Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino<br />
SchwieRigeS<br />
AlteR<br />
von Maike schultz<br />
Männer mit Kinderwunsch sind eine rarität im schwulen <strong>Film</strong>. „Patrik 1,5“ will das ändern – mit einer so<br />
charmanten wie ungewöhnlichen Patchwork-Familien-Komödie, die im September in der Gay-<strong>Film</strong>nacht und<br />
danach in ausgewählten Kinos zu sehen sein wird.<br />
8<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
s Was für eine Wohltat! Nicht nur das lesbische Kino, auch das<br />
schwule hat sich also auf die Fortpflanzungsproblematik eingeschossen.<br />
Nachdem einem jüngst viele Kurzfilme (eigentlich das innovativste<br />
Genre) den lesbischen Kinderwunsch in so vielen Variationen<br />
vorsetzte, dass einem nun wirklich jede Sehnsucht nach Befruchtung<br />
vergehen konnte, kommt nun dieser kleine, feine <strong>Film</strong> aus Skandinavien<br />
daher. Und siehe da, diesmal sind es zwei Männer, die in die Vorstadtsiedlung<br />
gezogen sind, um ihren Traum von Haus, Garten und<br />
Baby zu leben. Wurde ja auch Zeit, 22 Jahre nach Paul Bogarts <strong>Film</strong><br />
Torch Song Trilogy – Das Kuckucksei, in dem Harvey Fierstein ein<br />
Kind mit Matthew Broderick adoptierte.<br />
Zwar ist die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit unter Schwulen kein<br />
neues Phänomen. Dass ein Kinofilm sich dieses Themas annimmt,<br />
passiert dagegen äußerst selten, und so überrascht es dann doch wieder<br />
wenig, dass die Idee für Patrik 1,5 von einer Frau stammt. Ella<br />
Lemhagen, Drehbuchautorin und Regisseurin (Tsatsiki – Tintenfische<br />
und erste Küsse) aus Stockholm, erzählt darin die Geschichte der<br />
Schweden Göran und Sven, eines jener wohlsituierten Ehepaare, wie<br />
sie im Vorortidyll an jeder Ecke wohnen. Nur dass diese Orte meist<br />
ziemlich heteronormativ geprägt sind. Besonders der von Arzt Göran<br />
und Unternehmer Sven, in dem sogar eine Bürgerwehr für Recht und<br />
Ordnung sorgt. Wunderbar selbstverständlich siedelt Lemhagen ihre<br />
Protagonisten mitten im Wahnsinn dieses Beziehungs-Mainstreams<br />
an; blumenverkitscht wie in der schönsten Hollywood-Romanze, aber<br />
abgründig, wie es wohl nur die US-Fernsehserie Desperate Housewives<br />
besser kann.<br />
Da ist zum Beispiel der Nachbar, der sich weigert, seine Kinder<br />
von Göran behandeln zu lassen. Ein anderer wiederum hält Görans<br />
niederschmetternde Diagnose vor seiner Frau geheim und erträgt lieber<br />
stillschweigend ihre Affäre mit dem Familienvater von gegenüber;<br />
jener promiske Vater, der das schwule Traumpaar nicht zur Gartenparty<br />
einlädt, im Grunde aber selbst nichts gegen einen jungen Liebhaber<br />
hätte. Vor allem aber sind da Göran und Sven, die sich nichts<br />
sehnlicher wünschen als ein Kind, um ihr Glück perfekt zu machen.<br />
Sven hat sogar schon eines, eine Tochter aus früherer Ehe, mitten<br />
in der Pubertät und nicht eben froh über den Lebenswandel ihres<br />
Herrn Papas. Vielleicht wirkt dieser deshalb etwas weniger enthusiastisch<br />
als sein Gatte, der am liebsten täglich in der Adoptionsbehörde<br />
vorsprechen würde. Als das Amt endlich einwilligt und per Brief einen<br />
kleinen „Patrik 1,5“ verspricht, ist die Freude bei beiden groß – und<br />
umso größer die Irritation, als wenige Tage später ein 15-Jähriger vor<br />
der Tür steht. Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Problemkind! Dass<br />
es nichts wird mit dem Babywunsch, ist hier ausnahmsweise mal<br />
nicht der Sexualität der Antragsteller, sondern allein einem menschlichen<br />
Versagen verschuldet: Ein schlichter Tippfehler holt Göran und<br />
Sven einen homophoben Kleinkriminellen ins Haus, der die ganze<br />
Welt, vor allem aber seine neuen Zieheltern hasst. Da können sie lange<br />
hoffen, dass es sich bei ihrem Patrik um eine Verwechslung handeln<br />
muss. Fortan brauchen sie ihre „Babywatch“-Kamera zur Überwachung<br />
eines verstoßenen, schwer erziehbaren Gewalttäters, der doch<br />
eigentlich nichts anderes will, als endlich geliebt zu werden.<br />
Nun kann man sich schon denken, wohin der Hase läuft in dieser<br />
<strong>Film</strong>handlung, in der die Streithähne doch viel voneinander lernen<br />
können. Jene Vorurteile, die es Patrik so schwer machen, die Männer<br />
zu akzeptieren, sind es natürlich auch, die letztlich alle verbinden:<br />
Immerhin gehören beide Parteien einer Minderheit an, die sich<br />
den Respekt ihrer Umwelt erst erkämpfen muss, was Patrik und<br />
Göran dann auch zunehmend zusammenschweißt. Im Grunde ist das<br />
Kuckuckskind nämlich ein ziemlich lieber Kerl, der viel mehr über<br />
Hortensienpflege weiß, als seine „Fuck you, you fucking fuck!“-Shirt-<br />
Attitüde je erahnen lassen würde. Eine herrliche Szene ist das, wenn<br />
das komplette Viertel den Adoptivsohn als Gärtner anheuert, der sich<br />
kurz zuvor noch als Schreck ihrer „Homos, Homos!“ krähenden Kinder<br />
erwiesen hat. Nur Sven tut sich mit dem Rabauken schwer, oder<br />
vielleicht auch damit, dem Patchwork-Familienleben zuliebe seine<br />
Freiheit zu opfern. Schon bald sehnt sich der überforderte Macho<br />
nach seinem alten Partyleben in der Stadt zurück – und stellt seine<br />
Beziehung mit einer Flucht auf eine harte Bewährungsprobe.<br />
So gelingt es Ella Lemhagen, aus einem simplen dramaturgischen<br />
Einfall ein Drama zu kreieren, das auf vielen verschiedenen Ebenen<br />
funktioniert. Völlig zu Recht erhielt ihr vierter Spielfilm den Zuschauerpreis<br />
beim San Fancisco International Lesbian & Gay <strong>Film</strong> Festival<br />
und den Hauptpreis beim Verzaubert Festival, das er 2009 eröffnete:<br />
Schonungslos entlarvt sie die Verlogenheit des schönen Scheins,<br />
in dem sich die Nachbarschaft des Männerpaares ihr warmes Nest<br />
errichtet hat. Und nicht minder behutsam nutzt sie den pöbelnden<br />
Teenager in diesem Mikrokosmos als Spiegel, um ein Psychogramm<br />
der beiden Hauptfiguren zu zeichnen. Während der schüchterne<br />
Göran gemeinsam mit Patrik einen Weg findet, sich als Außenseiter<br />
gegen die Spießer um ihn herum zu wehren, wird Sven durch die komplizierte<br />
Erziehungsaufgabe mit seiner ureigenen Angst vor Verantwortung<br />
konfrontiert. In seiner ungewöhnlichen Erfüllung entzweit<br />
der Zukunftstraum die liebenden Partner, Bedürfnisse kollidieren<br />
im Alltag, und plötzlich beginnt der Zuschauer sich zu fragen, ob ein<br />
Anderthalbjähriger die Sache eigentlich viel besser gemacht hätte.<br />
Selbst das Happy-End ist glücklicherweise nicht so angelegt, wie<br />
es nach all den Irrungen und Wirrungen vielleicht erwartbar gewesen<br />
wäre, und so weiß man gar nicht, ob man denn nun lachen oder<br />
weinen soll. Was bleibt ist der Wunsch, noch viel mehr <strong>Film</strong>e wie<br />
diesen zu sehen: Zwei Schauspieler, die mit Berlinale-Shooting-Star<br />
Gustaf Skarsgård als Göran und Torkel Petersson (Kops) als Sven<br />
keine schwulen Abziehbilder, sondern einfach die netten Typen von<br />
nebenan verkörpern. Und das authentische Porträt einer Generation,<br />
die das Coming-Out schon hinter sich hat, mitten im Leben steht und<br />
sich dort angekommen fragen muss, was sie von diesem eigentlich<br />
erwartet. Schließlich ist nichts so spannungsgeladen wie vermeintliche<br />
Normalität. s<br />
Patrik 1,5<br />
von Ella Lemhagen<br />
SE 2008, 105 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht am 17. September<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 7. Oktober<br />
kino<br />
9<br />
EDiTioN SALzGEBEr