ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 127
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Europäische Währungsunion<br />
Abschaffung von Lohn indexierungssystemen, Erweiterung<br />
und Beschleunigung der gegenseitigen<br />
Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen,<br />
Schaffung einer einheitlichen Körperschaft -<br />
steuerbemessungsgrundlage, Anpassung des Renteneintrittsalters<br />
an die demographische Entwicklung,<br />
Schaffung nationaler Krisenbewältigungssysteme<br />
für Banken, Einbau einer Schuldenbremse<br />
in die Verfassung aller Mitgliedstaaten.<br />
Rätselhaft erscheint, was Merkel vom letzten Punkt,<br />
der Schuldenbremse, erwartet, da die Bilanz des Stabilitäts-<br />
und Wachstumspaktes schon so zwie spältig<br />
ausfällt. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse<br />
in Deutschland hat ein strukturelles und ein<br />
konjunkturelles Ziel. Strukturell soll der Gesamthaushalt<br />
in normalen Jahren wie im Stabilitäts- und<br />
Wachstumspakt quasi ausgeglichen schließen. Nur<br />
beim Bundeshaushalt lässt die Schuldenbremse ein<br />
kleines strukturelles Defizit von 0,35 Prozent des BIP<br />
zu. Insofern laufen die Schuldenbremse und der<br />
Stabilitäts- und Wachs tumspakt fast parallel. Da die<br />
Schuldenbremse nicht über ein eigenes Sanktionssystem<br />
verfügt, kommen faktisch die Sanktionsmaßnahmen<br />
des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zum<br />
Tragen, wo diese greifen.<br />
Anders als der Stabilitäts- und Wachstumspakt reguliert<br />
die deutsche Schuldenbremse nicht nur<br />
die strukturelle, sondern vor allem auch die konjunkturelle<br />
Verschuldung. Defizite aus einer vergangenen<br />
Rezession sollen im folgenden Aufschwung<br />
nicht vergessen, sondern in einem Kont -<br />
rollkonto festgehalten und dann abgetragen werden.<br />
Drei Arten von Defiziten werden bei der<br />
deutschen Schuldenbremse unterschieden: 11 Defizite<br />
aus dem Wirken automatischer Stabilisatoren,<br />
die im nachfolgenden Aufschwung automatisch,<br />
das heißt ohne besonderen Beschluss abgebaut<br />
werden; darüber hinaus gehende Defizite, die<br />
zwingend, aber konjunkturgerecht und damit<br />
halbautomatisch abgebaut werden, wenn sie 1,5<br />
Prozent des BIP überschreiten; Defizite aus Naturkatastrophen<br />
größeren Ausmaßes, die nach einem<br />
besonders beschlossenen Tilgungsplan ohne Automatismus<br />
abgebaut werden.<br />
11 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft<br />
und Technologie, „Überschuldung und Staatsinsolvenz in der<br />
Europäischen Union“, Berlin 2010.<br />
Während der Stabilitäts- und Wachstumspakt aus<br />
einer Stufenfolge von Beschlüssen von EU-Kommission<br />
und Europäischem Rat besteht, sollen bei<br />
der Schuldenbremse die einzelnen Stufen weitgehend<br />
automatisch aufeinanderfolgen. Die Schuldenbremse<br />
scheint daher in größerem Maße zielgerichtet<br />
als das beschlussweise Vorgehen beim<br />
Stabilitäts- und Wachstumspakt. Allerdings haben<br />
sich die Deutschen nicht bereitgefunden, bei Bestehen<br />
eines Automatismus einem Sanktionssystem<br />
zuzustimmen. Bei Nichtbefolgung der Regeln<br />
muss die Regierung des betroffenen Bundeslandes<br />
eine moralische Unterrichtung durch den Stabilitätsrat<br />
über sich ergehen lassen, aber keine<br />
Strafen hinnehmen. So lässt sich festhalten: Unter<br />
den verschiedenen in der Praxis denkbaren Arten<br />
von Schuldenschranken gibt es offenbar solche<br />
mit Sanktionen, aber ohne Automatismus, und<br />
solche mit Automatismus, aber ohne Sanktionen,<br />
aber bisher keine, bei der beides zusammentrifft.<br />
Liquiditätshilfephase<br />
Wenn ein Mitgliedstaat der Europäischen Währungsunion<br />
trotz präventiver Maßnahmen zahlungsunfähig<br />
wird, so ist er noch lange nicht ban -<br />
krott, meinen die Initiatoren des ESM. Der Staat<br />
tritt vielmehr in den Übergangszustand eines<br />
„quasibankrotten Staates“.<br />
Zunächst prüfen EU-Kommission, IWF und EZB,<br />
ob der zahlungsunfähige Staat nur in einer Liquiditätskrise<br />
steckt und ob noch Hoffnung auf Rettung<br />
besteht. In diesem Fall soll ein Anpassungsprogramm<br />
ausgearbeitet werden, das der Regierung<br />
die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen ermöglicht.<br />
Finanziert wird es aus Krediten anderer Euro-Staaten<br />
entsprechend ihren EZB-Kapitalanteilen. Dabei<br />
ist vorgesehen, dass der Rat einstimmig entscheidet.<br />
In einem konkreten Fall könnte also der deutsche<br />
Vertreter – wie die Vertreter anderer Länder auch –<br />
ein Veto einlegen. Allerdings würde er dem Druck<br />
der anderen Ratsmitglieder ausgesetzt sein. Erfahrungsgemäß<br />
verlieren die Abgesandten im Europäischen<br />
Rat, je länger sie in Brüssel verhandeln, die<br />
gefühlte Bindung zu ihren Wählern zu Hause und<br />
neigen zu einem Brüsseler Kompromiss. Zu Hause<br />
können sie dann sagen: Das Brüsseler Verhandlungspaket<br />
war „ohne Alternative“.<br />
Die Schwäche der Liquiditätshilfephase ist ihre<br />
Unbestimmtheit. Niemand kann genau sagen, ab<br />
wann sich Liquiditätshilfen nicht mehr lohnen.<br />
Währenddessen verbleibt das Land am Tropf der<br />
Hilfsmaßnahmen im „quasibankrotten“ Zustand<br />
und bekommt eine strenge Sparpolitik verordnet<br />
in der Hoffnung, dass seine Staatsfinanzen gesunden.<br />
Doch gerade dadurch werden ausländische<br />
Investoren wenig ermutigt, in dem Land zu inves-<br />
50 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik <strong>127</strong> (1/2011)