reisende sommer - republik 2005 dokumentation

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14.11.2012 Aufrufe

Das Szenario Basierend auf den beschriebenen inhaltlichen und strukturellen Elementen entstand folgendes Grundszenario: September 2005. Der Standort Deutschland ist nicht mehr zu halten. Nach einer Krisensitzung der EU wird beschlossen, Deutschland zu zerschlagen und die einzelnen Teile an interessierte Staaten zu verkaufen. Für die meisten Bundesländer haben sich inzwischen Investoren gefunden. Nur Sachsen- Anhalt ist noch übrig. Rumänien und eine Inselgruppe im Westpazifik zeigten kurzfristig Interesse, fürchteten dann aber doch die Folgekosten angesichts der hohen Zahl Erwerbsloser. Als Konsequenz wird alles in Sachsen-Anhalt, was sich irgendwie verscherbeln lässt, von Deutschlands Gläubigern demontiert und abtransportiert. Sollte sich bis zum 3. Oktober 2005 - dem dann letzten Tag der deutschen Einheit - kein Investor gefunden haben, wird Sachsen-Anhalt zu einem Staatenlosen-Reservat erklärt und aus der EU ausgeschlossen. Die letzte Möglichkeit, Sachsen-Anhalt zu verlassen, bietet sich vom 22. September bis zum 01. Oktober 2005. In dieser Zeit können sich Ausreisewillige im S-Bahnhof Halle-Neustadt bei einer provisorischen Außenstelle des Auswärtigen Amtes für eine Übernahme in eine der innerdeutschen Kolonien bewerben. Aber die Anzahl der Visa für Wirtschaftsflüchtlinge ist begrenzt. Das Gebäude des S-Bahnhofs Halle-Neustadt wird für dieses Projekt in eine undurchsichtige Behörde verwandelt, die der Zuschauer nach seiner Antragstellung auf eigene Faust durchlaufen muss. Wer ein Visum erhält, wird Sachsen-Anhalt am Ende mit neuen Papieren und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen. Die anderen müssen bleiben. Der inhaltliche Hintergrund Das Konzept orientiert sich inhaltlich an den Forderungen, die an Emigranten bei einem Antrag auf Einreise gestellt werden, beispielsweise Sprachtests, medizinische Untersuchungen und die Feststellung einer Arbeitsbefähigung. Je nach politischer Lage und staatlichen Interessen ändern sich die Bedingungen dafür, wer abgewiesen und wer aufgenommen wird. Die Behörde ist dabei ein Schwellenbereich. Der Antragsteller befindet sich bereits auf dem Boden Deutschlands, gehört aber noch nicht dazu. Er muss versuchen, sich in ein Raster einzupassen, von dem er nicht weiß, wie es konstruiert ist. Dabei ist er nicht nur unverständlichen Gesetzen, sondern auch der Willkür und den persönlichen Vorlieben der Beamten ausgeliefert. Die Behörde entscheidet darüber, wer auf Dauer (oder auch nur befristet und unter Vorbehalt) Teil des Staatswesens wird – zumindest auf dem Papier. Häufig spielen medial verstärkte Klischees bei der Beurteilung einer Flüchtlingsgruppe eine große Rolle. So z.B. bei der Visa-Affäre um Einwanderer aus der Ukraine, die plötzlich alle bestenfalls Schwarzarbeiter und schlimmstenfalls Kriminelle und Prostituierte waren. Wir wollten bei der Konstruktion unseres Szenarios den Spieß umdrehen und einmal Deutsche in die Zwangslage bringen, aus wirtschaftlichen Gründen flüchten und in einer neuen Heimat um Aufnahme bitten zu müssen. Im Auswärtigen Amt sehen sie sich mit undurchsichtigen Abläufen, unberechenbaren Beamten und der Frage konfrontiert: Was lasse ich alles mit mir machen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft? SOMMER - REPUBLIK 116

Die Struktur Ausgehend von eigenen Erfahrungen mit typischen Behördenelementen – Anmeldung, Wartebereiche, verworrene Wege, Zimmersuche, Willkür, Formulare, Hilfe, Hürden etc. – kristallisierte sich sehr schnell die Inszenierungsstruktur eines interaktiven Parcours heraus, in dem der Zuschauer selbst die Rolle des Antragstellers einnimmt. Dabei wird er – ähnlich wie in PC-Adventures – mit Aufgaben konfrontiert, muss Wege und Hindernisse bestreiten, Rätsel lösen, begegnet Helfern und Verhinderern. An dieser Stelle der Konzeptionierung stand die Erkenntnis: Ein herkömmlicher Gang in eine deutsche Behörde ist nichts anderes als ein real gewordenes Computerspiel! Der Ort Das Festival „Internationale Sommerschule 2005“ fand seine Verortung im S-Bahnhof in Halle-Neustadt. Das Gebäude ist ein zweistöckiger, maroder, komplett leerstehender Bahnhofsbau. Skurrilerweise ist jedoch die unterirdisch gelegene Zugstrecke mit ihrem endlos langen Bahnsteig noch in Betrieb. Halle-Neustadt selbst ist eine Trabantenstadt von Halle/Saale. Einst als eigenständige Mustersiedlung hochgezogen, verrotten die zur Hälfte leerstehenden Plattenbauten heute. Mit dem Niedergang der umliegenden Industrie ist die Infrastruktur von Halle-Neustadt zusammengebrochen, die Gegend ist zum sozialen Brennpunkt geworden. Die vorherrschende Endzeitstimmung, die vom beschriebenen Stadtbild ausgeht, kreierte eine durchaus passende Atmosphäre für das von uns entworfene Szenario. SOMMER - REPUBLIK 117

Die Struktur<br />

Ausgehend von eigenen Erfahrungen mit typischen Behördenelementen – Anmeldung, Wartebereiche,<br />

verworrene Wege, Zimmersuche, Willkür, Formulare, Hilfe, Hürden etc. – kristallisierte sich sehr<br />

schnell die Inszenierungsstruktur eines interaktiven Parcours heraus, in dem der Zuschauer selbst die<br />

Rolle des Antragstellers einnimmt. Dabei wird er – ähnlich wie in PC-Adventures – mit Aufgaben konfrontiert,<br />

muss Wege und Hindernisse bestreiten, Rätsel lösen, begegnet Helfern und Verhinderern.<br />

An dieser Stelle der Konzeptionierung stand die Erkenntnis: Ein herkömmlicher Gang in eine deutsche<br />

Behörde ist nichts anderes als ein real gewordenes Computerspiel!<br />

Der Ort<br />

Das Festival „Internationale Sommerschule<br />

<strong>2005</strong>“ fand seine Verortung im S-Bahnhof in<br />

Halle-Neustadt. Das Gebäude ist ein<br />

zweistöckiger, maroder, komplett leerstehender<br />

Bahnhofsbau. Skurrilerweise ist jedoch die<br />

unterirdisch gelegene Zugstrecke mit ihrem<br />

endlos langen Bahnsteig noch in Betrieb.<br />

Halle-Neustadt selbst ist eine Trabantenstadt<br />

von Halle/Saale. Einst als eigenständige Mustersiedlung<br />

hochgezogen, verrotten die zur<br />

Hälfte leerstehenden Plattenbauten heute. Mit dem Niedergang der umliegenden Industrie ist die Infrastruktur<br />

von Halle-Neustadt zusammengebrochen, die Gegend ist zum sozialen Brennpunkt geworden.<br />

Die vorherrschende Endzeitstimmung, die vom beschriebenen Stadtbild ausgeht, kreierte eine<br />

durchaus passende Atmosphäre für das von uns entworfene Szenario.<br />

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