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Warum der erhobene Zeigefinger nichts bringt

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Ärzte W o c h e<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

1<br />

<strong>Warum</strong> <strong>der</strong> <strong>erhobene</strong><br />

<strong>Zeigefinger</strong> <strong>nichts</strong> <strong>bringt</strong><br />

Prävention im Rahmen von Alkohol- und Nikotinabusus<br />

sollte sich nicht auf Verbote beschränken. Abhängigkeitskrankheiten<br />

sind heterogen, weshalb eine Einteilung<br />

<strong>der</strong> Betroffenen in Untergruppen sinnvoll ist. Die<br />

unterschiedlichen Wege in die Abhängigkeit benötigen<br />

auch unterschiedliche präventive Maßnahmen.<br />

<br />

Von Prof. Dr. Otto-Michael Lesch<br />

Seit Jahrhun<strong>der</strong>ten werden in Mitteleuropa<br />

alle Arten von alkoholischen Getränken<br />

– Wein, Bier, Most, Spirituosen<br />

– erzeugt. Jugendliche wachsen in einem<br />

alkoholpermissiven Milieu auf und<br />

erleben eine Erwachsenenwelt, in <strong>der</strong><br />

Trinken durchaus als sozial anerkanntes<br />

bis gewünschtes Verhalten demonstriert<br />

wird. Der Vorteil frühen Konsums<br />

ist, dass junge Menschen bald lernen,<br />

mit alkoholischen Getränken umzugehen.<br />

Dasselbe gilt für den Gebrauch von<br />

Tabakwaren. Die Nachteile sind die Risiken<br />

frühen Konsums und dabei vor allem<br />

die Entwicklung von körperlichen<br />

und psychischen Störungen und wohl<br />

auch die damit verbundene Einstellung,<br />

dass diese Suchtmittel fast wie ein<br />

Grundnahrungsmittel verwendet werden<br />

können. Tiefgreifende auf das Individuum<br />

abgestimmte Präventionsstrategien<br />

sind daher dringend vonnöten.<br />

Knapp 50 Prozent <strong>der</strong> Erwachsenen halten es<br />

für angemessen, dass Jugendliche zwischen<br />

dem 16. und dem 18. Geburtstag zu Hause o<strong>der</strong><br />

bei Partys Alkohol zu sich nehmen – eine Einstellung,<br />

die sich im Wesentlichen mit den geltenden<br />

Jugendschutzbestimmungen deckt. Je<br />

nach Situation halten neun bis 18 Prozent Alkoholkonsum<br />

auch schon vor dem 16. Geburtstag<br />

für zulässig. Die restlichen zirka 40<br />

Prozent <strong>der</strong> Befragten würden ihren Kin<strong>der</strong>n<br />

Alkoholkonsum erst nach dem 18. Lebensjahr<br />

erlauben. In den letzten Jahren hat sich <strong>der</strong> Beginn<br />

des Trinkens bei Mädchen in jüngere Jahre<br />

verschoben, während Burschen ihr Trinkverhalten<br />

eher leicht reduziert haben. Der Alkoholkonsum<br />

in Europa ist höher als in an<strong>der</strong>en<br />

Kontinenten – die mitteleuropäischen Staaten<br />

liegen mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von<br />

etwa 14 Litern Alkohol pro Jahr auf Platz zehn<br />

in Europa.<br />

Erste Präventionsversuche<br />

In Österreich wurde bereits um 1900 eine<br />

groß angelegte epidemio logische Studie durchgeführt,<br />

wobei Jugendliche verschiedenen Alters<br />

und verschiedener Schultypen nach ih rem<br />

Alkoholkonsum befragt wurden. Der Konsum<br />

um 1900 ist bei diesen Jugendlichen etwa so<br />

hoch wie die durch Studien und Verkaufszahlen<br />

belegte Alkoholeinnahme für das Jahr 1975.<br />

Seit dieser Zeit ist in Mitteleu ropa <strong>der</strong> Alkoholkonsum<br />

deutlich zurückgegangen, und 2006<br />

wurden um etwa 20 Prozent weniger alkoholische<br />

Getränke verkauft als 1975. Um 1900 hatten<br />

etwa 3,2 Prozent <strong>der</strong> 14-jährigen Burschen<br />

schon mehrmals harte Getränke (40 Vol.-% und<br />

mehr), meist Spirituosen min<strong>der</strong>er Qualität,<br />

konsumiert. Anzunehmen ist, dass auch heute<br />

knapp über drei Prozent <strong>der</strong> 14-Jährigen schon<br />

mehrmals harte Getränke zu sich genommen<br />

haben. Berichte in den Printmedien, die das<br />

Rauschtrinken als Grenzerfahrung von Jugendlichen<br />

verurteilen und damit aber auch ins Zentrum<br />

des Interesses für Jugendliche rücken,<br />

wurden in Mitteleuropa bereits um 1900 publiziert<br />

und werden seither immer wie<strong>der</strong> in den<br />

Mittelpunkt <strong>der</strong> Berichterstattung gestellt. Die<br />

einen persönlich-politischen Auftrag repräsentierende<br />

Parole <strong>der</strong> sozialdemokratischen Partei<br />

zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts lautete „Ein<br />

denken<strong>der</strong> Arbeiter trinkt nicht, und ein trinken<strong>der</strong><br />

Arbeiter denkt nicht“, sie trug dazu bei,<br />

dass <strong>der</strong> Konsum alkoholischer Getränke bis<br />

zum Ersten Weltkrieg zurückging. Demgegenüber<br />

kam es nach dem Zweiten Weltkrieg mit<br />

dem steigenden Wohlstand zu einer deut lichen<br />

Zunahme des Alkoholikaverbrauchs. Seit Mitte<br />

<strong>der</strong> 1970er-Jahre hat sich die Arbeitswelt jedoch<br />

drastisch verän<strong>der</strong>t (kürzere Arbeitspausen,<br />

kontrollierte Arbeitszeiten, Gesetze, die<br />

Alkohol am Steuer und in <strong>der</strong> Arbeit einschränken<br />

usw.). In <strong>der</strong> Folge entwickelte sich, wie in<br />

ganz Europa, eine Tendenz zum Konsum<br />

„leichterer Alkoholika“. Der Anteil des reinen<br />

Alkohols, <strong>der</strong> in Form von Bier ge nossen wird,<br />

stieg an, <strong>der</strong> Weinanteil ging in den 1990er-<br />

Jahren zurück. Der Spirituosenkonsum hat sich<br />

seit dem Zweiten Weltkrieg um die Hälfte reduziert.<br />

In Österreich gelten 16 bis 39 Prozent <strong>der</strong><br />

erwachsenen Bevölkerung als alkoholgefährdet,<br />

und 2,2 bis 4,0 Prozent <strong>der</strong> Gesamtpopulation<br />

werden als alkoholabhängig eingeschätzt.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> geschlechtsspezifischen Gefährdungsraten<br />

dif ferieren dabei die Angaben.<br />

Während Rathner und Dunkel beim Verhältnis<br />

Männer zu Frauen von 3:1 ausgehen, geben<br />

an<strong>der</strong>e Studien ein Verhältnis von 14:1 an<br />

(Lesch OM et al. 1989; Rathner G. und Dunkel<br />

D. 1998). Auch wenn man nur die stationären<br />

Aufnahmen wegen Alkoholabhängigkeit be-<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


2<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

Ärzte W o c<br />

rücksichtigt, ist heute noch immer ein Verhältnis<br />

von 5:2 (Männer zu Frauen) zu beobachten.<br />

Bei einer Repräsentativerhebung fand sich bei<br />

den 60- bis 69-Jährigen ein durchschnittlicher<br />

Pro-Kopf-Konsum von 25 g Alkohol/d, in <strong>der</strong><br />

Gruppe <strong>der</strong> 70- bis 99-Jährigen von 26 g<br />

Alkohol/d (1 Unit = 10 g reiner Alkohol = ca.<br />

1/8 l Wein bzw. 1/3 l Bier).<br />

Einstellungen zum Tabakkonsum<br />

Obwohl seit vielen Jahren bekannt ist, dass<br />

die durch Rauchen zugeführ ten Inhaltsstoffe<br />

verschiedenste Schäden im Körper bewirken,<br />

Grafik 1:<br />

Soziokulturelles Modell von Alkohol- und Tabakge- und -missbrauch bei<br />

Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

Basis und Verbindung<br />

(„Trait-Faktor“)<br />

Individuelle<br />

Entwicklungsfaktoren<br />

Umwelt- und soziale<br />

Entwicklungsfaktoren<br />

Folgen<br />

Hintergrund<br />

Geschlecht<br />

Ethnizität<br />

Ausbildung<br />

Familiengeschichte<br />

„Trait“<br />

„Sensastion seeking“<br />

Impulsivität<br />

Soziale Auffälligkeit<br />

Erwartungen an<br />

Alkohol und Tabak<br />

Erwartungen<br />

Internalisierte Normen<br />

Persönliche Motivation<br />

Sozial<br />

Schule<br />

Beruf<br />

Umwelt<br />

Kontrolle durch Erwachsene<br />

Zugang zu Alkohol + Tabak<br />

Gruppendruck<br />

Massenmedien<br />

Verantwortlichkeiten<br />

Schule<br />

Beruf<br />

Familie<br />

Sozialbereich<br />

Religion<br />

Sportlich<br />

Alkohol- und Tabakgeund<br />

missbrauch<br />

Quantität/Frequenz<br />

negative Konsequenzen<br />

Quelle: nach Fromme K and Kruse MI; Handbook of Clinical Alcoholism Treatment 2003<br />

Foto: Ärzte-Woche-Montage<br />

hat die Tabakindustrie über viele Jahre Rauchverhalten-reduzierende<br />

Methoden verhin<strong>der</strong>t.<br />

Es wurde behauptet, dass Nikotin nicht abhängig<br />

macht, und die Tabakindustrie versuchte,<br />

neue, leichtere Zigaretten zu produzieren, wobei<br />

diese dann als „gesün<strong>der</strong>e Zi garetten“ beworben<br />

wurden. Erst in den letzten 15 Jahren ist<br />

diese Argumentation zusammengebrochen, und<br />

es ist heute ganz klar, dass es keine „gesunde<br />

Zigarette“ gibt. Nikotin hat ein hohes Abhängigkeitspotenzial,<br />

und die Rauchinhaltsstoffe<br />

schädigen den gesamten Körper. Die Europäische<br />

Gemeinschaft hat nur zögerlich begonnen,<br />

die Werbung für Tabak zu beschränken. Die einzelnen<br />

Staaten haben vor etwa zehn Jahren angefangen,<br />

die schädlichen Wirkungen <strong>der</strong> Zigaretten<br />

auf den Zigarettenpackungen auszuweisen.<br />

Daneben werden auch die Inhaltsstoffe wie<br />

Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid angegeben.<br />

Trotzdem hat sich das Rauchverhal ten insbeson<strong>der</strong>e<br />

Jugendlicher in den letzten Jahren nicht<br />

wesentlich ver än<strong>der</strong>t, und Rauchen ist auch<br />

heute noch die Suchtform, die die höchste<br />

Sterblichkeitsrate aufweist. (Die effektivste<br />

Präven tion gegen das Lungenkarzinom ist ein<br />

rauchfreies Leben.) Nachdem jetzt immer mehr<br />

bekannt wird, dass auch eine Belastung durch<br />

Passivrauchen Schäden erzeugt, werden in verschiedenen<br />

Län<strong>der</strong>n rauchfreie Zonen geschaffen.<br />

In Österreich wird dies nur zögerlich eingeführt,<br />

und in manchen stressbelasteten Bereichen<br />

(z. B. auch in Krankenhäusern) gelingt<br />

dies nach wie vor nicht.<br />

„Ein denken<strong>der</strong> Arbeiter<br />

trinkt nicht, und ein trinken<strong>der</strong><br />

Arbeiter denkt<br />

nicht.“<br />

30 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung rauchen, wobei<br />

das Rauchverhalten sich im Laufe des Lebens<br />

insofern verän<strong>der</strong>t, als <strong>der</strong> Tabakmissbrauch<br />

mit dem Alter geringer wird. Im Alter<br />

von 18 Jahren rauchen über 50 Prozent <strong>der</strong><br />

Männer, und auch bei Frauen ist in diesem Alter<br />

mit einer ähnlichen Rate zu rechnen. Studien<br />

mit weiblichen Rauchern fehlen fast in allen<br />

Bereichen. Da fast die Hälfte <strong>der</strong> 18-<br />

jährigen rauchenden Männer, nämlich 20,3<br />

Prozent, ein Rauchverhal ten zeigen, welches<br />

fünf o<strong>der</strong> mehr Punkte auf <strong>der</strong> Fagerström-<br />

Skala erreicht, wird diese Gruppe als biologisch<br />

abhängig rauchend nach ICD-10 und<br />

DSM-IV bezeichnet.<br />

Die Hälfte <strong>der</strong> Raucher ist mit ihrem Tabakkonsum<br />

unzufrieden (dissonante Raucher),<br />

weshalb es nicht überrascht, dass mit 50 Jahren<br />

knapp weniger als 30 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

rauchen. Es ist jedoch zu ver muten, dass Aufklärung<br />

und das Erkennen des Risikos beim<br />

Rauchen nur die Personen erreicht, die einen<br />

Tabakmissbrauch betreiben, während Raucher,<br />

die die Kriterien <strong>der</strong> biologischen Abhängigkeit<br />

erfüllen, von diesen Präventionsprogrammen<br />

nicht beeinflusst werden. Aber genau diese<br />

Gruppe entwickelt bei einer Reduktion ihrer<br />

Zigarettenzahl ein Entzugssyndrom und zeigt<br />

primär schwere körperliche Folgeschäden.<br />

Primäre Prävention von Tabak- und<br />

Alkoholabhängigkeit<br />

Darunter werden Maßnahmen verstanden,<br />

die eine Gesellschaft so verän<strong>der</strong>n, dass die<br />

Nachfrage nach einem Suchtmittel sinkt. Suchtmittel<br />

und auch das Rauchen sind genauso alt<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


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Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

3<br />

wie die Menschheit. Es hat nie eine suchtmittelfreie<br />

Gesellschaft gegeben, und ob eine<br />

suchtmittelfreie Gesellschaft wünschenswert<br />

ist, wird heute kontrovers diskutiert. Es wäre<br />

dennoch wichtig, die Einstellung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

so zu verän<strong>der</strong>n, dass ein Leben ohne<br />

Tabak und Alkohol, aber auch ohne alle an<strong>der</strong>en<br />

Suchtmittel, erstrebenswert ist (unter dem<br />

Schlagwort: Lebensglück ohne Suchtmittel).<br />

Wenn man die Gründe für den Beginn einer<br />

Suchtmitteleinnahme bei Jugendlichen erhebt,<br />

finden sich folgende Motive für den Beginn des<br />

Rauchens und des Trinkens:<br />

••„Ich wollte es nur ausprobieren“, wobei das<br />

Experimentieren mit Risiko als<br />

ein Teil <strong>der</strong> natürlichen Entwicklung<br />

zu sehen ist.<br />

•• J u g e n d l i c h e<br />

ver wenden Tabak und<br />

Alkohol, um sich<br />

„wie Erwachsene“<br />

zu benehmen (Der<br />

Aufdruck auf den Zigaretten<br />

„Rauchen: Nur für Erwachsene“<br />

trägt sicher dazu bei,<br />

dass das Rauchverhalten unter Jugendlichen<br />

eher zunimmt.)<br />

••Jugendliche möchten rauchen, weil sie in einer<br />

Jugendgruppe integriert sein wollen, und<br />

wenn in <strong>der</strong> Grup pe Rauchen ein gewünschtes<br />

Verhalten ist, fällt es ihnen sehr schwer,<br />

nicht zu rauchen.<br />

••Um Unabhängigkeit zu demonstrieren.<br />

••Zum Spaß. Die Neugierde spielt am Beginn<br />

des Rauchens und Trinkens eine große<br />

Rolle.<br />

••Um in bestimmten Situationen Angst zu vermin<strong>der</strong>n.<br />

••Tabak ist auch ein Psychopharmakon, welches<br />

kurzfristig das Gedächtnis verbessert,<br />

deshalb verwenden es Jugendliche beim Lernen,<br />

und er ist auch ein Antidepressivum und<br />

wird demnach zur Stimmungshebung verwendet.<br />

Suchtmittel und auch das<br />

Rauchen sind genauso alt<br />

wie die Menschheit.<br />

Zur primären Prävention müssten alle soziokulturellen<br />

Faktoren wie auch individuelle Modelle<br />

herangezogen werden. Dementsprechend<br />

wäre eine primäre Prävention ein Maßnahmenbündel,<br />

welches diese Faktoren zu beeinflussen<br />

versucht, sodass die Nachfrage nach einem<br />

Suchtmittel sinkt. Bei einer soziokulturellen Betrachtung<br />

stehen die individuellen Ursachen des<br />

Tabak- und Alkoholkonsums im Hintergrund.<br />

Neben diesem soziokultu rellen Modell kennen<br />

wir aus <strong>der</strong> Lebensqualitätsforschung jene<br />

Fakto ren, die das Einnahmeverhalten von Jugendlichen<br />

und Erwachsenen wesentlich beeinflussen.<br />

Es gibt Schutzfaktoren für den Suchtmittelmissbrauch<br />

wie z. B. eine hohe Zufriedenheit.<br />

So können soziale Verhältnisse so gestaltet<br />

sein, dass sich Jugendliche stabil und sicher fühlen.<br />

Wenn Jugendliche in einer Gruppe aufgenommen<br />

sind, in <strong>der</strong> ein Leben ohne Sucht mittel<br />

gewünscht wird, ist dies auch ein Schutzfaktor.<br />

In <strong>der</strong> Forschung werden vor allem Gefährdungsfaktoren<br />

definiert wie z. B. psychisches<br />

Leiden, Armut und ein suchtmittel permissives<br />

Milieu, welches Jugend liche eher in eine<br />

Abhängigkeitskar riere drängt. 78,9 Prozent beschreiben<br />

bei Alkohol-, Tabak- und Haschischkonsum<br />

Neugierde als die wichtigste Motivation,<br />

während dies bei Opium und Kokain nur 57,9<br />

Prozent als wichtigsten Einstiegsfaktor angeben.<br />

Im Unterschied dazu beschreiben 42,1 Prozent<br />

nicht lösbare Konflikte als<br />

Einstiegsmotivation zum Opium- und Kokainmissbrauch,<br />

während nur 5,3 Prozent Konflikte<br />

als Ursache angeben, die zu Alkohol-, Tabako<strong>der</strong><br />

Haschischmissbrauch geführt haben (siehe<br />

Grafik 1). Mit einer Erhöhung des Preises und<br />

Maßnahmen, die das Rauchen und Trinken teurer<br />

machen, kann jene Gruppe beeinflusst werden,<br />

die Tabak und Alkohol gebraucht o<strong>der</strong> missbraucht,<br />

aber nicht jene Gruppe, bei <strong>der</strong> bereits<br />

eine Tabak- o<strong>der</strong> Alkoholabhängigkeit besteht.<br />

Ein sogenannter „Krieg“ gegen Suchtmittel<br />

(„war against drugs“), wie er mancherorts ausgerufen<br />

wird – ohne Maßnahmen und Hilfen für<br />

die betroffenen Jugendlichen –, führt nur zu Verschiebungen<br />

zu an<strong>der</strong>en Suchtmitteln (Drogen,<br />

Tabletten usw.) o<strong>der</strong> Verhaltensstörungen (z. B.<br />

Essstörungen).<br />

Der Königsweg in <strong>der</strong><br />

sekundären Prävention<br />

Abhängigkeitskrankheiten sind sehr heterogen,<br />

und wenn man sich bezogen auf die Untergruppen<br />

die Ätiologie überlegt, gibt es drei verschiedene<br />

Wege zu einer Suchtmit telkarriere.<br />

Um diese zu unterbinden, benötigt man ganz<br />

unterschiedliche präventive Maßnahmen (siehe<br />

Kasten 1 auf <strong>der</strong> nächsten Seite ). Es ist unrea l-<br />

istisch, dass Bedingungen geschaf fen werden,<br />

die diese Entwicklungen gänzlich verhin<strong>der</strong>n<br />

können, aber man kann sich gut vorstellen,<br />

dass bei Kenntnis dieser Mechanismen<br />

ein früheres Erkennen möglich<br />

wäre und so auch eine frühere<br />

Hilfestellung eingeleitet werden könnte.<br />

International ist man heute übereingekommen,<br />

dass die sekundäre Prävention <strong>der</strong><br />

Königsweg in <strong>der</strong> Prävention ist.<br />

In vielen Jugendgruppen ist Rauchen und<br />

Trinken ein gewünschtes Verhalten, welches als<br />

Ritual verwendet wird, da es den Zusammenhalt<br />

<strong>der</strong> Gruppe zeigt. Dies führt oft dazu, dass die<br />

Jungen Suchtmittel wie Tabak o<strong>der</strong> Alkohol<br />

über lange Zeit in hohen Dosierungen missbrauchen.<br />

Jene, die eine psychologische o<strong>der</strong> biologische<br />

Vulnerabilität aufweisen, entwickeln<br />

häufig ein Abhängigkeitssyndrom. Dieser Missbrauch<br />

beginnt manch mal bereits im Mutterleib,<br />

wenn die Mutter aktiv o<strong>der</strong> passiv das Ungeborene<br />

mit Tabak regelmäßig „ver giftet“. Wir<br />

wissen heute, dass die Entwicklung des Gehirns<br />

vor allem in den ersten acht Schwangerschaftswochen<br />

durch Suchtmittel verän<strong>der</strong>t werden.<br />

Betroffen ist vor allem das Belohnungssystem,<br />

aber sicher auch das Suchtgedächtnis.<br />

In <strong>der</strong> Sozialisation <strong>der</strong> Jugendlichen werden<br />

Traumatisierungen gesetzt, die zu einer<br />

selbstunsicheren Persönlichkeit führen und die<br />

von <strong>der</strong> Zuwendung ihrer näheren Um gebung<br />

äußerst abhängig ist. Sie befürchten häufig,<br />

nicht gut genug zu sein o<strong>der</strong> die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

nicht entsprechend erfüllen zu können. Sie<br />

dienen mit allen Mitteln <strong>der</strong> Gruppe, verlernen,<br />

„Nein“ zu sagen, und dies spiegelt sich<br />

meist auch in <strong>der</strong> Partnerwahl wi<strong>der</strong>. Es wer-<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


4<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

Ärzte W o c<br />

Kasten 1:<br />

Präventionsstrategien für Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit<br />

nach <strong>der</strong> Lesch-Typologie<br />

Die in einer prospektiven Langzeituntersuchung definierten Typen nach Lesch unterscheiden sich nicht nur im Verlauf, in <strong>der</strong> Ätiologie, in den<br />

klinischen Symptomen und in <strong>der</strong> Therapie, son<strong>der</strong>n auch in den Präventionsstrategien. Die für alle Krankheiten zählenden Präventionsstrategien<br />

sind natürlich auch für die unterschiedlichen Typen gültig.<br />

Präventionsstrategien für den Typ I nach Lesch<br />

• Diese Untergruppe hat eine biologische Empfindlichkeit (genetisch, Alkoholabbau, Vorschädigungen des Ungeborenen usw.), aber keine<br />

primäre Störung in <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung. Das alkoholpermissive Klima in unserer Gesellschaft führt dazu, dass diese Gruppe<br />

regelmäßig Alkohol zu sich nimmt und die biologische Empfindlichkeit rasch zur Dosissteigerung (diese Gruppe verträgt viel Alkohol!), zu starken<br />

Entzugssyndromen und zu deutlichen Alkoholfolgekrankheiten (Leistungsreduktionen, Durchgangssyndrome, starkes Verlangen nach Alkohol,<br />

Leberschäden, Herzrhythmusstörungen usw.) führt.<br />

• Präventionsmethoden: Aufklärung über diese Mechanismen, Reduktion des Trinkdruckes in unserer Gesellschaft, Reduktion <strong>der</strong> Erreichbarkeit,<br />

Steuerung über die Wirtschaft (Preise), Früherkennung in medizinischen Settings.<br />

Präventionsstrategien für den Typ II nach Lesch:<br />

• Die Ursache des Trinkverhaltens in dieser Untergruppe ist eine ängstliche vermeidende Persönlichkeitsstruktur. Die Erziehung und die ihm<br />

wi<strong>der</strong>fahrene Entwertung haben zu einem sehr nie<strong>der</strong>en Selbstwertgefühl des jungen Menschen geführt. Dieser leidet unter fehlendem Selbstvertrauen<br />

und versucht die Zuwendung <strong>der</strong> Umgebung dadurch zu gewinnen, dass er praktisch allen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Umgebung zustimmt und<br />

sich nicht gestattet, schon im früheren Stadium „Nein“ zu sagen. Alle Maßnahmen <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erwachsenen, die das Selbstwertgefühl<br />

noch mehr reduzieren, führen zu einer stärkeren Suchtgefährdung. Da die Gesellschaft diese Jugendlichen oft an den Rand drängt,<br />

versuchen sie sich in eine Gruppe zu integrieren, <strong>der</strong>en Wertigkeiten sie dann auch unterliegen.<br />

• Präventionsmethoden: Aufklärung, Gebote und Verbote sind in <strong>der</strong> Prävention dieser Untergruppe wirkungslos. Im Gegenteil: sie sind<br />

kontraproduktiv. Alle Maßnahmen, die zur Hebung des Selbstwertgefühls führen und den Jugendlichen das Gefühl <strong>der</strong> Akzeptanz innerhalb <strong>der</strong><br />

Gruppe geben, sind wichtige Präventionsmaßnahmen. Dazu zählt auch die „Peergroup“-Arbeit (Experimentierfel<strong>der</strong> für junge Menschen, wie<br />

etwa Jugendzentren, die sie gerne frequentieren, Musikgruppen, Sportgruppen usw.).<br />

Präventionsstrategien für den Typ III nach Lesch:<br />

• Erziehungsstile und Beziehungsphänomene in <strong>der</strong> frühen Kindheit führen dazu, dass die Wertigkeiten <strong>der</strong> geliebten Erwachsenen unreflektiert<br />

und unbewusst als eigene Werte übernommen werden. Man ist brav, man <strong>bringt</strong> gute Leistungen, man ordnet eigene Wünsche und Bedürfnisse<br />

diesen Prinzipien völlig unter und erlaubt nicht, gegen sie zu verstoßen. Eigene Gefühle werden nicht gelebt, und die Jugendlichen versuchen,<br />

den Normen entsprechend zu funktionieren. In <strong>der</strong> Jugend lernen diese Menschen, dass Sie unter Alkoholeinfluss die eigenen Grenzen sprengen<br />

können. Auf diese Gefühle wollen sie – zumindest zeitweilig – nicht mehr verzichten. Der Teufelskreis führt letztendlich zur Entwicklung <strong>der</strong><br />

Abhängigkeit.<br />

• Präventionsmethoden: Auch hier sind Gebote und Verbote völlig fehl am Platz und för<strong>der</strong>n den Prozess <strong>der</strong> Abhängigkeit. Das Lernen, die eigenen<br />

Bedürfnisse wahrzunehmen und sich diese auch zuzugestehen, ist Prävention. Frühe fachliche psychologische Hilfe ist zielführend. Oft hat diese<br />

Personengruppe schon vor Beginn <strong>der</strong> Suchtentwicklung weitere Verhaltensstörungen und psychosomatischen Probleme (z.B. Spannungskopfschmerz,<br />

Magen-, Darmbeschwerden, Essstörungen usw.). Diese Beschwerden sollten beitragen, den Jugendlichen ihre Problematik bewusst zu<br />

machen und ihnen Lösungsmöglichkeiten anbieten. Schön wäre es, wenn die Helfenden so gut ausgebildet sind, dass sie nicht nur das Problem<br />

und die Lösungen, son<strong>der</strong>n auch die Schwierigkeiten <strong>der</strong> von den Jugendlichen versuchten Lösungsansätze bearbeiten können.<br />

Präventionsstrategien für den Typ IV nach Lesch:<br />

• Genetische Faktoren o<strong>der</strong> Schädigungen des Ungeborenen führen meist in ein schwieriges psychosoziales Klima, zu kindlichen Verhaltensstörungen<br />

(z.B: ADHS) und zu deutlichen Störungen in <strong>der</strong> Kritikfähigkeit sowie <strong>der</strong> Impulskontrolle. Diese Gruppe ist dem Trinkdruck unserer<br />

Gesellschaft hilflos ausgeliefert. Deshalb kommt es zu einem deutlichen Alkoholmissbrauch, <strong>der</strong> rasch zu somatischen und psychischen<br />

Folgekrankheiten führt. Der soziale Abstieg und eine zunehmende Verarmung sowie Vereinsamung folgen.<br />

• Präventionsmethoden: Auch in dieser Gruppe bringen strikte Verbote <strong>nichts</strong>. Da dieses Kollektiv meist über sehr wenig Geld verfügt, sollten<br />

alkoholfreie Getränke wesentlich billiger angeboten werden. Programme, die Risikoschwangerschaften früh begleiten und Hilfestellungen nach<br />

<strong>der</strong> Geburt geben, wären äußerst wünschenswert. Oft gibt es in diesen Familien schon an<strong>der</strong>e Alkoholkranke. Eine gute Therapie für alle<br />

Betroffenen kann das Familienklima selbstredend signifikant verbessern. Die Bildungspolitik ist in diesem Rahmen gefragt, weil diese Personen<br />

oft Leistungsdefizite haben und eine beson<strong>der</strong>e För<strong>der</strong>ung benötigen. Je schlechter die Ausbildung und je höher die Arbeitslosenrate, umso<br />

mehr Gefährdete entwickeln die Alkohol abhängigkeit und belasten unsere Sozialausgaben. Verlässliche Berufskarrieren, die zu einer zufrieden<br />

stellenden Arbeit führen, sind hier die beste Prävention.<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


Ärzte W o c h e<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

5<br />

den mächtige Partner gesucht, die diese eigene<br />

Selbstunsicherheit stützen. Diese Interaktionen<br />

zwischen unsicherer Persönlichkeit und<br />

den sozialen Anfor<strong>der</strong>ungen führen zu belastenden<br />

Situationen, zu Angst und Stress. In <strong>der</strong><br />

Folge verwenden die Jugendlichen Suchtmittel<br />

wie Tabak und Alkohol, um mit diesen belastenden<br />

Situationen besser fertig werden zu<br />

können.<br />

Unerreichbare Vorbil<strong>der</strong><br />

Manche Jugendliche wachsen mit einer<br />

sehr rigiden und auf starre Werte bezogenen<br />

Erziehung auf. Die erwachsenen Bezugspersonen<br />

werden von den Kin<strong>der</strong>n sehr geliebt, weshalb<br />

die Kin<strong>der</strong> diese Werte oft direkt als eigene,<br />

nicht verrückbare Werte zu übernehmen<br />

versuchen. Als Jugendliche merken sie dann,<br />

dass diese Werte und Regeln von ihnen nicht<br />

gelebt werden können (z. B. lautet <strong>der</strong> „innere“<br />

Auftrag: Man ist ein guter Schüler – aber die<br />

Schulleistungen können nicht erbracht werden).<br />

Sie reagieren mit depressiv-ängstlichen<br />

Syndromen und merken, dass dieses Unwohlsein<br />

durch die Pharmakologie des Suchtmittels<br />

akut gut kompensiert werden kann. Die geliebten<br />

Erwachsenen demonstrieren zudem oft eine<br />

Doppelmoral, weil sie zwar davon reden, dass<br />

man brav sein und keine Suchtmittel nehmen<br />

soll, selbst aber ein ganz an<strong>der</strong>es Verhalten zeigen<br />

und auch im Rauchen und Trinken als Modell<br />

dienen (rauchende und trinkende Eltern,<br />

Trainer, Lehrer usw.). Jugendliche lernen am<br />

Modell und passen sich oft unbewusst dieser<br />

Doppelmoral an.<br />

Organische Ursachen<br />

Außer den oben beschriebenen Mechanismen<br />

zur Entwicklung <strong>der</strong> Abhängigkeit gibt es<br />

noch viele an <strong>der</strong>e Ursachen. Frühe zerebrale<br />

und psychische Schädigungen führen häufig<br />

schon zu frühen Auffällig keiten (Brückensymptome),<br />

die so schwer sind, dass die Betroffenen<br />

etwa Schulen nicht besuchen können, keine<br />

Ausbildung abschließen, oft sozial auffällig<br />

werden und manchmal mit dem Gesetz in Konflikt<br />

geraten. Diesen Randgruppen <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />

die etwa zehn Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

ausmachen, sollte rechtzeitig Hilfe angeboten<br />

werden. Außerdem sollten in diesem Kollektiv<br />

wirksame, von den Betrof fenen akzeptierte Interventionen<br />

gesetzt werden.<br />

Das Suchtmittel betreffende Maßnahmen<br />

Die Reduktion <strong>der</strong> Erreichbarkeit von Alkohol-<br />

und Tabakprodukten erniedrigt die<br />

Missbrauchsraten. Einige Beispiele: Tabakprodukte<br />

könnten nur in Trafiken und nur zu<br />

ge wissen Zeiten (etwa von fünf Uhr am Morgen<br />

bis zwölf Uhr mittags) erhältlich sein, kein<br />

Verkauf von Zigaretten an Tankstellen, in<br />

Gasthäusern o<strong>der</strong> über Automaten, Rauchverbote<br />

für alle öffentlichen Gebäude wie Krankenhäuser,<br />

Schulen, Ämter usw., in Gaststätten<br />

eine klare Trennung zwischen Räumen für<br />

Nichtraucher und für Raucher. Die öffentliche<br />

Kennzeichnung von Raucher- und Nichtraucherlokalen<br />

würde dazu führen, dass die Konsumenten<br />

wählen können, ob sie sich den Rauchinhaltsstoffen<br />

aussetzen. Lokale unter 50 m 2<br />

und ohne Angestellte sollten sich als Raucherlokale<br />

definieren dürfen (Arbeitnehmerschutzgesetz).<br />

Das Einhalten von Jugendschutzbestimmungen<br />

in Bezug auf Alkohol wäre bereits<br />

ein Fortschritt. Wenn Alkohol nur in gewissen<br />

Geschäften und zu gewissen Zeiten gekauft<br />

werden könnte, würde auch die Erreichbarkeit<br />

eingeschränkt. Der Verkauf von alkoholischen<br />

Getränken in Restaurants sollte während des<br />

Tages an die Konsumation von Essen gekoppelt<br />

sein. Tagsüber sollten prinzipiell nur alkoholische<br />

Getränke mit sehr nie<strong>der</strong>em Alkoholwert<br />

ausgeschenkt werden (wie es in Schweden<br />

praktiziert wird).<br />

Abhängige Raucher sind<br />

gefährdet, auch an<strong>der</strong>e<br />

legale und illegale Drogen<br />

in abhängiger Weise<br />

einzunehmen.<br />

Der Preis sollte so weit hinaufgesetzt werden,<br />

dass es für Jugendliche schwierig wird,<br />

regelmäßig zu trinken und zu rauchen. Zehn<br />

Prozent <strong>der</strong> Steuern für Alkohol und Tabak<br />

sollten zweckgebunden für Suchtprävention<br />

und Therapie verwendet werden.<br />

Abhängige Raucher sind für weitere<br />

Süchte vulnerabel<br />

In regelmäßigen Kampagnen sollte darüber<br />

aufgeklärt werden, dass Tabak ein Suchtmittel<br />

und kein Genussmittel ist. Beim Rauchen<br />

wird nicht nur Nikotin aufgenommen,<br />

son<strong>der</strong>n viele weitere toxische Stoffe, die in<br />

<strong>der</strong> Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung<br />

eine wesentliche Rolle spielen. Kommt<br />

es zur Tabakabhängigkeit, so scheint diese<br />

Abhängigkeit ein „precursor“ für alle an<strong>der</strong>en<br />

Abhängigkeitsformen zu sein. Abhängige<br />

Raucher sind wesentlich stärker gefährdet,<br />

auch an<strong>der</strong>e legale und illegale Drogen in abhängiger<br />

Weise einzunehmen, als Raucher,<br />

die nicht als biologisch abhängig bezeichnet<br />

werden können. Diese Zusammenhänge sollten<br />

auch Inhalt von Aufklärungsprogrammen<br />

sein. Alkohol in geringen Mengen als Genussmittel<br />

sollte nicht verteufelt werden, aber<br />

man sollte klarmachen, dass Alkohol eine<br />

Rauschdroge ist; eine Droge, die schon bei<br />

geringen Mengen Intelligenz und Koordination<br />

reduziert. Regelmäßiger hoher Alkoholkonsum<br />

führt genauso wie regelmäßiger Tabakkonsum<br />

zur Schädigung des gesamten Organismus.<br />

Damit kein Kind verloren geht<br />

Alle präventiven Maßnahmen sollten am<br />

besten diesen Leitsatz berücksichtigen: „Das<br />

politische Credo <strong>der</strong> Gesellschaft sollte sich an<br />

fol genden Grundsätzen orientieren: Bei uns<br />

geht kein Kind verloren. Wir kümmern uns um<br />

jedes Kind. Es gibt Teams, die in jedem Alter<br />

das Kind unterstützen, und jedes Kind sollte<br />

medizinisch und sozial so betreut werden, dass<br />

es optimale Bildungsmöglichkeiten hat.“<br />

Jugendlichen sollte in schwie rigen Situationen,<br />

ob familiär, im schulischen Bereich<br />

o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Arbeitsstelle, die Möglichkeit geboten<br />

werden, Hilfe von außen zu erhalten,<br />

die ihnen auf keinen Fall schadet. Die Grundregel<br />

lautet „Hinschauen“! Je früher man die<br />

für den Jugendlichen nicht lösbar scheinenden<br />

Probleme erkennt und je früher man Lösungen<br />

anbieten kann, die vom Jugendlichen<br />

akzeptiert wer den können, um so seltener<br />

wird ein Suchtmittel zum Problem.<br />

Der „Wir-Faktor“ schützt<br />

Die Gruppe ist für junge Menschen ein<br />

wichtiger Schutzfaktor. Den jugendlichen<br />

Cliques sollten Möglichkeiten angeboten<br />

werden, die sie brauchen: beispielsweise<br />

aktive kulturelle Betätigungen (Musikgruppen<br />

o<strong>der</strong> Theatergruppen), sportliche Möglichkeiten<br />

(von Leichtathletik bis zu Ballspielen)<br />

und vor allem genügend Zeit und Raum,<br />

wo sie ihre Aktivitäten ge fahrlos, aber auch<br />

abenteuerlustig ausleben können. In <strong>der</strong> Prävention<br />

gilt es heute als gesichert, dass diese<br />

risikoarmen Ausbildungsfel<strong>der</strong>, in denen Jugendliche<br />

ihre Neugier ausleben können, für<br />

sie wichtig sind, um eine gesunde, lebensbejahende<br />

Persönlichkeit zu entwickeln. Ge bote<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


6<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

Ärzte W o c<br />

o<strong>der</strong> Verbote, die von <strong>der</strong> Gruppe nicht akzeptiert<br />

werden, sind kontraproduktiv und führen<br />

zu ei ner Vergrößerung von Randgruppen<br />

und damit zu einer Erhöhung <strong>der</strong> Anzahl jener<br />

Jugendlichen, die Suchtmittel konsumieren.<br />

Die Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Situation<br />

Jugendlicher ist ein ganz zentraler Faktor.<br />

Wenn ein Jugend licher aufgrund seines schulischen<br />

Versagens auch noch die Gruppe verliert,<br />

ist dies ein Risikofaktor für die weitere<br />

Entwicklung. Je klarer die sozialen Entwicklungsmöglichkeiten<br />

für Jugendliche sind,<br />

umso geringer ist <strong>der</strong>en Suchtmitteleinnahme.<br />

Die soziale Sicherheit in <strong>der</strong> Familie, im<br />

Freundeskreis, aber auch in <strong>der</strong> ei genen beruflichen<br />

Situation sind Schutzfaktoren gegen<br />

Suchtmittel gebrauch. Je sinnvoller den<br />

Jugend lichen ihre Tätigkeit erscheint und je<br />

klarer die Rolle in diesen Tätigkeiten definiert<br />

ist, umso geringer ist die Gefahr, dass sie ein<br />

Suchtmittel regelmäßig konsumieren.<br />

Richtige Solidarität kann das Suchtrisiko<br />

senken<br />

In <strong>der</strong> Pubertät fällt es noch vie len Jugendlichen<br />

schwer, eine eigene Identität zu<br />

entwickeln. Die moralischen und ethischen<br />

Vorgaben geliebter Erwachsener können oft<br />

kaum eingehalten werden. Sie benötigen daher<br />

Experimentierfel<strong>der</strong>, in denen sie versuchen<br />

können, ihre eigene Identität zu entwickeln<br />

und Grenzen für sich selbst auszuprobieren.<br />

Diese Experimentierfel<strong>der</strong> sollten von <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Hand unterstützt werden, sodass die<br />

Gefährdung <strong>der</strong> Jugendlichen so gering wie<br />

möglich ist. Der Einfluss <strong>der</strong> Erwachsenen<br />

sollte freilich auch so gering wie möglich gehalten<br />

werden. Manche Menschen können für<br />

sich selbst nur dann et was als wahr annehmen,<br />

wenn sie es selbst erlebt haben. Und dieses Erleben<br />

ist oft schmerzhaft. Wenn eine Gruppe<br />

diesen Schmerz ohne Erwachsene auffangen<br />

kann, dann kann sich eine solidarische Gruppe<br />

bilden, die ein guter Schutz gegen Gefährdungen<br />

durch Suchtmittel ist.<br />

Unterschiedliche Maßnahmen für<br />

unterschiedliche Risikogruppen<br />

Beson<strong>der</strong>e Präventionsstrategien sollten<br />

für Risikogruppen angeboten werden, wobei je<br />

nach Risikogruppe ganz unterschiedliche<br />

Maßnahmen notwendig sind. Ein mit schwerer<br />

Intoxikation stationär aufgenommener Jugendlicher<br />

ist ein Notfall, <strong>der</strong> nach <strong>der</strong> medizinischen<br />

Behandlung sicher eine psychologischpsychiat<br />

rische Unterstützung braucht (Krisenkonzept!).<br />

Familien mit mehreren Abhängigen<br />

brauchen Hilfe für das gesamte System. Die<br />

Kin<strong>der</strong> dieser Familien sind hoch gefährdet<br />

und brauchen intensive Betreuung. Diese Zielgruppen<br />

benötigen auch ohne die Diagnose<br />

Abhängigkeit die Hilfe durch ein therapeutisches<br />

Team (Sozialarbeiter, Psychologen, Mediziner<br />

usw.), welches die Betroffenen über<br />

Jahre begleiten sollte. Diese profes sionellen<br />

Teams sollte man auch viel stärker in die Pflicht<br />

nehmen, wenn es zu negativen Entwicklungen<br />

<strong>der</strong> Betroffenen kommt.<br />

Tertiäre Prävention<br />

Wie bereits ausgeführt, raucht fast die<br />

Hälfte aller Jugendlichen biologisch abhängig<br />

(Fagerström 5 o<strong>der</strong> mehr). Bei diesen Gruppen<br />

wird man mit den oben genannten Maßnahmen<br />

keine Reduktion <strong>der</strong> Suchtmitteleinnahme erreichen,<br />

son<strong>der</strong>n die Jugendlichen werden sich<br />

in ihrem Rauchverhalten unwohler fühlen,<br />

aber nur selten das Rauchverhalten auch wirklich<br />

än<strong>der</strong>n können.<br />

Professionelle Hilfe von<br />

außerhalb des Systems<br />

Alkoholabhängige sind Kranke im medizinischen<br />

Sinn und benötigen daher therapeutische<br />

Hilfe. Es macht wenig Sinn, ihnen Vorschriften<br />

zu machen, und schon gar nicht, ih-<br />

Grafik 2:<br />

Suchtmittelgebrauch – Faktoren, die den Gebrauch in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft bestimmen<br />

Suchtmittel<br />

Gesellschaft<br />

Erreichbarkeit<br />

Einstellung <strong>der</strong> Peergruppe<br />

Image <strong>der</strong> Droge<br />

(Alkohol/Tabak ein Genussmittel)<br />

Grad <strong>der</strong> Wirksamkeit<br />

Preis<br />

Individuum<br />

Lebensqualität<br />

Grad <strong>der</strong> Zufriedenheit<br />

(Happinessforschung)<br />

Psychisches Leiden<br />

Neugierde<br />

Konflikt<br />

Toleranz<br />

gesellschaftliche Freiheit<br />

soziale Absicherung und<br />

soziale Ausgewogenheit<br />

Einkommen<br />

Sicherheit<br />

soziales Klima<br />

kulturelles Klima<br />

Grad <strong>der</strong> Industrialisierung<br />

23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche


Ärzte W o c h e<br />

Pneumologie<br />

DFP-Literaturstudium<br />

7<br />

nen zu sagen, dass sie sich zusammennehmen<br />

sollen – sie brauchen professionelle therapeutische<br />

Be gleitung und Hilfe. Es ist auch günstig,<br />

wenn sie manchmal ein Umfeld aufsuchen,<br />

in dem sie mit an<strong>der</strong>en Betroffenen reden können,<br />

sodass sie merken, dass ihre Symptome<br />

auch verbesserbar sind und ihnen bei Problemlösungen<br />

beigestanden wird. Die Hilfe sollte<br />

außerhalb ihres Systems (Familie, Beruf,<br />

Schule) gesucht werden, und die Helfenden<br />

sollten sowohl psychologische als auch soziotherapeutische,<br />

aber auch pharmakologische<br />

Kenntnisse haben. Ein Abhängiger, <strong>der</strong> erlebt,<br />

dass man Interesse an ihm hat, dass man aber<br />

nicht neugierig ist, kann oft an ein therapeutisches<br />

Netz angebunden werden. Diese Anbindung<br />

über längere Zeit ist einer <strong>der</strong> wichtigsten<br />

therapeutischen Faktoren. <br />

n<br />

Ve r fa sse r: Pro f. Dr. Ot to-Mic h a e l Lesc h, Un i v e r s i t ä t s k l i n i k<br />

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23. Jahrgang, Nr. 36, September 2009, Ärzte Woche

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