reisende sommer - republik 2005 dokumentation
reisende sommer - republik 2005 dokumentation
reisende sommer - republik 2005 dokumentation
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wir, das waren zehn Jugendliche aus Lemwerder und Umgebung mit den zwei Theaterpädagogen<br />
Ludmilla Euler, ich, und Rolf Schmidt. Wir, das ist die Theatergruppe SPLASH der<br />
BEGU-lemwerder, die seit über drei Jahren mit mir und dem Musiker Christian Jakober,<br />
moderne Jugendtheaterstücke entwickelt und vor allem vor Schulklassen zur Präsentation<br />
bringt. Die Jugendlichen spielen normalerweise Szenen aus ihrem Alltag, jugendspezifische<br />
Themen wie Gewalt, Sex, Drogen, Medien, Konsumwelt spielen dabei eine große Rolle.<br />
Als ich nach dem letzten Theaterstück "Der KICK" müde in Dieter Seidels Büro trabte,<br />
huschte ein kleiner älterer Mann mit blauer Seemannsmütze auf dem Kopf auf mich zu und<br />
suchte verzweifelt mit glühenden Augen und ergriffenem Herzen nach einer Theaterleiterin<br />
mit Jugendlichen, er hätte ja das Stück leider verpaßt, wegen der Fähre und überhaupt. Dieser<br />
engagierte ältere Herr war Rolf Schmidt, pensionierter Gymnasiallehrer und passionierter<br />
ehemaliger Theaterpädagoge an seiner damaligen Schule. Er überschwemmte mich geradezu<br />
mit seinem visionären Auftrag für mich und die Gruppe. Ein Stück entwickeln, sollte ich, ein<br />
ganz großes Theaterstück, mit Flagge als Bühnenbild und großem Schiff, ein Stück über die<br />
Auswanderer um 1834 für und mit seinem ehemaligen Schüler Peter Roloff, der jetzt mit<br />
Künstler Oliver Behnecke, längst keine Schüler mehr, eine Sommer-Republik auf<br />
Harriersand als Großprojekt vorhatte. Dafür suchte man noch Aktionen, Seminaristen,<br />
Utopisten und Visionäre, die erste Ideen weiterspinnen sollten.<br />
Die Auswanderer, die vier Wochen auf Harriersand warteten und die Zeit absitzen mußten,<br />
warteten auf das Schiff "Medora", das sie in ihre neue Heimat, Amerika bringen sollte. Geplant<br />
war ein neuer demokratischer Staat, weg von der allgegenwärtigen wirtschaftlichen<br />
Not, eine Heimat ohne Enge und Zwänge, ohne Maut und lästiger Bürokratie, ohne Fürsten,<br />
Kleinstaaterei, wo alle gleiche Rechte und Freiheiten genießen sollten.<br />
Der Kongress <strong>2005</strong> auf Harriersand nahm dieses Ereignis als Anlaß über die eigenen<br />
Träume, Bedürfnisse und Zukunftsaussichten nachzudenken. Wo liegt eigentlich unser Land<br />
der Sehnsüchte?<br />
Mit gut 150 Leuten auf der Insel wollte man drei Tage biwakieren und mal schauen, wie das<br />
denn so miteinander geht, was wir miteinander, voneinander leben und lernen wollen. Kurze<br />
Zeit, eigentlich, aber mein Trupp von Jugendlichen erlebte die kurze Zeit in etwa so viel, wie<br />
die Auswanderer in vier Wochen. Wir warteten nicht auf ein Schiff, was uns hier bitte wieder<br />
rausholen sollte, sondern wir warteten auf gutes Wetter, wir warteten auf unseren Startschuß<br />
für unser Theaterspektakel auf offenem Feld.<br />
Nein, ein großes Theaterstück wurde es dann doch nicht. Die Form eines Spektakels war<br />
weniger aufwändig und war vor allem ein passenderes, bewegtes kurzes Eintauchen in die<br />
damalige Zeit und das große "Warten auf Medora". Jeder sollte die Geschichte verstehen<br />
können.<br />
Wir wollten mindestens drei mal an verschiedenen Orten spielen. Das allein war fast nicht<br />
möglich, weil das Wetter uns weder proben noch spielen ließ und wir auch teilweise bei gutem<br />
Wetter warten mußten, daß die "modernen Auswanderer" aus ihren Seminaren und Zukunftswerkstätten<br />
wieder ins Freie pilgerten. Wir probten auf der Wiese von Uwe Möring,<br />
einem Künstler, Musiker und selber ganz und gar inselverwachsener Mensch. Wir bekamen<br />
überall Unterstützung, gutes Essen, Zelte. Viele neugierige Erwachsene mit Kindern waren<br />
dort, aber Jugendliche gab es nur die zehn, so kam es den Jugendlichen selbst zumindest vor.<br />
Hatte ich vorher alle brav angeschrieben und informiert, was man/frau so braucht auf einer<br />
Insel, mußte ich dann letztlich zwei Pullis abdrücken, dicke Socken organisieren, Asthma<br />
Spray war zum Glück vorhanden, Allergietabletten auch! Ja und nicht zu vergessen die<br />
schrecklichen Duschen, da war nämlich auch einmal eine Spinne drin. "Ich geh da nicht<br />
rein", mußte ich mir anhören. Der Boden war nicht trocken und außerdem waren da jeden<br />
morgen so viele andere, womöglich nackte Menschen und das waren ja dann auch gleich<br />
"Hippies", mußte ich erstmal verstehen lernen, weil Haare unter den Achseln.<br />
Uwe Möring war mit seinem alternativen Lebensstil so auch schnell als "Hanf Man" und<br />
Rolf, mein Begleiter durch diese Theaterzeit, war schon längst durch seinen Feuereifer für<br />
SOMMER - REPUBLIK<br />
90