Ausgabe 6 - AHS-Gewerkschaft
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Insbesondere die ländliche Bevölkerung wünschte<br />
sich zu dieser Zeit endlich eine Ausbildung für alle. In<br />
Anbetracht der wirtschaftlichen und kulturellen Ausgangslage<br />
war dieser Wunsch wirklich fortschrittlich:<br />
In den 1950ern gab es nur in den größeren Städten<br />
so genannte grammar und middle schools. Große<br />
Bevölkerungsteile waren von Bildungszugängen weitgehend<br />
abgeschnitten. Zudem waren damals 217 von<br />
insgesamt 338 grammar schools in privater Hand: Das<br />
bedeutete höchst unterschiedliche Lehrpläne. 2 Dass<br />
angesichts dieser Umstände der Wunsch nach einer<br />
– im wörtlichen Sinn – gleichen Ausbildung für alle aufkam,<br />
verwundert nicht. Gleiche Chancen für alle heißt<br />
auf Finnisch also: Gleiche Ausbildung an allen Orten<br />
und für alle.<br />
Aber passt das auch für Österreich, wo das Schulwesen<br />
im ländlichen Raum sehr gut ausgebaut ist Volksschulen<br />
gibt es flächendeckend, längere Wegstrecken<br />
zur nächsten NMS, HS oder <strong>AHS</strong> fallen selbst am Land<br />
selten an. Unsere Schulen sind überwiegend in öffentlicher<br />
Hand, die Lehrpläne der Sekundarstufe 1 sind an<br />
den HS, NMS und <strong>AHS</strong> inhaltlich identisch.<br />
Dass es Brennpunktschulen gibt, darf man selbstverständlich<br />
nicht unter den Teppich kehren. Diese sind<br />
jedoch kein strukturelles Problem, das man einfach mit<br />
einer anderen Schulart (z. B. der Gesamtschule) lösen<br />
könnte! Wer das glaubt, vermischt finnische Äpfel mit<br />
österreichischen Birnen.<br />
2. Weil die finnische Bevölkerung<br />
homogener ist<br />
Der soziale Background der Jugend Finnlands ist deutlich<br />
höher als bei uns. So gibt es bei Finnlands Jugend<br />
laut UNICEF 3 eine Deprivationsrate von nur 2,5 Prozent,<br />
während sie in Österreich mit 8,7 Prozent mehr als drei<br />
Mal so hoch liegt. Bis 1995 war Finnlands Bevölkerung<br />
sehr homogen, mittlerweile findet jedoch eine Durchmischung<br />
statt. 2010 hatten 4,7 Prozent der finnischen<br />
Bevölkerung Migrationshintergrund, ein für finnische<br />
Verhältnisse hoher Wert, im Vergleich mit Österreich<br />
(20,3 Prozent 4 ) fast noch mikroskopisch klein.<br />
3. Weil Finnen mit „Durchlässigkeit“ noch<br />
nie etwas anfangen konnten<br />
Oft hört man die abgedroschene Killerphrase, Kinder<br />
müssten sich zu früh für einen Bildungsweg entscheiden,<br />
und sei dies einmal geschehen, so gebe es kein<br />
Zurück mehr. Aus österreichischer Sicht betrachtet ist<br />
dies jedoch völliger Unfug, denn unser Bildungssystem<br />
ist durchlässig: Ein Wechsel von der <strong>AHS</strong> in die NMS<br />
und umgekehrt ist möglich und wird auch praktiziert.<br />
Und noch viel wichtiger: Ein entsprechender<br />
Abschluss der NMS eröffnet alle Bildungsangebote der<br />
Sekundarstufe II.<br />
Für die Finnen hingegen ist das gänzlich unvorstellbar:<br />
Schon 1946 dachte man an eine gemeinsame (damals<br />
8-jährige) Schule, „to avoid tracking to ‚academic’<br />
subjects for more able students and ‚vocational’ studies<br />
for those preferring to learn manual skills“ 5 . Nur wer in<br />
der basic school Fremdsprachen gelernt hatte, durfte<br />
in die secondary school bzw. aufs Gymnasium gehen.<br />
Finnische Realität waren also parallele, in keiner Weise<br />
durchlässige Schulsysteme, die man nun vereinheitlichen<br />
wollte. Und dazu blieb schlichtweg keine andere<br />
Alternative, denn die zwei parallelen Schienen erlaubten<br />
bis in die frühen 1970er keinen Wechsel! Es gab also<br />
null Durchlässigkeit: „There was practically no possibility<br />
to move between these streams once students had<br />
decided which pathway to follow.“ 6<br />
Wenden wir den Blick nach Österreich, so stellen wir fest:<br />
Diese finnische Sackgasse gab und gibt es bei uns nicht.<br />
Auch hier vermischt wieder so mancher „Bildungsexperte“<br />
finnische Äpfel mit österreichischen Birnen.<br />
4. Weil Finnen „Supportpersonal“ nicht<br />
nur dem Namen nach kennen<br />
Kritiker befürchteten mit der Einführung der öffentlichen<br />
9-jährigen Gesamtschule („peruskoulu“) 1972 ein massives<br />
Downgrading. Während man das in Österreich zwar<br />
auch befürchtet, aber nichts dagegen zu tun gedenkt,<br />
setzte Finnland aufwändige flankierende Maßnahmen.<br />
Niemand behauptete, dass alle Kinder gleich sind und<br />
dasselbe benötigen. Eine gleichwohl naheliegende<br />
wie kluge Erkenntnis, die man aus den Schnäbeln<br />
österreichischer Gesamtschul-Apologeten seltsamerweise<br />
nie hört. Den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen<br />
wurde und wird in Finnland schon sehr früh<br />
durch umfangreichen, intensiven Spezialunterricht entsprochen.<br />
Soziale Probleme und Verhaltensprobleme<br />
werden - anders als in Österreich - nicht weggeredet,<br />
sondern bearbeitet. Da alle denselben Unterricht erhielten<br />
(Schulschwerpunkte sind nicht die Intention von<br />
Gesamtschulen) und sich dadurch gleich qualifiziert<br />
sahen, setzten die Finnen ihre Hoffnung auf Schullaufbahnberater:<br />
„They would need systematic counseling<br />
on their options after completing basic school.“ 7<br />
Die Crux an der Sache: Finnlands Eltern glaubten, alle<br />
Kinder seien in gleichem Ausmaß fähig, dasselbe zu<br />
leisten. Und wenn alle dasselbe leisten können, warum<br />
sollte dann nicht auch eine akademische Laufbahn<br />
für alle Kinder möglich und schaffbar sein Deshalb<br />
drängten viele Eltern auf eine akademische Laufbahn<br />
ihrer Kinder.<br />
Was die Finnen von diesem Luftschloss haben, ist aber<br />
auch bekannt: strenges Aussieben an den Unis, hohe<br />
Jugendarbeitslosigkeit, verspätete Studienabschlüsse ...<br />
Die Frage ist, ob das den Eltern und v. a. den Kindern<br />
gegenüber fair ist<br />
14 gymnasium