reisende sommer - republik 2005 dokumentation
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die Sache als "süß" abgehandelt worden. Ich selbst, als begeisterte Zelt- und Lagerfeuerromantikerin,<br />
war denn auch schnell in der Kategorie der verrückten Ludmilla gelandet.<br />
Wir erlebten unser Stück über die Auswanderer in diesem Umfeld persönlich im Hier und<br />
Jetzt nach. "Es ist naß, matschig und öde. Kein Ort, keine Straße! Das halte ich nicht lange<br />
aus!", hörte ich die Jugendlichen öfter sagen, amüsiert über den Inselalltag der Berliner,<br />
Bremer, Nord- bis Süddeutschen, die sich ja auch irgendwie zurecht finden wollten. Ein Satz<br />
aus unserem Spektakel, gesagt von einer Figur aus einer längst vergangenen Zeit an einem<br />
Ort, der Anfang des 19. Jahrhunderts aus sieben kleineren Sänden und Platen bestand, die bei<br />
Hochwasser isoliert waren.<br />
Öde fand ich das ganze aber gar nicht und meine Kids bald auch nicht mehr, denn es gab ja<br />
Musik am Abend, es gab Filmbeiträge, Berliner Freestyle Performances, Kunstprojekte, sehr<br />
gutes reichhaltiges Essen, Schiffsfahrt nach Bremerhaven, Museum, manchmal auch ein<br />
bisschen Zeit neben den Proben, um die Vorträge von anderen Utopisten zu beschnuppern.<br />
Dann unser Auftritt am Samstag endlich! Wir hatten eine wunderschön trockene Wiese bei<br />
Uwe und ein im Halbkreis stehendes großes Publikum. Keine eingegrenzte Bühne, aber wir<br />
wollten uns sowieso in die Menge mischen. Die Spieler kamen in einer Laufparade, chorisch<br />
sprechend auf den Platz und ich stand mit Flo, meinem Schlagzeuger, am Leiterwagen und<br />
ging zitternd in Gedanken meine Flötentöne durch, die ich gleich auf meiner uralt Blockflöte<br />
zum Besten geben sollte – neben einem 19-jährigen Schlagzeugprofi, wohlgemerkt. Gleichzeitig<br />
hing ich mit Adler-Regieaugen auf dem Geschehen und hoffte, daß unsere lange Probenzeit,<br />
vier Monate, jeden Montag, und einem ersten Ausflug auf Harriersand, jetzt zur<br />
Geltung kommen würde.<br />
Die altertümliche Sprache, die wir benutzten, die alten Volkslieder, all das war ein großer<br />
Kampf für die Jugendlichen. Sie kommen überwiegend aus Haupt- und Realschulen und<br />
kennen eine viel kürzere unverblümte Alltagssprache untereinander. Am Anfang unserer<br />
Proben schämten sie sich oft, so geschwollen zu reden. Und auch noch die Trachten am Körper,<br />
nicht mal bauchfrei, geschweige denn cool. Aber Turnschuhe wollten die meisten trotzdem<br />
anbehalten: "Sieht doch keiner! Ich zieh doch keine Ökoschlappen an". Ein Stück mit<br />
vielen Hindernissen für die Akteure schon im Vorfeld, aber auch ein Stück, was alle nochmal<br />
völlig neu forderte.<br />
Ich habe nie so stark erleben dürfen, was allein so eine alte Sprache über die Gesinnung von<br />
Menschen und Zeiten erzählt und aus Menschen von heute machen kann und sie inspirieren<br />
kann. Eine heroische Sprache, direkte Sätze, ohne wenn und aber, eine Sprache, die von Idealismus<br />
und visionärem Gedanken- und Revoluzzertum nur so trotzt. Die Jugendlichen<br />
kannten diese Art der Rede nicht. Rolf Schmidt ein neuzeitlicher Idealist und Visionär war<br />
für sie exotisch. Und auch Peter Roloff und Oliver Behnecke waren in ihren leidenschaftlichen<br />
Vorträgen für die Sache ein Fremdkörper für die Kids. Sie hatten viel zum Staunen,<br />
denn solche großen Worte und Gedanken, mit so einer großen Begeisterung dahinter, hatten<br />
sie, glaube ich, noch nie so eindrucksvoll erlebt. Es ist das, was ich ihnen seit drei Jahren<br />
immer wieder in meiner Theaterarbeit versuche zu vermitteln: "Seit motiviert! Seit begeistert<br />
und neugierig auf der Bühne. Versteckt euch nicht!"<br />
Große Worte bewegen und große Menschen bewegen große Gedanken und schaffen große<br />
Utopien, die zu großen Ereignissen führen können. Auf der Insel, wie im Stück, wimmelte es<br />
von Menschen, die etwas bewegen wollten, trotz herrschender Arbeitslosigkeit, trotz auch<br />
heutiger politischer und wirtschaftlicher Verdrossenheit, trotz Geiz-ist-Geil-Kultur und<br />
Leistungsgesellschaft ohne viel warmer Geselligkeit, trotz Werteverfall und Zukunftsangst,<br />
und was auch immer uns und die „Jugend von Heute“ bewegt.<br />
Für die Jugendlichen war das Stück auch ein kleines Stück Hoffnungsschimmer für eine<br />
noch im Nebel liegende Zukunft und die Insel mit ihren zivilisierten "Hippies" war ein Ort<br />
mit viel Zuversicht und praktizierenden Vorbildern und Mutmachern.<br />
Unser Auftritt verlief hervorragend, alle waren sehr präsent und gaben den alten Sätzen die<br />
nötige Kraft und Lautstärke. Sie machten die Zerissenheit der Menschen von damals zu ihrer<br />
SOMMER - REPUBLIK<br />
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