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292 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143 denkbar, die Anforderungen an akzeptierte und identitätsstiftende zeitgenössische Bauten formulieren. Damit ist noch nicht garantiert, dass diese tatsächlich angenommen werden, doch kann davon ausgegangen werden, dass eine Beachtung der genannten Merkmale einen wesentlichen baukulturellen Beitrag in einer Zeit leistet, in der ganz unabhängig von einer abschließenden Einschätzung der Bedeutung von Rekonstruktionsvorhaben das Bedürfnis nach Identifikation mit und Aneignung der gebauten Umwelt in der Bevölkerung intensiv besteht und das in vielen Fällen auf gut gestaltete und nutzungsbezogen in den Stadtkörper integrierte Neubauten angewiesen ist. 7.21 Typologie zeitgenössischer identitätsstiftender Architektur Die Ausbildung von Identität ist durch einen hohen Grad an Subjektivität gekennzeichnet und kann zu einer individuell differenzierenden Ansprache führen. Alltagserfahrungen, soziale Herkunft, Bildung, Interessen usw. sind von Relevanz oder auch die unter von Bourdieu (1987: 277 ff.) unter dem Begriff Habitus zusammengefasste Gesamtheit von Verhaltensweisen und deren Reproduktion. Sigel (2006: 16) führt ergänzend aus: „Sowohl die erinnerten, die alltäglich erfahrenen und die medial verbreiteten Bilder der Städte einerseits als auch die topischen Zuschreibungen an die Städte andererseits, scheint zusammen zu wirken, wenn es um die Konstruktion urbaner Identitäten geht. […] Die subjektiven ‚mental mappings‘ der Stadtnutzer werden mit Veduten konfrontiert, unter deren Bildmacht erst eine kollektive Zusammenführung der individuellen Stadtbilder möglich zu sein scheint. Diese Regiemacht über Bild und Identitätszuschreibung kann von politischer, wirtschaftlicher und planerischer Seite ausgeübt werden, denkbar sind aber auch subversive mediale Zugriffe.“ Neben individuellen Aspekten fließen von außen herangetragene, produzierte oder historisch gewachsene Bilder und der Topos bei der Identitätsbildung zusammen. Die Bildhaftigkeit ist dabei nicht dauerhaft, sondern individuellen oder gesellschaftlichen Perspektivwechseln, Überlagerungen, Verschiebungen, Veränderungen und Neudefinitionen unterlegen. Die ansonsten eher historischen Gebäude zugeschriebene Ausbildung einer identitätsstiftenden Wirkung innerhalb der Bevölkerung ist auch Gebäuden zeitgenössischer Architektur zuzusprechen. Auffällig ist, dass nicht nur Ästhetik und Gestaltung die Entstehung einer identitätsstiftenden Wirkung fördern, sondern ebenso funktionale, historische, biographische, symbolische und Vermarktungsaspekte sowie die Raumwirkung von Relevanz sind. Dabei ist eine identitätsstiftende Wirkung nicht grundsätzlich über eine breite Abdeckung der Einflussfaktoren zu erzielen. Die Vielschichtigkeit in der Ausbildung und die Möglichkeit der Vielfachbelegung von Gebäuden basieren auf individuellen Vorlieben, Einschätzungen und Bezügen. So treffen Ablehnung, Neutralität und Akzeptanz oftmals in einem Gebäude zusammen. Während einzelne Individuen oder Personengruppen einen persönlichen Zugang aufweisen, unterliegen wiederum andere keinerlei solcher Adressierung. Auffällig ist zudem der zeitliche Horizont des Bestehens, der neben der gleichzeitigen Überlagerung zudem das Auftreten von Neudefinitionen und Verschiebungen in der Bildhaftigkeit eines Gebäudes oder Ortes fördert. Von besonderer Bedeutung bei der Ausbildung von Identität scheint die Nutzung zu sein. Diese geht oftmals mit einer guten Erreichbarkeit einher, gefolgt von einer extravaganten, populären Gestaltung. Bei zeitgenössischen Gebäuden neueren Jahrgangs fallen ferner der Einsatz medialer Inszenierungen und Repräsentationsleistungen auf. Diese werden zur Verstärkung der Präsenz in der Öffentlichkeit eingesetzt und nutzen die Gebäudehülle zur zusätzlichen Produktion einer inszenierten Bildsprache. Die für die Typologie zeitgenössischer identitätsstiftender Architektur untersuchten und aufgeführten Gebäude, Ensembles und Orte sind als Beispiele zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bei der Recherche verwendet wurden u. a. Nerdinger/Tafel (1996), Baisch (2004), Englert/Tietz (2004), Schwarz (2002) sowie die Architekturdatenbank Nextroom. Einen weiteren Baustein der Recherche stellte das Onlinelexikon Wikipedia dar. Die öffentliche
Grundlagen für eine Qualifizierung der Debatten über „Identität durch Rekonstruktion“ 293 Zugänglichkeit und Möglichkeit der Beteiligung und Bereitstellung von Inhalten erlaubt die Identifizierung von Gebäuden, die abseits von Fachkreisen als identitätsstiftend angesehen werden oder zumindest von besonderer öffentlicher Bedeutung sind. Die jeweilige Rückkoppelung zwischen den Informationsquellen und eine fallbezogene vertiefende Recherche dienen der Sicherung der Validität. Entsprechend den vielschichtigen Dimensionen identitätsstiftender Wirkungen ist die überwiegende Zahl der aufgeführten Gebäude oder Orte mehreren Typen zuzuordnen. Zur besseren Übersichtlichkeit hervorgehoben ist in der zusammenfassenden Tabelle, die die typologische Einstufung deutlich macht, die jeweils dominierende oder populäre Wahrnehmung und Belegung. Zur vertiefenden Auseinandersetzung wurden hieraus drei Fallbeispiele ausgewählt, die sich in Erbauungszeitpunkt, Nutzung, Geschichte und Funktion unterscheiden und einer detaillierten Analyse auf ihre identitätsstiftende Wirkung unterzogen. Neben dem Fernsehturm in Berlin zählen dazu der Olympiapark in München und das Hansaviertel in Berlin. Nutzung mit biographischem Bezug Im Zentrum stehen hier funktionale Eigenschaften als Auslöser der Frequentierung. Diese wird durch individuelle Faktoren bestimmt, weshalb die Architektur in den Hintergrund tritt. • Intensive stadtteilbezogene Nutzung: Grundlage der Etablierung ist eine stabile Nutzerschaft, die durch ein oder mehrere schwer definierbare Qualitätsmerkmale angesprochen wird, etwa eine gute Erreichbarkeit, Raum für Nischennutzungen, individuelle Aneignungs- oder Versorgungsmöglichkeiten. Auffällig ist, dass die architektonische Ansprache im Hintergrund steht oder sogar auf Ablehnung trifft. Dementsprechend können Sichtbeton und eine nüchterne Formensprache, unauffällige oder hässliche Gebäude wegen einer speziellen Nutzungsattraktivität und -historie Identifikation stiften. Ein Beispiel ist die Hamburger Großmarkthalle. Die unter Denkmalschutz stehende Spannbetonhalle ist nicht nur den nach Hamburg einfahren den Bahnpassagieren bekannt, sondern fungiert als ein Versorgungszentrum der Stadt. Die Karl-Marx-Allee und das Hansaviertel in Berlin sind Baudenkmale, die unterschiedliche Staats- und Bauideologien repräsentieren und als Symbol der gesellschaftlichen Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg dienten. In der heutigen Wahrnehmung sind sie jedoch primär beliebte Wohngegenden. Als Beispiele, die zwar auch aufgrund der Nutzung wahrgenommen werden, bei denen allerdings andere Merkmale in identitätsstiftenden Wirkungen überwiegen, sind die Grindelhochhäuser in Hamburg, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin und die DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg anzuführen. • Erfolgreiches Kultur-, Veranstaltungsoder Sportzentrum: Wegen herausragender Veranstaltungen oder entsprechender räumlicher Qualitäten (Akustik, Großzügigkeit des Innenraums usw.) werden – sogar ansonsten wenig bedeutsame – Gebäude zu in der breiten Öffentlichkeit bekannten und hoch geschätzten Treffpunkten. Als Leitgebäude in dieser Richtung ist sicherlich das Centre Pompidou in Paris zu benennen. In Deutschland anzuführen sind z. B. das Amphitheater Nordstadtpark in Gelsenkirchen, das Aalto-Theater in Essen, das Schauspielhaus in Bochum und der Olympiapark München. Allesamt bestechen auch durch eine ansprechende Architektur, werden allerdings vielmehr als Veranstaltungsorte kultureller, musikalischer und Sportevents geschätzt und aufgesucht. Weitere Beispiele sind die Bundeskunsthalle (Bonn) und die Allianz Arena (München). • Uniforme Wiedererkennung: Vielfach weisen z. B. Einkaufsstraßen und Einkaufszentren, wie die Porschestraße (Wolfsburg), der Westenhellweg (Dortmund), das Stern-Center (Potsdam) und das Forum Allgäu (Kempten), durch das Vorkommen identischer Ladenketten und wiederkehrende Gestaltungsmuster eine hohe Uniformität auf. Ausgerichtet an „international funktionierenden Maßstäben für Einkaufs- und Freizeitzentren“ (Hauser 2007: 34) werden lokale Eigenheiten augenscheinlich überformt. Diese Orte könnten oftmals an anderer Stelle ebenso ihren Standort finden
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Grundlagen für eine Qualifizierung der Debatten über „Identität durch Rekonstruktion“<br />
293<br />
Zugänglichkeit und Möglichkeit der Beteiligung<br />
und Bereitstellung von Inhalten erlaubt<br />
die Identifizierung von Gebäuden,<br />
die abseits von Fachkreisen als identitätsstiftend<br />
angesehen werden oder zumindest<br />
von besonderer öffentlicher Bedeutung<br />
sind. Die jeweilige Rückkoppelung<br />
zwischen den Informationsquellen und<br />
eine fallbezogene vertiefende Recherche<br />
dienen der Sicherung der Validität.<br />
Entsprechend den vielschichtigen Dimensionen<br />
identitätsstiftender Wirkungen ist<br />
die überwiegende Zahl der aufgeführten<br />
Gebäude oder Orte mehreren Typen zuzuordnen.<br />
Zur besseren Übersichtlichkeit<br />
hervorgehoben ist in der zusammenfassenden<br />
Tabelle, die die typologische Einstufung<br />
deutlich macht, die jeweils dominierende<br />
oder populäre Wahrnehmung<br />
und Belegung.<br />
Zur vertiefenden Auseinandersetzung<br />
wurden hieraus drei Fallbeispiele ausgewählt,<br />
die sich in Erbauungszeitpunkt,<br />
Nutzung, Geschichte und Funktion unterscheiden<br />
und einer detaillierten Analyse<br />
auf ihre identitätsstiftende Wirkung unterzogen.<br />
Neben dem Fernsehturm in Berlin<br />
zählen dazu der Olympiapark in München<br />
und das Hansaviertel in Berlin.<br />
Nutzung mit biographischem Bezug<br />
Im Zentrum stehen hier funktionale Eigenschaften<br />
als Auslöser der Frequentierung.<br />
Diese wird durch individuelle Faktoren<br />
bestimmt, weshalb die Architektur in<br />
den Hintergrund tritt.<br />
• Intensive stadtteilbezogene Nutzung:<br />
Grundlage der Etablierung ist eine stabile<br />
Nutzerschaft, die durch ein oder mehrere<br />
schwer definierbare Qualitätsmerkmale<br />
angesprochen wird, etwa eine gute<br />
Erreichbarkeit, Raum für Nischennutzungen,<br />
individuelle Aneignungs- oder<br />
Versorgungsmöglichkeiten. Auffällig ist,<br />
dass die architektonische Ansprache im<br />
Hintergrund steht oder sogar auf Ablehnung<br />
trifft. Dementsprechend können<br />
Sichtbeton und eine nüchterne Formensprache,<br />
unauffällige oder hässliche Gebäude<br />
wegen einer speziellen Nutzungsattraktivität<br />
und -historie Identifikation<br />
stiften. Ein Beispiel ist die Hamburger<br />
Großmarkthalle. Die unter Denkmalschutz<br />
stehende Spannbetonhalle ist<br />
nicht nur den nach Hamburg einfahren<br />
den Bahnpassagieren bekannt, sondern<br />
fungiert als ein Versorgungszentrum der<br />
Stadt. Die Karl-Marx-Allee und das Hansaviertel<br />
in Berlin sind Baudenkmale, die<br />
unterschiedliche Staats- und Bauideologien<br />
repräsentieren und als Symbol<br />
der gesellschaftlichen Modernisierung<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg dienten. In<br />
der heutigen Wahrnehmung sind sie jedoch<br />
primär beliebte Wohngegenden.<br />
Als Beispiele, die zwar auch aufgrund<br />
der Nutzung wahrgenommen werden,<br />
bei denen allerdings andere Merkmale<br />
in identitätsstiftenden Wirkungen überwiegen,<br />
sind die Grindelhochhäuser in<br />
Hamburg, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche<br />
in Berlin und die DITIB-Merkez-Moschee<br />
in Duisburg anzuführen.<br />
• Erfolgreiches Kultur-, Veranstaltungsoder<br />
Sportzentrum: Wegen herausragender<br />
Veranstaltungen oder entsprechender<br />
räumlicher Qualitäten (Akustik,<br />
Großzügigkeit des Innenraums usw.)<br />
werden – sogar ansonsten wenig bedeutsame<br />
– Gebäude zu in der breiten<br />
Öffentlichkeit bekannten und hoch geschätzten<br />
Treffpunkten. Als Leitgebäude<br />
in dieser Richtung ist sicherlich das<br />
Centre Pompidou in Paris zu benennen.<br />
In Deutschland anzuführen sind z. B.<br />
das Amphitheater Nordstadtpark in Gelsenkirchen,<br />
das Aalto-Theater in Essen,<br />
das Schauspielhaus in Bochum und der<br />
Olympiapark München. Allesamt bestechen<br />
auch durch eine ansprechende Architektur,<br />
werden allerdings vielmehr<br />
als Veranstaltungsorte kultureller, musikalischer<br />
und Sportevents geschätzt und<br />
aufgesucht. Weitere Beispiele sind die<br />
Bundeskunsthalle (Bonn) und die Allianz<br />
Arena (München).<br />
• Uniforme Wiedererkennung: Vielfach<br />
weisen z. B. Einkaufsstraßen und Einkaufszentren,<br />
wie die Porschestraße<br />
(Wolfsburg), der Westenhellweg (Dortmund),<br />
das Stern-Center (Potsdam) und<br />
das Forum Allgäu (Kempten), durch das<br />
Vorkommen identischer Ladenketten<br />
und wiederkehrende Gestaltungsmuster<br />
eine hohe Uniformität auf. Ausgerichtet<br />
an „international funktionierenden<br />
Maßstäben für Einkaufs- und Freizeitzentren“<br />
(Hauser 2007: 34) werden lokale<br />
Eigenheiten augenscheinlich überformt.<br />
Diese Orte könnten oftmals an anderer<br />
Stelle ebenso ihren Standort finden