ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 127
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ORDO-Jahrbuch<br />
Philosophie versus Mathematik<br />
Den meisten Diskussionsstoff über die Selbstverständigung<br />
der Ordnungsökonomik bieten zwei<br />
kontradiktorische Artikel aus der Feder von Steffen<br />
W. Groß und Wilhelm Meyer. Groß beklagt in seinem<br />
Beitrag die Zurückdrängung der Wirtschaftsphilosophie<br />
aus der akademischen Lehrpraxis, die<br />
übermäßige Neigung zur mathematischen Modellierung,<br />
den umfassenden Geltungsanspruch der<br />
ökonomischen Theorie auf alle Aspekte des<br />
menschlichen Zusammenlebens und die Sprachlosigkeit<br />
zwischen Ökonomen und Philosophen.<br />
Er wendet sich dezidiert gegen die Neigung der<br />
Ökonomen, den Methoden und Fragestellungen<br />
der exakten Naturwissenschaften nachzueifern<br />
und anstelle des Verstehens komplexer Zusammenhänge<br />
nach kausalanalytischen Erklärungen<br />
zu suchen.<br />
Meyer hat gegen eine solche Umorientierung der<br />
Ökonomie auf ein philosophisch-geisteswissenschaftliches<br />
Selbstverständnis einiges einzuwenden:<br />
Philosophen seien nicht immer gute Ratgeber,<br />
die Ökonomie sei nun einmal eine Wirklichkeits-<br />
und Erfahrungswissenschaft, ihr Erkenntnisprogramm<br />
könne im Sinne einer allgemeinen Sozialwissenschaft<br />
breit angelegt sein, es gebe im Sinne<br />
von Karl Popper eine fundamentale Ähnlichkeit<br />
zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften,<br />
das von den Geisteswissenschaften propagierte<br />
Verstehen enthalte oftmals unbewusstes<br />
Erklären und implizite Gesetzmäßigkeiten, der Ersatz<br />
der inzwischen dominierenden naturalistischen<br />
Methoden durch verstehende Methoden sei<br />
ein Rückschritt – auch wenn die Analyse von<br />
Marktzusammenhängen und ihren institutionellen<br />
Fundamenten durch die Konzentration auf<br />
mathematische Elemente bisweilen zugestandenermaßen<br />
zu kurz komme.<br />
Ein salomonisches Urteil zwischen den beiden Autoren<br />
zu fällen oder sich eindeutig auf die eine<br />
oder andere Seite zu schlagen, ist für den Leser<br />
kein leichtes Unterfangen. So sehr die Wirtschaftsund<br />
Sozialwissenschaften auch Erfahrungswissenschaften<br />
sind, die sich um eine möglichst exakte<br />
Klärung der Probleme bemühen sollten, so richtig<br />
ist auch, dass die Wirklichkeit gerade aus Sicht der<br />
Ordnungstheorie viele grundlegende Prob leme<br />
bereit hält, die sich nur qualitativ erfassen lassen.<br />
Ein Fachverständnis, das sich einem Diktat der genauesten<br />
Methoden unterwirft und sich auf diese<br />
verengt, läuft Gefahr, wichtige Teile der Realität<br />
schlichtweg nicht mehr wahrzunehmen und sich<br />
in wirklichkeitsfremden Laborwelten und Gedankenexperimenten<br />
zu verirren. Verlust an Orientierung<br />
und Orientierungskraft, die Entkopplung<br />
von Problemen der politischen und ökonomischen<br />
Praxis, eine scholastisch anmutende Erstarrung,<br />
ein betriebsamer Leerlauf, die Diktatur des<br />
Mainstreams und manch anderes mehr kennzeichnen<br />
die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften<br />
unserer Tage nicht ohne Grund.<br />
Ganz ohne Sinn für qualitative Methoden und für<br />
die philosophischen Dimensionen menschlichen<br />
Handelns und Denkens kommen jedenfalls auch<br />
die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht<br />
aus, wozu übrigens auch der Beitrag von Manfred<br />
E. Streit wichtige Argumente enthält. Die geistige<br />
und methodische Engführung der Sozialwissenschaften<br />
gefährdet ungeachtet all des respektab -<br />
len Aufwands und handwerklichen Geschicks den<br />
kreativen Wettbewerb und Pluralismus der Methoden<br />
und Fragestellungen; sie verführt in der Überschätzung<br />
der methodischen Vernunft dazu, eine<br />
ganz grundlegende und unverzichtbare Skepsis<br />
und Bescheidenheit aufzugeben. Die Finanzmarktkrise<br />
ist eben nicht allein auf ein wenig<br />
Marktversagen und viel Politik- und Regulierungsversagen<br />
zurückzuführen, sondern auch auf eine<br />
gehörige Portion Wissenschaftsversagen.<br />
Andererseits dürfte es jedoch eine Illusion sein,<br />
sich von einer Hinwendung zur Philosophie und<br />
zu den übrigen Geisteswissenschaften eine Läuterung<br />
zu erwarten. Tatsächlich geht es nicht um eine<br />
Alternative zwischen Naturwissenschaften und<br />
Geisteswissenschaften, sondern zu beobachten ist<br />
quer über die Wissenschaftsgrenzen hinweg ein<br />
tief eingewurzelter Rationalismus, der, worauf vor<br />
allem Michael Oakeshott hinwies, ein Kennzeichen<br />
des neuzeitlichen Denkens ist. Ihm verdanken wir<br />
einen großen Teil unseres technischen Fortschritts,<br />
aber in seinem intoleranten Geltungsanspruch<br />
bedeutet er auch im Sinne Friedrich A. von<br />
Hayeks eine verhängnisvolle Anmaßung von Wissen,<br />
die zur Verengung und Verirrung vieler Fachkulturen<br />
unserer Wissenschaften und unseres politischen<br />
Denkens beigetragen hat. Kurzum: Die<br />
meisten Philosophen, Historiker oder Literaturwissenschaftler<br />
sind derzeit auch nicht viel klüger<br />
oder zeitgeistresistenter als die Ökonomen.<br />
Bei all diesen Beiträgen handelt es sich um Texte,<br />
deren Blick gewissermaßen nach innen gerichtet<br />
ist. Allesamt dienen sie der Selbstreflexion und<br />
Selbstverständigung ordnungsökonomischen Denkens<br />
– sei es durch Nachdenken über die ordnungstheoretischen<br />
Grundlagen der Disziplin, sei<br />
es durch die Integration von Fragestellungen, die<br />
Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik <strong>127</strong> (1/2011)<br />
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