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Vortrag am 2. Oktober 2008 an der Karls-Universität, Prag Kisch ...

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<strong>Vortrag</strong> <strong>am</strong> <strong>2.</strong> <strong>Oktober</strong> <strong>2008</strong> <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Karls</strong>-<strong>Universität</strong>, <strong>Prag</strong><br />

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<strong>Kisch</strong> – ein Jahrhun<strong>der</strong>t-Journalist<br />

Die Jahre in Berlin 1921 bis 1933 / Werk und Wirkung<br />

Als m<strong>an</strong> <strong>Kisch</strong> hier in <strong>Prag</strong> vor 60 Jahren das letzte Geleit gab, da geschah<br />

das unter großer Anteilnahme und mit großen Ehren. Nie wie<strong>der</strong> ist ein Journalist<br />

und Schriftsteller so zu Grabe getragen worden. Vom Pulverturm über<br />

den Graben, den Wenzelsplatz hinauf bis zum Nationalmuseum säumten<br />

trauernde Menschen den Weg. Hinter <strong>der</strong> Lafette mit dem Sarg schritt viel<br />

Prominenz. Der Primator war dabei, Václav Vacek, ein Freund aus <strong>Kisch</strong>s<br />

jungen Jahren. Auch Antonín Zápotocký, <strong>der</strong> Sohn des Begrün<strong>der</strong>s <strong>der</strong><br />

tschechischen Sozialdemokratie und Schriftstellers Ladislav Zápotocký, ein<br />

M<strong>an</strong>n <strong>der</strong> Gewerkschaften und nun stellvertreten<strong>der</strong> Ministerpräsident. Er<br />

hatte <strong>Kisch</strong> <strong>am</strong> Kr<strong>an</strong>kenbett versprechen müssen, die Trauerrede zu halten.<br />

<strong>Kisch</strong> ist ein Jahrhun<strong>der</strong>t-Journalist. Wie kein <strong>an</strong><strong>der</strong>er seiner Kollegen in <strong>der</strong><br />

ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die gleich ihm eine deutsche Fe<strong>der</strong> geführt<br />

haben, hat er Maßstäbe für die journalistische Arbeit gesetzt, die noch<br />

heute Gültigkeit haben. Wie kein <strong>an</strong><strong>der</strong>er seiner Kollegen hat er nachhaltige<br />

Zeitzeugnisse von allen Kontinenten geliefert und mit seinen Berichten wie<br />

auch als Persönlichkeit seinen Berufsst<strong>an</strong>d geprägt<br />

Hier, in dieser Stadt, hatte er seine ersten journalistischen Erfolge. Hier in<br />

<strong>Prag</strong> ist er durch die „Gassen und Nächte“ gestreift, hat er seine „Abenteuer“<br />

erlebt und die „<strong>Prag</strong>er Kin<strong>der</strong>“ kennen gelernt – und mit diesen Titeln drei<br />

seiner ersten Bücher versehen.<br />

In dieser Stadt führte er auch das erste Interview mit einer internationalen<br />

Persönlichkeit von Weltgeltung: Mit Thomas Alva Edison – dem nord<strong>am</strong>erik<strong>an</strong>ischen<br />

Erfin<strong>der</strong>, dem M<strong>an</strong>n mit <strong>der</strong> Glühbirne, dem Gr<strong>am</strong>mophon und<br />

hun<strong>der</strong>t weiteren gravierenden technischen Neuheiten. Als Edison im September<br />

1911 auf seiner Europa-Reise im Hotel de Saxe eintraf, war <strong>Kisch</strong> bereits<br />

zur Stelle. Und dem berühmten Amerik<strong>an</strong>er hat das Interview mit dem<br />

jungen Reporter offenbar ausgezeichnet gefallen. Denn er schenkte ihm ein<br />

silbernes Zigarettenetui mit eingravierter Widmung – das richtige Geschenk<br />

für den „rauchenden Reporter“ aus Leidenschaft.<br />

Hier in <strong>Prag</strong> hat <strong>der</strong> junge <strong>Kisch</strong> auch das bis auf den heutigen Tag immer<br />

wie<strong>der</strong> zitierte Musterbeispiel von Enthüllungsjournalismus geliefert: Mit jener<br />

legendären Nachricht in <strong>der</strong> „Bohemia“ vom 28. Mai 1913. In Form eines Gerüchts<br />

und eines Quasi-Dementis hat <strong>Kisch</strong> die Öffentlichkeit informiert, dass<br />

Oberst Alfred Redl, Generalstabschef des 8. <strong>Prag</strong>er Korps <strong>der</strong> k.u.k. österreichisch-ungarischen<br />

Armee, in eine Spionageaffaire verwickelt ist und sich<br />

deshalb in Wien erschossen habe.<br />

Schon zu jener Zeit war <strong>Kisch</strong> eine außergewöhnliche Erscheinung, ein<br />

M<strong>an</strong>n mit großartigen Fähigkeiten, mit beson<strong>der</strong>em Charisma und Charme.<br />

Zu Weltgeltung aber ist er erst in Berlin gel<strong>an</strong>gt. „König <strong>der</strong> Journalisten“<br />

n<strong>an</strong>nte m<strong>an</strong> ihn dort. Und als „König <strong>der</strong> Reporter“ hat ihn d<strong>an</strong>n später auch<br />

<strong>der</strong> einflußreiche nord<strong>am</strong>erik<strong>an</strong>ische Verleger Alfred A. Knopf in einer Wer-


eschrift für das gepl<strong>an</strong>te autobiografische Buch „Crawling in the Inking<br />

River“ <strong>an</strong>gekündigt.<br />

Ich bin ein Berliner und will deshalb über <strong>Kisch</strong>s Aufenthalte in meiner Heimatstadt<br />

sprechen. Über sein Wirken <strong>an</strong> <strong>der</strong> Spree. Über sein Werk aus dieser<br />

Zeit, seine Aktivitäten, seinen Einfluß. Berlin ist immerhin die Stadt, in <strong>der</strong><br />

er die längste Zeit einen festen Wohnsitz außerhalb von <strong>Prag</strong> gehabt hat.<br />

Dreimal ist <strong>Kisch</strong> nach Berlin geg<strong>an</strong>gen, um sich dort eine Basis für seine<br />

journalistische Arbeit zu schaffen.<br />

Das Erstemal hat er sich Ende 1905 nach Berlin begeben. Er hat das Wintersemester<br />

<strong>der</strong> Journalistenschule von Richard Wrede belegt, das vom September<br />

1905 bis zum März 1906 dauerte . Der Zeitungswissenschaftler und<br />

Publizist Richard Wrede und seine Bildungsstätte für <strong>an</strong>gehende Journalisten<br />

waren renommiert. <strong>Kisch</strong> holte sich dort das erste Rüstzeug für seinen künftigen<br />

Beruf und machte sich mit <strong>der</strong> Zeitungsarbeit vertraut: Lernte Nachrichten,<br />

Depeschen, Korrespondenzen formulieren; übte sich im Redigieren;<br />

befaßte sich mit verschiedenen journalistischen Genres, mit Rom<strong>an</strong>- und<br />

Theaterkritik, lieferte Stilproben und <strong>der</strong>gleichen. Das machte er mit Erfolg,<br />

wie aus einem Brief nach <strong>Prag</strong> zu entnehmen ist. Mit den Berlinern aber<br />

konnte sich <strong>der</strong> Zw<strong>an</strong>zigjährige d<strong>am</strong>als noch gar nicht <strong>an</strong>freunden. Seinem<br />

älteren Bru<strong>der</strong> Paul schrieb er <strong>am</strong> 11. November 1905:<br />

„Berlin im allgemeinen ist direkt furchtbar. Trotz <strong>der</strong> Annehmlichkeiten, welche<br />

das selbständige, ungestörte Leben bietet, wäre ich lieber in <strong>Prag</strong>. Der<br />

Berliner ist im allgemeinen ein Ekel, im beson<strong>der</strong>en zwei Ekel, die Berlinerin<br />

ein g<strong>an</strong>zes Konglomerat von Ekeln.“<br />

Das zweite Mal begab er sich im Sommer 1913 nach Berlin. Nun hatte er bereits<br />

seine Erfahrungen und Erfolge. <strong>Prag</strong> war ihm wohl zu klein geworden<br />

als Wirkungsstätte. In <strong>der</strong> deutschen Millionenmetropole wollte er Fuß fassen.<br />

Er schrieb für das „Berliner Tageblatt“ aus dem Mosse Verlag, die einflußreiche<br />

liberale Tageszeitung <strong>der</strong> Hauptstadt. Zugleich wurde er <strong>am</strong><br />

„Deutschen Künstlertheater Sozietät“ als Dr<strong>am</strong>aturg und – wie m<strong>an</strong> heute<br />

sagen würde – als public relations officer engagiert. In <strong>der</strong> Funktion als Dr<strong>am</strong>aturg<br />

ist er, was er mit beson<strong>der</strong>em Vergnügen nach <strong>Prag</strong> berichtete, als<br />

„unmittelbarer Nachfolger Gerhard Hauptm<strong>an</strong>ns“ ben<strong>an</strong>nt worden – diesem<br />

leuchtenden Stern <strong>am</strong> deutschen Theaterhimmel jener Zeit. Im Sommer<br />

1914 wurde seine Berliner Karriere allerdings jäh unterbrochen. Er mußte zurück<br />

in die Heimat, um als Korporal im k.u.k. Inf<strong>an</strong>terieregiment Nr. 11 <strong>an</strong> die<br />

Front nach Serbien zu gehen.<br />

Zum dritten Mal trifft <strong>Kisch</strong> im November 1921 in Berlin ein. Und dieser Aufenthalt<br />

mit festem Wohnsitz – wenngleich auch wechselnden Wohnungen –<br />

wird rund ein Jahrzehnt dauern. Berlin – das ist zugleich einer seiner produktivsten,<br />

erfolgreichsten Lebensabschnitte. Hier befinden sich nun seine wichtigsten<br />

beruflichen Wirkungsstätten, Redaktionen und Verlage. Hier pl<strong>an</strong>t er<br />

Reportagereisen in die verschiedenen Län<strong>der</strong> Europas, in die asiatischen<br />

Sowjetrepubliken und <strong>an</strong><strong>der</strong>e Teile <strong>der</strong> jungen Sowjetunion, nach Nordafrika,<br />

ins „Paradies Amerika“, ins geheimnisvolle China. Hier pl<strong>an</strong>t er den größten<br />

Teil seiner Bücher, die bis zum Jahre 1933 in Berlin erscheinen.<br />

Hier schreibt er Beiträge für n<strong>am</strong>hafte Publikationen. Für die liberale „Weltbühne“<br />

des späteren Nobelpreisträgers Carl von Ossietzky; für die „Arbeiter-


Illustrierte Zeitung“ aus dem Münzenberg-Konzern, die mit einer Auflage von<br />

350 000 Exemplaren das auflagenstärkste linksorientierte Periodikum <strong>der</strong><br />

Weimarer Republik darstellt; er schreibt für den „Berliner Börsen-Courier“, die<br />

„Rote Fahne“ und die „Welt <strong>am</strong> Abend“; für die „Berliner Morgenpost“, die<br />

„Vossische Zeitung“, die „Fr<strong>an</strong>kfurter Zeitung“; die „BZ <strong>am</strong> Mittag“ und „Zeit<br />

im Bild“; für die Zeitschriften „Das Tagebuch“, „Neue Bücherschau“ und „Die<br />

literarische Welt“. Im bunten deutschen Blätterwald gibt es viele, die <strong>Kisch</strong><br />

als Autor schätzen.<br />

<strong>Kisch</strong> ist noch kein Jahr in Berlin, da arbeitet er bereits <strong>an</strong> einem Buch, das<br />

es in dieser Art in Deutschl<strong>an</strong>d noch nicht gibt. Seinem Journalisten-Bru<strong>der</strong><br />

Paul schreibt er <strong>am</strong> 28. Juli 1922:<br />

„Ich bin augenblicklich im Auftrage eines Verlages mit <strong>der</strong> Herausgabe eines<br />

Riesenwerkes des Titels ‚Klassischer Journalismus‘ beschäftigt, daß bloß<br />

verstorbene Autoren (seit Luther) umfaßt, bloß mark<strong>an</strong>te Zeitungsartikel hervorragen<strong>der</strong><br />

Männer...“<br />

Am Ende hat <strong>Kisch</strong> 100 Leitartikel, Gerichtsberichte, Feuilletons, Theaterkritiken,<br />

Musik- und Kunstreferate, Literaturberichte, Beiträge „In eigener Sache“<br />

sowie „Tagesnachrichten und Berichte auswärtiger Korrespondenten“<br />

von 78 Autoren aus rund zwei Jahrtausenden ausgewählt. Und er präsentiert<br />

uns großartige N<strong>am</strong>en: Plininius den Jüngeren, Schiller, Heine, Dickens,<br />

Zola, Dostojewski und Havlicek-Borowsky; Benj<strong>am</strong>in Fr<strong>an</strong>klin, Fürst Otto von<br />

Bismarck und Napoleon Bonaparte; Marx, Massinini, Lasalle und Voltaire –<br />

eine Plejade großer Geister. Den einzigen Vorwurf, den m<strong>an</strong> <strong>Kisch</strong> machen<br />

könnte ist <strong>der</strong>: Er – dem die Heb<strong>am</strong>me Frau Rosenthal prophezeit hatte, er<br />

werde ein Herzg<strong>an</strong>eff sein, ein Liebling <strong>der</strong> Frauen, denn er hatte ein Grübchen<br />

<strong>am</strong> Nabel – dieser Egonek hat nicht eine einzige Vertreterin des schönen<br />

Geschlechts in seine S<strong>am</strong>mlung aufgenommen.<br />

Jeden Beitrag hat <strong>Kisch</strong> mit einer kurzen Einleitung über Autor, Thema, Zeit,<br />

Zus<strong>am</strong>menhänge und Hintergründe versehen. Es sind kunstvolle, aussagestarke<br />

Miniaturen, ihrerseits kleine Meisterwerke. <strong>Kisch</strong> ist 38 Jahre alt, als<br />

1923 im Berliner Kämmerer Verlag das Buch erscheint: Klassischer Journalismus<br />

– die Meisterwerke <strong>der</strong> Zeitung. Im Vorwort fixiert er eine seiner entscheidenden<br />

journalistischen - und menschlichen – Maximen, die ihn durchs<br />

g<strong>an</strong>ze Leben und sein ges<strong>am</strong>tes Werk begleiten wird:<br />

„Zu lernen ist, daß <strong>der</strong> Geistigkeit nur durch die Geistigkeit zu begegnen ist,<br />

durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine Lüge, zu lernen ist, daß<br />

nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, son<strong>der</strong>n die besser verfochtene<br />

Sache. Und daß es nichts hilft, wenn m<strong>an</strong> zu L<strong>an</strong>de unbesiegt ist<br />

und zu Wasser unbesiegt ist, son<strong>der</strong>n daß m<strong>an</strong> den Krieg <strong>der</strong> Menschheit<br />

nur verlieren k<strong>an</strong>n, wenn m<strong>an</strong> im Geist besiegt wird.“<br />

Auch wenn er später diese Aussage insofern modifizierte „daß die bessere<br />

Sache“ eben auch „die besser verfochtene Sache“ sein müsse: Das war eine<br />

klare Absage gegen räuberische Kriege, gegen Terror und Terrorismus, gegen<br />

jegliche Gewalt, verlogene M<strong>an</strong>ipulationen und eine miserable Justiz.<br />

Der „Klassische Journalismus“ – das ist ein einzigartiges Lehrbuch. Es ist ein<br />

St<strong>an</strong>dardwerk. Für Journalisten, die einen engagierten Qualitätsjournalismus<br />

<strong>an</strong>streben, hat es als Lehrbuch seinen Wert bis auf den heutigen Tag.<br />

<strong>Kisch</strong>s berühmter Kollege Kurt Tucholsky urteilte unmittelbar nach Erscheinen<br />

des Buches:


„Das ist eine Fundgrube... <strong>Kisch</strong> hat da etwas sehr gutes gemacht – ich<br />

möchte es jedem Journalisten zu Weihnachten schenken.“<br />

Im Jahr darauf – 1924 – erscheinen zwei weitere Werke, mit denen <strong>Kisch</strong><br />

von sich reden macht. Zunächst ist es im Verlag Die Schmiede „Der Fall des<br />

Generalstabschefs Redl“. In <strong>der</strong> Reihe „Außenseiter <strong>der</strong> Gesellschaft. Die<br />

Verbrechen <strong>der</strong> Gegenwart“ gibt <strong>Kisch</strong> nunmehr eine komplette Darstellung<br />

mit allen inzwischen verfügbaren und recherchierten Fakten über Hintergründe,<br />

Zus<strong>am</strong>menhänge und Details jenes Aufsehen erregenden Spionagefalles,<br />

<strong>der</strong> seinerzeit in Wien, Moskau, Paris, Rom und <strong>an</strong><strong>der</strong>en Hauptstädten<br />

Europas Nervosität ausgelöst hatte.<br />

Und gegen Ende des Jahres kommt d<strong>an</strong>n im Erich Reiß Verlag jenes große<br />

Buch heraus „mit den merkwürdigsten meiner Reportagen“, wie <strong>Kisch</strong> nach<br />

Hause berichtet: „Der rasende Reporter“.<br />

Mit diesem Buch hat sich <strong>Kisch</strong> endgültig in Berlin etabliert. D<strong>am</strong>it ist <strong>der</strong><br />

Durchbruch auf dem deutschen Büchermarkt eingeleitet. Bis 1933 wird das<br />

Buch 15 Auflagen erreichen. Alle Leser, Kritiker und Kollegen sind des Lobes<br />

voll. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Paul Wiegler – <strong>Kisch</strong>s För<strong>der</strong>er<br />

und Zimmerkollege aus <strong>der</strong> Zeit bei <strong>der</strong> „Bohemia“ in <strong>Prag</strong>, Autor <strong>der</strong><br />

seinerzeit maßgebenden „Geschichte <strong>der</strong> Weltliteratur“ – würdigte den „Rasenden<br />

Reporter“ als das beste Buch des Jahres. Überdies habe es mit seinen<br />

„ges<strong>am</strong>melten Energien“ die Literatur gesprengt – freilich in den d<strong>am</strong>als<br />

gültigen Vorstellungen.<br />

Tatsache ist – und dies ist ein weiteres bleibendes Verdienst <strong>Kisch</strong>s: Er hat<br />

die Reportage, ursprünglich eine nicht beson<strong>der</strong>s <strong>an</strong>gesehene Gattung, zu<br />

einem literarischen Genre gemacht. Die Reportage als Literatur – das ist sein<br />

Werk. Der in Deutschl<strong>an</strong>d führende Literaturkritiker Marcel Reich-R<strong>an</strong>icky hat<br />

in einer Arbeit über <strong>Kisch</strong> sinngemäß konstatiert:<br />

Die von ihm für die Reportage entwickelten und <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dten Prinzipien<br />

seien heute allgemeine Praxis – und kaum jem<strong>an</strong>d würde sie auf den „rasenden<br />

Reporter“ zurückführen. Ein Autor, <strong>der</strong> mit seinem Werk so das Schreiben<br />

<strong>der</strong> Reporter beeinflußt hat, so möchte ich hinzufügen, k<strong>an</strong>n erfolgreicher<br />

nicht sein.<br />

Und Reich-R<strong>an</strong>ickys populärer Schriftsteller- und Kritikerkollege Helmut Karasek<br />

stellte fest: Ohne <strong>Kisch</strong> gäbe es in <strong>der</strong> deutschen Presse nicht die<br />

Seite Drei. Die „Seite Drei“ – so auch ben<strong>an</strong>nt mit <strong>der</strong> Seitenkustode – ist die<br />

Paradeseite mit den gl<strong>an</strong>zvollen Reportagen.<br />

Was ist das Beson<strong>der</strong>e <strong>am</strong> „Rasenden Reporter“ mit seinen 53 Beiträgen<br />

unterschiedlichster Thematik. <strong>Kisch</strong> charakterisiert es folgen<strong>der</strong>maßen: Die<br />

Leser „sahen sich verblüfft einem Autor gegenüber, <strong>der</strong> heute in Cuxhafen<br />

den Rekord-Personend<strong>am</strong>pfer ‚Vaterl<strong>an</strong>d‘ zur Stapelfahrt besteigt und morgen<br />

ohne Überg<strong>an</strong>g als Hopfenpflücker ins böhmische L<strong>an</strong>d zieht – auf Seite<br />

zw<strong>an</strong>zig nächtigt er im Londoner Nachtasyl und auf Seite vierundzw<strong>an</strong>zig<br />

überfliegt er mit einem Hydropl<strong>an</strong> Venedig – all das ohne Überg<strong>an</strong>g, ohne<br />

Verbindung, als spränge er, von Raum und Zeit, von Hin<strong>der</strong>nissen und Kosten<br />

unabhängig, just nach seiner Laune kreuz und quer.“<br />

Aber <strong>Kisch</strong> hat dem Leser auch ehrlich gesagt, wie dieses Buch zust<strong>an</strong>de<br />

gekommen ist. Im Vorwort konstatiert er:


„Die nachstehenden Zeitaufnahmen sind nicht auf einmal gemacht worden.<br />

Subjekt und Objekt waren in verschiedenen Lebensaltern und in verschiedensten<br />

Stimmungen, als die Bil<strong>der</strong> entst<strong>an</strong>den, Stellung und Licht waren<br />

höchst ungleich.“<br />

Wie wir wissen, ist <strong>der</strong> Buchtitel „Der rasende Reporter“ zum Synonym für<br />

<strong>Kisch</strong> geworden – zu seinem Markenzeichen. Und verständlich ist, daß sich<br />

Leser diesen Autor nun als eine Art „H<strong>an</strong>s D<strong>am</strong>pf in allen Gassen“ vorgestellt<br />

haben. Seine Freunde, alle ihm nahestehende Personen, die seinen Arbeitsstil<br />

k<strong>an</strong>nten, haben es klargestellt, daß er keineswegs ein Schnellschreiber<br />

gewesen ist. Son<strong>der</strong>n dass er mit Sorgfalt und Bedacht, mitunter auch sehr<br />

mühevoll die Fe<strong>der</strong> geführt hat, dass er oftmals tage-, ja, wochenl<strong>an</strong>g nach<br />

dem rechten Wort, dem einleuchtenden Bild gesucht hat, dass er <strong>an</strong> Formulierungen<br />

und Sätzen feilte und feilte.<br />

<strong>Kisch</strong>s jüngerer Freund und Berufskollege Theodor Balk – übrigens <strong>der</strong><br />

M<strong>an</strong>n <strong>der</strong> in diesem Sommer verstorbenen Gr<strong>an</strong>d D<strong>am</strong>e <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />

<strong>Prag</strong>er Literatur, Lenka Reinerová – hat es kurz und knapp formuliert:<br />

<strong>Kisch</strong> sei „als Reporter eher gründlich, enzyklopädisch, dialektich, geistreich,<br />

witzig, kurz alles eher als rasend.“<br />

Allerdings, das muß ich als Berliner hinzufügen: Rasend war d<strong>am</strong>als auch<br />

ein Modewort. Alles war rasend: Rasend aufregend, rasend interess<strong>an</strong>t, rasend<br />

sp<strong>an</strong>nend, m<strong>an</strong> war rasend neugierig, in rasen<strong>der</strong> Hast o<strong>der</strong> rasen<strong>der</strong><br />

Eile – und was immer alles rasend sein konnte.<br />

Den „Rasenden Reporter“ hat <strong>Kisch</strong> d<strong>an</strong>n um weitere „Reporterbände“ ergänzt<br />

– im gleichen Stil, nach ähnlichen Prinzipien, aber mit Blick auf soziale<br />

Thematik und soziales Engagement weiter entwickelten Auffassungen über<br />

Wesen und Aufgabe <strong>der</strong> Reportage. Auch diese Bände erschienen - in gleicher<br />

Aufmachung - zuerst im Erich Reiß Verlag Berlin: „Hetzjagd durch die<br />

Zeit“ und „Wagnisse in aller Welt“.<br />

Jahr für Jahr wurden weitere Bücher mit unterschiedlichster Thematik verlegt:<br />

„Soldat im <strong>Prag</strong>er Korps“, später erschienen unter dem Titel „Schreib<br />

das auf, <strong>Kisch</strong>“ – „Die gestohlene Stadt“ – „Zaren, Popen, Bolschewiken“ –<br />

„Kriminalistisches Reisebuch“ – „Paradies Amerika“ – „Die Reise um Europa<br />

in 365 Tagen“ (zus<strong>am</strong>men mit seinem Freund Jaroslav Hasek) – „<strong>Prag</strong>er Pitaval“<br />

– „Sieben Jahre Justizsk<strong>an</strong>dal Max Hoelz“ – „Asien gründlich verän<strong>der</strong>t“<br />

– „Cina geheim“. Wie gesagt: Berlin war eine <strong>der</strong> produktivsten und erfolgreichsten<br />

Schaffensperioden im Leben von <strong>Kisch</strong>.<br />

Wenn vom Geheimnis seiner Arbeit als Reporter die Rede ist, d<strong>an</strong>n muß<br />

m<strong>an</strong> berücksichtigen, dass sich <strong>Kisch</strong> schon seit dem Jahre 1918 mit theoretischen<br />

und praktischen Fragen <strong>der</strong> Literatur und des Journalismus befaßt<br />

hat. Schon d<strong>am</strong>als hat er gewissermaßen eine „kleine Theorie <strong>der</strong> Reportage“<br />

entwickelt. Und über die Jahrzehnte hinweg hat er sich immer wie<strong>der</strong><br />

theoretischen Fragen <strong>der</strong> Reportage zugew<strong>an</strong>dt. Auch während seiner Berliner<br />

Zeit. Zwar gibt es aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> des „Rasenden Reporters“ keine in sich<br />

geschlossene „Theorie <strong>der</strong> Reportage“, aber wenn m<strong>an</strong> sucht und alles zus<strong>am</strong>menträgt,<br />

was <strong>Kisch</strong> im Laufe seines Lebens zu diesem Thema gesagt<br />

hat, d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> getrost feststellen:<br />

Wer ein guter Reporter werden will, <strong>der</strong> findet bei <strong>Kisch</strong> den roten Faden, <strong>der</strong><br />

findet Ratschläge, Prinzipien und Tips <strong>an</strong> die er sich besten halten k<strong>an</strong>n. Es


würde zu weit führen, hier ausführlich auf die <strong>Kisch</strong>ischischen Elemente <strong>der</strong><br />

Reportagetheorie einzugehen. Aber einige <strong>der</strong> wichtigsten Aspekte – die zugleich<br />

für <strong>Kisch</strong>s in <strong>Prag</strong> geformten Charakter sprechen – möchte ich dennoch<br />

erwähnen.<br />

Das wäre zunächst einmal sein unerschütterliches Verhältnis zur Wahrheit.<br />

Zur – wie er es einmal sagte – „dokumentarischen Wahrheit“. Was bedeutet,<br />

dass <strong>der</strong> Reporter die Aufgabe hat, die Hintergründe, die Zus<strong>am</strong>menhänge<br />

hinter dem Augenschein, hinter dem, was er gesehen hat, zu erhellen. Um<br />

diese Aufgabe zu erfüllen, benötigt <strong>der</strong> Reporter eine Fähigkeit, die <strong>Kisch</strong> als<br />

„logische Ph<strong>an</strong>tasie“ bezeichnet hat. Fragen wir ihn, was das für den Reporter<br />

bedeutet:<br />

„Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, es bedarf aber auch<br />

eines Fernrohrs: <strong>der</strong> ‚logischen Ph<strong>an</strong>tasie‘. Denn niemals bietet sich aus <strong>der</strong><br />

Autopsie eines Tatortes o<strong>der</strong> Schauplatzes, aus den aufgeschnappten Äußerungen<br />

<strong>der</strong> Beteiligten und Zeugen und aus den ihm dargelegten Vermutungen<br />

ein lückenloses Bild <strong>der</strong> Sachlage. Er muß die Problematik des Vorfalles,<br />

die Übergänge zu den Ergebnissen <strong>der</strong> Erhebungen selbst schaffen und nur<br />

darauf achten, daß die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bek<strong>an</strong>nten<br />

Tatsachen (die gegebenen Punkte <strong>der</strong> Strecke) führt. Das Ideal ist<br />

nun, daß diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit <strong>der</strong><br />

wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zus<strong>am</strong>menfällt; erreichbar<br />

und <strong>an</strong>zustreben ist ihr harmonischer Verlauf und die Bestimmung<br />

<strong>der</strong> größtmöglichen Zahl <strong>der</strong> Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich <strong>der</strong> Reporter<br />

von jedem <strong>an</strong><strong>der</strong>en seiner Gattung, hier zeigt sich <strong>der</strong> Grad seiner Begabung.“<br />

Ein weiterer wesentlicher Aspekt in <strong>Kisch</strong>s Reportagetheorie besteht in <strong>der</strong><br />

sozialen Aufgabe, im sozialen Engagement, in <strong>der</strong> Wahrheit „sozialer Erkenntnis“.<br />

Bereits in seinen frühen Streifzügen als Lokalreporter für die „Bohemia“<br />

hat das für ihn eine wesentliche Rolle gespielt. Nachzulesen in seinen<br />

Büchern mit den Skizzen aus dieser Zeit „Abenteuer in <strong>Prag</strong>“ und „Aus <strong>Prag</strong>er<br />

Gassen und Nächten“. Da schreibt er über „Herabgekommene und solche...,<br />

in <strong>der</strong>en Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bek<strong>an</strong>nt<br />

ist, daß es irgendwo Wohlst<strong>an</strong>d gebe.“<br />

Der sozialdemokratische Kulturredakteur Antonín Macek – <strong>der</strong> als erster<br />

<strong>Kisch</strong>s Werke für eine Buchausgabe ins Tschechische übertragen hat – bescheinigte<br />

<strong>Kisch</strong> schon frühzeitig „das tiefe Erkennen <strong>der</strong> Wurzeln <strong>der</strong><br />

menschlichen Not“, worin er <strong>Kisch</strong>s „Sozialironie“ begündet sah. Macek verglich<br />

<strong>Kisch</strong>s Arbeiten aus jener Zeit mit den Zeitungs-Skizzen des Englän<strong>der</strong>s<br />

Boz, dem Pseudonym des jungen Charles Dickens.<br />

Was die Wurzeln <strong>der</strong> Reportage mit sozialem Engagement betrifft, so gibt es<br />

auch da eine interess<strong>an</strong>te Aussage des „Rasenden Reporters“. Zitat:<br />

„Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, <strong>an</strong> Plinius den Jüngeren,<br />

<strong>der</strong> dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht über das Erdbeben<br />

von Pompeji lieferte, <strong>an</strong> Helfrich Sturz, den Freund Lessings, <strong>an</strong> Georg<br />

Forster, den wegen seiner Zuneigung zur Fr<strong>an</strong>zösischen Revolution<br />

verfemten deutschen Klassiker, <strong>an</strong> Charles Dickens, <strong>der</strong> eindringlich auf das<br />

Londoner Elend hinwies, <strong>an</strong> Henry M. St<strong>an</strong>ley, <strong>der</strong> von seiner Zeitung ausges<strong>an</strong>dt<br />

wurde, um den verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und<br />

einen g<strong>an</strong>zen Erdteil erforschte, vor allem aber <strong>an</strong> Emile Zola, <strong>der</strong> die Pro-


leme <strong>der</strong> neuen Zeit <strong>an</strong> Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das<br />

zeigte, wor<strong>an</strong> sie täglich ahnungslos vorübergingen o<strong>der</strong> ahnungslos beteiligt<br />

waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen, das Warenhaus,<br />

die Waschküche, die Börse, die Budike, die Kohlengrube, den Acker, die Fabrik<br />

und den Krieg, wie er wirklich ist.“<br />

In Berlin ist <strong>Kisch</strong> auch zwei Verbindungen eingeg<strong>an</strong>gen, die bis zum Ende<br />

seines Lebens halten sollten. Im November 1925 ist er in die Kommunistische<br />

Partei Deutschl<strong>an</strong>ds eingetreten. Und bereits kurz nach seiner dritten<br />

Ankunft in Berlin, im November 1921, lernte er im legendären „Rom<strong>an</strong>ische<br />

Café“ – jener Institution, in <strong>der</strong> er d<strong>an</strong>n auch seinen St<strong>am</strong>mtisch hatte – eine<br />

große Liebe kennen: Jarmla Haasová, geborene Ambrozová, eine <strong>Prag</strong>erin<br />

im Alter von 25 Jahren, die bereits im Frühjahr 1921 nach Berlin geg<strong>an</strong>gen<br />

war. Sie wurde die von <strong>Kisch</strong> autorisierte kongeniale Übersetzerin aller seiner<br />

Werke ins Tschechische, seine Interessenvertreterin in <strong>Prag</strong> bei Verlagen<br />

und Redaktionen.<br />

Es würde zu weit führen, hier ins Detail <strong>der</strong> Verbindung und fruchtbaren Zus<strong>am</strong>menarbeit<br />

zwischen <strong>Kisch</strong> und Jarmila zu gehen. Das wäre Thema eines<br />

geson<strong>der</strong>ten <strong>Vortrag</strong>es. Interess<strong>an</strong>t auch unter dem Aspekt, dass sie bei<br />

jüngsten Buchveröffentlichungen zum 125. Geburtstag von Kafka Erwähnung<br />

gefunden hat. Sie war nämlich seit dem Besuch des Mädchengymnsiums<br />

„Minerva“ in <strong>Prag</strong> eine enge Freundin von Milena Jesenská und in diesem<br />

Zus<strong>am</strong>menh<strong>an</strong>g in Begegnungen mit Kafka involviert.<br />

Zu Jarmilas Verdiensten – seit 1938 verheiratete Haasová-Necasová – gehört<br />

auch dies: Der Titel „Rasen<strong>der</strong> Reporter“ – das war ihre Idee. Im letzten<br />

Buch, das <strong>Kisch</strong> ihr kurz vor dem ersten Schlag<strong>an</strong>fall geschenkt hatte – es<br />

waren die „Entdeckungen in Mexiko“ aus dem Wiener Globus-Verlag – lautete<br />

die Widmung:<br />

„Für Jarmila, Autorin <strong>der</strong> Bezeichnung ‚rasen<strong>der</strong> Reporter‘, <strong>der</strong> ich vollkommen<br />

zustimme.“<br />

Und als <strong>Kisch</strong> d<strong>an</strong>n in <strong>Prag</strong> zu Grabe getragen wurde, da gingen in <strong>der</strong> ersten<br />

Reihe <strong>der</strong> Trauernden die Personen, die ihm <strong>am</strong> Nächsten gest<strong>an</strong>den<br />

haben: Bedrich, sein jüngster und einziger noch leben<strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> – zwei sind<br />

in deutschen Konzentrationslagern hingemordet worden, einer im Ersten<br />

Weltkrieg gefallen; seine Frau Gisl und Jarmila Haasová-Necasová.<br />

Kehren wir zurück nach Berlin. <strong>Kisch</strong>s dritter Aufenthalt in <strong>der</strong> deutschen<br />

Hauptstadt ist ebenfalls abrupt beendet worden. Diesmal durch den Terror<br />

<strong>der</strong> faschistischen Machthaber. Am 28. Februar 1933, in aller Hergottsfrühe<br />

nach dem Reichstagsbr<strong>an</strong>d, wurde er in seinem Quartier in <strong>der</strong> Güntzelstraße<br />

verhaftet. Zunächst brachte m<strong>an</strong> ihn ins Polizeipräsidium <strong>am</strong> Alex<strong>an</strong><strong>der</strong>platz.<br />

Einige Tage darauf wurde er ins Zuchthaus Sp<strong>an</strong>dau gesperrt.<br />

<strong>Kisch</strong> gehörte zu den meistgehaßten Journalisten und Schriftstellern <strong>der</strong><br />

deutschen Faschisten. Er st<strong>an</strong>d g<strong>an</strong>z oben auf ihrer schwarzen Liste – so<br />

wie seine Werke auch g<strong>an</strong>z oben auf <strong>der</strong> Liste jener Bücher st<strong>an</strong>den, die<br />

bald darauf <strong>am</strong> 10. Mai den Fl<strong>am</strong>men übergeben worden sind. <strong>Kisch</strong> war für<br />

sie ein rotes Tuch, weil er mit seiner Autorität schon seit Jahren viele Tribünen<br />

– Vers<strong>am</strong>mlungen, Konferenzen – genutzt hatte, um seine Berufskollegen<br />

wie auch die Öffentlichkeit vor <strong>der</strong> her<strong>an</strong>ziehenden faschistischen Gefahr<br />

zu warnen und gegen den Krieg zu mobilisieren. So, wie er das d<strong>an</strong>n


auch in den kommenden Jahren get<strong>an</strong> hat, in Fr<strong>an</strong>kreich, Australien, Sp<strong>an</strong>ien,<br />

Mexiko.<br />

<strong>Kisch</strong> war bek<strong>an</strong>ntlich tschechoslowakischer Staatsbürger und so mußte er<br />

aufgrund von diplomatischen Initiativen aus <strong>Prag</strong> wie<strong>der</strong> freigelassen werden.<br />

Am 11. März 1933 hat m<strong>an</strong> ihn unter Polizeibewachung <strong>an</strong> die tschechoslowakische<br />

Grenze abgeschoben. D<strong>am</strong>it war <strong>Kisch</strong>s dritter Aufenthalt in<br />

Berlin endgültig beendet.<br />

In <strong>Prag</strong> <strong>an</strong>gekommen, nahm er sofort wie<strong>der</strong> die Fe<strong>der</strong> zur H<strong>an</strong>d und<br />

schrieb den Bericht „In den Kasematten von Sp<strong>an</strong>dau“. Es war dies <strong>der</strong> erste,<br />

auch international beachtete Bericht eines Augenzeugen über die Verbrechen<br />

<strong>der</strong> Faschisten in Deutschl<strong>an</strong>d, über graus<strong>am</strong>e Mißh<strong>an</strong>dlungen, blutige<br />

Folter und Totschlag von n<strong>am</strong>enlosen Arbeitern, berühmten Intellektuellen<br />

und n<strong>am</strong>haften Politikern. <strong>Kisch</strong>s Bericht ist zuerst von <strong>der</strong> „Arbeiter-Illustrierte<br />

Zeitung“ veröffentlicht worden. Sein Verhalten in <strong>der</strong> Berlin wie auch<br />

in späteren Zeiten geht konform mit dem Thema dieser Konferenz: Er ist entschieden<br />

aufgetreten gegen den Faschismus. Und die Reportagen und Bücher,<br />

die <strong>der</strong> Internationalist <strong>Kisch</strong> von allen Kontinenten lieferte, sie haben<br />

den Lesern das Verständnis für Menschen <strong>an</strong><strong>der</strong>er Kulturen ins Haus gebracht.<br />

Es sind noch immer wun<strong>der</strong>bare Beiträge gegen Fremdenfeindlichkeit.<br />

Die Rezeption <strong>der</strong> <strong>Kisch</strong>ischischen Werke in Deutschl<strong>an</strong>d hat einen wechselhaften<br />

Verlauf genommen. In <strong>der</strong> Weimarer Republik sind seine Bücher<br />

immer wie<strong>der</strong> aufgelegt worden: „<strong>Prag</strong>er Pitaval“ – 10 Auflagen. „Schreib das<br />

auf, <strong>Kisch</strong> – 10 Auflagen. „Paradies Amerika“ – 32 Auflagen. Im „Tausendjährigen<br />

Reich“ war er natürlich verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er<br />

zunächst in <strong>der</strong> d<strong>am</strong>aligen Ostzone ein schnelles come back erlebt. Der<br />

neugegründete Aufbau-Verlag hat sich seiner <strong>an</strong>genommen und schon im<br />

Herbst 1947 war <strong>der</strong> erste <strong>Kisch</strong> auf dem Ladentisch: Sein autobiografisches<br />

Buch „Marktplatz <strong>der</strong> Sensationen“.<br />

Es war, nebenbei gesagt, auch das erste Buch, das ich mir d<strong>am</strong>als nach dem<br />

Kriege von meinem Lehrlingsgeld gekauft habe.<br />

Nach Gründung <strong>der</strong> DDR ist <strong>Kisch</strong> d<strong>an</strong>n in schönen, sorgs<strong>am</strong> betreuten<br />

Ausgaben und Auflagen verlegt worden. M<strong>an</strong>che meinen, er sei dort als ein<br />

Säulenheiliger beh<strong>an</strong>delt worden. Natürlich ist <strong>der</strong> M<strong>an</strong>n aus dem <strong>Prag</strong>er<br />

„Bärenhaus“, <strong>der</strong> jüdische Kommunist, <strong>der</strong> „Rasende Reporter“, dieser Meisterjournalist<br />

ist ein Vorbild für junge Journalisten gewesen, dem es nachzueifern<br />

galt.<br />

In <strong>der</strong> Bundesrepublik ist <strong>Kisch</strong> l<strong>an</strong>ge Jahre von einflußreichen Kräften mit<br />

spitzen Fingern <strong>an</strong>gefaßt worden – so, wie m<strong>an</strong> übrigens auch Carl von Ossietzky,<br />

Bert Brecht, Eugen Kogon o<strong>der</strong> sogar Heinrich Heine mit spitzen<br />

Fingern <strong>an</strong>gefaßt hat. Eine Bresche in die öffentliche Anerkennung von <strong>Kisch</strong><br />

hat <strong>der</strong> H<strong>am</strong>burger Verleger Henry N<strong>an</strong>nen, Chef <strong>der</strong> einflußreichen Illustrierte<br />

„stern“ im Jahre 1979 geschlagen: Er stiftete einen Egon-Erwin-<br />

<strong>Kisch</strong>-Preis für Journalisten, <strong>der</strong> alljährlich in mehreren Kategorien vergeben<br />

worden ist. Dieser Preis ist zwar vor einigen Jahren in Henry-N<strong>an</strong>nen-Preis<br />

umgewidmet worden, aber die Krone <strong>der</strong> Schreiber, die Reportage, wird<br />

nach wie vor als Egon Erwin <strong>Kisch</strong> Preis verliehen. Zu <strong>Kisch</strong>s 100. Geburtstag<br />

im Jahre 1985 hat <strong>der</strong> Journalistenverb<strong>an</strong>d <strong>der</strong> DDR ebenfalls einen


<strong>Kisch</strong>-Preis gestiftet, mit dem junge Journalistinnen und Journalisten für herausragende<br />

Reportagen ausgezeichnet worden sind.<br />

Wie hier in <strong>Prag</strong>, so ist nun auch in Berlin <strong>Kisch</strong>s 60. Todestag zum Anlaß<br />

genommen worden, <strong>Kisch</strong> auf beson<strong>der</strong>e Weise zu würdigen. Erstmalig ist in<br />

<strong>der</strong> deutschen Hauptstadt eine <strong>Kisch</strong>-Ausstellung gezeigt worden. Und zwar<br />

vom 31. März bis 16. Mai in <strong>der</strong> Mediengalerie des Hauses <strong>der</strong> Buchdrucker,<br />

einem historischen Gebäude aus jener Zeit, in <strong>der</strong> <strong>Kisch</strong> in Berlin tätig gewesen<br />

ist. Org<strong>an</strong>isatoren und Schirmherren dieser Ausstellung – mit dem Kurator<br />

Marcus Patka aus Wien – waren <strong>der</strong> L<strong>an</strong>desverb<strong>an</strong>d Berlin-Br<strong>an</strong>denburg<br />

<strong>der</strong> großen Gewerkschaft ver.di, <strong>der</strong> Schriftstellerverb<strong>an</strong>d und die deutsche<br />

journalisten union. Begleitend zur Ausstellung f<strong>an</strong>den Lesungen aus<br />

<strong>Kisch</strong>s Büchern statt sowie Diskussionen über zeitgenössische Probleme<br />

des Journalismus. Ein Berliner Verlag, <strong>der</strong> sich vornehmlich jüdischer Thematik<br />

widmet, hat in seiner noblen Reihe „Jüdische Miniaturen“ mit Biografien<br />

prominenter jüdischer Persönlichkeiten von Moses Mendelsson bis Kurt<br />

Tucholsky zum 31. März diesen Jahres auch Egon Erwin <strong>Kisch</strong> herausgebracht.<br />

Das Goldene <strong>Prag</strong> k<strong>an</strong>n stolz sein auf diesen Sohn ihrer Stadt – diesen Zeitgenossen<br />

von Kafka, dessen 125. Geburtstag hier wie auch in Deutschl<strong>an</strong>d<br />

auf vielfältige Weise gewürdigt worden ist. Gleich Kafka ist auch <strong>Kisch</strong> eine<br />

Institution. M<strong>an</strong> muß nicht einmal den Vorn<strong>am</strong>en nennen, wenn von ihnen<br />

die Rede ist. Einfach: <strong>Kisch</strong>.<br />

Dass <strong>der</strong> Primator sich zu <strong>Kisch</strong>s Fürsprecher macht, ehrt ihn und das Goldene<br />

<strong>Prag</strong>. Es wäre großartig, wenn es ihm gelingen würde, im Haus „Zu<br />

den zwei goldenen Bären“ in <strong>der</strong> Mel<strong>an</strong>trichová bis zum 125. Geburtstag des<br />

„Rasenden Reporters“ <strong>am</strong> 29. April 2010 wenigstens einen Raum in ein kleines<br />

<strong>Kisch</strong>-Museum zu verw<strong>an</strong>deln. Zur Ehre <strong>Prag</strong>s und ihres bedeutenden<br />

Sohnes. Und zur Freude <strong>der</strong> Touristen aus aller Welt.<br />

Mein Anliegen ist es nicht gewesen, einem gewissen Zeitgeist folgend, im<br />

Leben und Werk von Menschen herumzustochern, um sie verächtlich zu<br />

machen – nur, weil sie Kommunisten gewesen sind. Es ging mir auch nicht<br />

um eine Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung mit Kritikern, die <strong>am</strong> gedeckten Tisch sitzen<br />

und aus heutiger Sicht über Meinungen und Taten des streitbaren – und<br />

auch umstrittenen – Vollblutjournalisten <strong>Kisch</strong> urteilen, <strong>der</strong> oft dem Elend in<br />

die Augen geblickt hat und <strong>am</strong> Hungertuche nagte – und <strong>der</strong> auch unter großen<br />

Gefahren gegen Krieg und den mör<strong>der</strong>ischen deutschen Faschismus<br />

gekämpft hat. Ich will jene unterstützen, die – frei von ideologischen Scheuklappen<br />

- <strong>Kisch</strong> den ihm gebührenden Platz einräumen. Immerhin: Im Mai<br />

1938 – bei den letzten freien Wahlen vor dem Einfall <strong>der</strong> deutschen Truppen<br />

– ist er in den Stadtrat von <strong>Prag</strong> gewählt worden. Es gibt viele Urteile über<br />

ihn. Ein sehr treffendes st<strong>am</strong>mt von dem deutschen Schriftsteller Leonhard<br />

Fr<strong>an</strong>k. Schon vor dem ersten Weltkrieg hat er <strong>Kisch</strong> kennen gelernt und<br />

sagte nach dem Tod seines Freundes:<br />

„<strong>Kisch</strong> hatte eine Eigenschaft, die wenige Menschen haben - er war ein<br />

echter Freund...Seine Bücher leben, und sie werden länger leben als die <strong>der</strong><br />

Herren, die durch die geschichtlichen Ereignisse <strong>der</strong> ersten Hälfte des zw<strong>an</strong>zigsten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts nichts dazu gelernt haben.“<br />

Es war mir ein Vergnügen, <strong>an</strong> dieser traditionsreichen <strong>Karls</strong>-<strong>Universität</strong> für<br />

<strong>Kisch</strong> sprechen zu dürfen.


Aus Anlaß des 60. Todestages von <strong>Kisch</strong> (29.April 1885 - 31. März 1948) hat<br />

<strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Karls</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Prag</strong> <strong>am</strong> <strong>2.</strong> <strong>Oktober</strong> <strong>2008</strong> eine <strong>Kisch</strong>-Konferenz<br />

stattgefunden. Die Konferenz wurde vom Primator von <strong>Prag</strong> (Oberbürgermeister),<br />

MUDr. Pavel Bém, eröffnet. Mitorg<strong>an</strong>isator war <strong>der</strong> tschechische<br />

Klub von Autoren <strong>der</strong> Faktenliteratur. Der Vorsitzende dieser Berufsvereinigung<br />

und Historiker, PhDr. Karel Richter hielt das Einleitungsreferat. Als einziger<br />

ausländischer Redner war Klaus Haupt geladen, um über <strong>Kisch</strong>s Jahre<br />

in Berlin 1921 bis 1933 zu referieren.

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