reisende sommer - republik 2005 dokumentation

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DEUTSCHE MUSTERREPUBLIK IN AMERIKA BREMEN UND HARRIERSAND Ende März 1834 kommt Pauls Gruppe in Bremen an. Die Verladung der großen Frachtmengen von 250 Auswanderern auf die „Olbers“ zieht sich über Tage hin; Himmelsfernrohr und Kirchenglocke sollen ja ebenfalls mit. Die Stimmung ist prächtig, der Weg in ein neues Leben ist zum Greifen nahe. Die „Olbers“ ist bereit zum Ablegen. Da trifft in Bremen, aus Amerika zurückkehrend, in letzter Minute die zweiköpfige Arkansas-Kommission ein. Ihr Bericht ist ernüchternd. Arkansas ist völlig ungeeignet. Es fehlt an Ackerland, eine geschlossene Ansiedlung ist unmöglich. Paul und seine Gruppe beschließen die Richtungsänderung nach Missouri, wo bereits viele Deutsche wohnen. Hier nun soll der deutsche Idealstaat entstehen. Die Euphorie der Auswanderer bleibt bestehen. An Bord der „Olbers“ schlägt dann die Stimmung um. Paul Follenius hat eine Kajüte belegt, die meisten anderen hausen im Zwischendeck. Paul erfährt von Kapitän Exner bevorzugte Behandlung, er kann die Beschwerden über schlechtes Essen nicht verstehen. Es kommt zu Verteilungskämpfen um die Milch der Kuh, die zur Versorgung der Kinder mitgenommen wurde. Die Scheidung der Gesellschaft in Vornehme und Geringe wird beklagt, Paul wird als „Aristokrat“ geschmäht. Doch ihn trifft es selber hart, eines seiner Kinder stirbt an Erschöpfung vor der Ankunft in New Orleans. Zurück nach Bremen. Hier versammelt sich in den letzten Apriltagen 1834 die zweite Gruppe unter Friedrich Münchs Führung in gehobener Stimmung. Doch kein Schiff in Sicht. Paul Follenius hatte zuvor mit dem Bremer Schiffsmakler Delius einen Vertrag ausgehandelt, aber für Friedrich Münch keine Abschrift hinterlassen. Die 250 Auswanderer sind in der Hand des Maklers, der nur vage Versprechungen zu bieten hat. Delius hat nämlich selber ein Problem. Er war „Correspondent“ eines kurz vorher in der Bremer Wesermündung verunglückten Auswandererschiffes, der „Shenandoah“, und deshalb verpflichtet, den Überlebenden ihr Passagegeld zurückzuzahlen. Die Brüder Delius haben sogar in den „Bremer Nachrichten“ zu Sach- und Geldspenden aufgerufen, damit die Verunglückten ihre Auswanderung fortsetzen könnten. Für Münchs Auswanderergruppe tut sich darum in Bremen nichts. Die täglichen Kosten sind hoch und die Stadt duldet auch keinen Daueraufenthalt. Nach einer Woche zieht die Gruppe darum auf die nördlich von Bremen und östlich von Brake gelegene Weserinsel Harriersand; damals noch eine von sieben kleinen unbewohnten Sandinseln. Auf Harriersand steht nur ein Kuhstall, eine „Oekonomie“ - das einzige Dach für die Menschen. Die Begeisterung für ihr großes Projekt kippt schnell in Lethargie und kleinlichen Zwist. Die Zeit läuft ihnen davon und damit die Hoffnung auf die lebenswichtige erste Ernte auf amerikanischem Boden noch in diesem Jahr. Den ganzen Monat Mai, vier lange Wochen, harren die 250 Staatengründer auf Harriersand unter freiem Himmel aus. Dann endlich kommt das Ersatzschiff, die amerikanische „Medora“ unter der Führung von Kapitän Griffith. In Bremerhaven schifft sich Münchs Gruppe am 2. Juni 1834 ein. Der Altenburger G.W. Haupt schreibt darüber in einem Brief: „Dieses Mal hatten wir zum ersten Mal die Sonne hellglänzend hinter dem Wasserspiegel der mündenden Weser untergehen sehen. Welch ein herrlicher Anblick! Er erhebt den Geist zu ernsten Betrachtungen, ich erinnerte mich an meine in der Entfernung lebenden Freunde, und eine Thräne der Erinnerung trat mir in das Auge Unsere zwei Violinisten und der Herr Pfarrer Münch mit der Flöte fingen an zu musicieren; er wurden erst einige Lieder gesungen, dann wurde getanzt, wobei sich die Matrosen sehr munter zeigten, und mit unsern Frauen und Mädchen tanzten, worüber sich der Kapitain SOMMER - REPUBLIK 78

DEUTSCHE MUSTERREPUBLIK IN AMERIKA sehr freute. Diese Belustigung dauerte bis spät in die Nacht, es war gegen zwölf Uhr, herrlicher Himmel, und es ließ sich ein schöner Tag erwarten.“ Am folgenden Tag passiert die "Medora" in der Wesermündung das Wrack von Delius’ „Shenandoah“. G.W. Haupt vermerkt in seinem Reisebrief: „Um zwei Uhr kamen wir rechts der Sandbank vorbei, wo am 10ten April das amerikanische Schiff mit 190 Auswanderern gestrandet ist, doch sind die Mehrsten davon gerettet, alles Andere ist aus den Zeitungen genug bekannt geworden. Wir konnten fast mit bloßen Augen erkennen, wie etwa fünf bis sechs Personen bemüht waren, Holz davon loszuhauen, und die auf der Sandbank befindlichen Überreste sich zuzueignen; doch müssen sie die Ebbe gut beobachten, damit die Fluth sie nicht ereilet und sie hinwegschwemmt.“ DIE ANKUNFT Der ersten Gruppe mit Paul Follenius ergeht es nach Ankunft in New Orleans schlecht. Die Weiterfahrt per Dampfschiff auf dem Missisippi mit seinem schwülheißen Klima wird zur Katastrophe. Gelbfieberepidemie, Cholera, über 40 Todesfälle. Wer gesund ist, versucht irgendwie vom Schiff zu kommen. Viele Familien scheren aus Follenius’ Gruppe aus, suchen nun ihr Schicksal auf eigene Faust. Verstärkt wird dies durch Gerüchte, Friedrich Münchs Gruppe sei auf hoher See verunglückt und ertrunken. In Wirklichkeit verläuft die siebenwöchige Atlantiküberquerung von Münchs Gruppe überraschend normal, mit üblicher Seekrankheit und schlechter Schiffskost. Wirklich anstrengend wird es für sie erst nach der Ankunft in Baltimore. Ihr Pferdetrack wälzt sich mühsam über ein Gebirge dem Ohio entgegen. In Wheeling schifft man sich auf einem alterschwachen Dampfboot ein; kaum Platz zum Schlafen, Diarrhoe macht sich breit. Dazu ständiges Ein- und Aussteigen vom Schiff, um es wieder von einer Sandbank zu befreien. Erst in St. Louis erreicht sie die Nachricht von der Undurchführbarkeit des Arkansas-Projekts. Nun schwenkt man um – wie zuvor Follenius’ Gruppe – auf Ansiedlung in Missouri. Am 4. September 1834 sucht eine Abordnung von Friedrich Münchs Reisegruppe Paul Follenius auf seiner Farm auf, die er sich unmittelbar nach seiner Ankunft in St. Charles (Missouri) gekauft hat. Ein Besucher berichtet: „Ungefähr um neun Uhr waren wir bei Follenius angelangt, fanden ihn aber unwohl, doch freute er sich herzlich, dass wir, die ganze Gesellschaft, ohne nur ein Mitglied verloren zu haben, angekommen waren, welches er weniger vermuthet hatte. Wir theilten ihm die Meinung der Andern mit , und Follenius meinte, wenn er mit dem Pfarrer Münch die Rechnung würde verglichen und abgeschlossen haben, wolle er Jedem, was ihm zukäme, mittheilen. Zugleich gab er uns aber den Rath und wünschte, dass wir doch in dieser Gegend bis nach St. Charles zu ankaufen möchten, weil sich im Umkreis von 60 Meilen hier größtentheils Deutsche befänden, und sich hier bald ein förmlicher deutscher Staat bilden werde.“ Pauls Sehnsucht nach diesem förmlichen deutschen Staat erfüllt sich nicht. Statt dessen gibt es jahrelangen Streit um die Aufteilung der Gemeinschaftsgelder. Paul selbst kämpft hart mit seiner Familie ums Überleben. Er ist kein gelernter Landwirt, seine Ernten misslingen. Zehn Jahre nach seiner Ankunft in Amerika und wenige Wochen vor seinem Tod schreibt er nach Deutschland: „Das aber ... ist meine Hoffnung, mag auch hier mich treffen, was da will, denn unter keiner Bedingung möchte ich zurück nach Europa in seinem jetzigen Zustande, trotz aller Eurer vergeblichen Hoffnungen auf gründliche Besserung.“ Paul Follenius stirbt 45-jährig am 3. Oktober 1844 an körperlicher Zerrüttung und dem verschleppten Gelbfieber von der Mississippi-Reise. SOMMER - REPUBLIK 79

DEUTSCHE MUSTERREPUBLIK IN AMERIKA<br />

BREMEN UND HARRIERSAND<br />

Ende März 1834 kommt Pauls Gruppe in Bremen an. Die Verladung der großen<br />

Frachtmengen von 250 Auswanderern auf die „Olbers“ zieht sich über Tage hin;<br />

Himmelsfernrohr und Kirchenglocke sollen ja ebenfalls mit. Die Stimmung ist<br />

prächtig, der Weg in ein neues Leben ist zum Greifen nahe.<br />

Die „Olbers“ ist bereit zum Ablegen. Da trifft in Bremen, aus Amerika<br />

zurückkehrend, in letzter Minute die zweiköpfige Arkansas-Kommission ein. Ihr<br />

Bericht ist ernüchternd. Arkansas ist völlig ungeeignet. Es fehlt an Ackerland, eine<br />

geschlossene Ansiedlung ist unmöglich. Paul und seine Gruppe beschließen die<br />

Richtungsänderung nach Missouri, wo bereits viele Deutsche wohnen. Hier nun<br />

soll der deutsche Idealstaat entstehen. Die Euphorie der Auswanderer bleibt<br />

bestehen.<br />

An Bord der „Olbers“ schlägt dann die Stimmung um. Paul Follenius hat eine<br />

Kajüte belegt, die meisten anderen hausen im Zwischendeck. Paul erfährt von<br />

Kapitän Exner bevorzugte Behandlung, er kann die Beschwerden über schlechtes<br />

Essen nicht verstehen. Es kommt zu Verteilungskämpfen um die Milch der Kuh,<br />

die zur Versorgung der Kinder mitgenommen wurde. Die Scheidung der<br />

Gesellschaft in Vornehme und Geringe wird beklagt, Paul wird als „Aristokrat“<br />

geschmäht. Doch ihn trifft es selber hart, eines seiner Kinder stirbt an Erschöpfung<br />

vor der Ankunft in New Orleans.<br />

Zurück nach Bremen. Hier versammelt sich in den letzten Apriltagen 1834 die<br />

zweite Gruppe unter Friedrich Münchs Führung in gehobener Stimmung. Doch<br />

kein Schiff in Sicht. Paul Follenius hatte zuvor mit dem Bremer Schiffsmakler<br />

Delius einen Vertrag ausgehandelt, aber für Friedrich Münch keine Abschrift<br />

hinterlassen. Die 250 Auswanderer sind in der Hand des Maklers, der nur vage<br />

Versprechungen zu bieten hat. Delius hat nämlich selber ein Problem. Er war<br />

„Correspondent“ eines kurz vorher in der Bremer Wesermündung verunglückten<br />

Auswandererschiffes, der „Shenandoah“, und deshalb verpflichtet, den<br />

Überlebenden ihr Passagegeld zurückzuzahlen. Die Brüder Delius haben sogar in<br />

den „Bremer Nachrichten“ zu Sach- und Geldspenden aufgerufen, damit die<br />

Verunglückten ihre Auswanderung fortsetzen könnten.<br />

Für Münchs Auswanderergruppe tut sich darum in Bremen nichts. Die täglichen<br />

Kosten sind hoch und die Stadt duldet auch keinen Daueraufenthalt. Nach einer<br />

Woche zieht die Gruppe darum auf die nördlich von Bremen und östlich von Brake<br />

gelegene Weserinsel Harriersand; damals noch eine von sieben kleinen unbewohnten<br />

Sandinseln. Auf Harriersand steht nur ein Kuhstall, eine „Oekonomie“ -<br />

das einzige Dach für die Menschen.<br />

Die Begeisterung für ihr großes Projekt kippt schnell in Lethargie und kleinlichen<br />

Zwist. Die Zeit läuft ihnen davon und damit die Hoffnung auf die lebenswichtige<br />

erste Ernte auf amerikanischem Boden noch in diesem Jahr. Den ganzen Monat<br />

Mai, vier lange Wochen, harren die 250 Staatengründer auf Harriersand unter<br />

freiem Himmel aus. Dann endlich kommt das Ersatzschiff, die amerikanische<br />

„Medora“ unter der Führung von Kapitän Griffith.<br />

In Bremerhaven schifft sich Münchs Gruppe am 2. Juni 1834 ein. Der Altenburger<br />

G.W. Haupt schreibt darüber in einem Brief: „Dieses Mal hatten wir zum ersten<br />

Mal die Sonne hellglänzend hinter dem Wasserspiegel der mündenden Weser<br />

untergehen sehen. Welch ein herrlicher Anblick! Er erhebt den Geist zu ernsten<br />

Betrachtungen, ich erinnerte mich an meine in der Entfernung lebenden Freunde,<br />

und eine Thräne der Erinnerung trat mir in das Auge Unsere zwei Violinisten<br />

und der Herr Pfarrer Münch mit der Flöte fingen an zu musicieren; er wurden erst<br />

einige Lieder gesungen, dann wurde getanzt, wobei sich die Matrosen sehr munter<br />

zeigten, und mit unsern Frauen und Mädchen tanzten, worüber sich der Kapitain<br />

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