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54 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143 wurde. Er vermutet zwar keine explizite politisch-nationalistische Motivation hinter dem Wunsch nach Rekonstruktion, interpretiert ihn aber als eine Aussage über allgemeine politische Befindlichkeiten im wiedervereinigten Deutschland und als die wenig reflektierte „Forderung eines ‚Schlussstriches‘“ (2001: 93). In Ergänzung dazu steht eine Annahme der kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- bzw. Gedächtnistheorien, die Erinnern und Vergessen als zwei gleichsam bedeutende Seiten einer Medaille sehen. Durch individuelle wie durch kollektive Erinnerung finde immer eine kulturell bedingte Selektion und damit auch eine Anpassung der Vergangenheit an die Gegenwart statt. Dieser Vorgang sei nötig, damit das so entworfene Geschichtsbild überhaupt noch seinen Zweck – nämlich die Konstruktion einer gemeinsamen Identität auf Grundlage der gemeinsamen Vergangenheit – erfüllen könne. Denn: „Was der Mensch sei, das sagt ihm nur die Geschichte“ (Wilhelm Dilthey, zit. n. Gauger 2003: 13). Verstärkt beschäftigen sich Kulturwissenschaftler erst seit einigen Jahrzehnten mit dem Thema Gedächtnis und seinen „kulturelle[n] – also soziale[n], historische[n], philosophische[n], künstle rische[n] usw. – Aspekte[n]“ (Pethes 2008: 9), was als Hinweis auf den Verlust von Selbstverständlichkeiten in den Überlieferungsverfahren der (westlichen) Kulturen gesehen wird (vgl. Pethes 2008: 60). Die Anfänge der Teildisziplin liegen jedoch bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Noch heute beziehen sich die meisten Ansätze auf die Gedanken ihres Begründers Maurice Halbwachs, der als erster auf die Einbettung des individuellen Gedächtnisses in das soziale Umfeld hinwies: Erinnerungen und Erfahrungen werden immer im gesellschaftlichen und historischen Kontext erlebt und interpretiert. Jede Erinnerung bekommt somit eine individuelle Bedeutung und trägt gleichzeitig auch zur Bildung von gesellschaftlichen Strukturen bei. Diese ändern sich wiederum mit der Ergänzung durch neue Ereignisse, so dass individuelle Erinnerungen und ihr sozialer Rahmen in einem ständigen Austausch stehen (vgl. Pethes 2008: 52–56). Dabei handelt es sich jedoch nicht um die eine, so und nicht anders gemeinsam erinnerte Vergangenheit, sondern um eine Interpretation dieser, die diejenigen Entwicklungslinien besonders betont, „die am ehesten auf die aktuell gegebenen gesellschaftlichen Bedürfnisse oder ideologischen Ausrichtungen hinweisen“ (Pethes 2008: 57). Gemeinsames wird betont, Trennendes ausgeblendet und somit die Grundlage für eine kollektive Identität, ein kulturelles Selbstverständnis gelegt. Hier ist zu ergänzen, dass je nach Größe und Heterogenität der Gruppen natürlich nicht nur ein einziges, einheitliches Geschichtsbild entsteht – eine gewisse Bandbreite von Deutungen ist zumindest in demokratischen Gesellschaften üblich und erwünscht (vgl. Gauger 2003: 16, Kenneweg 2009: 25–27, Klein/Severin/Südkamp 2005: VII). Auch lässt sich die kollektive Erinnerung nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, wenn sie sich nicht zu sehr von den Menschen entfernen soll (vgl. Nagel 2006: 7). Kenneweg (2009: 25) u. a. plädieren deshalb dafür, den Begriff Erinnerungskultur stets im Plural – also als „Erinnerungskulturen“ – zu gebrauchen. Seit den 1990er Jahren haben sich besonders Aleida und Jan Assmann auf dem Gebiet der Gedächtnistheorien hervorgetan. Beide differenzieren das Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiter aus: Ein Teil entsteht durch die unmittelbare Interak tion von Mitgliedern der Gesellschaft („biografische Erinnerungen“), erneuert sich größtenteils nach 80 bis 100 Jahren (bzw. drei Generationen) und hat so einen wesentlichen Anteil an Veränderungen in der Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Somit entwickelt auch jede Genera tion „ihren eigenen Zugang zur Vergangenheit“ (Assmann 2007: 27). Bei Jan Assmann (1992) heißt dieser Teil kommunikatives Gedächtnis, bei Aleida Assmann (2007) soziales Gedächtnis. Es wird durch Zusammenleben und Austausch hervorgebracht und koordiniert und kombiniert individuelle Erinnerungen. Das kulturelle Gedächtnis (von beiden so bezeichnet) hingegen hat eine weniger beschränkte zeitliche Reichweite, da es personenunabhängig ist und durch Erinnerungsträger oder -medien gestützt wird. Dabei kann es sich um so genannte materiale Repräsentationen (Texte, Bilder, Denkmäler) oder symbolische Praktiken (Feste und Riten)

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hintergründe 55 handeln (vgl. Assmann 2007: 23–35, Azaryahu 1988: 19, Pethes 2008: 59–64). Die Übergänge zwischen den Dimensionen (individuell/neuronal, kommunikativ/sozial, kulturell) sind fließend. In der Regel sind an einem Erinnerungsvorgang alle drei Dimensionen beteiligt, je nach Art der Erinnerungsleistung aber unterschiedlich stark. Der Kritik an dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses wird entgegengesetzt, dass es natürlich nicht auf die gleiche Art und Weise bilden könne wie das individuelle Gedächtnis: „Institutionen und Körperschaften wie Kulturen, Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma ‚haben‘ kein Gedächtnis, sie ‚machen‘ sich eines mithilfe memorialer Zeichen und Symbole. Mit diesem Gedächtnis ‚machen‘ sich Institutionen und Körperschaften zugleich eine Identität“ (Assmann 2007: 35). Diese Institutionen und Körperschaften bezeichnet Assmann (2007: 21) auch als „Wir- Gruppen“, deren Gedächtnisse sich in den Individuen, die in sie eingebunden sind, überschneiden. Jede Denkmalsetzung, so Trimborn (1995: 186), ist demnach auch „Sinnstiftung, Identifikationsangebot“. Bemerkenswert an dem kulturellen Gedächtnis ist zudem die Tatsache, dass es die Gesamtheit der Erinnerungen der Wir- Gruppe nie objektiv darstellt, sondern nur diejenigen Ereignisse, die von der Gemeinschaft dauerhaft bewahrt werden wollen. Es stellt mithin nicht das „Vergangene […] an sich [dar], sondern de[n] Entwurf der Vergangenheit, die eine Gemeinschaft sich geben will“ (Pethes 2008: 65). Diese Form der Selektion ist nötig, um überhaupt eine gemeinsame (bspw. nationale) Identität zu entwerfen und diese für die Gemeinschaft nachvollziehbar zu machen. Potenziell kann jeder Teil der Vergangenheit einfließen; als Filter dient „die Kultur“ im Sinne einer „Summe derjenigen Einrichtungen, deren Tradierung die Identität eines Kollektivs durch die Zeit herstellt“ (Pethes 2008: 71). Im Umkehrschluss bedeutet die Entscheidung für die Erinnerung an ein Ereignis auch immer die Entscheidung gegen die Erinnerung an ein anderes. Dabei gilt: „Hat man das Gedächtnis der Leute in der Hand, hat man auch ihre Entwicklung in der Hand“ (Foucault 2002: 796). Ebenso wie das individuelle Gedächtnis bewahrt auch das kulturelle nicht alle Erinnerungen einer Gesellschaft beliebig lange auf: „Das Gedächtnis ist ja kein exakter Speicher, sondern ein dynamisches Organ der Anpassung an eine sich wandelnde Gegenwart und kann sich so auf immer Neues einstellen“ (Assmann 2007: 104). Eine Erinnerung wird z. B. solange weitergegeben, bis für neue Erinnerungen „Platz geschaffen“ werden muss und/oder sie dem Selbstbild der Gruppe nicht mehr entspricht. (Meist ist „Vergessen“ aber auch eher als „zeitweise Unzugänglichkeit“ zu betrachten, die Erinnerungen können unter bestimmten Umständen auch wieder an die Oberfläche gelangen, vgl. Assmann 2007: 55). Als solches ist das Vergessen einerseits als überlebensnotwendig, andererseits aber auch als gezielte Strategie zu verstehen, die eingesetzt werden kann, um unliebsame Teile der Vergangenheit auszublenden (vgl. Assmann 2007: 40–42, 51–61, Azaryahu 1988: 7–13, Gauger 2003: 19–29, Kenneweg 2009: 9, Speitkamp 1997: 5–6). Lange Zeit wurden Geschichte und Gedächtnis deshalb als Gegensätze betrachtet: Die Geschichte sei objektiv, repräsentativ und universal, das Gedächtnis hingegen bestehe aus „Geschichten“ und sei auf das Selbstverständnis von Individuen bezogen. So versuchte sich die Geschichtswissenschaft als im 19. Jahrhundert entstandene akademische Disziplin von frühen Formen der Geschichtsschreibung abzugrenzen, die oftmals im Dienste eines politischen Herrschers oder einer Dynastie standen. Persönliche Erinnerungen werden deshalb erst seit etwa den 1980er Jahren wieder als Quellen in die Geschichtsforschung einbezogen. Besonders in Verbindung mit den Gräueltaten der Nazizeit und der immensen Vielfalt an Zeitzeugenberichten nähern sich die beiden Begriffe wieder an und werden als Ergänzung zueinander verstanden (vgl. Assmann 2007: 43–51). Mittlerweile wird die Tatsache, dass Bilder, Symbole und damit letztlich auch das Gedächtnis „gemacht“ sind, nicht mehr als problematisch bzw. als Beweis für ihre Fiktivität bewertet, da es eine gänzlich objektive Erinnerung nicht geben kann und sie durch Weitergabe und neue Rezeption automatisch verändert und auf Grundlage anderer gesellschaftlicher Bedingungen interpretiert wird (vgl. Assmann 2007: 30–31, 124).

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hintergründe<br />

55<br />

handeln (vgl. Assmann 2007: 23–35, Azaryahu<br />

1988: 19, Pethes 2008: 59–64). Die<br />

Übergänge zwischen den Dimensionen<br />

(individuell/neuronal, kommunikativ/sozial,<br />

kulturell) sind fließend. In der Regel<br />

sind an einem Erinnerungsvorgang alle<br />

drei Dimensionen beteiligt, je nach Art der<br />

Erinnerungsleistung aber unterschiedlich<br />

stark. Der Kritik an dem Begriff des kollektiven<br />

Gedächtnisses wird entgegengesetzt,<br />

dass es natürlich nicht auf die gleiche Art<br />

und Weise bilden könne wie das individuelle<br />

Gedächtnis: „Institutionen und Körperschaften<br />

wie Kulturen, Nationen, Staaten,<br />

die Kirche oder eine Firma ‚haben‘<br />

kein Gedächtnis, sie ‚machen‘ sich eines<br />

mithilfe memorialer Zeichen und Symbole.<br />

Mit diesem Gedächtnis ‚machen‘ sich<br />

Institutionen und Körperschaften zugleich<br />

eine Identität“ (Assmann 2007: 35). Diese<br />

Institutionen und Körperschaften bezeichnet<br />

Assmann (2007: 21) auch als „Wir-<br />

Gruppen“, deren Gedächtnisse sich in den<br />

Individuen, die in sie eingebunden sind,<br />

überschneiden. Jede Denkmalsetzung, so<br />

Trimborn (1995: 186), ist demnach auch<br />

„Sinnstiftung, Identifikationsangebot“.<br />

Bemerkenswert an dem kulturellen Gedächtnis<br />

ist zudem die Tatsache, dass es<br />

die Gesamtheit der Erinnerungen der Wir-<br />

Gruppe nie objektiv darstellt, sondern nur<br />

diejenigen Ereignisse, die von der Gemeinschaft<br />

dauerhaft bewahrt werden wollen.<br />

Es stellt mithin nicht das „Vergangene […]<br />

an sich [dar], sondern de[n] Entwurf der<br />

Vergangenheit, die eine Gemeinschaft sich<br />

geben will“ (Pethes 2008: 65). Diese Form<br />

der Selektion ist nötig, um überhaupt eine<br />

gemeinsame (bspw. nationale) Identität zu<br />

entwerfen und diese für die Gemeinschaft<br />

nachvollziehbar zu machen. Potenziell<br />

kann jeder Teil der Vergangenheit einfließen;<br />

als Filter dient „die Kultur“ im Sinne<br />

einer „Summe derjenigen Einrichtungen,<br />

deren Tradierung die Identität eines<br />

Kollektivs durch die Zeit herstellt“ (Pethes<br />

2008: 71). Im Umkehrschluss bedeutet die<br />

Entscheidung für die Erinnerung an ein<br />

Ereignis auch immer die Entscheidung gegen<br />

die Erinnerung an ein anderes. Dabei<br />

gilt: „Hat man das Gedächtnis der Leute in<br />

der Hand, hat man auch ihre Entwicklung<br />

in der Hand“ (Foucault 2002: 796). Ebenso<br />

wie das individuelle Gedächtnis bewahrt<br />

auch das kulturelle nicht alle Erinnerungen<br />

einer Gesellschaft beliebig lange auf:<br />

„Das Gedächtnis ist ja kein exakter Speicher,<br />

sondern ein dynamisches Organ der<br />

Anpassung an eine sich wandelnde Gegenwart<br />

und kann sich so auf immer Neues<br />

einstellen“ (Assmann 2007: 104). Eine<br />

Erinnerung wird z. B. solange weitergegeben,<br />

bis für neue Erinnerungen „Platz geschaffen“<br />

werden muss und/oder sie dem<br />

Selbstbild der Gruppe nicht mehr entspricht.<br />

(Meist ist „Vergessen“ aber auch<br />

eher als „zeitweise Unzugänglichkeit“ zu<br />

betrachten, die Erinnerungen können unter<br />

bestimmten Umständen auch wieder<br />

an die Oberfläche gelangen, vgl. Assmann<br />

2007: 55). Als solches ist das Vergessen einerseits<br />

als überlebensnotwendig, andererseits<br />

aber auch als gezielte Strategie zu<br />

verstehen, die eingesetzt werden kann, um<br />

unliebsame Teile der Vergangenheit auszublenden<br />

(vgl. Assmann 2007: 40–42, 51–61,<br />

Azaryahu 1988: 7–13, Gauger 2003: 19–29,<br />

Kenneweg 2009: 9, Speitkamp 1997: 5–6).<br />

Lange Zeit wurden Geschichte und Gedächtnis<br />

deshalb als Gegensätze betrachtet:<br />

Die Geschichte sei objektiv, repräsentativ<br />

und universal, das Gedächtnis<br />

hingegen bestehe aus „Geschichten“ und<br />

sei auf das Selbstverständnis von Individuen<br />

bezogen. So versuchte sich die Geschichtswissenschaft<br />

als im 19. Jahrhundert<br />

entstandene akademische Disziplin<br />

von frühen Formen der Geschichtsschreibung<br />

abzugrenzen, die oftmals im Dienste<br />

eines politischen Herrschers oder einer<br />

Dynastie standen. Persönliche Erinnerungen<br />

werden deshalb erst seit etwa den<br />

1980er Jahren wieder als Quellen in die<br />

Geschichtsforschung einbezogen. Besonders<br />

in Verbindung mit den Gräueltaten<br />

der Nazizeit und der immensen Vielfalt an<br />

Zeitzeugenberichten nähern sich die beiden<br />

Begriffe wieder an und werden als Ergänzung<br />

zueinander verstanden (vgl. Assmann<br />

2007: 43–51). Mittlerweile wird die<br />

Tatsache, dass Bilder, Symbole und damit<br />

letztlich auch das Gedächtnis „gemacht“<br />

sind, nicht mehr als problematisch<br />

bzw. als Beweis für ihre Fiktivität bewertet,<br />

da es eine gänzlich objektive Erinnerung<br />

nicht geben kann und sie durch Weitergabe<br />

und neue Rezeption automatisch<br />

verändert und auf Grundlage anderer gesellschaftlicher<br />

Bedingungen interpretiert<br />

wird (vgl. Assmann 2007: 30–31, 124).

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