Theoretische und erkenntnistheoretische Konsequenzen ...

Theoretische und erkenntnistheoretische Konsequenzen ... Theoretische und erkenntnistheoretische Konsequenzen ...

inef.uni.duisburg.de
von inef.uni.duisburg.de Mehr von diesem Publisher
21.01.2015 Aufrufe

6 Systems möglicherweise wirklich um keine materielle, sondern eine soziale (Un-) Ordnung handeln könnte. Über diesen Verdacht entstand die Annäherung der Internationalen Beziehungen an die Soziologie (vgl. Ruggie 1998a: 856), denn dort gab es eine Vielzahl von Theorien, die sich mit dem Zustandekommen und dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen beschäftigten. Für die amerikanische IB war diese sozialwissenschaftliche Herangehensweise so überraschend und neu, dass in der Selbstbeobachtung von einem „sociological turn“ (Katzenstein et al. 1998: 675) die Rede ist. 4 Alexander Wendt verwies schon in seinem 1987er Aufsatz auf Giddens’ Strukturierungstheorie, in der sich Akteure und Strukturen gegenseitig konstituieren (vgl. Wendt 1987; Giddens 1984), und 1992 dann auch explizit auf den Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann (1980), auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Wendt 1992: Anm. 23). Dabei sind jedoch für Wendt (1992, 1999) die Staaten die Akteure und die internationale Politik sowie deren „Ordnung“ gewissermaßen die „Gesellschaft“. Die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ heißt für ihn, dass Staaten die Konstrukteure jener Wirklichkeit sind, in der sie interagieren und kommunizieren – also der internationalen Politik und ihrer Strukturen (Wendt 1999: Ch. 4 & 6; ähnlich Zangl 1999: 47f). Danach kann die internationale Politik nicht mehr wie ein ewiges Schachspiel funktionieren, in dem die Regeln und Rollen Naturgesetzen gleich fortexistieren, wie der IB-Materialismus sich das gedacht hatte. Offenbar können, wie etwa die sich auflösende Sowjetunion uns das gezeigt hat, Akteure die Regeln verändern, sich vielleicht sogar ganz neue ausdenken – um in der Schach-Metapher zu bleiben: das Schachbrett zukünftig zum Dame-Spiel verwenden. Ein entscheidendes Kennzeichen von Wendts (1999) „Social Theory of International Politics“ ist seine essentialistische Konzeptualisierung des Staates, dem er personale Qualitäten zuschreibt: „States are people too“ (Wendt 1999: 215). 5 Er grenzt sich vom 4 5 Damit einher geht natürlich auch eine Renaissance entsprechender IB-Ansätze der 1950er und 1960er Jahre, z.B. der vermehrte Bezug auf Karl W. Deutsch: „It is a sign of the times that sociological theorizing and Deutsch’s concept of security communities have become fashionable once again. That this is so can be attributed not only to the end of the Cold War but also to developments in international relations theory that are exploring the role of identity, norms, and the social basis of global politics“ (Adler/Barnett 1998: 9). Damit wird ein Anthropomorphismus, also die Vermenschlichung des Staates betrieben (Wendt 1999: 199f) und diese damit begründet, dass sie ein alltägliches Phänomen fast jeden Redens über den Staat sei. Das mag zwar richtig sein, ist aber nicht tragfähig als Grundlage für eine Theorie staatlicher Identitäten. Zwar diskutiert Wendt „the problem of corporate agency“, insbesondere anhand eines ausdifferenzierten Identitäts-Konzepts, aber die innerstaatliche Konstitution staatlicher Identität (vgl. auch Zehfuss 2001, 2002) wird in seiner systemischen Theorie der internationalen Politik nicht berücksichtigt (Wendt 1999: 243f). Zwar bringt uns Wendts (1999) Anthropomorphismus den methodischen Vorteil, dass uns das „Denken“ von Staaten besser zugänglich ist als das Denken von Menschen (Wendt 1999: 222f) – abgesehen von der Beobachtungsmöglichkeit des eigenen Denkens! Aber ein methodischer Vorteil kann kaum eine

7 Neorealismus dadurch ab, dass die Struktur der internationalen Politik keine materielle, sondern eine soziale ist; sozial aber meint nicht im Sinne der „gesellschaftlichen“, sondern einer zwischenstaatlichen Konstruktion der Wirklichkeit der internationalen Politik. Insofern erscheint mir, um die konstruktivistischen Diskussionen verständlicher zu machen, die Bezeichnung „Staatskonstruktivismus“ treffend (vgl. auch Adler 1997: 335), denn die „Konstrukteure“ der internationalen Ordnung sind bei Wendt (1992, 1999) die Staaten. 6 Diese Kennzeichnung des Wendtschen „Constructivism“ kann zweifellos nur ein spezifisches Element dieses Ansatzes hervorheben. Ihr liegt die Unterscheidung verschiedener konstruktivistischer Ansätze anhand der Frage „Wer konstruiert“ zugrunde, die im hier interessierenden Zusammenhang deshalb verwendet wird, weil am Ende die Konstruktionsprozesse und deren Beobachtung im Mittelpunkt des theoretischen Interesses stehen. Gerade wenn der Wandel von Strukturen und dessen Verstehen im Mittelpunkt der Bemühungen konstruktivistischer Ansätze steht, ist die Fragen von besonderer Relevanz, wer bzw. was unmittelbar auf Konstruktionen und deren Veränderung einwirkt und darüber Einfluss auf den Wandel internationaler Politik nimmt. 2.2 Sozialkonstruktivismus Betrachten wir die Struktur der internationalen Politik nicht als Produkt zwischenstaatlichen Agierens, sondern als gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit der internationalen Politik, wird zunächst deutlich, dass ein Verständnis von Staaten als Akteure der internationalen Politik nur eine unter mehreren Möglichkeiten wissenschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion ist. Aus einer soziologischen Perspektive sind „Staaten“ keine Akteure, sondern primär gesellschaftlich konstituierte Strukturen, die darauf angewiesen sind, im gesellschaftlichen Handeln ständig reproduziert zu werden (vgl. Berger/Luckmann 1980: Kap. 2) – und zwar inter- und transnational wie innergesellschaftlich. Staaten 6 theoretische Fundierung ersetzen; zur ausführlichen Kritik dieses Elements des Staatskonstruktivismus vgl. auch Tilly (1998: 399), Palan (2000: 580f, 589-593) und Wight (2004) sowie Wendts Bemühungen zur Stützung seiner Annahme (Wendt 2004). Risses (1999: 35) Vorschlag, von einem „staatszentrierten Sozialkonstruktivismus“ zu sprechen, verdeckt die zentrale Differenz zwischen Staats- und Sozialkonstruktivismus bezüglich der Frage, wer die „Konstrukteure“ der sozialen Ordnung sind. Der Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1980) zielt nicht auf die Analyse der Konstruktion der sozialen Welt (vgl. dazu Searl 1997), sondern auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. Schütz/Luckmann 1975), denn er versteht sich als eine „Theorie der Wissenssoziologie“ (Berger/Luckmann 1980: 1-20).

6<br />

Systems möglicherweise wirklich um keine materielle, sondern eine soziale (Un-)<br />

Ordnung handeln könnte. Über diesen Verdacht entstand die Annäherung der<br />

Internationalen Beziehungen an die Soziologie (vgl. Ruggie 1998a: 856), denn dort gab<br />

es eine Vielzahl von Theorien, die sich mit dem Zustandekommen <strong>und</strong> dem Wandel<br />

gesellschaftlicher Strukturen beschäftigten. Für die amerikanische IB war diese<br />

sozialwissenschaftliche Herangehensweise so überraschend <strong>und</strong> neu, dass in der<br />

Selbstbeobachtung von einem „sociological turn“ (Katzenstein et al. 1998: 675) die<br />

Rede ist. 4 Alexander Wendt verwies schon in seinem 1987er Aufsatz auf Giddens’<br />

Strukturierungstheorie, in der sich Akteure <strong>und</strong> Strukturen gegenseitig konstituieren<br />

(vgl. Wendt 1987; Giddens 1984), <strong>und</strong> 1992 dann auch explizit auf den Sozialkonstruktivismus<br />

von Berger <strong>und</strong> Luckmann (1980), auf die gesellschaftliche Konstruktion<br />

der Wirklichkeit (Wendt 1992: Anm. 23).<br />

Dabei sind jedoch für Wendt (1992, 1999) die Staaten die Akteure <strong>und</strong> die<br />

internationale Politik sowie deren „Ordnung“ gewissermaßen die „Gesellschaft“. Die<br />

„gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ heißt für ihn, dass Staaten die<br />

Konstrukteure jener Wirklichkeit sind, in der sie interagieren <strong>und</strong> kommunizieren – also<br />

der internationalen Politik <strong>und</strong> ihrer Strukturen (Wendt 1999: Ch. 4 & 6; ähnlich Zangl<br />

1999: 47f). Danach kann die internationale Politik nicht mehr wie ein ewiges<br />

Schachspiel funktionieren, in dem die Regeln <strong>und</strong> Rollen Naturgesetzen gleich<br />

fortexistieren, wie der IB-Materialismus sich das gedacht hatte. Offenbar können, wie<br />

etwa die sich auflösende Sowjetunion uns das gezeigt hat, Akteure die Regeln<br />

verändern, sich vielleicht sogar ganz neue ausdenken – um in der Schach-Metapher zu<br />

bleiben: das Schachbrett zukünftig zum Dame-Spiel verwenden.<br />

Ein entscheidendes Kennzeichen von Wendts (1999) „Social Theory of International<br />

Politics“ ist seine essentialistische Konzeptualisierung des Staates, dem er personale<br />

Qualitäten zuschreibt: „States are people too“ (Wendt 1999: 215). 5 Er grenzt sich vom<br />

4<br />

5<br />

Damit einher geht natürlich auch eine Renaissance entsprechender IB-Ansätze der 1950er <strong>und</strong> 1960er Jahre,<br />

z.B. der vermehrte Bezug auf Karl W. Deutsch: „It is a sign of the times that sociological theorizing and<br />

Deutsch’s concept of security communities have become fashionable once again. That this is so can be<br />

attributed not only to the end of the Cold War but also to developments in international relations theory that<br />

are exploring the role of identity, norms, and the social basis of global politics“ (Adler/Barnett 1998: 9).<br />

Damit wird ein Anthropomorphismus, also die Vermenschlichung des Staates betrieben (Wendt 1999: 199f)<br />

<strong>und</strong> diese damit begründet, dass sie ein alltägliches Phänomen fast jeden Redens über den Staat sei. Das<br />

mag zwar richtig sein, ist aber nicht tragfähig als Gr<strong>und</strong>lage für eine Theorie staatlicher Identitäten. Zwar<br />

diskutiert Wendt „the problem of corporate agency“, insbesondere anhand eines ausdifferenzierten<br />

Identitäts-Konzepts, aber die innerstaatliche Konstitution staatlicher Identität (vgl. auch Zehfuss 2001,<br />

2002) wird in seiner systemischen Theorie der internationalen Politik nicht berücksichtigt (Wendt 1999:<br />

243f). Zwar bringt uns Wendts (1999) Anthropomorphismus den methodischen Vorteil, dass uns das<br />

„Denken“ von Staaten besser zugänglich ist als das Denken von Menschen (Wendt 1999: 222f) – abgesehen<br />

von der Beobachtungsmöglichkeit des eigenen Denkens! Aber ein methodischer Vorteil kann kaum eine

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!