PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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62 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143<br />
der Wirksamkeit für die Identitätsbildung<br />
der Stadtgesellschaft bzw. einzelner Kollektive<br />
und Individuen innerhalb dieser.<br />
Richter (2009) nennt diese Entwicklung<br />
das in der Postmoderne entstandene<br />
„doppelte Bedürfnis nach Distinktion“: Unter<br />
Individualisierungsdruck suchen die<br />
Stadtbewohner vermehrt nach ihrer persönlichen<br />
Identität. Aber auch die Städte<br />
empfinden im Zuge des globalen Standortwettbewerbs<br />
und der Konkurrenz um Einwohner<br />
immer stärker den Druck, sich von<br />
anderen absetzen zu müssen. Die Nachfrage<br />
nach unverwechselbaren, Einheimische<br />
wie Fremde gleichermaßen ansprechenden<br />
Stadtbildern, die der Stadt – und<br />
damit auch ihren Bewohnern – das erwünschte<br />
Image verleihen, steigt dementsprechend<br />
rapide an. Rekonstruktionen<br />
sind meist sowohl touristisch verwertbar<br />
als auch (stadt-)marketingtauglich und<br />
können darüber hinaus für den oder die<br />
Einzelne als Identitätsanker fungieren.<br />
Sowohl die Stadt als Ganzes als auch ihre<br />
Bewohner fühlen sich in ihrer Einzigartigkeit<br />
von anderen anerkannt und bekommen<br />
gleichzeitig die Möglichkeit, sich abzusetzen.<br />
Prinzipiell könnte eine entsprechende<br />
Leistung natürlich auch durch zeitgenössische<br />
Bauwerke erzielt werden. Allerdings<br />
sind dabei zwei Einschränkungen zu beachten:<br />
Erstens werden diese stets als Ausdruck<br />
einer aktuellen Stadtgesellschaft<br />
angesehen und eignen sich selten für den<br />
Ausdruck von Geschichtlichkeit. Da aber<br />
gerade die Interpretation dessen, was Ausdruck<br />
aktueller Stadtgesellschaft ist und<br />
sein sollte, umstritten ist, setzt ein solches<br />
Bauwerk einen common sense über<br />
die „städtische“ kollektive Identität voraus,<br />
der selten gegeben ist. Rekonstruktionen<br />
stellen hingegen den Versuch dar, die<br />
Unsicherheit und Instabilität der Gegenwart<br />
durch ein Anknüpfen an die als sicher<br />
und stabil angenommene Vergangenheit<br />
zu überwinden. Zweitens besteht ein<br />
geringes Vertrauen in die Fähigkeit zeitgenössischer<br />
Architektur, die gewünschte<br />
Identitätsbildung zu bewirken. Gerade für<br />
diejenigen Teile der Gesellschaft, deren<br />
Unsicherheitsempfinden und Verlangen<br />
nach universellen – und damit auch zeitlosen<br />
– Werten besonders hoch ist, stellen<br />
Rekonstruktionen im Gegensatz zu innovativen<br />
zeitgenössischen Lösungen eine<br />
Strategie zur Risikovermeidung dar. Auf<br />
diesen letzten Aspekt ist unter dem Stichwort<br />
„Scheitern der Moderne“ bereits ausführlicher<br />
eingegangen worden.<br />
3.43 Individualisierung und<br />
Differenzierung der Lebensstile<br />
Individualisierung ist ein weiteres Schlagwort,<br />
ohne das beinahe keine zeitgenössische<br />
sozialwissenschaftliche Diskussion<br />
auskommt. Im gleichen Atemzug werden<br />
meist auch die Begriffe Wertewandel, Ausdifferenzierung<br />
und Polarisierung der Lebensstile<br />
genannt. Als dominante gesellschaftliche<br />
Strömung liegt der Prozess der<br />
Individualisierung auch weiteren in diesem<br />
Unterkapitel aufgeführten Tendenzen<br />
zugrunde und ist darüber hinaus eng mit<br />
dem bereits diskutierten Thema der Identitätssuche<br />
verknüpft.<br />
Individualisierungsprozesse vollziehen<br />
sich bereits seit dem Beginn der Arbeitsteilung<br />
in der modernen Gesellschaft, haben<br />
allerdings mit der Industrialisierung<br />
und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
noch entscheidend an Dynamik gewonnen.<br />
Die funktionale Spezialisierung gilt<br />
als Voraussetzung dafür, dass sich auch<br />
die Lebensentwürfe auszudifferenzieren<br />
begannen: Die Individuen waren zwar<br />
funktional stärker aufeinander angewiesen,<br />
gleichzeitig lockerten sich jedoch ihre<br />
sozialen Bindungen. Die Menschen wurden<br />
sich ihrer eigenen Individualität und<br />
ihrer Bedeutung für die Gesellschaft stärker<br />
bewusst und entwickelten daraus das<br />
Bedürfnis, ihre Einzigartigkeit auch den<br />
anderen gegenüber herauszustellen. Simmel<br />
(1890) nennt dies die Einbindung in<br />
„soziale Kreise“, deren Schneidung nie<br />
haargenau mit der einer anderen Person<br />
übereinstimmt. Mit der Anzahl der Kreise,<br />
in die ein Individuum eingebunden ist,<br />
erhöht sich entsprechend auch die Genauigkeit,<br />
mit der das Individuum bestimmt<br />
werden kann. Gleichzeitig sinkt aber auch<br />
die Bedeutung, die jeder einzelne Kreis<br />
für die Bestimmung – die Identität – eines<br />
Menschen hat.<br />
Je heterogener eine Gruppe bzw. eine Gesellschaft<br />
wird, desto größer ist der Spielraum<br />
der Einzelnen, die eigene Individualität<br />
zu entwickeln und zu kultivieren.<br />
Simmel erklärt dies dadurch, dass die Individuen<br />
sich auch bis zu einem gewissen