Programmheft - Badisches Staatstheater - Karlsruhe
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len vom Lehrbuch ab. Die langsame Einleitung<br />
exponiert bereits das Hauptthema,<br />
denn dem raschen zweiten Thema folgt<br />
sogleich die Durchführung. Kurz vor Ende<br />
des Satzes hält die Coda an, „poco tranquillo“<br />
schließt der Satz mit einem Fragezeichen<br />
statt einem klaren Finale. Er endet<br />
mit einem Akkord über dem Ton b und<br />
stellt damit das d-Moll des Hauptthemas<br />
in Frage. Obgleich Sibelius der Sinfonie die<br />
Tonart d-Moll gab, dominiert der dorische<br />
Modus das Werk. Wie Arvo Pärt bezieht<br />
sich Sibelius damit auf das mittelalterliche<br />
Tonsystem, wofür auch das fehlende<br />
Vorzeichen in der Partitur spricht, das ein<br />
eindeutiges d-Moll erforderte.<br />
Sibelius erwähnte bereits 1896 in einer<br />
Vorlesung die alten Tonsysteme: „Die<br />
ältesten finnischen Volkslieder wurzeln<br />
in einem Tonsystem, in dem Tonika und<br />
Dominante – so wie wir sie verstehen –<br />
fehlen, wie auch die Finalis* der alten griechischen<br />
Tonarten. Dort gibt es einfach<br />
fünf Töne – d, e, f, g, a – an die noch zwei<br />
Töne h und c anschließen, wenn die Fülle<br />
des Ausdrucks der Melodie wächst“ (*Die<br />
Finalis ist der Zielton des Tonsystems).<br />
Enthüllt die Sechste Sinfonie diese harmonischen<br />
Besonderheiten innerhalb der<br />
vertrauten Form, überrascht bei der Siebten<br />
vor allem die kurze Einsätzigkeit. Sibelius<br />
dirigierte die Uraufführung allerdings<br />
unter dem Titel Fantasia sinfonica, zählte<br />
das Werk zunächst nicht zu seinem sinfonischen<br />
Werk. Dennoch wagt sich die Siebte<br />
Sinfonie nicht so weit auf ungewöhnliches<br />
Terrain, wie es die Sechste oder gar die<br />
Vierte zuvor getan hatten. Gefragt nach<br />
einer Einordnung des Werks in sein Schaffen,<br />
antwortete Sibelius: „Wenn man<br />
mein Alter erreicht hat, dann hat man sich<br />
selbst gefunden und sucht nicht länger in<br />
den grenzenlosen Verstecken der Seele.<br />
Was im Rahmen des seelischen Bewusstseins<br />
eines Menschen liegt, erscheint bloß<br />
deutlicher und bestimmter. Man versteht,<br />
was man ist, und bleibt, was man ist. Ich<br />
weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke,<br />
es ist so schwer, sich selbst zu analysieren,<br />
aber ich meine, dass ich als schöpferischer<br />
Musiker bis dahin gekommen bin,<br />
wo man ist, was man ist, und sich nicht<br />
mehr verändert.“<br />
Der Komponist verbarg mit diesen Sätzen<br />
seine Schwierigkeiten, die er seinem Tagebuch<br />
anvertraute: „Ich kriege meine Sachen<br />
jetzt nicht fertig. Hoffe jedoch, dass<br />
ich vielleicht die eine vollenden kann. Ein<br />
notwendiges Muss. – Aber – mein Leben<br />
ist entgleist. Der Alkohol, um die Nerven<br />
zu betäuben + das Gemüt. Wie unendlich<br />
tragisch ist nicht das Schicksal eines alternden<br />
Komponisten! Es geht nicht mehr<br />
mit demselben Schwung wie früher, und<br />
die Selbstkritik wächst ins Unmögliche.“<br />
Doch gerade Schwung wird zu einem entscheidenden<br />
Charakteristikum der Siebten<br />
Sinfonie: Schnelle Tonrepetitionen der<br />
Streicher bieten gegen Ende des Werks<br />
tänzerisch anmutenden Floskeln ein sicheres<br />
Fundament, das sich immer stärker<br />
zu einer opulenten Stretta ausbreitet,<br />
als wollte Sibelius damit seine eigenen<br />
sorgenvollen Jahre übertönen. Sein Schaffen,<br />
dessen Kern seine Sinfonien bilden,<br />
erfährt in der Siebten Sinfonie gleichsam<br />
eine Symbiose und wird zum universalen<br />
Glaubensbekenntnis an die Musik.<br />
8 Jean Sibelius