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Dieter SEGERT: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei ...

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Neue Literatur<br />

kollektiven Selbstgewissheiten, die innerhalb der betreffenden Öffentlichkeit<br />

vorherrschen. Gemeinschaftliche Identitäten, in denen Bevölkerungsmehrheiten<br />

und ihre Eliten übereinstimmen, bilden entscheidende zusätzliche Rahmenbedingungen<br />

des politischen Handelns. Solche Gewissheiten bilden einen<br />

wichtigen Kontext des Handelns nationaler und internationaler politischer Akteure.<br />

Sie beinhalten bestimmte Vorstellungen über die Vergangenheit der<br />

Völker. <strong>Die</strong> Geschichte wird jeweils aus der Sicht der aktuellen Interessen interpretiert.<br />

Der Streit zwischen verschiedenen politischen Akteuren um die<br />

Interpretationshoheit ist in die Herausbildung solcher Geschichtsbilder eingeschlossen.<br />

(S. 20)<br />

<strong><strong>Die</strong>ter</strong> Segert betrachtet die Prozesse um nationale Emanzipation und um politische,<br />

soziale und ökonomische Entwicklung, durch welche die ostmittel- und<br />

südosteuropäischen Gesellschaften seit dem frühen 19. Jahrhundert geprägt<br />

sind, aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive. Analysiert wird ein politischer<br />

Raum, der nach <strong>1918</strong> in den Friedenverträgen von Versailles und Trianon<br />

entstand, mit denen ein jahrzehntelanger nationaler Emanzipationsprozess<br />

vorläufig zum Abschluss kam. Verstanden wird dieser Prozess als eine Befreiung<br />

von vier die Region seit dem 14. Jahrhundert dominierenden Imperien:<br />

Habsburg, Russland, Preußen-Deutschland und das Osmanische Reich. Allerdings<br />

gelang es bekanntlich nicht, eine dauerhafte demokratische Ordnung<br />

nach <strong>1918</strong> zu etablieren, vielmehr erwiesen sich die Tendenzen autoritärer<br />

Herrschaft als stärker. Segert macht hierfür empirische Tatsachen verantwortlich,<br />

zu denen er die Instabilität von politischen Institutionen zählt, ferner ethnische<br />

Minderheiten und die Dominanz eines Kulturnationalismus, der die Nation<br />

über Sprache, Kultur und historische Mythen definiert. Schließlich<br />

gehören die Akzeptanz des Einsatzes von Gewalt für politische Ziele und der<br />

Abbau politischer Rechte und Freiheiten zu den Elementen einer antidemokratischen<br />

Entwicklung (S. 36). Aber auch innere (Institutionenlabilität, Akteursschwäche,<br />

Mangel an sozialer Integration) und externe Gründe macht Segert<br />

verantwortlich für die Veränderungen der internationalen Politik (S. 45ff.).<br />

Sein Fazit: die osteuropäischen Länder nach <strong>1918</strong> erscheinen als halbtraditionelle,<br />

halb moderne Gesellschaften.<br />

Im nächsten Schritt wendet sich Segert der Frage zu, warum sich nach <strong>1945</strong><br />

der Staatssozialismus in Osteuropa durchsetzte, wobei neben faktischen Voraussetzungen<br />

wie der Diskreditierung der alten Ordnung, der Hoffnung auf<br />

einen Neuanfang und der Attraktion einer politisch progressiven Utopie auch<br />

die linken Traditionen – heute gerne verdrängt – eine wichtige Verantwortung<br />

für den Sieg des Kommunismus besitzen. Insofern erscheint die These vom<br />

Absterben der Gesellschaft und von der Durchdringung durch den Staat (S. 99)<br />

problematisch, ist doch eher ein herrschaftserhaltendes Einverständnis, ob<br />

suggeriert, inszeniert, erzwungen oder freiwillig zu konstatieren (S. 104). <strong>Die</strong><br />

Ausübung der Macht in den staatssozialistischen Systemen verlief zu großen<br />

Neue Literatur<br />

Teilen über die Kontrolle beruflicher Perspektiven, über eine „parasitäre Nutzung<br />

positiver Lebensziele mittels eines umfassenden Apparates der Verteilung<br />

individueller Lebenschancen (S. 119f.), erst danach rangieren Privilegien.<br />

Natürlich unterschätzt Segert nicht die Kontrolle der Massenmedien, die über<br />

Eigentumsrechte (Parteipresse), Personalpolitik, Einflussnahme und – ganz<br />

traditionell – die Zensur erfolgte, stellt aber daneben zu recht die Bedeutung<br />

der Rituale einer inszenierten Öffentlichkeit heraus, mit der es um die „Allgegenwart<br />

eines ideologischen Horizonts“ ging, aber auch um die „Senkung der<br />

Schwelle für die Teilnahme von möglichst vielen Bürgern an diesen Ritualen“<br />

(S. 137), mit deren Hilfe eine Atmosphäre öffentlicher Einstimmigkeit geschaffen<br />

wurde. Ideologie, Zensur, Konsum und Gewalt (Terror) lassen sich<br />

somit als Systemstabilisatoren (S. 146) identifizieren, wobei sich für die<br />

Volksdemokratie eine scheinbar paradoxe Entwicklung abzeichnete: mit der<br />

Zunahme der Geheimdienstmitarbeiter ging eine Zivilisierung der Gewalt einher,<br />

die 1950er Jahre sind, nicht nur im Blick auf die stalinistischen Schauprozesse,<br />

sicher nicht mit den 1970er oder 1980er Jahren zu vergleichen.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklungen fanden eine Entsprechung in der Kulturpolitik, die aus<br />

einer vergleichenden Perspektive zwischen der DDR und der SSR betrachtet<br />

wird. Kunst wurde als Teil der ideologischen Erziehung eingesetzt, was sich in<br />

einer direkten politischen Einflussnahme zu Anfang der 1950er Jahre niederschlug.<br />

Zwar ist nach dem Tode Stalins eine vorsichtige Liberalisierung in<br />

beiden Ländern zu konstatierten, allerdings erfolgt in der DDR die Rücknahme<br />

dieses kulturpolitischen Tauwetters nicht erst mit dem Kahlschlagplenum von<br />

1965, bereits vorher machten sich repressive Tendenzen bemerkbar, das belegen<br />

u.a. die Prozesse gegen Janka, Harich, Loest und Zwerenz sowie die ‚Vertreibung‘<br />

von Ernst Bloch und Hans Mayer, um nur einige zu nennen. Gleichermaßen<br />

scheint Segert einer gewissen Überschätzung der sogenannten<br />

Liberalisierung Honeckers Anfang der 1970er zu erliegen, war diese doch lediglich<br />

dem Machtkalkül in einer Zeit beginnender Entspannungspolitik verpflichtet.<br />

Dennoch liegt ein grundlegender Unterschied zur Kulturpolitik der SSR vor,<br />

da es in der Tschechoslowakei zu einer tatsächlichen Liberalisierung mit der<br />

Phase der Entstalinisierung kam, die in den Prager Frühling mündete. Dessen<br />

militärische Niederschlagung wiederum führte zu einer grundsätzlichen Diskreditierung<br />

des sozialistischen Modells und zu einer Aufspaltung in eine affirmative<br />

öffentliche Kultur und Kulturpolitik und eine der Dissidenz (Samizdat,<br />

Charta 77). Eine Entwicklung, die wiederum nicht mit der Situation in der<br />

DDR und der privilegierten Stellung vieler Künstler auch über die Biermann-<br />

Affäre hinaus korrelierte.<br />

Das Jahr <strong>1989</strong> gilt gemäß der Lesart der vorliegenden Studie als dritter Anlauf<br />

zur Überwindung der Rückständigkeit. Segerts Fazit fällt dem gemäß verhalten<br />

optimistisch aus:<br />

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