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50MENSCHLICHES Der Veblen-Effekt Thorstein Veblen (1857-1929) Bettmann/Corbis Alan Downing Was macht die Schweizer Uhrenindustrie so erfolgreich Von Uhrenzeitschriften wird man ehrfurchtsvoll zu hören bekommen, es sei das kreative Genie, die Weitsicht und vor allem die Leidenschaft der Markenmanager. Einem schärferen Blick wird auffallen, dass die Hauptstütze der Industrie, die Herstellung von Luxusuhren, im Grunde ein Schweizer Monopol darstellt, und es schwierig ist, keinen Erfolg zu haben, wo die Konkurrenz fehlt. Wirtschaftstheoretiker, und jeder erfolgreiche Markenmanager, wissen zudem, dass der grösste Trumpf dieser Industrie die besondere Beschaffenheit ihres Produktes ist. Die Schweizer Luxusuhr ist nämlich das perfekte Beispiel für ein Veblen- Produkt: eine Ware, die den gängigen wirtschaftlichen Regeln zu Angebot, Nachfrage und Preis trotzt. Bei einem Veblen-Produkt steigt die Nachfrage mit dem Preis und würde bei niedrigem Preis zusammenbrechen. Neoklassische Ökonomen würden sagen, dass sich der Markt irrational verhält – und tatsächlich einen höheren Preis verlangt. Ein solches Verhalten mag irrational sein, doch trifft es mit solcher Zuverlässigkeit ein, dass die Produktemanager darin das eherne Gesetz bei der Vermarktung von Luxusmarken sehen. Die Kunst des erfolgreichen Uhrenmarketings besteht nun darin, das Produkt in jenen Bereich wunderbarer Irrationalität zu befördern, wo der hohe Preis über die Attraktivität entscheidet und die Gewinnmargen beliebig fett sind. Veblen stellt den Luxus bloss. Der Veblen-Effekt ist nach dem brillanten amerikanischen Ökonomen und Querdenker Thorstein Veblen (1857-1929) benannt, dessen bekanntestes Werk «Die Theorie der feinen Leute» von 1899 zur heimlichen Bibel des Luxusmarketings geworden ist*. Heimlich deshalb, weil das Buch subversiv ist. Die Blossstellung der Exzesse von Amerikas Oberschicht im goldenen Zeitalter des Kapitalismus war eine schallende Ohrfeige für Grossindustrielle wie J.P. Morgan, Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller oder Andrew Carnegie. In einer schonungslosen Demontage der psychologischen und soziologischen Motive der Konsumwut beschreibt Veblen eine von der Verschwendung geprägte Welt, die der unseren verblüffend ähnlich ist. Seine Analyse des menschlichen Drangs, mehr auszugeben, als man sich leisten kann, für Dinge, die man nicht braucht, verwandelt die süssen Märchen und glanzvollen Legenden, die das Luxusmarketing auftischt, in eine unappetitliche Erzählung über die Gier. Das Buch schlug bei seinem Erscheinen wie eine Bombe ein. * Thorstein Veblen, «Theorie der feinen Leute», Fischer Taschenbuch Verlag, 2007. 384 Seiten. 50 | watch around Nr. 005 Sommer 2008

50MENSCHLICHES<br />

Der Vebl<strong>en</strong>-Effekt<br />

Thorstein Vebl<strong>en</strong> (1857-1929)<br />

Bettmann/Corbis<br />

Alan Downing<br />

Was macht die Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie so<br />

erfolgreich Von Uhr<strong>en</strong>zeitschrift<strong>en</strong> wird man ehrfurchtsvoll<br />

zu hör<strong>en</strong> bekomm<strong>en</strong>, es sei das kreative<br />

G<strong>en</strong>ie, die Weitsicht und vor allem die<br />

Leid<strong>en</strong>schaft der Mark<strong>en</strong>manager.<br />

Einem schärfer<strong>en</strong> Blick wird auffall<strong>en</strong>, dass die<br />

Hauptstütze der Industrie, die Herstellung von<br />

Luxusuhr<strong>en</strong>, im Grunde ein Schweizer Monopol<br />

darstellt, und es schwierig ist, kein<strong>en</strong> Erfolg zu<br />

hab<strong>en</strong>, wo die Konkurr<strong>en</strong>z fehlt.<br />

Wirtschaftstheoretiker, und jeder erfolgreiche<br />

Mark<strong>en</strong>manager, wiss<strong>en</strong> zudem, dass der grösste<br />

Trumpf dieser Industrie die besondere Beschaff<strong>en</strong>heit<br />

ihres Produktes ist. Die Schweizer Luxusuhr ist<br />

nämlich das perfekte Beispiel für ein Vebl<strong>en</strong>-<br />

Produkt: eine Ware, die d<strong>en</strong> gängig<strong>en</strong> wirtschaftlich<strong>en</strong><br />

Regeln zu Angebot, Nachfrage und Preis trotzt.<br />

Bei einem Vebl<strong>en</strong>-Produkt steigt die Nachfrage mit<br />

dem Preis und würde bei niedrigem Preis zusamm<strong>en</strong>brech<strong>en</strong>.<br />

Neoklassische Ökonom<strong>en</strong> würd<strong>en</strong><br />

sag<strong>en</strong>, dass sich der Markt irrational verhält – und<br />

tatsächlich ein<strong>en</strong> höher<strong>en</strong> Preis verlangt. Ein solches<br />

Verhalt<strong>en</strong> mag irrational sein, doch trifft es mit<br />

solcher Zuverlässigkeit ein, dass die Produktemanager<br />

darin das eherne Gesetz bei der<br />

Vermarktung von Luxusmark<strong>en</strong> seh<strong>en</strong>. Die Kunst<br />

des erfolgreich<strong>en</strong> Uhr<strong>en</strong>marketings besteht nun<br />

darin, das Produkt in j<strong>en</strong><strong>en</strong> Bereich wunderbarer<br />

Irrationalität zu befördern, wo der hohe Preis über<br />

die Attraktivität <strong>en</strong>tscheidet und die Gewinnmarg<strong>en</strong><br />

beliebig fett sind.<br />

Vebl<strong>en</strong> stellt d<strong>en</strong> Luxus bloss. Der Vebl<strong>en</strong>-Effekt<br />

ist nach dem brillant<strong>en</strong> amerikanisch<strong>en</strong> Ökonom<strong>en</strong><br />

und Querd<strong>en</strong>ker Thorstein Vebl<strong>en</strong> (1857-1929)<br />

b<strong>en</strong>annt, dess<strong>en</strong> bekanntestes Werk «Die Theorie<br />

der fein<strong>en</strong> Leute» von 1899 zur heimlich<strong>en</strong> Bibel<br />

des Luxusmarketings geword<strong>en</strong> ist*.<br />

Heimlich deshalb, weil das Buch subversiv ist.<br />

Die Blossstellung der Exzesse von Amerikas<br />

Oberschicht im gold<strong>en</strong><strong>en</strong> Zeitalter des Kapitalismus<br />

war eine schall<strong>en</strong>de Ohrfeige für Grossindustrielle wie<br />

J.P. Morgan, Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller<br />

oder Andrew Carnegie. In einer schonungslos<strong>en</strong><br />

Demontage der psychologisch<strong>en</strong> und soziologisch<strong>en</strong><br />

Motive der Konsumwut beschreibt Vebl<strong>en</strong> eine von<br />

der Verschw<strong>en</strong>dung geprägte Welt, die der unser<strong>en</strong><br />

verblüff<strong>en</strong>d ähnlich ist. Seine Analyse des m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong><br />

Drangs, mehr auszugeb<strong>en</strong>, als man sich leist<strong>en</strong><br />

kann, für Dinge, die man nicht braucht, verwandelt<br />

die süss<strong>en</strong> Märch<strong>en</strong> und glanzvoll<strong>en</strong> Leg<strong>en</strong>d<strong>en</strong>, die<br />

das Luxusmarketing auftischt, in eine unappetitliche<br />

Erzählung über die Gier. Das Buch schlug bei seinem<br />

Erschein<strong>en</strong> wie eine Bombe ein.<br />

* Thorstein Vebl<strong>en</strong>, «Theorie der fein<strong>en</strong> Leute», Fischer Tasch<strong>en</strong>buch<br />

Verlag, 2007. 384 Seit<strong>en</strong>.<br />

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MENSCHLICHESM<br />

Nguy<strong>en</strong>/Fotolia.com – Vic<strong>en</strong>t Cantó/iSotckphoto<br />

Über alles geliebter Luxus: Diamant und Kaviar.<br />

Der Statusdrang. Vebl<strong>en</strong> stellt die These auf, dass<br />

das Wirtschaftsleb<strong>en</strong> von einem mächtig<strong>en</strong> m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong><br />

Antrieb bestimmt wird, der fast eb<strong>en</strong>so<br />

grundleg<strong>en</strong>d ist wie der Selbsterhaltungstrieb. Er<br />

nannte es das «Nachahmungsbedürfnis» – d<strong>en</strong><br />

unersättlich<strong>en</strong> m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong> Geltungsdrang. Es<br />

sei «die stärkste und dauerhafteste der m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong><br />

Antriebskräfte» und seit der Steinzeit fest in<br />

der m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong> Psyche verankert.<br />

Vor Urzeit<strong>en</strong> lebt<strong>en</strong> wir in bedürfnisarm<strong>en</strong> Gemeinschaft<strong>en</strong>,<br />

argum<strong>en</strong>tiert Vebl<strong>en</strong>, und stellt<strong>en</strong> Dinge<br />

zum direkt<strong>en</strong> Gebrauch und aus «reiner Neugier»<br />

her. Die reine Neugier war aber schon der Apfel in<br />

diesem Gart<strong>en</strong> Ed<strong>en</strong>, d<strong>en</strong>n sie führte zu Erfindung<strong>en</strong>,<br />

zu einem Überangebot von Gütern und letztlich zur<br />

Verbannung aus dem Paradies.<br />

Mit einem Überangebot, das man stehl<strong>en</strong> konnte,<br />

trat eine neue Kultur in Erscheinung – der M<strong>en</strong>sch<br />

als Räuber. Sie gipfelte im europäisch<strong>en</strong> oder japanisch<strong>en</strong><br />

Feudalwes<strong>en</strong>, von Vebl<strong>en</strong> das Zeitalter der<br />

«höher<strong>en</strong> Barbarei» g<strong>en</strong>annt, in dem Tüchtigkeit<br />

bei der Jagd und im Kampf und Pot<strong>en</strong>z am meist<strong>en</strong><br />

galt<strong>en</strong>, währ<strong>en</strong>d nützliche Arbeit zum Zeich<strong>en</strong> der<br />

Unterleg<strong>en</strong>heit wurde.<br />

Wie man zur Oberschicht gehört. «Um bei d<strong>en</strong><br />

M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong> Anseh<strong>en</strong> zu erlang<strong>en</strong> und zu behalt<strong>en</strong>,<br />

g<strong>en</strong>ügt es nicht, Reichtum oder Macht einfach zu<br />

besitz<strong>en</strong>. Der Reichtum oder die Macht müss<strong>en</strong><br />

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MENSCHLICHESM<br />

zur Schau gestellt werd<strong>en</strong>, erst dadurch gelangt<br />

man zu Anseh<strong>en</strong>», erklärt Vebl<strong>en</strong>.<br />

Und damit von Feindesschädeln auf Stammestotems<br />

und prunk<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Wapp<strong>en</strong> zu d<strong>en</strong> zivilisierter<strong>en</strong><br />

Zeit<strong>en</strong>, in d<strong>en</strong><strong>en</strong> Vebl<strong>en</strong> vor einem Jahrhundert<br />

sein Buch schrieb. In dieser Epoche des ungezügelt<strong>en</strong><br />

Kapitalismus war der Räuber immer noch<br />

da; demonstrativer Konsum zeugte von gelung<strong>en</strong><strong>en</strong><br />

Gaunerei<strong>en</strong>, und der « neidvolle Vergleich »<br />

(die Taxierung von Einzeln<strong>en</strong> nach ihrem Wert)<br />

tr<strong>en</strong>nte stärker d<strong>en</strong>n je zwisch<strong>en</strong> noblem Nichtstun<br />

und vulgärer gewerbsmässiger Betätigung.<br />

Vebl<strong>en</strong> zeigt zwei klassische Möglichkeit<strong>en</strong> auf,<br />

zur Oberschicht seiner – und unserer – Zeit zu<br />

gehör<strong>en</strong>: demonstrative Musse und demonstrativ<strong>en</strong><br />

Konsum. Die Oberschicht « erhebt die<br />

Gewohnheit, vollkomm<strong>en</strong> nutzlos zu sein, zum ultimativ<strong>en</strong><br />

Leb<strong>en</strong>szweck», erklärt Vebl<strong>en</strong>. Je nützlicher<br />

man sich betätigt, desto mehr Sozialprestige<br />

verspielt man, und gleichzeitig wird der unproduktive<br />

Konsum von Gütern salonfähig und zur<br />

Voraussetzung m<strong>en</strong>schlicher Würde: «Jeder Kauf,<br />

der zum Anseh<strong>en</strong> des Konsum<strong>en</strong>t<strong>en</strong> beiträgt,<br />

muss etwas Überflüssigem gelt<strong>en</strong>… Um achtbar<br />

zu sein, muss er verschw<strong>en</strong>derisch sein… Mit dem<br />

Konsum des rein Leb<strong>en</strong>snotw<strong>en</strong>dig<strong>en</strong> ist kein<br />

Staat zu mach<strong>en</strong>.»<br />

Vebl<strong>en</strong>s Konsumlogik gilt für alle: «Keine Gesellschaftsschicht,<br />

nicht einmal die Allerärmst<strong>en</strong>, verzichtet<br />

ganz auf die Gewohnheit des demonstrativ<strong>en</strong><br />

Konsums.»<br />

Die wundersame Ankunft des Quarzes. Vor dem<br />

Hintergrund von Vebl<strong>en</strong>s Wirtschaftstheorie war<br />

die elektronische Revolution der siebziger Jahre,<br />

die Quarzuhr<strong>en</strong> für alle und der mechanisch<strong>en</strong><br />

Uhrmacherei fast d<strong>en</strong> Untergang brachte, das<br />

Beste, was der Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie passier<strong>en</strong><br />

konnte. Die funktionell unterleg<strong>en</strong>e mechanische<br />

Uhr hatte nur noch Symbolwert und wurde<br />

zum Luxus – worauf ihr materieller Wert in die<br />

Höhe schoss. Der Preis der elektronisch<strong>en</strong><br />

Innovation tauchte hingeg<strong>en</strong> und wurde zur geringgeschätzt<strong>en</strong>,<br />

industriell produziert<strong>en</strong> Mass<strong>en</strong>ware.<br />

Nach Vebl<strong>en</strong> ist « Fortschritt ein Phänom<strong>en</strong> der<br />

unter<strong>en</strong> Schicht<strong>en</strong> und deshalb vulgär.»<br />

Es ist fast schon unheimlich, wie gut die heutige<br />

Luxusuhr Vebl<strong>en</strong>s Thes<strong>en</strong> aus dem spät<strong>en</strong><br />

19. Jahrhundert illustriert. Je w<strong>en</strong>iger nützlich und<br />

modern eine Komplikation ist, desto teurer ist sie<br />

zwangsläufig: die Minut<strong>en</strong>repetition, überflüssig bei<br />

dem heute omnipräs<strong>en</strong>t<strong>en</strong> Licht, und das Tourbillon,<br />

bei einer Armbanduhr nutzlos.<br />

Auch mit ihrem transpar<strong>en</strong>t<strong>en</strong> Gehäusebod<strong>en</strong> seit<br />

d<strong>en</strong> 1980er Jahr<strong>en</strong> veranschaulicht die Luxusuhr<br />

eine These von Vebl<strong>en</strong>: «dass nämlich sichtbar<br />

viel Aufwand betrieb<strong>en</strong> word<strong>en</strong> ist, was d<strong>en</strong> hoh<strong>en</strong><br />

Preis rechtfertig<strong>en</strong> soll.»<br />

Von nobler Nutzlosigkeit ist in der Werbung für<br />

Luxusuhr<strong>en</strong> vielleicht w<strong>en</strong>iger die Rede, aber von<br />

Handarbeit unbedingt, d<strong>en</strong>n so kann man sich der<br />

viel<strong>en</strong> Zeit rühm<strong>en</strong>, die an eb<strong>en</strong>so kunstvolle wie<br />

überflüssige Veredelung<strong>en</strong> verschw<strong>en</strong>det wurde:<br />

«Die Ehr<strong>en</strong>zeich<strong>en</strong> der Handarbeit sind gewisse<br />

Unvollkomm<strong>en</strong>heit<strong>en</strong> und Unregelmässigkeit<strong>en</strong><br />

bei der Ausführung des Designs…»<br />

Dafür braucht es aber ein<strong>en</strong> geschult<strong>en</strong> Blick :<br />

« Die Würdigung der nobl<strong>en</strong> Unvollkomm<strong>en</strong>heit,<br />

der handgemachte Güter in d<strong>en</strong> Aug<strong>en</strong> kultivierter<br />

Leute ihr<strong>en</strong> unnachahmlich<strong>en</strong> Wert und Charme<br />

verdank<strong>en</strong>, ist eine Sache des Urteilsvermög<strong>en</strong>s.<br />

Es braucht Übung dazu und die Entwicklung der<br />

richtig<strong>en</strong> D<strong>en</strong>kweise. Maschinelle Produkte werd<strong>en</strong><br />

hingeg<strong>en</strong> gerade weg<strong>en</strong> ihrer ausgesproch<strong>en</strong><strong>en</strong><br />

Perfektion von der unkultiviert<strong>en</strong> Masse bewundert<br />

und vorgezog<strong>en</strong>, der an d<strong>en</strong> Finess<strong>en</strong> elegant<strong>en</strong><br />

Konsums w<strong>en</strong>ig liegt.»<br />

Die Manipulation des Geschmacks. In Sach<strong>en</strong><br />

Urteilsvermög<strong>en</strong> beschreibt Vebl<strong>en</strong>, wie der Kult<br />

der fein<strong>en</strong> Leute unser<strong>en</strong> Geschmack und d<strong>en</strong><br />

Sinn dafür, was schön und edel ist, prägt. « Ein<br />

Artikel, der dem nobl<strong>en</strong> Zweck des demonstrativ<strong>en</strong><br />

Konsums di<strong>en</strong>t», erklärt er, «ist gleichzeitig auch<br />

ein schönes Objekt.» Geschmack ist nach Vebl<strong>en</strong><br />

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Lubnevskiy/Fotolia.com


ENSCHLICHESMEN<br />

Patek Philippe Museum<br />

definiert als «unser Sinn für Kostbares, der sich als<br />

Sinn für das Schöne ausgibt.»<br />

Das erklärt, warum die diesjährige Mode schön<br />

und die letztjährige, obwohl doch auch einmal<br />

schön, inzwisch<strong>en</strong> hässlich ist. Modisch zu sein ist<br />

edel, weil man dadurch so praktisch und effizi<strong>en</strong>t<br />

auffall<strong>en</strong>d konsumier<strong>en</strong> kann.<br />

Vebl<strong>en</strong>s ästhetische Regeln lass<strong>en</strong> sich mit verblüff<strong>en</strong>der<br />

prophetischer G<strong>en</strong>auigkeit auf die heutige<br />

Luxusuhr anw<strong>en</strong>d<strong>en</strong> : « Güter, die Anspruch<br />

auf Schönheit erheb<strong>en</strong> und als schöne Objekte<br />

di<strong>en</strong><strong>en</strong>, sind von beträchtlicher Raffinesse und soll<strong>en</strong><br />

d<strong>en</strong> Betrachter in Staun<strong>en</strong> versetz<strong>en</strong> – ihn mit<br />

Neb<strong>en</strong>sächlichkeit<strong>en</strong> und Raun<strong>en</strong> von G<strong>en</strong>ialität<br />

beeindruck<strong>en</strong> – und zugleich davon zeug<strong>en</strong>, dass<br />

für sie viel mehr Arbeit aufgew<strong>en</strong>det wurde, als für<br />

ihr<strong>en</strong> off<strong>en</strong>sichtlich<strong>en</strong> ökonomisch<strong>en</strong> Zweck nötig<br />

gewes<strong>en</strong> wäre.»<br />

In seinem prämiert<strong>en</strong> Aufsatz «Verschw<strong>en</strong>dung ist<br />

gut» von 1999 argum<strong>en</strong>tiert der Evolutionspsychologe<br />

Geoffrey Miller, dass Versuche, die Konsumwut<br />

einzudämm<strong>en</strong>, selbstzerstörerisch sein könnt<strong>en</strong>:<br />

«Sollte ein Staat beschliess<strong>en</strong>, d<strong>en</strong> demonstrativ<strong>en</strong><br />

Konsum auszurott<strong>en</strong>, würd<strong>en</strong> die Leute vielleicht<br />

bloss jünger heirat<strong>en</strong> und mehr Nachwuchs<br />

produzier<strong>en</strong>. Würd<strong>en</strong> wir d<strong>en</strong> demonstrativ<strong>en</strong><br />

Konsum abschaff<strong>en</strong>…, würde damit auch das, was<br />

wir als kulturelle Errung<strong>en</strong>schaft<strong>en</strong> betracht<strong>en</strong>,<br />

grösst<strong>en</strong>teils zerstört. Die evolutionäre Uhr würde<br />

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MENSCHLICHESM<br />

Les Cœurs – « chinesisches » Uhr<strong>en</strong>paar als Herzanhänger<br />

mit Viertelstund<strong>en</strong>repetition. Figur<strong>en</strong> und<br />

Musik könn<strong>en</strong> stündlich oder nach Belieb<strong>en</strong> in Gang<br />

gesetzt werd<strong>en</strong> – Piguet& Meylan, G<strong>en</strong>f – Emaillierung<br />

wohl von Jean-Abraham Lissignol, G<strong>en</strong>f – um 1820.<br />

ein paar Million<strong>en</strong> Jahre zurückgedreht beim<br />

Versuch, wieder wie ein Australopithecus zu leb<strong>en</strong>:<br />

als Primat<strong>en</strong> mit kleinem Hirn, tödlich gelangweilt<br />

und belagert von Babies.»<br />

Heute sind Vebl<strong>en</strong>s Vorstellung<strong>en</strong> von einer<br />

Wirtschaft, die m<strong>en</strong>schlich<strong>en</strong> Urtrieb<strong>en</strong> und verborg<strong>en</strong><strong>en</strong><br />

Impuls<strong>en</strong> gehorcht, wieder populär als<br />

Reaktion auf neoklassische Wirtschaftstheori<strong>en</strong>,<br />

die dazu neig<strong>en</strong>, das rationale Marktverhalt<strong>en</strong> auf<br />

mathematische Formeln zu reduzier<strong>en</strong>.<br />

Ein Ende der demonstrativ<strong>en</strong> Verschw<strong>en</strong>dung in<br />

Sicht Nach Vebl<strong>en</strong> ist die Konsumlust nicht auszurott<strong>en</strong>,<br />

und es gibt ständig neue Oberschicht<strong>en</strong>. Im<br />

Geg<strong>en</strong>satz zu d<strong>en</strong> Marxist<strong>en</strong> seiner Zeit glaubte er<br />

nicht daran, dass die Arbeiter uns stürz<strong>en</strong> woll<strong>en</strong>;<br />

er wusste, dass sie bloss so sein woll<strong>en</strong> wie wir.<br />

Für wie nobel und selbstlos wir unsere Ideale auch<br />

halt<strong>en</strong> mög<strong>en</strong>, wiss<strong>en</strong> wir doch, dass auch wir allfällig<strong>en</strong><br />

Reichtum und Musse aus Prestiged<strong>en</strong>k<strong>en</strong><br />

zur Schau stell<strong>en</strong> würd<strong>en</strong>. Schon Adam Smith, der<br />

Vater der modern<strong>en</strong> Wirtschaftslehre, bemerkte ein<br />

Jahrhundert vor Vebl<strong>en</strong>: «Bei d<strong>en</strong> meist<strong>en</strong> reich<strong>en</strong><br />

Leut<strong>en</strong> di<strong>en</strong>t der Reichtum vor allem dazu, ihn vorzuzeig<strong>en</strong>.»<br />

(Der Wohlstand der Nation<strong>en</strong>, 1776)<br />

Vebl<strong>en</strong>s Einfluss auf die Uhr<strong>en</strong>industrie.<br />

Vebl<strong>en</strong>s rationale Erklärung der irrational<strong>en</strong><br />

Antriebe unser Konsumwirtschaft fand erstmals<br />

Anfang der 1990er Jahre dank Doz<strong>en</strong>t<strong>en</strong> wie<br />

Professor Michel Gutsatz, der an der ESSEC<br />

Business School ein Master’s Programm für<br />

Internationales Luxusmanagem<strong>en</strong>t leitete, Eingang<br />

in die Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie. Er wurde Berater<br />

der Richemont Gruppe, nachdem der südafrikanische<br />

Industrielle Johann Rupert das dem Tabak<br />

vergleichbare Suchtpot<strong>en</strong>tial des Luxus <strong>en</strong>tdeckt<br />

und das Unternehm<strong>en</strong> übernomm<strong>en</strong> hatte. Gutsatz<br />

ist überzeugt, dass die Mark<strong>en</strong>manager von morg<strong>en</strong><br />

nicht an der «Theorie der fein<strong>en</strong> Leute» vorbeikomm<strong>en</strong><br />

werd<strong>en</strong>. « Erfolgreiche Mark<strong>en</strong> erfüll<strong>en</strong><br />

die symbolisch<strong>en</strong> Bedürfnisse der Konsum<strong>en</strong>t<strong>en</strong>,<br />

und ihr stärkstes Bedürfnis ist immer noch das<br />

nach Prestige», sagt er.<br />

Als überzeugte Vebl<strong>en</strong>-Schüler übertrug<strong>en</strong> Alain<br />

Dominique Perrin und Franco Cologni, die erfolgreichst<strong>en</strong><br />

Unternehmer der Gruppe, seine Theorie<br />

auf Cartier und bracht<strong>en</strong> ein ökonomisches<br />

Wunder zustande: Luxus für die Masse.<br />

Heute ist es verblüff<strong>en</strong>d, in welchem Mass die<br />

Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie Vebl<strong>en</strong>s ökonomische<br />

Ansicht<strong>en</strong> bestätigt. Als Uhr<strong>en</strong> bloss nützlich war<strong>en</strong>,<br />

hatt<strong>en</strong> Uhrmacher ungefähr so viel Glamour wie<br />

Klempner. Aber seit sie zweckfrei und hingebungsvoll<br />

Kant<strong>en</strong> anglier<strong>en</strong> und Tourbillons adjustier<strong>en</strong>,<br />

ist ihr Metier geadelt word<strong>en</strong>.<br />

Die am teuerst<strong>en</strong> gehandelt<strong>en</strong> Uhr<strong>en</strong> sind so hoffnungslos<br />

kompliziert, dass sie womöglich gar nicht<br />

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ENSCHLICHESMEN<br />

funktionier<strong>en</strong>, was ihr<strong>en</strong> Wert noch steigern<br />

müsste, weil sie ja dann völlig unnütz wär<strong>en</strong>.<br />

Es gibt ein Prestigegefälle zwisch<strong>en</strong> der Marke<br />

einerseits und dem anonym<strong>en</strong> Fournisseur andererseits,<br />

und die Mark<strong>en</strong> tun alles, um sich vom Odium<br />

der industriell<strong>en</strong> Produktion zu distanzier<strong>en</strong>. Alles<br />

stammt in str<strong>en</strong>g limitierter Auflage aus der Hand<br />

von Meistern ihres Fachs, die natürlich in einer<br />

Manufaktur tätig sind und nicht in einer Fabrik.<br />

Die Manager leg<strong>en</strong> Wert darauf, an berühmt<strong>en</strong><br />

Ort<strong>en</strong> mit Berühmtheit<strong>en</strong> fotografiert zu werd<strong>en</strong>, die<br />

durch ihr<strong>en</strong> unbekümmert<strong>en</strong> Konsum oder mit ihrem<br />

stilvoll ausschweif<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Leb<strong>en</strong>swandel auffall<strong>en</strong>.<br />

Die Lektion aus dem Jahr 1932. Als echtes<br />

Vebl<strong>en</strong>-Produkt schraubt die Schweizer Luxusuhr<br />

ihre Attraktivität mit dem Preis in die Höhe und ist<br />

eine wahre Geldmaschine. Allerdings kann ein solches<br />

Wunder nur von Dauer sein, w<strong>en</strong>n es ein<strong>en</strong><br />

Kons<strong>en</strong>s über d<strong>en</strong> Preis und das Angebot gibt – ein<br />

Kartell. Ohne Kartell hätt<strong>en</strong> Diamant<strong>en</strong> kein<strong>en</strong><br />

Wert, und Luxusuhr<strong>en</strong> auch nicht.<br />

Die Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie hat ihre Lehr<strong>en</strong> gezog<strong>en</strong><br />

aus der Gross<strong>en</strong> Depression der früh<strong>en</strong><br />

1930er Jahre, als sie sich in einer Abwärtsspirale<br />

von Preisdumping, Entlassung von 40000 Arbeitern<br />

und Verschleuderung von Inv<strong>en</strong>tar, Anlag<strong>en</strong> und<br />

Technologie ins Ausland beinahe selbst zerstörte.<br />

Dieses Ereignis brannte sich im Gedächtnis der<br />

Uhr<strong>en</strong>industrie und der gesamt<strong>en</strong> Schweizer<br />

Wirtschaft tief ein: «Nie mehr ein Wettbewerb über<br />

d<strong>en</strong> Preis. Verkauft sich dein Produkt nicht, dann<br />

s<strong>en</strong>ke d<strong>en</strong> Preis nicht, sondern verdopple ihn.»<br />

Das Schweizer Uhr<strong>en</strong>kartell, das 1932 d<strong>en</strong><br />

Niedergang aufhalt<strong>en</strong> sollte, liess sich bis 1976<br />

vom Statut horloger leit<strong>en</strong>. Seitdem ist die<br />

Uhr<strong>en</strong>industrie «zur Wahrung der gemeinsam<strong>en</strong><br />

Interess<strong>en</strong>» in der Fédération horlogère zusamm<strong>en</strong>geschloss<strong>en</strong>,<br />

die 95% der Branche vertritt.<br />

Die Schweizer Uhr<strong>en</strong>industrie scheint demnach<br />

auf einem solid<strong>en</strong> Fundam<strong>en</strong>t zu steh<strong>en</strong> : Das<br />

Produkt mit Suchtpot<strong>en</strong>tial, das Monopol und die<br />

Verschonung vom Preiskampf garantier<strong>en</strong> im<br />

Wes<strong>en</strong>tlich<strong>en</strong> ihr<strong>en</strong> Erfolg, unabhängig davon, wie<br />

kreativ die Mark<strong>en</strong>verantwortlich<strong>en</strong> sind.<br />

Und es könnte noch besser komm<strong>en</strong>. Überall in<br />

der globalisiert<strong>en</strong> Wirtschaft tauch<strong>en</strong> von Russland<br />

bis Kasachstan, von China und Mexiko bis zu<br />

Indi<strong>en</strong> erstklassige neureiche Konsum<strong>en</strong>t<strong>en</strong> auf.<br />

Die Distribution liegt weitgeh<strong>en</strong>d in d<strong>en</strong> Händ<strong>en</strong><br />

von mächtig<strong>en</strong> Unternehm<strong>en</strong>sgrupp<strong>en</strong>, die ihre<br />

Gewinne abgesichert hab<strong>en</strong>. Und als freundliches<br />

Symbol der heutzutage w<strong>en</strong>iger aggressiv<strong>en</strong><br />

Werte der Oberschicht kommt die Luxusuhr auch<br />

von Umwelt- und M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong>rechtsaktivist<strong>en</strong> nicht<br />

unter Druck.<br />

Zudem hat die Uhr, die man mit d<strong>en</strong> gross<strong>en</strong><br />

Epoch<strong>en</strong> unserer Zivilisation wie R<strong>en</strong>aissance,<br />

Aufklärung, Zeitalter der Entdeckung<strong>en</strong> und<br />

Industrielle Revolution in Verbindung bringt, ein <strong>en</strong>ormes<br />

kulturelles Prestige. Der Besitz einer Uhr kündet<br />

vom M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong> als Mass aller Dinge: der Zeit, der<br />

Kunst… und selbst der Wirtschaft. Und so ist die<br />

Luxusuhr nicht nur ein Symbol der Überleg<strong>en</strong>heit,<br />

sondern man kann an ihr, w<strong>en</strong>n man sich darauf versteht,<br />

sogar die Werte der Epoche exakt ables<strong>en</strong>. •<br />

Patek Philippe Museum<br />

Pistol<strong>en</strong>uhr mit Singvogel<br />

Objektuhr in Form einer zweiläufig<strong>en</strong> Steinschlosspistole<br />

für d<strong>en</strong> chinesisch<strong>en</strong> Markt – Werk No 236, gestempelt<br />

«F R» – Frères Rochat (ca. zwisch<strong>en</strong> 1800 und 1835<br />

tätig) – G<strong>en</strong>f, um 1815 – Gold, Email, Perl<strong>en</strong>, Achat – Inv.<br />

S-107.<br />

55<br />

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