ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 127

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ludwig.erhard.stiftung.de
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19.01.2015 Aufrufe

Ordnungspolitik breiteten Maximierungsdenken in der Politik verabschieden und wieder mehr Verständnis dafür entwickeln, dass die Probleme von Politik und Wirtschaft ganz ähnlich wie diejenigen der Medizin letztlich Optimierungsprobleme sind, in denen es auf ein Gleichgewicht der vielfältigen Möglichkeiten und Wünsche ankomme. Auch andere Beiträge des Jahrbuchs sind, wenngleich weniger energisch und kämpferisch als derjenige Willgerodts, auf die Selbstbesinnung und Selbstverständigung der Ordnungstheorie ausgerichtet. Viktor J. Vanberg verknüpft in seinem Beitrag über „Freiheit und Verantwortung“ auf anregende Weise Ordnungsökonomik und Neurowissenschaft, indem er einen Weg aufzeigt, wie beide Sichtweisen und Forschungsprogramme allen Unkenrufen zum Trotz zusammenfinden können. Während oft von einem Konflikt zwischen der in der Neurowissenschaft vertretenen These von der kausalen Determiniertheit menschlichen Handelns einerseits und der für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung grundlegenden Komplementarität von Freiheit und Verantwortung andererseits die Rede ist, möchte Vanberg zwischen beiden Forschungsprogrammen vermitteln und die unterschiedlichen Probleme herausarbeiten: Gehe es den Neurowissenschaften um die Erklärung von Handlungen, so ziele die Ordnungsökonomik auf die Gestaltung einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung, indem das Verhalten der Akteure durch institutionelle Rahmenbedingungen gelenkt wird. Mit ähnlich souveräner Übersicht wie Vanberg steuert auch Manfred E. Streit mit seinem Beitrag eine Skizze allgemeiner Ordnungstheorie bei, die vor allem den interdisziplinären Charakter ihrer Fragestellung betont. Gleich vier Beiträge gehen der Frage nach der interdisziplinären Einbettung der Ordnungsökonomik aus einem anderen Blickwinkel nach: Johannes Hirata, Friedrich Heinemann, Björn Bünger, Aloys Prinz und Manfred Spieker variieren das Thema Glücksforschung und Gewissens - ökonomik. Sie bemühen sich damit um den Anschluss der Ordnungsökonomik an Fragestellungen, die in den vergangenen Jahren nicht nur innerhalb der Ökonomie als Alternative zu allzu materialistischen Sichtweisen auf Wohlstand und Wachstum entwickelt wurden, sondern auch eine Brücke zu Themen der soziologischen Theorie und der Sozialethik schlagen. Ideengeschichtliche Grundlagen der Ordnungstheorie Zwei Beiträge des Jahrbuchs sind der Ideengeschichte gewidmet. Während Ulrich Fehl und Peter Oberender an den kürzlich verstorbenen Ernst Heuß erinnern und diesem großen Vertreter der zweiten Generation des deutschen Ordoliberalismus ein würdiges Denkmal setzen, spüren Rainer Klump und Manuel Wörsdörfer in ihrem Beitrag dem Verhältnis zwischen Adam Smith und Walter Eucken nach. Sie kommen zu einem Befund, den sie auch selbst nicht ganz aufklären können: Obwohl es zwischen beiden Autoren auffällige Ähnlichkeiten gibt, bezieht sich Eucken nur selten auf Smith und grenzt sich einige Male von ihm ab, ja missachtet ihn geradezu. Vielleicht, so ist man geneigt anzumerken, steckt dahinter, dass sich Eucken ähnlich wie vor ihm bereits Kant mit dem Problem konfrontiert sah, die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in einer anonymen Gesellschaft durch allgemeine, abstrakte Regeln zu ermöglichen, während Smith noch stärker auf Vertrauen, Sympathie und persönliche Nähe der Menschen als regulierende Instanzen in einer im Ganzen noch recht übersichtlichen Gesellschaft setzte. Jedenfalls wird durch den Beitrag wieder einmal deutlich, wie überfällig es ist, dass Euckens geistige Entwicklung unter Zuhilfenahme der archivalischen Quellen gründlich aufgearbeitet wird. Dass sein Nachlass kaum zugänglich ist, steht einem solchen Vorhaben leider schon viel zu lange im Wege. Mit bemerkenswertem Mut zur Knappheit bietet Roland Vaubel eine Skizze über die historische Entwicklung der Freiheit in Deutschland seit dem Mittelalter. Es überrascht nicht, dass Vaubel auf ein ambivalentes Verhältnis der Deutschen zur Freiheit stößt. Ob der Zugewinn an Freiheit nach 1945 wirklich, wie er es bezeichnet, ein „amerikanisches Erbe“ war, darüber ließe sich trefflich streiten, zumal die ordnungspolitischen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht denselben Geist atmen wie die bemerkenswert pragmatische und interventionistische Wirtschafts-, Sozial- und Geldpolitik der USA im 20. Jahrhundert. Überzeugend und zugleich nachdenklich machend ist jedoch Vaubels Hinweis, dass viele der Zugewinne an wirtschaftlicher Freiheit, die die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik ermöglicht haben, inzwischen wieder verloren gegangen sind. 32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 127 (1/2011)

ORDO-Jahrbuch Philosophie versus Mathematik Den meisten Diskussionsstoff über die Selbstverständigung der Ordnungsökonomik bieten zwei kontradiktorische Artikel aus der Feder von Steffen W. Groß und Wilhelm Meyer. Groß beklagt in seinem Beitrag die Zurückdrängung der Wirtschaftsphilosophie aus der akademischen Lehrpraxis, die übermäßige Neigung zur mathematischen Modellierung, den umfassenden Geltungsanspruch der ökonomischen Theorie auf alle Aspekte des menschlichen Zusammenlebens und die Sprachlosigkeit zwischen Ökonomen und Philosophen. Er wendet sich dezidiert gegen die Neigung der Ökonomen, den Methoden und Fragestellungen der exakten Naturwissenschaften nachzueifern und anstelle des Verstehens komplexer Zusammenhänge nach kausalanalytischen Erklärungen zu suchen. Meyer hat gegen eine solche Umorientierung der Ökonomie auf ein philosophisch-geisteswissenschaftliches Selbstverständnis einiges einzuwenden: Philosophen seien nicht immer gute Ratgeber, die Ökonomie sei nun einmal eine Wirklichkeits- und Erfahrungswissenschaft, ihr Erkenntnisprogramm könne im Sinne einer allgemeinen Sozialwissenschaft breit angelegt sein, es gebe im Sinne von Karl Popper eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, das von den Geisteswissenschaften propagierte Verstehen enthalte oftmals unbewusstes Erklären und implizite Gesetzmäßigkeiten, der Ersatz der inzwischen dominierenden naturalistischen Methoden durch verstehende Methoden sei ein Rückschritt – auch wenn die Analyse von Marktzusammenhängen und ihren institutionellen Fundamenten durch die Konzentration auf mathematische Elemente bisweilen zugestandenermaßen zu kurz komme. Ein salomonisches Urteil zwischen den beiden Autoren zu fällen oder sich eindeutig auf die eine oder andere Seite zu schlagen, ist für den Leser kein leichtes Unterfangen. So sehr die Wirtschaftsund Sozialwissenschaften auch Erfahrungswissenschaften sind, die sich um eine möglichst exakte Klärung der Probleme bemühen sollten, so richtig ist auch, dass die Wirklichkeit gerade aus Sicht der Ordnungstheorie viele grundlegende Prob leme bereit hält, die sich nur qualitativ erfassen lassen. Ein Fachverständnis, das sich einem Diktat der genauesten Methoden unterwirft und sich auf diese verengt, läuft Gefahr, wichtige Teile der Realität schlichtweg nicht mehr wahrzunehmen und sich in wirklichkeitsfremden Laborwelten und Gedankenexperimenten zu verirren. Verlust an Orientierung und Orientierungskraft, die Entkopplung von Problemen der politischen und ökonomischen Praxis, eine scholastisch anmutende Erstarrung, ein betriebsamer Leerlauf, die Diktatur des Mainstreams und manch anderes mehr kennzeichnen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften unserer Tage nicht ohne Grund. Ganz ohne Sinn für qualitative Methoden und für die philosophischen Dimensionen menschlichen Handelns und Denkens kommen jedenfalls auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht aus, wozu übrigens auch der Beitrag von Manfred E. Streit wichtige Argumente enthält. Die geistige und methodische Engführung der Sozialwissenschaften gefährdet ungeachtet all des respektab - len Aufwands und handwerklichen Geschicks den kreativen Wettbewerb und Pluralismus der Methoden und Fragestellungen; sie verführt in der Überschätzung der methodischen Vernunft dazu, eine ganz grundlegende und unverzichtbare Skepsis und Bescheidenheit aufzugeben. Die Finanzmarktkrise ist eben nicht allein auf ein wenig Marktversagen und viel Politik- und Regulierungsversagen zurückzuführen, sondern auch auf eine gehörige Portion Wissenschaftsversagen. Andererseits dürfte es jedoch eine Illusion sein, sich von einer Hinwendung zur Philosophie und zu den übrigen Geisteswissenschaften eine Läuterung zu erwarten. Tatsächlich geht es nicht um eine Alternative zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, sondern zu beobachten ist quer über die Wissenschaftsgrenzen hinweg ein tief eingewurzelter Rationalismus, der, worauf vor allem Michael Oakeshott hinwies, ein Kennzeichen des neuzeitlichen Denkens ist. Ihm verdanken wir einen großen Teil unseres technischen Fortschritts, aber in seinem intoleranten Geltungsanspruch bedeutet er auch im Sinne Friedrich A. von Hayeks eine verhängnisvolle Anmaßung von Wissen, die zur Verengung und Verirrung vieler Fachkulturen unserer Wissenschaften und unseres politischen Denkens beigetragen hat. Kurzum: Die meisten Philosophen, Historiker oder Literaturwissenschaftler sind derzeit auch nicht viel klüger oder zeitgeistresistenter als die Ökonomen. Bei all diesen Beiträgen handelt es sich um Texte, deren Blick gewissermaßen nach innen gerichtet ist. Allesamt dienen sie der Selbstreflexion und Selbstverständigung ordnungsökonomischen Denkens – sei es durch Nachdenken über die ordnungstheoretischen Grundlagen der Disziplin, sei es durch die Integration von Fragestellungen, die Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 127 (1/2011) 33

Ordnungspolitik<br />

breiteten Maximierungsdenken in der Politik verabschieden<br />

und wieder mehr Verständnis dafür<br />

entwickeln, dass die Probleme von Politik und<br />

Wirtschaft ganz ähnlich wie diejenigen der Medizin<br />

letztlich Optimierungsprobleme sind, in denen<br />

es auf ein Gleichgewicht der vielfältigen Möglichkeiten<br />

und Wünsche ankomme.<br />

Auch andere Beiträge des Jahrbuchs sind, wenngleich<br />

weniger energisch und kämpferisch als derjenige<br />

Willgerodts, auf die Selbstbesinnung und<br />

Selbstverständigung der Ordnungstheorie ausgerichtet.<br />

Viktor J. Vanberg verknüpft in seinem Beitrag<br />

über „Freiheit und Verantwortung“ auf anregende<br />

Weise Ordnungsökonomik und Neurowissenschaft,<br />

indem er einen Weg aufzeigt, wie beide<br />

Sichtweisen und Forschungsprogramme allen Unkenrufen<br />

zum Trotz zusammenfinden können.<br />

Während oft von einem Konflikt zwischen der in<br />

der Neurowissenschaft vertretenen These von der<br />

kausalen Determiniertheit menschlichen Handelns<br />

einerseits und der für unsere Rechts- und<br />

Gesellschaftsordnung grundlegenden Komplementarität<br />

von Freiheit und Verantwortung andererseits<br />

die Rede ist, möchte Vanberg zwischen beiden<br />

Forschungsprogrammen vermitteln und die<br />

unterschiedlichen Probleme herausarbeiten: Gehe<br />

es den Neurowissenschaften um die Erklärung<br />

von Handlungen, so ziele die Ordnungsökonomik<br />

auf die Gestaltung einer politischen und wirtschaftlichen<br />

Ordnung, indem das Verhalten der<br />

Akteure durch institutionelle Rahmenbedingungen<br />

gelenkt wird.<br />

Mit ähnlich souveräner Übersicht wie Vanberg steuert<br />

auch Manfred E. Streit mit seinem Beitrag eine<br />

Skizze allgemeiner Ordnungstheorie bei, die vor<br />

allem den interdisziplinären Charakter ihrer Fragestellung<br />

betont. Gleich vier Beiträge gehen der<br />

Frage nach der interdisziplinären Einbettung der<br />

Ordnungsökonomik aus einem anderen Blickwinkel<br />

nach: Johannes Hirata, Friedrich Heinemann,<br />

Björn Bünger, Aloys Prinz und Manfred Spieker variieren<br />

das Thema Glücksforschung und Gewissens -<br />

ökonomik. Sie bemühen sich damit um den Anschluss<br />

der Ordnungsökonomik an Fragestellungen,<br />

die in den vergangenen Jahren nicht nur<br />

innerhalb der Ökonomie als Alternative zu allzu<br />

materialistischen Sichtweisen auf Wohlstand und<br />

Wachstum entwickelt wurden, sondern auch eine<br />

Brücke zu Themen der soziologischen Theorie<br />

und der Sozialethik schlagen.<br />

Ideengeschichtliche Grundlagen<br />

der Ordnungstheorie<br />

Zwei Beiträge des Jahrbuchs sind der Ideengeschichte<br />

gewidmet. Während Ulrich Fehl und Peter<br />

Oberender an den kürzlich verstorbenen Ernst Heuß<br />

erinnern und diesem großen Vertreter der zweiten<br />

Generation des deutschen Ordoliberalismus ein<br />

würdiges Denkmal setzen, spüren Rainer Klump<br />

und Manuel Wörsdörfer in ihrem Beitrag dem Verhältnis<br />

zwischen Adam Smith und Walter Eucken<br />

nach. Sie kommen zu einem Befund, den sie auch<br />

selbst nicht ganz aufklären können: Obwohl es zwischen<br />

beiden Autoren auffällige Ähnlichkeiten<br />

gibt, bezieht sich Eucken nur selten auf Smith und<br />

grenzt sich einige Male von ihm ab, ja missachtet<br />

ihn geradezu. Vielleicht, so ist man geneigt anzumerken,<br />

steckt dahinter, dass sich Eucken ähnlich<br />

wie vor ihm bereits Kant mit dem Problem konfrontiert<br />

sah, die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens<br />

in einer anonymen Gesellschaft<br />

durch allgemeine, abstrakte Regeln zu ermöglichen,<br />

während Smith noch stärker auf Vertrauen,<br />

Sympathie und persönliche Nähe der Menschen<br />

als regulierende Instanzen in einer im Ganzen<br />

noch recht übersichtlichen Gesellschaft setzte. Jedenfalls<br />

wird durch den Beitrag wieder einmal<br />

deutlich, wie überfällig es ist, dass Euckens geistige<br />

Entwicklung unter Zuhilfenahme der archivalischen<br />

Quellen gründlich aufgearbeitet wird. Dass<br />

sein Nachlass kaum zugänglich ist, steht einem solchen<br />

Vorhaben leider schon viel zu lange im Wege.<br />

Mit bemerkenswertem Mut zur Knappheit bietet<br />

Roland Vaubel eine Skizze über die historische Entwicklung<br />

der Freiheit in Deutschland seit dem<br />

Mittelalter. Es überrascht nicht, dass Vaubel auf ein<br />

ambivalentes Verhältnis der Deutschen zur Freiheit<br />

stößt. Ob der Zugewinn an Freiheit nach 1945<br />

wirklich, wie er es bezeichnet, ein „amerikanisches<br />

Erbe“ war, darüber ließe sich trefflich streiten, zumal<br />

die ordnungspolitischen Prinzipien der Sozialen<br />

Marktwirtschaft nicht denselben Geist atmen<br />

wie die bemerkenswert pragmatische und interventionistische<br />

Wirtschafts-, Sozial- und Geldpolitik<br />

der USA im 20. Jahrhundert. Überzeugend<br />

und zugleich nachdenklich machend ist jedoch<br />

Vaubels Hinweis, dass viele der Zugewinne an wirtschaftlicher<br />

Freiheit, die die Erfolgsgeschichte der<br />

alten Bundesrepublik ermöglicht haben, inzwischen<br />

wieder verloren gegangen sind.<br />

32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik <strong>127</strong> (1/2011)

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