Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
muss man von Pilgerreisen<br />
mitbringen, egal ob Mekka<br />
oder Lourdes. Einen Hauch<br />
dieser Kraft zur Verwandlung,<br />
den Lahmen gehend und den<br />
Blinden sehend zu machen,<br />
vermuten wir in jeder Wasserflasche.<br />
Wenigstens in dem<br />
teuren Gletscherzeug, in Fidji-Wasser<br />
oder den anderen<br />
Edelsorten für zehn Euro pro<br />
Flasche. Stars versichern uns<br />
im Interview treuherzig, das<br />
Geheimnis ihrer Schönheit<br />
und des inneren Leuchtens<br />
liege nur im Wassertrinken,<br />
drei Liter jeden Tag. Ok – Yoga<br />
dazu. Und gute Gene. Aber<br />
bestimmt kein Chirurg. Wer<br />
das glaubt, mag seine Fingerspitzen<br />
in Bonaqua tauchen<br />
und sich bekreuzigen. Früher<br />
ist man auch mit Weihwasser<br />
sparsamer umgegangen. Was<br />
das eben genannte Tafelwasser<br />
betrifft: ist auch aus der<br />
Leitung. Ja, auf Konzerten,<br />
an der Pommesbude und in<br />
der Hamburgerbraterei zahlen<br />
wir für Leitungswasser mit<br />
etwas Blubber drin. Und zero<br />
Kalorien. Man kann sein Leitungswasser<br />
nicht nur selber<br />
aufsprudeln, sondern auch<br />
mit teuren Geräten „energetisieren“,<br />
es mit Edelsteinen<br />
in Karaffen drei Tage lang<br />
herumstehen lassen, um es<br />
zu harmonisieren… Aber das<br />
sage ich auch über alle neuen<br />
Sorten mit einem Hauch<br />
Geschmack. Stilles Wasser mit<br />
einem fernen Hauch Granatapfel,<br />
Grüntee oder Holunderblüte.<br />
Die farblosen Urenkel<br />
der Brause, bah.<br />
Wir haben uns angewöhnt zu<br />
trinken, weil es nötig ist. Auch<br />
wenn wir nicht durstig sind.<br />
Bevor wir Durst bekommen.<br />
Ein Bedürfnis stillen, bevor<br />
es überhaupt auftritt. Damit<br />
wird Trinken so lustlos wie<br />
das ganze Leben. Was gibt<br />
es denn Schöneres, als seinen<br />
brennenden Durst zu löschen<br />
Es mag der Durst nach<br />
Wissen sein oder Neugier, die<br />
brennt. Die trockene Kehle,<br />
wenn einem der Traummann<br />
einen flüchtigen Blick zuwirft.<br />
Wie soll man diese Symptome<br />
noch deuten, wenn man<br />
Durst nicht kennt Kann man<br />
seine körperlichen Reaktionen<br />
missverstehen Ja, woher<br />
sonst das Bedürfnis in die Stille<br />
hinein zu husten, bevor der<br />
Dirigent den Taktstock hebt!<br />
„Freude trinken alle Wesen an<br />
den Brüsten der Natur“ – so<br />
heißt es in Schillers Ode an<br />
die Freude. Die Leute, die den<br />
ganzen Tag an der eigenen<br />
Wasserflasche nuckeln, haben<br />
auch immer den passenden<br />
Sound dabei. Kopfhörer. Aber<br />
wehe, wenn sie sich doch mal<br />
in ein echtes Konzert verirren,<br />
nicht auf mp3 die besten Stellen<br />
als rotation hören. Zum<br />
Beispiel Beethovens Neunte.<br />
Live. Jetzt. Konzertsaal. (Hallo!<br />
Die Wasserflaschen bleiben<br />
draußen! Und Nuckelbecher<br />
mit Strohhalm sind auch<br />
nicht erlaubt!) Der großartige<br />
Schluss, wenn 5 der Chor aufsteht,<br />
die Schleusen aufgehen<br />
und Musikströme wie ein<br />
Wasserfall niedergehen. Der<br />
ist genau deswegen großartig,<br />
weil man die ganze Sinfonie<br />
gehört hat. Ja, ganz. Und die<br />
Stille, die trockene Stille vor<br />
dem ersten Ton. Man hat Durst<br />
bekommen, ihn ausgehalten.<br />
Und zum Schluss ist er gestillt<br />
worden. Das ist Glück. Mehr<br />
geht nicht. Höchstens noch<br />
ein Sekt im Foyer.<br />
Foto: Andreas Dibbern<br />
27