Musik im Raum - ZKM
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Es kann sehr heterogenes Klangmaterial genutzt werden, das nicht notwendigerweise überhaupt<br />
in Notenschrift darstellbar sein muss.<br />
Der zeitliche musikalische Verlauf ist nicht vorhersehbar.<br />
Diese zwei Beispiele machen eine grundsätzliche Spannung deutlich, in der sich die kompositorische<br />
Gestaltung heute bewegt. Dabei halte ich die gleichzeitige Präsenz der beiden kulturellen Paradigmen<br />
– Distanz und Teilnahme – in künstlerischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht für eine große<br />
Chance und sehe es als eine Aufgabe unserer Zeit, zwischen beiden in verschiedenster Weise zu<br />
vermitteln.<br />
Im Folgenden möchte ich auf Aspekte einer etwa mittleren Position zwischen den zwei skizzierten<br />
Extrempunkten eingehen, bei der der Interpret explizit als Mitschaffender an der jeweils<br />
einmaligen Erscheinungsform des Werkes beteiligt ist. In einer solchen Konstellation kann das Verhältnis<br />
zwischen der vom Komponisten gestalteten Werkidentität einerseits und der vom Interpreten<br />
gestalteten jeweiligen Erscheinungsform andererseits auf zwei Ebenen kompositorisch best<strong>im</strong>mt<br />
werden: auf der Ebene der Notation und auf der Ebene live-elektronischer Algorithmen.<br />
2. Spezifische Notationsformen als Grundlage interaktiver Gestaltungsmöglichkeiten<br />
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Suche nach jeweils geeigneten Notationsmöglichkeiten ein<br />
wichtiger Teil des Kompositionsprozesses. Dabei spielten einerseits praktische Gesichtspunkte eine<br />
Rolle (Reformvorschläge <strong>im</strong> Sinne leichterer Lesbarkeit bzw. strengerer Systematik sowie Entwicklung<br />
von Zeichen für neue Spielweisen) 6 , andererseits ging es aber auch um neue kompositorische<br />
Zugriffsmöglichkeiten auf das musikalische Material. Vor allem unter diesem zweiten Gesichtspunkt<br />
sind die exper<strong>im</strong>entellen Notationsweisen <strong>im</strong> Kreis der so genannten New York School in<br />
den frühen 1950er Jahren zu sehen: Als erste grafische Notation dürfte Morton Feldmans Komposition<br />
Projection 1 für Violoncello von 1950 gelten, bei der ein wesentlicher Aspekt traditioneller<br />
<strong>Musik</strong>, nämlich die Wahl der genauen Tonhöhen, dem Spieler überlassen wird. Nach weiterem<br />
Exper<strong>im</strong>entieren mit dieser Notationsform (Projection 2–5 für verschiedene Besetzungen) und anderen<br />
Möglichkeiten (Intersections 1–4 sowie Marginal Intersection für verschiedene Besetzungen)<br />
einschließlich traditioneller Notationsweisen schrieb Feldman dann 1953 mit Intermission 6 für<br />
ein oder zwei Klaviere das wohl erste Stück 7 , bei dem die Reihenfolge der insgesamt 15 einzeln auf<br />
dem Notenblatt verteilten Klänge von dem einen oder den beiden Pianisten frei zu wählen ist. Diese<br />
Öffnung des zeitlich linearen Verlaufs von <strong>Musik</strong> dürfte zu den radikalsten Innovationen der <strong>Musik</strong><br />
des 20. Jahrhunderts gehören. Interessanterweise entstand etwa zeitgleich mit Feldmans Intermission<br />
6 die Komposition 25 Pages von Earle Brown; außerdem begann John Cage zu dieser Zeit seine<br />
Music for Piano. In diesen beiden Stücken arbeiten Brown und Cage mit einzelnen Notenseiten, die<br />
bei einer Aufführung in freier Reihenfolge nacheinander oder gleichzeitig gespielt werden können,<br />
d.h. hier ist eine ähnliche Öffnung der zeitlichen Linearität des musikalischen Verlaufs – wenn auch<br />
auf formal höherer Ebene – zu erkennen. 8 Die Anregungen zu solchen „offenen Formen“ 9 waren<br />
bei allen drei Komponisten außermusikalisch: Feldman verwies auf den Arbeitsprozess Tolstois 10 ,<br />
Brown bezog sich auf die Mobiles von Alexander Calder 11 und für Cage ging es vor allem um<br />
„Nicht-Kontinuität“ als „das Akzeptieren der Kontinuität, die sich einstellt“ 12 . Ein anderer Einfluss<br />
auf die Entwicklung „offener Formen“ dürfte in vorangegangenen Kompositionen Cages liegen (vor<br />
allem Concerto for Prepared Piano und Music of Changes, beide von 1951), in denen die Reihenfolge<br />
bzw. Anordnung von zuvor frei gewählten Klängen mit Hilfe von Zufallszahlen best<strong>im</strong>mt wurde.<br />
Außerdem fällt in den Zeitraum 1951–53 das gemeinsame Projekt Music for Magnetic Tape, bei<br />
dem Cage, Feldman, Brown und Christian Wolff zusammen mit David Tudor sowie Louis und Bebe<br />
Barron an verschiedenen Tonbandkompositionen arbeiteten 13 ; die vor allem durch das Zerschnei-<br />
Michael Flade „Gestaltung eines ‚Spiel-<strong>Raum</strong>s‘“<br />
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