Theoretische und erkenntnistheoretische Konsequenzen ...

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21.01.2015 Aufrufe

4 Textanalysen unweigerlich ein, denn aus Texten fließen keine Bedeutungen heraus, ehe nicht etwas in sie hineingelesen wurde. Genau diese Bedeutungen und Vorverständnisse politikwissenschaftlicher Analysen sind aber auch das politisch Umstrittene, dem die analytische Aufmerksamkeit gilt. Und mit genau solchen Vorverständnissen – in Form etwa von Partialinteressen, Wahrnehmungsstrukturen, Weltbildern, politischen Werthaltungen etc. – werden ja in aller Regel sowohl die Bedeutungsdifferenzen, die identifiziert werden, als auch, welche Bedeutung in der Umstrittenheit zur politisch relevanten und wirkungsmächtigen Konstruktion geworden ist, erklärt. Indem wir als WissenschaftlerInnen bei der Textanalyse prinzipiell nichts anderes machen als die von uns untersuchten politischen Akteure bei ihren Konstruktionen der politischen Gegenstände und Wirklichkeiten, kommen die dort identifizierten Interessen, Wahrnehmungsstrukturen, Weltbilder und politischen Werthaltungen, die politische Konstruktionen offensichtlich maßgeblich beeinflussen, auch bei unseren Beobachtungen zum Tragen. Auch die ausgefeilteste Methodik, die zudem zumeist nur auf einen kleinen Teil des Untersuchungsgegenstands angewandt werden kann, bewahrt nicht davor, auch der Frage nach den wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten „konstruktivistischer Faktoren“ wie Normen, Ideen, Werte, Gender, Identitäten und Weltbilder nachzugehen. Dies erscheint auch deshalb unabwendbar, weil in vielen Fällen die politisch relevanten Konstruktionen nicht unbedingt im öffentlich zugänglichen Diskurs, sondern häufig nur in individuellen Weltbildern zu erkennen sind. Die politikwissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen werden aber in starkem Maße auch vom öffentlichen Diskurs politischer Zusammenhänge geprägt und beeinflusst. Um die hier schon angedeuteten Argumente gegen einen sog. „thin constructivism“ ausführlich zu begründen, werde ich im Folgenden die Entwicklung des konstruktivistischen Diskurses in den Internationalen Beziehungen als Blickfelderweiterung in drei Schritten rekonstruieren, die u.a. theoretische und erkenntnistheoretische Probleme und Herausforderungen mit sich bringen. Zu deren Auflösung wird abschließend ein reflexiver Konstruktivismus vorgestellt, der an die soziologische Theoriediskussion anknüpft und sich damit versteht als ein Beitrag zur Soziologie der internationalen Politik.

5 2 Schritte konstruktivistischer Blickfelderweiterung 2.1 Staatskonstruktivismus Aus Sicht der in den 1980er Jahren dominierenden Theorieansätze in den Internationalen Beziehungen war das Ende des Ost-West-Konflikts und insbesondere das diesem vorausgehende sogenannte „Neue Denken“ in der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik ein gewissermaßen theoriewidriges Verhalten. 2 Dieses zeigte sich insbesondere bei den Herren Gorbatschow und Schewardnadse, deren Berater offenbar zu viel Eppler, Bahr und Senghaas und zu wenig Waltz gelesen hatten (vgl. Risse- Kappen 1994) und damit die damals aktuellen „Naturgesetze“ der internationalen Politik auf den Kopf bzw. vom Kopf auf die Füße stellten (vgl. Wendt 1999: 76). Am Ende der 1980er Jahre wurde dadurch auch jenen IB-TheoretikerInnen, die sich vornehmlich mit Sicherheitspolitik beschäftigten, überdeutlich, dass die Anarchie des internationalen Systems kein Phänomen unserer materiellen Umwelt ist, sondern „what states make of it“ (Wendt 1992). Dass Staaten gewillt waren, unterschiedliches daraus zu machen, war hinlänglich bekannt – aber dass es ihnen in einer mehr als vorläufigen, kosmetischen Weise gelingen könnte, das war ein harter Schlag für den IB- Materialismus. Wenn aber die Prämisse der quasi-natürlichen anarchischen Ordnung des internationalen Systems nicht mehr aufrechtzuerhalten war, was bestimmte dann die Struktur des internationalen Systems Wenn sie also kein Produkt des Weltenschöpfers – oder von Thomas Hobbes oder westfälischer Erfinder – war, woher kam die Struktur dann und wer bestimmte ihre Grundlinien Offenbar waren es irgendwelche „Konstruktionen“, und wer sich vornehmlich damit beschäftigen wollte, wurde nun zur Konstruktivistin oder zum Konstruktivisten. 3 Auch in Mainstream-Kreisen der amerikanischen IR-Community war der Verdacht bald nicht mehr von der Hand zu weisen, dass es sich bei der Struktur des internationalen 2 3 Dieses Kapitel greift auf Überlegungen zurück, die zunächst in Weller (2005) entwickelt wurden. Inzwischen gibt es verschiedene Taxonomien konstruktivistischer Ansätze, die jeweils unterschiedliche Unterscheidungsmerkmale hervorheben: Hopf (1998) unterscheidet „Conventional and Critical Constructivism“, Ruggie (1998a: 881f) erkennt drei „variants of constructivism: neo-classical, postmodernist and naturalistic constructivism“, Adler (1997: 335) kennzeichnet „four different groups demarcated chiefly by methodological disagreements“; Risse (1999: 35f) identifiziert vier sozialkonstruktivistische Ansätze: „staatszentrierten Sozialkonstruktivismus, liberale und institutionalistische Ansätze aus sozialkonstruktivistischer Sicht, neogramscianische Ansätze und verschiedene feministische Theoriebildungen“; Palan (2000: 580-586) unterscheidet drei konstruktivistische Positionen: „Constructivism and Subjectivism“ (vornehmlich Wendt 1999), „Constructivism and Languagegame“ (vornehmlich Onuf 1989) und „Lacanian Constructivism“ (Poststrukturalismus). Je nach eigener Position in der theoretische Debatte gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten, konstruktivistische Herangehensweisen zu unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Aspekte konstruktivistischer Perspektiven hervorheben und sich darin vornehmlich ergänzen und weniger widersprechen.

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Textanalysen unweigerlich ein, denn aus Texten fließen keine Bedeutungen heraus, ehe<br />

nicht etwas in sie hineingelesen wurde. Genau diese Bedeutungen <strong>und</strong> Vorverständnisse<br />

politikwissenschaftlicher Analysen sind aber auch das politisch Umstrittene, dem die<br />

analytische Aufmerksamkeit gilt. Und mit genau solchen Vorverständnissen – in Form<br />

etwa von Partialinteressen, Wahrnehmungsstrukturen, Weltbildern, politischen<br />

Werthaltungen etc. – werden ja in aller Regel sowohl die Bedeutungsdifferenzen, die<br />

identifiziert werden, als auch, welche Bedeutung in der Umstrittenheit zur politisch<br />

relevanten <strong>und</strong> wirkungsmächtigen Konstruktion geworden ist, erklärt.<br />

Indem wir als WissenschaftlerInnen bei der Textanalyse prinzipiell nichts anderes<br />

machen als die von uns untersuchten politischen Akteure bei ihren Konstruktionen der<br />

politischen Gegenstände <strong>und</strong> Wirklichkeiten, kommen die dort identifizierten<br />

Interessen, Wahrnehmungsstrukturen, Weltbilder <strong>und</strong> politischen Werthaltungen, die<br />

politische Konstruktionen offensichtlich maßgeblich beeinflussen, auch bei unseren<br />

Beobachtungen zum Tragen. Auch die ausgefeilteste Methodik, die zudem zumeist nur<br />

auf einen kleinen Teil des Untersuchungsgegenstands angewandt werden kann, bewahrt<br />

nicht davor, auch der Frage nach den wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten<br />

„konstruktivistischer Faktoren“ wie Normen, Ideen, Werte, Gender, Identitäten <strong>und</strong><br />

Weltbilder nachzugehen. Dies erscheint auch deshalb unabwendbar, weil in vielen<br />

Fällen die politisch relevanten Konstruktionen nicht unbedingt im öffentlich<br />

zugänglichen Diskurs, sondern häufig nur in individuellen Weltbildern zu erkennen<br />

sind. Die politikwissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen werden aber in starkem<br />

Maße auch vom öffentlichen Diskurs politischer Zusammenhänge geprägt <strong>und</strong><br />

beeinflusst.<br />

Um die hier schon angedeuteten Argumente gegen einen sog. „thin constructivism“<br />

ausführlich zu begründen, werde ich im Folgenden die Entwicklung des<br />

konstruktivistischen Diskurses in den Internationalen Beziehungen als<br />

Blickfelderweiterung in drei Schritten rekonstruieren, die u.a. theoretische <strong>und</strong><br />

<strong>erkenntnistheoretische</strong> Probleme <strong>und</strong> Herausforderungen mit sich bringen. Zu deren<br />

Auflösung wird abschließend ein reflexiver Konstruktivismus vorgestellt, der an die<br />

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