Musik im Raum - ZKM
Musik im Raum - ZKM
Musik im Raum - ZKM
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Klang-Bewegung als Inhalt an sich („Bewegung um der Bewegung willen“): Ein prominentes<br />
Beispiel wäre John Chownings Turenas.<br />
räumliche Verteilung zur Differenzierung des Klangs sowie der Wahrnehmung<br />
räumliche Verteilung als interpretatorisches Mittel (als „Orchestrierung“): Ein prominentes<br />
Beispiel wäre Dialogue de l‘ombre double von Pierre Boulez.<br />
räumliche Verteilung als struktureller Parameter der Komposition (z.B. Luigi Nono, Konrad<br />
Boehmer)<br />
Projektion eines <strong>Raum</strong>klangs (Wiedergabe einer Surround-Aufnahme)<br />
Behandlung verschiedener Lautsprecher als diskrete Orte des musikalischen Geschehens<br />
Dazu zehn allgemeine Feststellungen, welche unseres Erachtens die Gefahr der Überschätzung der<br />
Mehrkanal-Wiedergabe verdeutlichen:<br />
1. Die in diesem Zusammenhang viel zitierte venezianische Mehrchörigkeit ist letztlich eine Ausnahmeerscheinung<br />
geblieben, auf die in den nachfolgenden gut 300 Jahren weitestgehend verzichtet<br />
wurde. Das Fernorchester, wie es etwa bei Mahler auftaucht, ist zwar räumlich getrennt,<br />
die inhaltliche Differenzierung von Nähe und Ferne ist aber dabei das Movens und nicht die<br />
unterschiedliche Lokalisation. Die in Venedig begründete kompositorische „Verräumlichung“<br />
musikalischer Form ist ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung geblieben – wenn auch eine mit<br />
noch unentdecktem kompositorischen Potential.<br />
2. Die Einführung der Quadrophonie in den 1970er-Jahren misslang nicht nur, weil sich die Industrie<br />
nicht auf eine einheitliche Norm einigen konnte (das konnte sie <strong>im</strong> Bereich Video zu<br />
Beginn noch viel weniger). Es fehlte schlicht das Interesse der Konsumenten.<br />
3. Auch heute, wo sich Surround vermeintlich durchgesetzt hat, stehen be<strong>im</strong> größten Teil der Anlagen,<br />
die verkauft werden, alle Lautsprecher in einer Reihe, zusammen mit dem DVD-Player<br />
<strong>im</strong> TV-Möbel.<br />
4. Surround <strong>im</strong> Kino wird zunehmend zur räumlich differenzierten Darstellung des letztlich frontal<br />
gedachten Klangs benutzt und <strong>im</strong>mer weniger, um akustische Ereignisse <strong>im</strong> 3-D-<strong>Raum</strong> zu<br />
projizieren. Die Diskrepanz zwischen dem auf eine Fläche projizierten Bild und dem rundum<br />
projizierten Klang scheint eher zu irritieren. Wie oben beschrieben sind wir gewohnt, uns Dingen<br />
zuzuwenden. Wenn hinter uns Pferde galoppieren, drehen wir uns instinktiv um. Wenn wir<br />
dann anstatt Pferden <strong>im</strong> dunklen Kinosaal die Umrisse knutschender Pärchen erkennen, ist das<br />
dem Verständnis des Films nicht förderlich, zumal wir in dieser Zeit verpasst haben, was auf<br />
der Leinwand gezeigt wurde. Surround entsprang, wie das Breitleinwand-Format, der Hoffnung<br />
der Filmindustrie, das Kino damit gegenüber dem Fernsehen besser zu positionieren und<br />
nicht, weil die Filmschaffenden hofften, damit bessere Filme machen zu können.<br />
5. Die Stereofotografie und das 3D-Kino, welche dreid<strong>im</strong>ensionale Abbilder liefern, gibt es seit<br />
Jahrzehnten. Das Interesse an dieser Realitätsnähe in Bezug auf räumliche Abbildung scheint<br />
aber gering. Über den Viewmaster und ein paar billige Unterhaltungsfilme und Achterbahnfahrten,<br />
die auf Jahrmärkten gezeigt werden, ist es nicht hinaus gekommen. Es gibt wenig<br />
Gründe, warum das Interesse an akustischen räumlichen Abbildungsverfahren größer werden<br />
sollte.<br />
6. Mehrkanalwiedergabe beeinflusst ästhetische Vorstellungen. Viele Mehrkanalstücke frönen einer<br />
„Umfassungsästhetik“. Die <strong>Musik</strong> wird dem Publikum von allen Seiten und in der Regel<br />
von oben „aufs Ohr gedrückt“. So wie der Hollywoodfilm zunehmend das Diktum Hitchcocks<br />
ignoriert hat, wonach es darauf ankäme, was <strong>im</strong> Kopf des Rezipienten und nicht was auf der<br />
Leinwand geschieht, so scheint sich auch in Mehrkanalstücken eine Ästhetik abzuzeichnen, die<br />
eher Abbild von Omnipotenzphantasien denn von musikalisch-künstlerischer Reflexion ist.<br />
Michael Harenberg, Daniel Weissberg „Ach woher!“