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ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 127

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Europäische Währungsunion<br />

Bericht aus Griechenland: Der Weg in die Krise<br />

Martin Knapp<br />

Geschäftsführer der Deutsch-Griechischen Industrie- und Handelskammer, Athen<br />

Die Eurozone ist im Durchschnitt eine erfolgreiche Region: Sie ist auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig, ihre Staaten<br />

sind hinreichend solvent, und ihre Bewohner können mit der Einheitswährung recht gut leben. Doch ist der Durchschnitt<br />

eine geeignete Orientierungsgröße Was ist mit den Ländern, die vom Durchschnitt am weitesten abweichen, zum<br />

Beispiel Griechenland<br />

Um Griechenland bei der Beurteilung seiner derzeitigen<br />

Krise gerecht zu werden, ist ein kurzer<br />

Ausflug in die Geschichte des Landes unumgänglich.<br />

Fragt man traditionell denkende Hellenen<br />

danach, warum sich das Land mit der Einhaltung<br />

europäischer Standards so schwer tut, erhält man<br />

auch heute manchmal noch als Antwort den Verweis<br />

auf die vierhundertjährige Türkenherrschaft.<br />

Dieses Argument klingt seltsam angesichts der Tatsache,<br />

dass aus der Türkei selber mittlerweile eine<br />

wirtschaftliche Erfolgsmeldung nach der anderen<br />

kommt.<br />

So weit in die Vergangenheit braucht man jedoch<br />

nicht zu gehen. Der Zweite Weltkrieg hinterließ<br />

ein zerstörtes Griechenland, wie in anderen europäischen<br />

Staaten gleichermaßen. Doch der griechische<br />

Sonderweg beginnt gleich nach dem<br />

Krieg. Nachdem die späteren Siegermächte im<br />

Oktober 1944 ihre Einflussgebiete für die Nachkriegszeit<br />

unter sich aufgeteilt hatten, wussten fast<br />

alle Europäer bald, in welches Lager sie gehören<br />

würden – mit Ausnahme der Griechen. Und das,<br />

obwohl sie im sogenannten Moskauer Prozentabkommen<br />

der britisch-westlichen Einflusssphäre zugeordnet<br />

worden waren. Auf die Befreiung des<br />

Landes von der deutschen Besatzung folgte jedoch<br />

ein Bürgerkrieg zwischen der linken Volksfront<br />

und den griechischen Konservativen, der bis<br />

zum Sommer 1949 dauerte.<br />

Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus<br />

Der fünfjährige Bürgerkrieg hinterließ in Griechenland<br />

tiefe Gräben, die sich jahrzehntelang<br />

quer durch die Gesellschaft zogen. Da waren einer -<br />

seits die Sieger, das heißt die Teile der Bevölkerung,<br />

die von Anfang an auf das am Ende siegreiche<br />

Pferd gesetzt hatten. Am anderen Rand des<br />

Spektrums standen die Verlierer, also diejenigen,<br />

die sich unbeirrbar zum kommunistischen Ideal<br />

bekannten und daher bis zum Ende der Militärdiktatur<br />

Mitte der 1970er Jahre vielerlei Verfolgungen<br />

ausgesetzt waren.<br />

In der Mitte aber gab es eine große Gruppe von<br />

Griechen, die auf die verschiedenste Art und<br />

Weise ins Spiel der politischen Kräfte hineingezogen<br />

worden waren. Sie hatten sich – freiwillig oder<br />

unfreiwillig – im linken Lager wiedergefunden,<br />

ohne zum harten Kern der Kommunisten zu gehören.<br />

Die Sieger hegten gegen diese große Gruppe<br />

über dreißig Jahre lang einen Generalverdacht,<br />

der zu vielerlei Benachteiligungen führte, vor allem<br />

im beruflichen Leben. Dieser Generalverdacht<br />

erstreckte sich nicht nur auf die Bürgerkriegsgeneration<br />

selbst, sondern auch auf die<br />

nächste Generation.<br />

Die Periode der griechischen Nachkriegsgeschichte<br />

hat in der Gesellschaft Spuren hinterlassen.<br />

Bei vielen Griechen herrscht bis heute die<br />

Vorstellung, dass 1949 eine einzigartige Gelegenheit<br />

verpasst wurde, eine gerechte Gesellschaft zu<br />

schaffen. Schon seit Mitte der 1970er Jahre hat an<br />

den griechischen Universitäten, aber auch im öffentlichen<br />

Diskurs, die Linke das Monopol in Bezug<br />

auf die Interpretation der Geschichte übernommen.<br />

Und wer weiß, wie hoch der Stellenwert<br />

der Geschichte in den Gesellschaften Südosteu -<br />

ropas ist, weiß auch einzuschätzen, welch eine<br />

Macht dort entstanden ist.<br />

Der Stalinismus, der in Griechenland nie zum Zuge<br />

kam, hatte keine Gelegenheit, seinen Zauber zu<br />

verlieren wie in den Ländern, wo er jahrzehntelang<br />

herrschte. Die marxistische These, dass das<br />

Sein das Bewusstsein bestimmt, wird in Griechenland<br />

tagtäglich widerlegt. Auch Menschen, die<br />

40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik <strong>127</strong> (1/2011)

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