivität f<strong>in</strong>det<br />

gruppenübergreifend an e<strong>in</strong>em festen Abend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche statt. Die durch das Team – auf<br />

dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Behandlungsplanung - festgelegte Teilnahme ist verpflichtend <strong>und</strong> endet<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mit <strong>der</strong> Entlassung. Indikation für die Teilnahme an <strong>der</strong> Kochgruppe s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den<br />

meisten Fällen Störungen des Sozial- <strong>und</strong> Essverhaltens.<br />

Durchführung<br />

Geme<strong>in</strong>sames Aussuchen des Rezeptes <strong>und</strong> Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden<br />

Geldes, Zutaten <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Menge, Bezug des Gerichtes zum Speiseplan <strong>der</strong> Woche <strong>und</strong> zur<br />

Jahreszeit, Zeitaufwand usw.<br />

Beim E<strong>in</strong>kauf wird auf die Auswahl des Geschäftes <strong>und</strong> den Preisvergleich geachtet, das<br />

Haltbarkeitsdatum <strong>der</strong> Waren geprüft, selbst abgewogen, das zur Verfügung stehende Geld<br />

überprüft usw.. E<strong>in</strong> <strong>der</strong> Situation angemessenes Verhalten wird im Laden <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Kasse<br />

angestrebt.<br />

In <strong>der</strong> Küche werden die Waren ausgepackt, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> vorbereitet (Kittel, Hygiene beachten<br />

usw.), die Reihenfolge des Kochens geplant, Aufgaben besprochen, festgelegt <strong>und</strong> durchgeführt,<br />

Abfälle entsorgt, Arbeitsgeräte <strong>in</strong> die Spülmasch<strong>in</strong>e geräumt usw.. Zu den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

gehören auch Decken <strong>und</strong> Dekoration des Tisches sowie das Servieren <strong>der</strong> Speisen<br />

(...)<br />

-18-


Wir schauen uns die Geschichte e<strong>in</strong>es 9-jährigen Jungen an, <strong>der</strong> längere Zeit an dieser Kochgruppe<br />

teilnahm 22 :<br />

Der Jungen wurde durch e<strong>in</strong> blutiges Drama (Ermordung <strong>der</strong> Eltern) <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Familie<br />

traumatisiert. Er hatte aggressive Impulsdurchbrüche wenn es um se<strong>in</strong> Eigentum g<strong>in</strong>g, zerstörte<br />

aber D<strong>in</strong>ge an<strong>der</strong>er Patienten, besaß nur e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Frustrationstoleranz <strong>und</strong> erlebte<br />

Grenzsetzungen als persönlichen Angriff. Die Ziele für ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kochgruppe waren „Gruppenfähigkeit,<br />

Selbstwertgefühl, etwas für An<strong>der</strong>e tun, e<strong>in</strong> Produkt mit an<strong>der</strong>en geme<strong>in</strong>sam<br />

herstellen“. Er nahm ca. 6 Monate an <strong>der</strong> Gruppe teil, davon waren die ersten zwei Monate<br />

durch häufigen Wi<strong>der</strong>stand („...ke<strong>in</strong>e Lust...“, „...so‘n Scheiß...“) <strong>und</strong> Provokationen geprägt,<br />

um nicht an <strong>der</strong> Gruppe teilnehmen zu müssen <strong>und</strong> weggeschickt zu werden. Die Gruppenleitung<br />

‚bestrafte‘ ihn aber nicht auf dieser Ebene, son<strong>der</strong>n suchte nach Sanktionen außerhalb<br />

<strong>der</strong> Kochgruppe (z.B. ke<strong>in</strong> Game-Boy-<strong>Spiel</strong>en) <strong>und</strong> bestand auf se<strong>in</strong>er Mithilfe, da sie<br />

notwendig zum Gel<strong>in</strong>gen des Essens für alle sei. Allenfalls wurden ihm kurze Auszeiten zugestanden<br />

<strong>und</strong> die Gruppenleitung band ihn eng an geme<strong>in</strong>same Tätigkeiten. Auffällig war, dass<br />

<strong>der</strong> Junge sich <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Kochgruppe sche<strong>in</strong>bar zufällig an den Küchenmessern schnitt – es<br />

floss immer irgendwie Blut. Die Betreuenden fanden das spannend, weil die Familientragödie<br />

wohl sehr blutrünstig gewesen war. Sie ließen ihn trotzdem mit großen, „echten“ Messern<br />

arbeiten <strong>und</strong> setzten viel Vertrauen <strong>in</strong> ihn, auch wenn er manchmal mit e<strong>in</strong>em Messer recht<br />

bedrohlich wirkte <strong>und</strong> mit se<strong>in</strong>er Macht kokettierte. Gelegentlich machte er auch Andeutungen<br />

über se<strong>in</strong>e Erlebnisse. Nach zwei Monaten lernte er – mit verbaler Unterstützung wie<br />

„Du schaffst das!“ - zunehmend Tätigkeiten selbständig <strong>und</strong> ausdauernd durchzuführen.<br />

Nach vier Monaten kam bei ihm etwas Langeweile auf, aber er akzeptierte die Arbeitsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

war stolz auf se<strong>in</strong>e Leistungen , übernahm Verantwortung <strong>und</strong> leitete neue K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

an. Es kam zu ke<strong>in</strong>en Verletzungen mehr. Die Kochgruppe schien ihm wichtig zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> er<br />

hielt die Teilnahme bis zu se<strong>in</strong>er Entlassung durch, allerd<strong>in</strong>gs waren bis zum Schluss Ansprache<br />

<strong>und</strong> Ermunterung durch die Gruppenleitung notwendig.<br />

4. Schlussbemerkung<br />

Gilt die Kritik an <strong>der</strong> Gruppendynamik – Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> abgehobenen Bereichen als Lernort zur<br />

Bearbeitung von Alltagsproblemen ist fragwürdig (KÖNIG 82ff, 174ff) – auch für die Gruppenarbeit<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite greift diese Kritik nicht,<br />

weil sich auf den Stationsgruppen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrem Umfeld echtes soziales Leben ereignet. Der<br />

Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienst besteht nicht aus „Interaktionstra<strong>in</strong>ern“ son<strong>der</strong>n aus Menschen,<br />

aus „Spezialisten für das Allgeme<strong>in</strong>e“, die <strong>in</strong> konkreten alltäglichen Zusammenhängen handeln<br />

<strong>und</strong> reagieren. An<strong>der</strong>erseits ist Gruppe <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP aber immer auch e<strong>in</strong> geschützter<br />

Raum <strong>und</strong> so kann es trotz aller Bemühungen <strong>der</strong> Pflegenden <strong>und</strong> Erziehenden zu hospitalisierten<br />

Anpassungsleistungen <strong>und</strong> eitler Selbsttäuschung <strong>der</strong> Experten kommen. Die sogenannte<br />

„Gruppenfähigkeit“ <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen erweist sich letztlich erst <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Realität d.h. <strong>in</strong> den Gruppen, <strong>in</strong> die sie zurückkehren o<strong>der</strong> von denen sie neu aufgenommen<br />

werden. Deshalb muss <strong>der</strong> Stationsalltag weitgehend dem „normalen Lebensalltag“<br />

angenähert werden o<strong>der</strong> wie ROTTHAUS (1990) etwas akademisch formuliert, „Die alltagsnahe<br />

Gestaltung des stationären Ablaufs“ ist notwendig, „um generalisierbare Problemlösungsstrategien<br />

aufzubauen <strong>und</strong> sie gegen Ende <strong>der</strong> stationären Behandlung <strong>in</strong> alltäglichen<br />

Situationen auf ihre Effektivität h<strong>in</strong> überprüfen zu können“. S<strong>in</strong>nvoll ist es m.E., die Ziele <strong>und</strong><br />

Inhalte <strong>der</strong> Gruppenarbeit auszurichten auf die folgende soziale Wirklichkeit <strong>in</strong> Familie,<br />

Wohngruppe o<strong>der</strong> Heim – wenn möglich durch aktive Beteiligung <strong>der</strong> zukünftigen Bezugspersonen!<br />

Die Qualität des Behandlungsteams – als mehr o<strong>der</strong> weniger ‚echte‘ Gruppe – hat als Faktor<br />

des sozialen Milieus <strong>und</strong> als Teil <strong>der</strong> Stationsgruppe natürlich erheblichen för<strong>der</strong>nden o<strong>der</strong><br />

-19-


hemmenden E<strong>in</strong>fluss auf die Behandlung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen. Jedes Team sollte<br />

sich deshalb auch kritisch mit sich selbst als Gruppe, se<strong>in</strong>en Kommunikationsstrukturen sowie<br />

den sozialen Konzepten <strong>und</strong> Quasirollen <strong>der</strong> Teammitglie<strong>der</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen 23 .<br />

5. Zum Weiterlesen<br />

BAER, Ulrich 1994: 666 <strong>Spiel</strong>e für jede Gruppe, für alle Situationen, Seelze-Velber<br />

DECHMANN, Birgit 1981: Soziologie im Alltag, We<strong>in</strong>heim<br />

HORNUNG, Ra<strong>in</strong>er 1999 (Hrsg.): „Psychologisches <strong>und</strong> soziologisches Gr<strong>und</strong>wissen für Krankenpflegeberufe“,<br />

We<strong>in</strong>heim<br />

SADER, Manfred 1998: Psychologie <strong>der</strong> Gruppe, We<strong>in</strong>heim<br />

SIELERT, Uwe 1993 (Hrsg.): Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit <strong>in</strong> Freizeit <strong>und</strong> Schule,<br />

We<strong>in</strong>heim<br />

VOPEL, Klaus 1978: Handbuch für Gruppenleiter, Hamburg<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Der Text entstand <strong>in</strong> Zusammenarbeit bzw. mit kritischer Hilfe <strong>der</strong> Fachkrankenschwestern für Psychiatrie<br />

Jutta ARNDT (KPPKJ Riedstadt) <strong>und</strong> Sandra TRUSHEIM/Ute WAGENER (KPPKJ Rehberg) sowie Ulrich<br />

DIEHL (KPPKJ Rehberg)<br />

Der Verfasser ist Mitarbeiter im Fortbildungszentrum des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, das u.a. für<br />

die Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung des psychiatrischen Pflegepersonals zuständig ist. Dieses <strong>und</strong> weitere Zitate im<br />

Text stammen aus mündlichen <strong>und</strong> schriftlichen Praxisberichten <strong>der</strong> Teilnehmer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Teilnehmer. Die<br />

Zitate <strong>der</strong> Patienten s<strong>in</strong>d dem Buch „Wenn die Seele überläuft“ (KNOPP 2000) entnommen.<br />

Zitiert nach HORNUNG 1999 „Psychologisches <strong>und</strong> soziologisches Gr<strong>und</strong>wissen für Krankenpflegeberufe“,<br />

We<strong>in</strong>heim 1999, S. 225ff.<br />

SCHMIDT-GRUNERT 1999, zur Kritik siehe beispielsweise SADER 1998 <strong>und</strong> GUDJONS 1993<br />

Zitiert nach FLOSDORF S. 133<br />

Aufgr<strong>und</strong> verschiedener Theorieansätze existieren unterschiedliche Gruppenmodelle, jedoch gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

soziologischen <strong>und</strong> sozialpsychologischen Literatur h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> folgenden Def<strong>in</strong>itionen <strong>und</strong> Aussagen<br />

weitgehende Übere<strong>in</strong>stimmungen. Wir folgen dem Kapitel „Die kle<strong>in</strong>e Gruppe“ <strong>in</strong> dem sehr empfehlenswerten<br />

Buch von DECHMANN (2001)“Soziologie im Alltag“ sowie HORNUNG (vergl. 3 ) ohne Zitate usw.<br />

näher zu kennzeichnen<br />

auf das <strong>der</strong> aus e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Theorietradition stammende SCHINDLER 1973 h<strong>in</strong>wies<br />

(nach NEUBERGER 1995, S.130)<br />

Im folgenden e<strong>in</strong>e Zusammenfassung verschiedener Autoren, die nur ger<strong>in</strong>gfügig vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abweichen,<br />

die besten Anregungen - gerade auch zur Gruppenarbeit mit K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen – verdanke ich „Doro“<br />

+ „Angi“ aus dem Internet (http://www.ellmann.de/pml/Gruppenpädagogik.doc) , die sich stark auf LOWY<br />

beziehen. Es handelt sich um Modelle (!) d.h. die Phasen laufen nicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> dieser Reihenfolge ab, alle<br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong> durchlaufen nicht zur gleichen Zeit dieselbe Phase usw.<br />

Aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung wird Geme<strong>in</strong>sames Tun im gesamten Text groß geschrieben (siehe 3.2 „Abschweifungen...“).<br />

Auch wenn ich persönlich mit dem Begriff Schwierigkeiten habe, weiß ich ke<strong>in</strong>e bessere<br />

Formulierung...<br />

Explizit weist <strong>der</strong> 8. Jugendbericht (BUNDESREGIERUNG 1990) auf diese gestiegenen Risikofaktoren h<strong>in</strong>.<br />

Vergl. auch das Funk-Kolleg Sucht <strong>und</strong> Sehnsucht KEMPER 2000: Sucht <strong>und</strong> Sehnsucht, Stuttgart<br />

Fortbildungszentrum LWV Hessen/G. Meier u.a. 1989ff: Ständig überarbeitete Materialien zur Weiterbildung<br />

Fachkrankenpflege Psychiatrie<br />

Zusammenfassende Darstellung von STURM u.a. (1997) S.252ff. <strong>in</strong> PROJEKTGRUPPE 1997: Die Kunst<br />

<strong>der</strong> patientenorientierten Pflege, Frankfurt<br />

Die Regelaufgaben des Pflege- <strong>und</strong> Erziehungsdienstes <strong>in</strong> <strong>der</strong> stationären K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

nach <strong>der</strong> PsychPV (KUNZE 1994 S.72ff) lassen sich diesen Handlungsfel<strong>der</strong>n weitgehend zuordnen<br />

Sehr anschaulich <strong>und</strong> teilweise beklemmend beschreiben das betroffene K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche selbst <strong>in</strong><br />

„Wenn die Seele überläuft“ (KNOPP 2000)<br />

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Jede Pädagogik ist e<strong>in</strong>e „beson<strong>der</strong>e“ Pädagogik, ist „Son<strong>der</strong>pädagogik“, weil sie die beson<strong>der</strong>en Bed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>der</strong> zu Erziehenden berücksichtigen muss – seien diese nun hochbegabt, lernbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t o<strong>der</strong> psychisch<br />

krank. „Die Allgeme<strong>in</strong>e Pädagogik f<strong>in</strong>det ihre notwendige ‚Beson<strong>der</strong>ung‘, sobald sie sich speziell mit Detailbereichen<br />

befasst, sei es die Schulpädagogik, die Berufspädagogik o<strong>der</strong> die Sozialpädagogik“ vergl.<br />

BLEIDICK 1981<br />

Wir haben diese Überlegungen im Fortbildungszentrum LWV Hessen aus dem Curriculum Fachkrankenpflege<br />

heraus entwickelt (vergl. 10 ). Das Konzept halten wir für so bedeutsam, dass unser vierwöchiger Basislehrgang<br />

für psychiatrische Krankenpflege <strong>und</strong> Erziehung darauf aufbaut: „Die beson<strong>der</strong>e Bedeutung <strong>der</strong><br />

Alltagsgestaltung <strong>und</strong> des geme<strong>in</strong>samen Tuns für e<strong>in</strong>en gel<strong>in</strong>genden Behandlungsalltag<br />

Diese Sichtweise verkennt auch die gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung von <strong>Spiel</strong> als Möglichkeit des Puffers zwischen<br />

den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Realität <strong>und</strong> <strong>in</strong>nerer Welt im „<strong>in</strong>termediären Raum“, wie WINNICOTT 1989<br />

sie heraus gearbeitet hat. E<strong>in</strong> gutes Beispiel berichtet e<strong>in</strong>e Fachkrankenschwester: „E<strong>in</strong> sehr verschlossenes,<br />

aggressives Mädchen spielt nach fünf Monaten <strong>in</strong> <strong>der</strong> KJP e<strong>in</strong>es Tages mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Mitpatienten Ärzt<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Patient<strong>in</strong>. Das K<strong>in</strong>d diktiert <strong>der</strong> ‚Ärzt<strong>in</strong>‘, die auch alles brav aufschreibt, ihre Lebensgeschichte <strong>und</strong><br />

spricht erstmalig konkret von Misshandlungen, E<strong>in</strong>gesperrtse<strong>in</strong> <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en schrecklichen Erlebnissen. In<br />

dieser Zeit öffnet sich das Mädchen auch stärker, kann Trauer <strong>und</strong> Tränen zulassen.“<br />

Das setzt natürlich etwas ‚Lockerheit‘ <strong>und</strong> Selbstironie <strong>der</strong> Betreuenden voraus<br />

Vergl. KLOSTERKÖTTER-PRISOR 1980 zum Rollenspiel mit stark unmotivierten Jugendlichen o<strong>der</strong> den<br />

‚Klassiker‘ HARTWIG 1980 zur ästhetischen Arbeit mit Unterschichtjugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pubertät<br />

Noch hilfreicher ist die komplexere ‚Checkliste‘ <strong>in</strong> DECHMANN 2001, S.84ff., <strong>der</strong> ich me<strong>in</strong>e Überlegungen<br />

verdanke<br />

Vergl. SIELERT 1993 (Hrsg.): Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit <strong>in</strong> Freizeit <strong>und</strong> Schule,<br />

We<strong>in</strong>heim sowie BAER 1994: 666 <strong>Spiel</strong>e für jede Gruppe, für alle Situationen<br />

Vergl. dazu auch WALTER (2000): Pflegerische Kle<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Großgruppenarbeit <strong>in</strong> Psych Pflege 2000, Nr. 6<br />

<strong>und</strong> SCHÄDLE-DEININGER (1996): Praktische psychiatrische Pflege, Bonn 1996<br />

KPPKJ Rehberg (Sandra TRUSHEIM/Ute WAGENER) o.J.:<br />

Schriftliche Konzeption <strong>der</strong> Kochgruppe <strong>der</strong> Station 1.1<br />

TRUSHEIM, Sandra/WAGENER, Ute (KPPKJ Rehberg) 2001: Unveröffentlichter Bericht<br />

Auch hier sei noch e<strong>in</strong>mal auf die ‚Checkliste‘ verwiesen vergl. 15)<br />

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