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spastischer Haltung - Österreichische Wachkoma Gesellschaft

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Körpersemantik und körpernaher<br />

Dialogaufbau bei Menschen<br />

mit „<strong>spastischer</strong> <strong>Haltung</strong>“<br />

im <strong>Wachkoma</strong><br />

Andreas Zieger, Priv.-Doz. Dr. med.<br />

Abteilung für Früh- und Weiterführende<br />

Rehabilitation<br />

Evangelisches Krankenhaus Oldenburg<br />

Dozent für Klinische Neurorehabilitation<br />

Fakultät IV: Human- und<br />

<strong>Gesellschaft</strong>swissenschaften<br />

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg<br />

Jahrestagung der Österreichischen <strong>Wachkoma</strong> <strong>Gesellschaft</strong> Wien, am 21. Okt. 2005


Übersicht<br />

I Was meint „Spastische <strong>Haltung</strong>“<br />

II Wie äußern sich „autonomes<br />

Körperselbst“ und „Körpersemantik“<br />

III Wie wirkt „körpernaher<br />

Dialogaufbau“<br />

IV Einfluss auf Remission und Outcome<br />

V Fazit


I Der Körper des <strong>Wachkoma</strong>-Patienten<br />

aus Sicht der biotechnischen Medizin<br />

Defektwesen, „Defizitfigur“ (Objekt)<br />

• Augen geöffnet, kein Blickkontakt<br />

• Tetra(beuge)spastik<br />

• Reflexe / Automatismen<br />

• keine sinnvollen<br />

Reaktionen auf Reize<br />

• keine absichtsvollen<br />

Eigenaktivitäten


Der Körper des <strong>Wachkoma</strong>-Patienten<br />

aus Sicht der Beziehungsmedizin<br />

„Traumatisiert an Leib<br />

und Seele“ (Subjekt)<br />

• Antwort auf ein starkes<br />

schädigendes Ereignis<br />

• Zurücknahme auf das<br />

• autonome Körperselbst / Schutzhaltung<br />

• Zwingt den Körper in eine pathologischisolierende<br />

„spastische“ <strong>Haltung</strong>/Balance<br />

im Schwerkraftfeld


Zwischenleibliche Kommunikation als<br />

existenzielle Grunderfahrung<br />

Implizites Körperwissen<br />

„Spiegelneurone“<br />

• Mitgefühl, Empathie („Affective tuning“)<br />

• Emotionale Mitbewegungen („Resonanz“)<br />

• Nonverbale Kommunikation („Körpersprache“)<br />

• Übertragung – Gegenübertragung<br />

• Denken vom Anderen her („Theory of mind“)


Organismische Schutzreaktion<br />

als unwillkürliche Antwort auf lebensbedrohlichen<br />

Stress/Angst/Schmerz<br />

1. Schreckreaktion: Erstarren<br />

Verstummen<br />

2. „Totstellreaktion“: Einfrieren<br />

(Schutz, Selbststabilisation)<br />

3. Schock: Zusammenklappen<br />

(Zentralisation)<br />

4. Kollaps: Tod<br />

Bader-Johansson 2002


Koma als akute Schutzreaktion<br />

Trauma/Stress<br />

Autonomes Körperkernselbst<br />

„Schock“<br />

Zentralisierung


Traumatische Körperbilder<br />

beim Coma Imagery<br />

Johnson 1980, S. 364


„Spastische <strong>Haltung</strong>“ =<br />

Verkörpertes Trauma (Körpergedächtnis)<br />

Becker et al. 1987


Wirkung von „Spastischer <strong>Haltung</strong>“<br />

auf die Kommunikation<br />

• Ein erstarrter Körper wirkt unkommunikativ!<br />

• Ohne Eigeninitiative und (Mit-)Bewegungen<br />

• Versagen des Spiegelneuronensystems:<br />

Einfühlung, Körpersprache, Verstehen<br />

• Negative Übertragungsgefühle: Befremden,<br />

Angst, Ohnmacht, Unverständnis für den<br />

„spastische“ Gegenüber („Monster“)


II Autonomes Körperselbst und<br />

Körpersemantik<br />

Basale Kompetenzen im <strong>Wachkoma</strong><br />

Vitale Grundrhythmen und Pulsationen<br />

Einatmen<br />

Systole<br />

Anspannen<br />

Schlafen<br />

Stoffaufnahme<br />

Hunger<br />

Lust<br />

Ausatmen<br />

Diastole<br />

Entspannen<br />

Wachen<br />

Stoffabgabe<br />

Sättigung<br />

Unlust<br />

<br />

Vegetative Zeitgestalten und „Intelligenz“<br />

Vegetative Zeitgestalten und „Intelligenz“


Basale kommunikative Zeichen im<br />

körpernahen Dialog<br />

Weitung<br />

„Sich öffnen“<br />

• Einatmen<br />

• Augen öffnen<br />

• Lippen bewegen<br />

• Mund öffnen<br />

• Körper entspannen<br />

• Erröten, Lächeln<br />

• Kopf zuwenden<br />

Engung<br />

„Sich schließen“<br />

• Ausatmen<br />

• Augen schließen<br />

• Lippen schmal machen<br />

• Mund schließen<br />

• Körper anspannen<br />

• Erblassen<br />

• Kopf wegdrehen<br />

= analoge Zeichen einer frühen Response!


Körpersemantik im <strong>Wachkoma</strong><br />

„Lesen im Buch des Körpers“<br />

Pathosymptomatik<br />

• Spontanatmung<br />

•Schwitzen<br />

• Geöffnete Augen<br />

leerer Blick<br />

kein Fixieren<br />

• Tetraspastik mit<br />

Beugehaltung der Arme<br />

• Faustschluß<br />

• Reflexe / Automatismen<br />

Kompetenzen<br />

• Lebensgrundrhythmus<br />

• Austausch mit der Welt<br />

• Erwacht, „träumerisch“<br />

Selbstinnenschau<br />

kein visuelles Objekt<br />

• Selbstschutz, Kontakt<br />

Selbststabilisierung<br />

• nicht offen zum Dialog<br />

• Erbkoordinationen


Körpersprachliche Zeichen für<br />

„Anstrengung“, „Unmut“, „Stress“<br />

• Zunahme der „spastischen“ Körperhaltung<br />

mit Anziehen/Beugung der Arme<br />

• Gepresste, unruhige „schwere“ Atmung<br />

• Rotes Gesicht mit Schweißperlen<br />

• Augen/Mund weit geöffnet (oder fest<br />

verschlossen)<br />

• Angespannte Mimik mit Stirnfurche und<br />

Unmutsreaktionen („Fremdeln“)


III Körpernaher Dialogaufbau<br />

• Der Mensch ist „Anrede an die Welt“ (Buber)<br />

• „Eine Spastik kann ein Rufen sein“<br />

(Kesselring 1992)<br />

• „Körpernahe Interaktionen und<br />

Handlungsdialoge unter Einbeziehung von<br />

Angehörigen“ (Zieger 1993)<br />

• Die Wirkung seiner selbst durch die<br />

Berührungen / Hände / (Mit-)Bewegungen<br />

anderer spüren<br />

• Im Stations-/Lebensalltag anwendbar


Umgebungsregulation durch<br />

Angehörige


Angehörigen-induzierte „Beruhigung“<br />

„Entspannung“ und „Aufmerksamkeit“<br />

im EEG-Power-Spektrum bei Pat. KA<br />

L front<br />

Angehörige<br />

R front


Körpernahe dialogische „Attraktoren“<br />

• Liebevoller Blick<br />

• Lächeln<br />

• Vertraute Stimme<br />

• Singen, Musik<br />

• Liebevolle Berührungen: Streicheln,<br />

Zärtlichkeiten, „sprechende“ Hände<br />

• Frühe Körperhaltungen / Mitbewegungen:<br />

Atmen, Wiegen, Schaukeln,<br />

Handauflegen, Umarmen, Liebkosen


Aufbau von Ja/Nein-Codes<br />

in der frühen Remission<br />

trotz „<strong>spastischer</strong> <strong>Haltung</strong>“<br />

• Seufzen<br />

Seufzercode<br />

• Lidschluß, Blickbewegungen Augencode<br />

• Kopfdrehen, Nicken<br />

Kopfcode<br />

• Hände/Daumendruck Hand/Daumencode<br />

• Buzzerdruck<br />

Buzzercode<br />

• Beinanbeugen<br />

Beincode<br />

Unterstützte Kommunikation mit körpereigenen und<br />

einfachen technischen Mitteln!


IV Remission und Outcome (Studie)<br />

Abteilung für Schwerst-Schädel-Hirn-<br />

Geschädigte (Frührehastation), Oldenburg<br />

Prospektive Studie 1997-2004<br />

Einschlusskriterien:<br />

• Schweres SHT (CT, MRT, EEG)<br />

• Komadauer mind 21 Tage („<strong>Wachkoma</strong>“)<br />

• GCS_A max 8/15 Punkte<br />

• KRS_A max 12/23 Punkte<br />

• GOS 2 Punkte („apallisch“)


Patienten n = 53<br />

Alter im Durchschn. 39,5 Jahre (17-71)<br />

Geschlecht w=33 m=20<br />

Ätiologie<br />

• SHT/Polytrauma n = 22<br />

• Hypoxie n = 15<br />

• ICB/Insult n = 13<br />

• SAB/OP n = 2<br />

• Enzephalitis n = 1<br />

Verweildauer<br />

• Intensivstation 49,2 Tage (11 - 190)<br />

• Frührehastation 163,6 Tage (39 - 354)


Outcome - Koma-Scores<br />

[Vergleich Mittelwert Aufn/Entl N = 53]<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

p < 0,000<br />

p < 0,000<br />

p < 0,000<br />

5<br />

0<br />

GCS KRS SEKS<br />

Aufn 6,3 7,6 9,5<br />

Entl 12,9 17,5 24,5


Outcome - Mobilitätsstatus<br />

Entwicklungshemmende<br />

Wirkung von Spastik<br />

40<br />

75%<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

25%<br />

5<br />

0<br />

bettlägerig<br />

Rollstuhl<br />

passiv<br />

Rollstuhl<br />

aktiv<br />

Gehen<br />

mHP<br />

Gehen<br />

selbst


Outcome - Kommunikationsstatus<br />

analog<br />

digital<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

9,5%<br />

Buzzer<br />

nur<br />

vegetativ<br />

36%<br />

Ja/Nein<br />

Code<br />

34%<br />

nonverbalemotional<br />

20,5%<br />

verbal<br />

LIS


Outcome – Remissionsstatus<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

[modifiziert nach Gerstenbrand 1967: 55]<br />

R0 R1 R2 R3 R4 R5<br />

40%<br />

LIS = 2 4%<br />

26,5%<br />

13%<br />

5<br />

4%<br />

7%<br />

5,5%<br />

0<br />

Volbild<br />

opt Fixieren opt Folgen<br />

Unmut<br />

Zuwendung<br />

Eigenakt<br />

Zorn<br />

HOPS<br />

Integration


Outcome – GOS<br />

%<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

9,5%<br />

GOS 1<br />

tot<br />

„Spastische <strong>Haltung</strong>“<br />

GOS 2<br />

apall<br />

62%<br />

19% 19%<br />

GOS 3<br />

schwb<br />

GOS 4<br />

mb<br />

GOS 5<br />

gErh


Outcome - Entlassungsstatus<br />

25<br />

20<br />

45%<br />

soziale Perspektive<br />

15<br />

23%<br />

10<br />

5<br />

9,5%<br />

17%<br />

5,5%<br />

0<br />

verst Akutkl Pflege<br />

stat<br />

Pflege<br />

amb<br />

Reha<br />

weiterf<br />

Reha<br />

AHB


„Endergebnis“<br />

• verstorben 9,5%<br />

• im Dauerkoma lebend 9,5%<br />

Grauzone „Living with liminality“ 10%<br />

• bedürfnisnah kognitiv präsent 80%<br />

und/oder kommunikabel<br />

• aber körperlich pflegeabhängig 75%<br />

(in <strong>spastischer</strong> <strong>Haltung</strong> verbleibend)<br />

……… körperlich-geistige Dissoziation


V Fazit<br />

• „Spastische <strong>Haltung</strong>“ als zwanghafte<br />

Antwort auf ein lebensbedrohliches Trauma<br />

• Pathologische Bedingung wie auch<br />

Kompetenz<br />

• Minderung der Spastik durch körpernahe<br />

attraktive Dialogangebote und Erlernen von<br />

Körpersprache und Körpersemantik<br />

• Ohnmacht in positive Kraft wandeln!

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