reisende sommer - republik 2005 dokumentation
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taz 23.8.<strong>2005</strong> Die Insel ist reif für die utopische Realität<br />
auch keine Lust, bei Wind und Wetter ihre Mammuts zu erlegen", wirft jemand ein.<br />
Ein grauschnäuziger Herr will daraufhin lieber "die Staatsquote halbieren", also weniger Steuern zahlen.<br />
"Wenn dann alles günstiger ist in meiner neuen Republik, muss man auch keine Schwarzarbeiter mehr<br />
beschäftigen." Ein Zaungast, aus dem gegenüberliegenden Brake mit der Fähre übergesetzt, nickt begeistert<br />
- so schnell werden Utopien mehrheitsfähig.<br />
Die Profis sehen die Sache allerdings skeptischer: "Wenn man sich lange genug damit beschäftigt, wird man<br />
geradezu zum Dystopisten", sagt eine Frau, die das Filmprogramm des Kongresses vorbereitet hat. Ein<br />
Dystopist sei das Gegenteil eines Utopisten. Ihr persönlicher Frust: "Wenn man Filme über's Geldabschaffen<br />
und dergleichen sucht, stellt man fest: So was gibt's gar nicht." Dafür gibt es im Harrier-Sand-Utopia eine<br />
Amtsstube, die "Ballastannahmestelle der Bundes<strong>republik</strong> Deutschland (BuBa)". Korrekt gekleidete<br />
Sachbearbeiter nehmen persönlichen, gesellschaftlichen oder ideologischen Ballast entgegen: "Überlegen<br />
Sie, was Sie im Entwurf Ihres künftigen Lebens nicht mehr vorfinden möchten", sagt Herr Orlac gerade zu<br />
einem noch unentschlossen Utopisten. In der Sammelstelle, wo der dazugehörige Lagerist alle abgegebenen<br />
Objekte akribisch vermisst und fotografisch dokumentiert, finden sich bereits die üblichen Verdächtigen: Eine<br />
Uhr, ein Päckchen Tabak, die Hartz-IV-Broschüre. Dann gibt eine Frau - nach längerer Erörterung mit den<br />
BuBa-Beamten - einen Stein ab. Als Symbol dafür, "dass das Individuelle in der Masse übersehen wird", wie<br />
sie in das beizufügende Formular einträgt.<br />
Warum findet all' das ausgerechnet auf Harrier Sand statt? Weil hier schon mal Utopisten lagerten. 250<br />
Menschen, darunter 30 Jugendliche, die nach Amerika auswandern wollten, aber vergeblich auf ihr Schiff<br />
warteten. Also kampierte die überwiegend aus Hessen stammende Gruppe 1834 für einige Wochen auf der<br />
Insel - bis das Schiff doch noch kam und sie in die "Neue Welt" brachte. Aus der geplanten Gründung einer<br />
freien Republik wurde wegen interner Zwistigkeiten allerdings nichts.<br />
Nichtsdestotrotz beflügelt das historische Beispiel die Gemüter, begeistert werden Spuren gesucht: Etwa die<br />
Reste des alten Kuhstalls, in dem die Ahnen im Geiste biwakierten. Dort kann Genius-loci-trächtig konstatiert<br />
werden: Die historische Herberge der Weltverbesserungswilligen hat sich zum einzigen Biohof der Insel<br />
gemausert.<br />
Außer dem Ökobauern und vereinzelten Künstlern sind die heutigen Harrier-Sand-Bewohner eher<br />
unutopische Leute. Die 700 Insulaner verteilen sich auf ein Dutzend Höfe und 220 rege genutzte<br />
Ferienhäuschen. Dort grüßt der ein oder andere getöpferte Seemann aus dem Vorgarten, eine heimelige<br />
Bank trägt die Inschrift "Sett di eben dool". Allerdings hat man nicht das Gefühl, dieser Aufforderung wirklich<br />
Folge leisten zu sollen. Was halten die Anlieger von der gerade stattfindenden Suche nach der besten aller<br />
Welten? Zunächst mal haben sie ihren eigenen Superlativ: "Wir sind die größte Flussinsel Deutschlands",<br />
sagt ein stämmiger Mann mit stramm sitzendem "Inselfreunde Harrier Sand e.V."-T-Shirt. "Manche mögen ja<br />
Utopien haben. Unser Problem ist: Hier bleibt zu viel Müll liegen." Womit er freilich die Touristen im<br />
Allgemeinen meine, nicht die ordentlichen Wochenend-Utopisten.<br />
Schließlich ist auch die Fraktion der bodenständigen Regional-Utopier vertreten. Zum Beispiel der Mann aus<br />
dem rechts der Weser gelegenen Dörfchen Sandstedt, der endlich seinen "Gezeiten-Lehrpfad" einrichten will.<br />
"Keiner macht mehr was im Ort", also habe er vor drei Jahren mit Freunden eine "Zukunftswerkstatt"<br />
organisiert. Jetzt laufe ein aussichtsreicher Antrag auf Aufnahme ins niedersächsische<br />
"Dorferneuerungsprogramm" - was ja letztlich nur ein anderes Wort für institutionalisierte Utopie ist. Vor allem<br />
eines, das auch Dauerregen aushält.<br />
taz Nord Nr. 7749 vom 23.8.<strong>2005</strong>, Seite 23, 246 TAZ-Bericht Henning Bleyl<br />
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23.08.<strong>2005</strong><br />
SOMMER - REPUBLIK<br />
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