PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hintergründe<br />
47<br />
In Deutschland sind Formen der kultischen<br />
Verehrung vor der Reichsgründung<br />
insbesondere für Preußen (Königin Luise,<br />
Bismarck, Friedrich der Große; vgl. Hedinger<br />
1976) bekannt, in der Nationalen Bewegung<br />
um die März-Revolution und darüber<br />
hinaus verbindet sich die nationale<br />
Verehrung zudem mit dem bereits erwähnten<br />
Personenkult um verschiedene<br />
Geistesgrößen (vgl. auch Noltenius<br />
1988: 239, Herzig 1988: 325, zu deren politischer<br />
Verwendung etwa Grote 1968: 17)<br />
– bereits 1836 formulierte Wolfgang Menzel<br />
die Formel vom „Volk der Dichter und<br />
Denker“. Auch aufgrund der zunächst<br />
fehlenden Einheit Deutschlands war die<br />
deutsch-natio nale Religiosität „ursprungsmythisch“<br />
geprägt, „beschwor die gemeinsame<br />
Erinnerung […], um aus ihr der eigenen<br />
Identität gewiss zu werden. Denn<br />
die großen Werke der Vergangenheit ofpsychologie<br />
(Sigmund Freud, Carl Gustav<br />
Jung), wenig anhaben.<br />
Die heutige katholische Praxis kennt zwar<br />
weiterhin die Heiligenverehrung, und es<br />
hat sogar eine gewisse Inflation der Heiligund<br />
Seligsprechungen eingesetzt, doch<br />
geht die theologische Deutung zurückhaltend<br />
davon aus, dass nicht der Heilige an<br />
sich, sondern sein Glaubenszeugnis verehrt<br />
werde (vgl. Rahner 1966: 11–26). Zu<br />
den Reliquien hingegen ist innerhalb der<br />
zeitgenössischen kirchlichen Lehre wenig<br />
zu finden – „selbst die neuen Katechismen<br />
schweigen sich aus“ (Angenendt<br />
1994: 310). Der Umgang mit ihnen scheint<br />
ungeklärt (vgl. Läpple 1990: 8). Im Protestantismus<br />
wird zunächst einmal weiterhin<br />
davon ausgegangen, dass Heilige lediglich<br />
die „im Glauben sonderlich Bewährten“<br />
(Althaus 1958: 519) sind. Dennoch gibt es<br />
seit Ende der 1950er Jahre vielfältige Versuche<br />
einer evangelischen Heiligenverehrung<br />
(Lackmann 1958, Erb 1962, Nigg 1974,<br />
Barth 1992; vgl. Köpf 1990), denen die protestantischen<br />
Kirchen mit der Einführung<br />
eines dem katholischen sehr ähnlichen<br />
Namenskalenders entgegengekommen<br />
sind. Gleichwohl erscheine den meisten<br />
Protestanten die katholische Heiligenverehrung<br />
weiterhin befremdlich, was Angenendt<br />
(1994: 315) mit Köpf (1990: 320) allerdings<br />
auf ihr anderes Verständnis von<br />
Heiligkeit und ihre „innerlich kühlere [...]<br />
Beziehung zu [ihnen]“ zurückführt (Angenendt<br />
1994: 307–315). Innerhalb der vergangenen<br />
Jahrzehnte ist es zudem zu einer<br />
populären Wiederbelebung der zumindest<br />
vormals der Heiligenverehrung dienenden<br />
Wallfahrten (insbesondere des Jakobswegs)<br />
gekommen, die nur teilweise<br />
religiös bedingt ist (Herbers 2006, Klein<br />
2005). Ebenso erscheinen auch Formen<br />
des Personenkultes, wie sie im Übergang<br />
vom Pontifikat Johannes Paul II. auf Benedikt<br />
XVI. insbesondere unter jungen Katholikenauftraten,<br />
eher mit säkularen Formen<br />
des Personenkultes vergleichbar (vgl.<br />
Feichtlbauer 2005).<br />
Säkularisierung der Heiligenverehrung<br />
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrten<br />
und verallgemeinerten sich schließlich<br />
die Forderungen radikaler Aufklärer, zunächst<br />
aus der Wissenschaft und dann aus<br />
Politik und Gesellschaft, die die „heilige,<br />
alle mitreißende und begeisternde Kraft<br />
der Religion“ (Angenendt 1994: 316) für die<br />
Durchsetzung politischer Ideologien bzw.<br />
allgemein als gesellschaftliche Formationskraft<br />
zur Bewältigung gesellschaftlicher<br />
Leistungen durch Zusammenhalt<br />
nutzen wollten (vgl. etwa Karl Marx), bzw.<br />
im Politischen allgemein die praktische<br />
Fortsetzung des Religiösen sahen (insbesondere<br />
Ludwig Feuerbach): „die Sozialreligion,<br />
die den Sinn des Lebens in der<br />
Herstellung einer neuen Gesellschaft und<br />
eines neuen Menschen sieht“ (Nipperdey<br />
1983: 446, zit. in Angenendt 1994: 316). Dabei<br />
wird die „Autorität des Heiligen sukzessive<br />
durch die Autorität des jeweils für<br />
begründet gehaltenen Konsenses ersetzt“<br />
(Habermas 1988: 118–119, zit. in Angenendt<br />
1994: 320). Ausgehend von der französischen<br />
Revolution setzte sich im 19. Jahrhundert<br />
der Nationalismus als erste „Ersatzreligion“<br />
durch, deren „Ersatzheilige“<br />
die „Helden des Vaterlandes“ waren, denen<br />
in Frankreich etwa im Pantheon als dem<br />
„Tempel des Vaterlandes“ gehuldigt wurde<br />
(Maier 1988: 350). Obwohl zunächst als<br />
gesellschaftliches Phänomen zu betrachten,<br />
waren diese kultischen Formen nicht<br />
gänzlich außerchristlich und keineswegs<br />
anti-religiös, vielmehr wurden – zumal in<br />
Ländern mit Staatskirchen – theologische<br />
Begründungen für die Besonderheit des<br />
Volkes als Schöpfung Gottes oder Verwirklichung<br />
der christlichen Gemeinschaft angeführt<br />
(Angenendt 1994: 316–320).