Warum der erhobene Zeigefinger nichts bringt

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02.02.2015 Aufrufe

6 Pneumologie DFP-Literaturstudium Ärzte W o c oder Verbote, die von der Gruppe nicht akzeptiert werden, sind kontraproduktiv und führen zu ei ner Vergrößerung von Randgruppen und damit zu einer Erhöhung der Anzahl jener Jugendlichen, die Suchtmittel konsumieren. Die Verbesserung der sozialen Situation Jugendlicher ist ein ganz zentraler Faktor. Wenn ein Jugend licher aufgrund seines schulischen Versagens auch noch die Gruppe verliert, ist dies ein Risikofaktor für die weitere Entwicklung. Je klarer die sozialen Entwicklungsmöglichkeiten für Jugendliche sind, umso geringer ist deren Suchtmitteleinnahme. Die soziale Sicherheit in der Familie, im Freundeskreis, aber auch in der ei genen beruflichen Situation sind Schutzfaktoren gegen Suchtmittel gebrauch. Je sinnvoller den Jugend lichen ihre Tätigkeit erscheint und je klarer die Rolle in diesen Tätigkeiten definiert ist, umso geringer ist die Gefahr, dass sie ein Suchtmittel regelmäßig konsumieren. Richtige Solidarität kann das Suchtrisiko senken In der Pubertät fällt es noch vie len Jugendlichen schwer, eine eigene Identität zu entwickeln. Die moralischen und ethischen Vorgaben geliebter Erwachsener können oft kaum eingehalten werden. Sie benötigen daher Experimentierfelder, in denen sie versuchen können, ihre eigene Identität zu entwickeln und Grenzen für sich selbst auszuprobieren. Diese Experimentierfelder sollten von der öffentlichen Hand unterstützt werden, sodass die Gefährdung der Jugendlichen so gering wie möglich ist. Der Einfluss der Erwachsenen sollte freilich auch so gering wie möglich gehalten werden. Manche Menschen können für sich selbst nur dann et was als wahr annehmen, wenn sie es selbst erlebt haben. Und dieses Erleben ist oft schmerzhaft. Wenn eine Gruppe diesen Schmerz ohne Erwachsene auffangen kann, dann kann sich eine solidarische Gruppe bilden, die ein guter Schutz gegen Gefährdungen durch Suchtmittel ist. Unterschiedliche Maßnahmen für unterschiedliche Risikogruppen Besondere Präventionsstrategien sollten für Risikogruppen angeboten werden, wobei je nach Risikogruppe ganz unterschiedliche Maßnahmen notwendig sind. Ein mit schwerer Intoxikation stationär aufgenommener Jugendlicher ist ein Notfall, der nach der medizinischen Behandlung sicher eine psychologischpsychiat rische Unterstützung braucht (Krisenkonzept!). Familien mit mehreren Abhängigen brauchen Hilfe für das gesamte System. Die Kinder dieser Familien sind hoch gefährdet und brauchen intensive Betreuung. Diese Zielgruppen benötigen auch ohne die Diagnose Abhängigkeit die Hilfe durch ein therapeutisches Team (Sozialarbeiter, Psychologen, Mediziner usw.), welches die Betroffenen über Jahre begleiten sollte. Diese profes sionellen Teams sollte man auch viel stärker in die Pflicht nehmen, wenn es zu negativen Entwicklungen der Betroffenen kommt. Tertiäre Prävention Wie bereits ausgeführt, raucht fast die Hälfte aller Jugendlichen biologisch abhängig (Fagerström 5 oder mehr). Bei diesen Gruppen wird man mit den oben genannten Maßnahmen keine Reduktion der Suchtmitteleinnahme erreichen, sondern die Jugendlichen werden sich in ihrem Rauchverhalten unwohler fühlen, aber nur selten das Rauchverhalten auch wirklich ändern können. Professionelle Hilfe von außerhalb des Systems Alkoholabhängige sind Kranke im medizinischen Sinn und benötigen daher therapeutische Hilfe. Es macht wenig Sinn, ihnen Vorschriften zu machen, und schon gar nicht, ih- Grafik 2: Suchtmittelgebrauch – Faktoren, die den Gebrauch in der Gesellschaft bestimmen Suchtmittel Gesellschaft Erreichbarkeit Einstellung der Peergruppe Image der Droge (Alkohol/Tabak ein Genussmittel) Grad der Wirksamkeit Preis Individuum Lebensqualität Grad der Zufriedenheit (Happinessforschung) Psychisches Leiden Neugierde Konflikt Toleranz gesellschaftliche Freiheit soziale Absicherung und soziale Ausgewogenheit Einkommen Sicherheit soziales Klima kulturelles Klima Grad der Industrialisierung 23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche

Ärzte W o c h e Pneumologie DFP-Literaturstudium 7 nen zu sagen, dass sie sich zusammennehmen sollen – sie brauchen professionelle therapeutische Be gleitung und Hilfe. Es ist auch günstig, wenn sie manchmal ein Umfeld aufsuchen, in dem sie mit anderen Betroffenen reden können, sodass sie merken, dass ihre Symptome auch verbesserbar sind und ihnen bei Problemlösungen beigestanden wird. Die Hilfe sollte außerhalb ihres Systems (Familie, Beruf, Schule) gesucht werden, und die Helfenden sollten sowohl psychologische als auch soziotherapeutische, aber auch pharmakologische Kenntnisse haben. Ein Abhängiger, der erlebt, dass man Interesse an ihm hat, dass man aber nicht neugierig ist, kann oft an ein therapeutisches Netz angebunden werden. Diese Anbindung über längere Zeit ist einer der wichtigsten therapeutischen Faktoren. n Ve r fa sse r: Pro f. Dr. Ot to-Mic h a e l Lesc h, Un i v e r s i t ä t s k l i n i k f ü r Ps y c h i a t r i e u n d Ps y c h o t h e r a p i e, Me dUn i Wi e n Lec t u r e Bo a r d: Pr i m. Dr. Ha r a l d Dav i d, Vor s t a n d d e r Ab t e i l u n g f ü r Fo r e n s i s c h e Ps y c h i a t r i e u n d Al k o h o l k r a n k e, Soz i a l m e di z i n i sc h es Ze n t ru m Bau mg a r t n e r Hö h e, Ot to-Wa g n e r-Sp i t a l Pr i m. Dr. Ku r t Si n de r m a n n, Är z t l ic h e r Di r e k t o r d e s Ps yc h i a t r i s c h e n Kr a n k e n h aus e s u n d Soz i a lt h e r a p e u t i s c h e s Ze n t r u m u n d Ge r i at r i ez e n t ru m Yb b s Pro f. Dr. St e fa n Bl e ic h, Är z t l ic h e r Di r e k t o r a n d e r Me d i z i n i s c h e n Hoc h sc h u l e Ha n n o v e r , Kl i n i k f ü r Ps y c h i a t r i e, Soz i a l ps yc h i a t r i e u n d Ps y c h o t h e r a p i e Re d a k t i o n: Ra o u l Ma z h a r He r ausge be r: Un i v e r s i t ä t s k l i n i k f ü r Ps y c h i a t r i e u n d Ps y c h o t h e r a p i e; Kl i n i s c h e Ab t e i l u n g f ü r So z i a l p s y c h i a t r i e 23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche

6<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

Ärzte W o c<br />

o<strong>der</strong> Verbote, die von <strong>der</strong> Gruppe nicht akzeptiert<br />

werden, sind kontraproduktiv und führen<br />

zu ei ner Vergrößerung von Randgruppen<br />

und damit zu einer Erhöhung <strong>der</strong> Anzahl jener<br />

Jugendlichen, die Suchtmittel konsumieren.<br />

Die Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Situation<br />

Jugendlicher ist ein ganz zentraler Faktor.<br />

Wenn ein Jugend licher aufgrund seines schulischen<br />

Versagens auch noch die Gruppe verliert,<br />

ist dies ein Risikofaktor für die weitere<br />

Entwicklung. Je klarer die sozialen Entwicklungsmöglichkeiten<br />

für Jugendliche sind,<br />

umso geringer ist <strong>der</strong>en Suchtmitteleinnahme.<br />

Die soziale Sicherheit in <strong>der</strong> Familie, im<br />

Freundeskreis, aber auch in <strong>der</strong> ei genen beruflichen<br />

Situation sind Schutzfaktoren gegen<br />

Suchtmittel gebrauch. Je sinnvoller den<br />

Jugend lichen ihre Tätigkeit erscheint und je<br />

klarer die Rolle in diesen Tätigkeiten definiert<br />

ist, umso geringer ist die Gefahr, dass sie ein<br />

Suchtmittel regelmäßig konsumieren.<br />

Richtige Solidarität kann das Suchtrisiko<br />

senken<br />

In <strong>der</strong> Pubertät fällt es noch vie len Jugendlichen<br />

schwer, eine eigene Identität zu<br />

entwickeln. Die moralischen und ethischen<br />

Vorgaben geliebter Erwachsener können oft<br />

kaum eingehalten werden. Sie benötigen daher<br />

Experimentierfel<strong>der</strong>, in denen sie versuchen<br />

können, ihre eigene Identität zu entwickeln<br />

und Grenzen für sich selbst auszuprobieren.<br />

Diese Experimentierfel<strong>der</strong> sollten von <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Hand unterstützt werden, sodass die<br />

Gefährdung <strong>der</strong> Jugendlichen so gering wie<br />

möglich ist. Der Einfluss <strong>der</strong> Erwachsenen<br />

sollte freilich auch so gering wie möglich gehalten<br />

werden. Manche Menschen können für<br />

sich selbst nur dann et was als wahr annehmen,<br />

wenn sie es selbst erlebt haben. Und dieses Erleben<br />

ist oft schmerzhaft. Wenn eine Gruppe<br />

diesen Schmerz ohne Erwachsene auffangen<br />

kann, dann kann sich eine solidarische Gruppe<br />

bilden, die ein guter Schutz gegen Gefährdungen<br />

durch Suchtmittel ist.<br />

Unterschiedliche Maßnahmen für<br />

unterschiedliche Risikogruppen<br />

Beson<strong>der</strong>e Präventionsstrategien sollten<br />

für Risikogruppen angeboten werden, wobei je<br />

nach Risikogruppe ganz unterschiedliche<br />

Maßnahmen notwendig sind. Ein mit schwerer<br />

Intoxikation stationär aufgenommener Jugendlicher<br />

ist ein Notfall, <strong>der</strong> nach <strong>der</strong> medizinischen<br />

Behandlung sicher eine psychologischpsychiat<br />

rische Unterstützung braucht (Krisenkonzept!).<br />

Familien mit mehreren Abhängigen<br />

brauchen Hilfe für das gesamte System. Die<br />

Kin<strong>der</strong> dieser Familien sind hoch gefährdet<br />

und brauchen intensive Betreuung. Diese Zielgruppen<br />

benötigen auch ohne die Diagnose<br />

Abhängigkeit die Hilfe durch ein therapeutisches<br />

Team (Sozialarbeiter, Psychologen, Mediziner<br />

usw.), welches die Betroffenen über<br />

Jahre begleiten sollte. Diese profes sionellen<br />

Teams sollte man auch viel stärker in die Pflicht<br />

nehmen, wenn es zu negativen Entwicklungen<br />

<strong>der</strong> Betroffenen kommt.<br />

Tertiäre Prävention<br />

Wie bereits ausgeführt, raucht fast die<br />

Hälfte aller Jugendlichen biologisch abhängig<br />

(Fagerström 5 o<strong>der</strong> mehr). Bei diesen Gruppen<br />

wird man mit den oben genannten Maßnahmen<br />

keine Reduktion <strong>der</strong> Suchtmitteleinnahme erreichen,<br />

son<strong>der</strong>n die Jugendlichen werden sich<br />

in ihrem Rauchverhalten unwohler fühlen,<br />

aber nur selten das Rauchverhalten auch wirklich<br />

än<strong>der</strong>n können.<br />

Professionelle Hilfe von<br />

außerhalb des Systems<br />

Alkoholabhängige sind Kranke im medizinischen<br />

Sinn und benötigen daher therapeutische<br />

Hilfe. Es macht wenig Sinn, ihnen Vorschriften<br />

zu machen, und schon gar nicht, ih-<br />

Grafik 2:<br />

Suchtmittelgebrauch – Faktoren, die den Gebrauch in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft bestimmen<br />

Suchtmittel<br />

Gesellschaft<br />

Erreichbarkeit<br />

Einstellung <strong>der</strong> Peergruppe<br />

Image <strong>der</strong> Droge<br />

(Alkohol/Tabak ein Genussmittel)<br />

Grad <strong>der</strong> Wirksamkeit<br />

Preis<br />

Individuum<br />

Lebensqualität<br />

Grad <strong>der</strong> Zufriedenheit<br />

(Happinessforschung)<br />

Psychisches Leiden<br />

Neugierde<br />

Konflikt<br />

Toleranz<br />

gesellschaftliche Freiheit<br />

soziale Absicherung und<br />

soziale Ausgewogenheit<br />

Einkommen<br />

Sicherheit<br />

soziales Klima<br />

kulturelles Klima<br />

Grad <strong>der</strong> Industrialisierung<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche

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