PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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Fallstudien<br />
147<br />
• die langwierige Aushandlung eines Kompromisses<br />
zwischen zunächst auf die<br />
Durchsetzung eigener, zum Teil sachden<br />
1970er Jahren mittlerweile als recht<br />
unbrauchbar geltende Universitätsgebäude<br />
entstanden waren, bald zu einem von<br />
vielen Themen der Stadt- und Universitätsentwicklung<br />
wurde. Ein Ideenwettbewerb<br />
befasste sich 1994 mit dem Augustusplatz,<br />
zu dem sich die einstige Prunkfassade<br />
der Universität orientierte, 2001/02 folgte<br />
ein Realisierungswettbewerb für die<br />
Umgestaltung und nur teilweise Neubebauung<br />
des Campus – ein Wiederaufbau<br />
wurde jeweils durch die Auslobung ausgeschlossen.<br />
Die Position des so genannten<br />
Paulinervereins verbesserte sich dann jedoch<br />
erheblich: Die Dresdner Frauenkirche<br />
schritt als positives Beispiel voran, die<br />
dortige Landesregierung wechselte und<br />
zwei „Freunde Dresdens“, insbesondere<br />
der Nobelpreisträger Günter Blobel, entdeckten<br />
das Leipziger Vorhaben für sich<br />
und unterstützten den bislang wenig professionellen<br />
Verein mit Rat, Tat und Geld.<br />
Zudem schien die Bevölkerung wenig Gefallen<br />
am modernen, wenngleich Elementen<br />
der Geschichtsvermittlung versehenen<br />
Siegerentwurf zu finden, der zudem<br />
nur einen zweiten Preis erhalten hatte. Anfang<br />
2003 dann scherte die Landesregierung<br />
aus ihrer Vereinbahrung mit der Universität<br />
und dem Bund mit der Stadt aus<br />
und stellte den Wiederaufbau in Aussicht.<br />
Es kam zum Eklat, der Oberbürgermeister<br />
sprach vom „schwarzen Tag“, das Rektorat<br />
trat zurück und die Bevölkerung schien<br />
nun auf ihrer Seite. Unter dem Druck, der<br />
nicht zuletzt auch von der bereits 2009 anstehenden<br />
600-Jahrfeier der Universität<br />
ausging, einigte man sich auf einen neuen<br />
Wettbewerb. Eine Rekonstruktion war<br />
wieder ausgeschlossen, doch deutliche Anlehnung<br />
am Vorkriegsbau nunmehr ausdrücklich<br />
gewünscht. Als die Vereinsvertreterin<br />
in der Jury die Beiträge vor dem<br />
Eintritt in die zweite Wettbewerbsphase<br />
veröffentlichte, kam es zum Volks- und damit<br />
zum Gottesurteil, das schließlich auch<br />
vom Preisgericht besiegelt und von allen –<br />
einschließlich dem mittlerweile zum Vereinsvorsitzenden<br />
gekürten Blobel – bejubelt<br />
wurde. Der Niederländer van Egeraat<br />
schien mit seiner Mischung aus betont<br />
zeitgenössischem Material und Funktionalität<br />
sowie deutlichen Anlehnungen an<br />
Kubatur und gotischem Stil der verlorenen<br />
Kirche einen salomonischen Vorschlag<br />
unterbreitet zu haben. Doch auch dieser<br />
Heilsbringer vermochte trotz aller Flexibilität<br />
nicht, über das Meer der verschiedenen<br />
Ansprüche zu gehen. Neue Konflikte<br />
um Nutzung, Namen und Innenraumgestaltung<br />
wogten hoch und wurden trotz<br />
weiterer Kompromissversuche wesentlich<br />
zu Gunsten der aktuellen Ansprüche der<br />
Universität und gegen den auch hier traditionsorientierten<br />
Paulinerverein entschieden:<br />
Die in der Architektur zur Kathedrale<br />
überhöhte Kirche, sie sollte vor allem Aula<br />
sein.<br />
Dies ist ein mögliches Narrativen, das die<br />
Fallstudie der Leipziger Universitätskirche<br />
St. Pauli – zumeist kurz als Paulinerkirche<br />
bezeichnet – in erster Näherung<br />
beschreiben und den in vielen Punkten<br />
ungewöhnlichen Verlauf erklären kann,<br />
ohne dabei beständig den Vergleich zu einem<br />
– letztlich fiktiven – „Regelfall“ anzustellen<br />
oder dem Vergleich mit den übrigen<br />
untersuchten Fallstudien vorzugreifen.<br />
Andere Erzählstränge, die zum Teil von<br />
Prozessbeteiligten vorgetragen oder der<br />
Sekundärliteratur entnommen, zum Teil<br />
innerhalb der Analyse entstanden sind<br />
und den hoch komplexen Prozess jeweils<br />
ebenfalls nur verkürzt und auf die eine<br />
oder andere Weise wertend wiedergeben<br />
können, aber gleichwohl einbezogen werden<br />
müssen, sind:<br />
• die Geschichte einer fast 600-jährigen<br />
Universität, die sich in einem schwierigen<br />
überaus Umstrukturierungs- und<br />
Wiederaufbauprozess und unter den Voraussetzungen<br />
eines zumindest nationalen<br />
Wettbewerbs zukunftsorientiert neu<br />
positionieren muss und sich dabei plötzlich<br />
lokalen Forderungen nach Aufarbeitung<br />
einer wenig vermarktungsfreundlichen<br />
Vergangenheit gegenübergestellt<br />
sieht;<br />
• ein Teil der Biografie eines genialen Architekten,<br />
dem es von außen kommend<br />
gelingt, trotz einer Fülle vorliegender<br />
Entwürfe und denkbar ungünstiger<br />
Rahmenbedingungen eine gänzlich eigenständige<br />
Interpretation des Ortes zu<br />
entwickeln und damit zugleich die viele<br />
unterschiedliche Vorstellungen zu vereinen<br />
versteht, sich selber aber nicht vor<br />
dem Ruin retten kann;