Titel - Berliner Ärzte
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Tamiflu ® : Auch nach der 14. Grippesaison<br />
sind noch Fragen offen*<br />
Angesichts fehlender Daten kann dem Medikament bestenfalls eine Verkürzung der<br />
Grippesymptomatik um einen Tag zugeschrieben werden<br />
Harlan M. Krumholz, Inhaber der Harold-H.-Hines-Jr.-Professur für Medizin, Yale University School of Medicine, New<br />
Haven, CT 06510, USA, harlan.krumholz@yale.edu • Cynthia A. Jackevicius, Associate Professor, pharmazeutische<br />
Praxis, College of Pharmacy, Western University of Health Sciences, Pomona, CA, USA • Joseph S. Ross, Assistant<br />
Professor, Yale University School of Medicine, New Haven, CT 06510, USA<br />
Inmitten einer überdurchschnittlich schweren Grippesaison<br />
[Anm. der BÄ-Redaktion: ursprüngliches Erscheinungsdatum<br />
des Artikels war Februar 2013] verschreiben <strong>Ärzte</strong> mit steigender<br />
Tendenz Virostatika, insbesondere Oseltamivir (Tamiflu®) Erstmals<br />
zugelassen wurde Oseltamivir, ein oraler Neuraminidasehemmer,<br />
im Jahr 1999 von der US-amerikanischen Food and Drug<br />
Administration (FDA). Gemäß US-Fachinformation ist das Präparat<br />
angezeigt „zur Behandlung einer akuten, unkomplizierten<br />
Erkrankung infolge einer Influenza-Infektion bei Patienten ab einem<br />
Alter von 2 Wo chen, die seit maximal 2 Tagen Symptome zeigen“<br />
und „für die Prophylaxe der Influenza bei Patienten im Alter ab 1<br />
Jahr“. Die in anderen Ländern zugelassenen Anwendungsgebiete<br />
sind ähnlich. Obschon die Indikation damit recht breit gefasst ist,<br />
geht die Anwendungsempfehlung einiger Behörden sogar noch<br />
darüber hinaus. So ist beispielsweise auf der Website des US-amerikanischen<br />
Department of Health and Human Services zu lesen, dass<br />
Oseltamivir unter Umständen schwerwiegende Komplikationen<br />
der Grippe verhindern kann, und die US Centers for Disease Control<br />
and Prevention vermerken auf ihrer Website, dass die frühe antivirale<br />
Therapie möglicherweise das Risiko für Grippekomplikationen<br />
und Tod verringert.1,2 Branchenanalysten gehen allein für dieses<br />
Jahr von einem Anstieg der Oseltamivir-Umsätze auf 562 Millionen<br />
Euro (750 Mio. $; 474 Mio. £) aus.3<br />
Gemessen an der großen Zahl der Betroffenen und der bemerkenswerten<br />
Verkaufszahlen sollte für die Anwendung von Oseltamivir<br />
somit von einer soliden Beweislage ausgegangen werden. Doch<br />
trotz der inzwischen 14. Grippesaison in Folge seit der Erstzulassung<br />
durch die FDA fehlen weiterhin eindeutige Studien zu Oseltamivir<br />
bei unterschiedlichen Patientengruppen und zu verschiedenen<br />
wichtigen Endpunkten. Viel schwerwiegender ist aber noch, dass<br />
die Ergebnisse vieler der erfolgten Studien weiterhin nicht oder nur<br />
teilweise veröffentlicht wurden (www.bmj.com/about-bmj/articleclusters/tamiflu).<br />
Die aktuellste systematische Übersicht der Cochrane Collaboration<br />
zu Neuraminidasehemmern wie unter anderem Oseltamivir bei<br />
gesunden Erwachsenen und Kindern kommt zu dem Schluss, dass<br />
„infolge der Einschränkungen bei Design, Durchführung und<br />
Offenlegung des Studienprogramms die uns vorliegenden Daten<br />
nicht ausreichend detailliert sind, um eine gesicherte Beurteilung<br />
einer möglichen Wirkung von Oseltamivir auf Komplikationen und<br />
Virusübertragung zuzulassen.“ Die Autoren schließen die Analyse<br />
mit dem Hinweis: „Im Studienprogramm zu Oseltamivir stellten wir<br />
ein hohes Risiko für einen Publikations- und Berichtsbias fest.“4<br />
Dabei bezog sich die Analyse auf 25 Studien, von denen 15<br />
Oseltamivir untersucht hatten. Weitere 20 erfasste Studien konnten<br />
nicht in die Analyse eingeschlossen werden, da die verfügbaren<br />
Informationen nicht ausreichten oder die Daten ungeklärte<br />
Unstimmigkeiten aufwiesen. Bemerkenswert ist, dass sich das<br />
Cochrane-Team in dem Bemühen, alle ermittelten Studien einzuschließen,<br />
für die vollständigen Studienberichte auch an den<br />
Hersteller Roche wandte, der mit Ausnahme einer Studie alle<br />
Prüfungen finanziert hatte. Da das Unternehmen dieser Anfrage<br />
aber nicht nachkam, konnten einige der Studien nicht in die systematische<br />
Übersicht aufgenommen werden und auch eine genaue<br />
Überprüfung der Forschungsergebnisse war dadurch unmöglich.<br />
Der fehlende Nutzen hinsichtlich der Hospitalisierungen ist<br />
besonders frappierend, da Oseltamivir von der WHO als unentbehrliches<br />
Medikament geführt wird<br />
Von der Europäischen Arzneimittel-Agentur hingegen erhielten die<br />
Cochrane-Wissenschaftler direkte Informationen; eine umfassende<br />
Analyse der verfügbaren Daten konnte jedoch keinen Nutzen für<br />
Oseltamivir in Bezug auf das Risiko einer Hospitalisierung feststellen.<br />
Zur Beurteilung der Auswirkung auf das Risiko für Grippekompli -<br />
kationen war die Datenlage weiterhin nicht ausreichend. Hat<br />
Oseltamivir also überhaupt eine Wirkung Das Cochrane-Team fand<br />
heraus, dass Oseltamivir gemäß den verfügbaren Daten bei frühzeitiger<br />
Anwendung die Erkrankungsdauer bei Grippe um 21 Stunden<br />
von durchschnittlich fast 7 auf 6 Tage verkürzen kann. Ein eventuelles<br />
Wiederauftreten der Symptome konnte jedoch nicht untersucht<br />
* Übersetzung aus BMJ 2013; 346; f 547<br />
BERLINER ÄRZTE 12/2013 S. 24<br />
B E R L I N E R Ä R Z T E 12/2013 S.24