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Durst ist männlich. Und alkoholfrei Wasser.<br />

Der Mann aus Moskau, der gerade<br />

noch mit mir anstoßen wollte, verzieht<br />

angewidert das Gesicht. Wasser trinken!<br />

Ist der Durst eine Kneipe oder ein Krankenhaus<br />

Kaschemme ist der Ehrentitel für<br />

Trinkstätten, die sich über Jahrzehnte treu<br />

geblieben sind. Aus der Zeit gefallen. Und<br />

aus der bösen, kriegerischen Welt. Durst,<br />

eine winzige Insel, auf der alles genauso ist,<br />

wie es aussieht. Echt. Der Ozean von Werbung<br />

und Konsum spült seine Schiffbrüchigen<br />

gnädig an den rettenden Tresen. Ja,<br />

der Wirt schreibt an. Bei manchen Gästen<br />

bis weit in den dreistelligen Bereich. Nach<br />

Gefühl. Und Menschenkenntnis. Abdul, der<br />

eben noch über die Nebeneinkünfte der<br />

Bundestagsabgeordneten räsonierte, hält<br />

inne: „Hier hab ich Deutsch gelernt.“ Als er<br />

vor 16 Jahren kam. Im Durst wird geredet.<br />

Keiner guckt auf sein Handy. Gibt es wirklich<br />

Smartphones Oder werden die erst<br />

noch erfunden Gerechnet wird auf Bierdeckeln.<br />

Konsens ist Kacke, hier zählt Klartext.<br />

Jeder hat eine Meinung! Mindestens<br />

eine… Hochmut wirft mir ein Typ vor, der<br />

Che Guevaras Look kultiviert und auf verschränkten<br />

Armen vor sich hin döst. Geistigen<br />

Hochmut. Spricht‘s, schlägt mein<br />

Notizbuch zu und dreht sich um, als hätte<br />

ich ihn in seinem Schlafzimmer gestört.<br />

Ich korrigiere – der Durst ist eine Haltung.<br />

Die man nicht in einer halben Stunde erfassen<br />

kann. „Du hast gar nichts verstanden!“,<br />

murmelt der Revolutionär. Stimmt, ich bin<br />

nüchtern. Und selbst in dieser tropischen<br />

Nacht nicht durstig. Durst ist männlich. Wie<br />

lange bin ich nun schon hier Die Augen<br />

gewöhnen sich an die spärliche Beleuchtung.<br />

Jetzt sehe ich, dass von der Decke<br />

ein FC-Wimpel hängt. Jede Dekoration<br />

scheint ein Versehen zu sein. Durst ist die<br />

Reduktion von Kneipe. Das Notwendige –<br />

Tresen, Hocker, Stehtische – auf wenigen<br />

Quadratmetern zur Essenz eingekocht.<br />

Im Nebenraum ein Kicker. Knobeln an der<br />

Theke geht auch. Kein Daddelkasten, kein<br />

Dartspiel. Durst ist düster.<br />

Die Wände braun. Hier wird nicht gelüftet,<br />

hier wird nicht getanzt. Wie viel Höhlenmensch<br />

steckt noch in jedem von uns<br />

Falls in einer der Ecken Darwin höchstpersönlich<br />

säße, würde es mich nicht wundern.<br />

Oder ist das dort Hemingway Der<br />

Durst ist maskulin, doch auch der trostreiche<br />

Busen, an den man(n) sinkt, sobald der<br />

Tag der Dunkelheit weicht. Dann ist die<br />

Durststrecke überstanden. Endlich!<br />

Der handgeschriebene Zettel klebt gut<br />

sichtbar an der Wand. Die meisten Gäste<br />

wohnen in der Nachbarschaft. Früher war<br />

das hier ein übles Viertel, der Laden selbst<br />

eine Animier-Bar mit leichten Mädchen. Ein<br />

Schwarzweiß-Foto aus den frühen 70ern<br />

hängt gerahmt neben der Tür. Dienstags<br />

legt der Chef selber auf. Vinyl! Zwei Plattenspieler,<br />

ein Mischpult – so muss das sein…<br />

Musik wie Bier und Whiskey – ein bisschen<br />

Blues, ein bisschen Groove, doch eher<br />

Soul „Ich komm von der anderen Rheinseite.<br />

Jeden Dienstag. Wenn Proffi auflegt,<br />

wegen der Musik!“, sagt die einzige Frau am<br />

Tresen. Ich nicke. Recht hat sie, der Sound<br />

geht runter wie Öl. Jeden Montag schreibt<br />

Jürgen einen neuen Spruch mit Kreide an<br />

die Wand. Diese Woche ein Feuerbach-Zitat.<br />

Über Aberglauben. Daneben pappt ein<br />

winziger Zettel, nur bei genauem Hinsehen<br />

zu entziffern: Superbia – Avaritia – Invidia –<br />

Ira – Luxuria… Die sieben Todsünden. Auf<br />

Lateinisch! Avaritia… Hatte mir heute nicht<br />

„Suche 1-2 Zimmer in<br />

Durstnähe, Eigelstein,<br />

Agnes oder Kunibert;<br />

Größe egal“<br />

schon jemand Hochmut vorgeworfen!<br />

Ein Initiationsritus Muss man alle sieben<br />

an einem Abend schaffen, um zum engsten<br />

Kreis zu zählen Nee, Völlerei nicht – im<br />

Durst gibt‘s nichts zu essen. Was macht eine<br />

Kneipe zur Kultstätte Dass sie in Büchern,<br />

Hörspielen und Kunstwerken vorkommt<br />

Guido zuckt die Schultern. Es ist so, der<br />

Durst ist Kult. Egal warum. Klaus erzählt von<br />

New York, wo er gelebt hat, und von der<br />

Kultkneipe dort… So ähnlich wie der Durst.<br />

Sozialistisch. Die Illusion, dass wir alle gleich<br />

sind – vor dem Tresen. Richtig, der Durst ist<br />

nicht kölsch. Diese nächtliche Insel könnte<br />

London sein oder Liverpool, Amsterdam<br />

oder Arnheim. Überall vom Aussterben bedroht.<br />

Gentrifizierung. Wie lange dauert es,<br />

bis der letze Laden einer Filiale Erlebnis-Gastronomie<br />

weicht Der Gedanke stimmt die<br />

Versammlung am Tresen etwas wehmütig…<br />

Man sollte den Durst unter Artenschutz stellen.<br />

Die Kneipe als kulturelles Erbe für die<br />

Nachwelt erhalten. In diesem Sinne, meine<br />

Herren… Ich schäle mich vom Barhocker,<br />

gucke auf die Uhr: gleich halb vier. Was, ich<br />

war vier Stunden hier Kann gar nicht sein.<br />

Der Durst ist männlich, die Zeit weiblich.<br />

Durst - Weidengasse 87, 50668 Köln,<br />

Deutschland – Kein Webauftritt – könnte<br />

auslaufen<br />

Kölner Kneipen,<br />

die Serie auf / <strong>seconds</strong>.de<br />

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