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reisende sommer - republik 2005 dokumentation

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Europamüde gegen Amerikamüde<br />

Henry Schneider<br />

Die Epoche von 1815 bis 1848 wird Restaurationszeit oder Biedermeier genannt, und das<br />

klingt, als wäre in dieser Ära nichts los gewesen. Ganz im Gegenteil. Es gab ein Knäuel von<br />

Bewegungen und Gegenbewegungen, Aufruhr und Resignation, Attentate und Kerkerhaft.<br />

Viel Dampf unterm Deckel, den die Obrigkeit aber immer wieder festschrauben konnte. Der<br />

Druck machte sich dann notdürftig Luft in oppositionellem Augenzwinkern und heimlichen<br />

Verständigungszeichen, politischem Streit in akademischem Gewand, subversiver Belletristik,<br />

Spottgesängen und Redensarten mit Doppelsinn. Ganz ähnlich war es in der DDR, und wer<br />

etwas Geschichtsbewußtsein hatte, spürte die Parallelen. Bücher und Filme über das Biedermeier<br />

gab es deshalb reichlich, die Verlage durchforsteten die Literatur jener Zeit, um selbst<br />

Unbekanntes wieder aufzulegen. So kam es, daß auch ein verschollener Roman von Ferdinand<br />

Kürnberger erschien: "Der Amerikamüde". Der Titel elektrifizierte mich, denn er war<br />

eine witzige Umkehrung von "Die Europamüden", Ernst Willkomms Tendenzroman. Also die<br />

Gegentendenz, schon deshalb interessant. Es zeigte sich, daß Kürnberger darin die Erlebnisse<br />

von Nikolaus Lenau verarbeitet, mit dem er befreundet war. Lenau hatte sich (europamüde)<br />

nach Amerika begeben, etwas Land gekauft, und entsetzt wieder die Kurve genommen. Lyriker<br />

Lenau hatte nur Roheit und Habgier gesehen, ein "Land ohne Nachtigall". Amerika als<br />

gewaltige Enttäuschung. Das gefiel mir nicht besonders, denn Amerika war auch für mich ein<br />

Ort höherer Bedeutung (heute sieht das natürlich ganz anders aus). Aber es gab – wie fast<br />

immer, und oft penetrant – ein Nachwort zum Roman, als Lesehilfe. Es beschrieb die deutsche<br />

Auswanderung nach Amerika, darunter Pläne von frustrierten Revolutionären, per Massenauswanderung<br />

dort eine eigene Republik zu gründen. Nur wenige Sätze, aber sie umrissen<br />

ein komplettes Drama. Hier hatten Leute den Druck nicht ausgehalten, der Entmündigung<br />

entkommen wollen ohne ihre Ideale aufzugeben. Sie hatten den lähmenden Gedankenzirkel<br />

"Man muß was machen – man kann nichts machen" abgebrochen und sich aufgerafft. Lieber<br />

etwas Aussichtsloses unternehmen als gar nichts. Das schien mir die richtige Botschaft für<br />

DDR-Bürger zu sein. Und weil mir sofort Bilder von geheimen Treffen, von Schiffen und<br />

weitem Land erschienen, war es ein Filmstoff, ganz klar. Das Problem war nur: ich wußte fast<br />

nichts darüber. Aber die Idee, ungefüttert wie sie war, interessierte Dramaturgen der DEFA<br />

doch soweit, daß sie eine Stoff-Recherche finanzierten. Daß über ein unbekanntes Ereignis<br />

vor fast 150 Jahren viel Material zu finden wäre, glaubte ich nicht – doch so unbeachtet war<br />

die Sache seinerzeit gar nicht geblieben. Man sprach und schrieb darüber beiderseits des Atlantik,<br />

und sogar der originale Aufruf der Gießener Gesellschaft war zu finden, in der Uni-<br />

Bibliothek Rostock. Und dann die Beschreibung des wochenlangen "Biwaks" auf der Weserinsel!<br />

Es war genug Stoff da, um ein Drehbuch rund zu machen. Daß dann doch nichts daraus<br />

wurde, hat natürlich mit dem Thema selbst zu tun. Daß es politisch heikel war, wußten alle<br />

Beteiligten, und ein paar Zwischentöne in der Dramaturgenrunde ließen ahnen, daß es viele<br />

Schwierigkeiten geben würde. Aber als dann das Treatment vorlag, wurde es ausschließlich<br />

unter ästhetischem Gesichtspunkt bemängelt und ein ganz anderer Handlungsaufbau für nötig<br />

erklärt. Der Verdacht, daß das Ästhetische nur vorgeschoben war und beim nächsten Versuch<br />

wieder vorgeschoben würde, ließ die Lust zu einer zweiten Fassung allerdings ersterben, das<br />

Treatment blieb liegen. Um fair zu sein: ich kann nicht sagen, wer mehr an die Undurchsetzbarkeit<br />

des Themas glaubte, die DEFA-Dramaturgen oder ich selbst. Sei's drum, die Geschichte<br />

aus der Vergessenheit gezogen zu haben, ist durchaus befriedigend.<br />

SOMMER - REPUBLIK<br />

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