Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino<br />
Zum<br />
NieDeRkNieN<br />
von Jessica ellen<br />
Ende der 1950er Jahre flüchtet die lebenslustige Jeannine vor<br />
ihrer kontrollsüchtigen Mutter und den Avancen ihrer besten<br />
Freundin Annie ins Kloster, um ausgerechnet dort ein Schlagerstar<br />
zu werden. Die „Schwester des Lächelns“ gab es wirklich<br />
und ihr Hit „Dominique“ verdrängte damals Elvis und die<br />
Beatles aus den Charts. Stijn Coninx hat den Weg der singenden<br />
Nonne zur emanzipierten und lesbischen Frau in einem<br />
Spielfilm nachgezeichnet, der im September in der L-<strong>Film</strong>nacht<br />
laufen wird.<br />
s Gerade meine exkatholischen Freundinnen, die nicht selten Klosterschulen<br />
durchlitten haben, finden es seltsam, dass ich als jüdische<br />
(und lesbische) Cineastin ausgerechnet auf Nonnenfilme stehe. Aber<br />
mit meiner Schwäche für Nonnen bin ich wahrlich nicht allein: Schon<br />
vor Jahren erschien das spannende Büchlein „Schwesterlich, keusch<br />
und ohne Makel?“, herausgegeben von Samanta Maria, auf dessen<br />
Einband zwei küssende Nonnen zu sehen sind. Der Nonnenfilm ist<br />
tatsächlich ein eigenes, oft lesbisch konnotiertes Genre ohne männliches<br />
Pendant, wenn wir mal von Ausnahmen wie dem – schon in<br />
Umberto Eccos literarischer Vorlage – eher schwulenfeindlichen Der<br />
Name der Rose absehen.<br />
Der Nonnenfilm bot schon vielen weiblichen <strong>Film</strong>größen wie<br />
Deborah Kerr, Vanessa Redgrave, Audrey Hepburn, Glenda Jackson,<br />
Shirley Maclaine, Carmen Maura und zuletzt Barbara Sukowa in<br />
Margarethe von Trottas rundherum gelungenem Biopic Vision – Aus<br />
dem Leben der Hildegard von Bingen Gelegenheit, als Charakterdarstellerin<br />
im Habit zu glänzen.<br />
Cécile de France als Protagonistin in Sœur Sourire – Die singende<br />
Nonne ist da keine Ausnahme. Allein schon die Wandlung dieser schönen,<br />
leicht androgynen Schauspielerin vom bebrillten, verklemmten<br />
Baby Butch zur Nonne und schließlich zu einer gereiften Liebenden<br />
macht diesen <strong>Film</strong> unbedingt sehenswert.<br />
Kein Kind der 50er und 60er Jahre kam an ihrem Hit „Dominique“<br />
vorbei: Über die Belgierin Jeannine Deckers, genannt „Sœur<br />
Sourire“ oder „die singende Nonne“ und ihre Klampfe wurde schon<br />
damals, als sie noch lebte und auf dem Zenith ihres Ruhmes stand, ein<br />
Hollywood-<strong>Film</strong> mit dem Titel The Singing Nun gemacht. Sein Nachfolger<br />
Sœur Sourire ist nun keineswegs ein Remake, sondern erzählt<br />
die ganze Geschichte bis zum bitteren Ende.<br />
Mit einer Laufzeit von 120 Minuten ist der <strong>Film</strong> zwar lang, aber<br />
nie langatmig. Dabei nimmt er sich zwar ein paar künstlerische Freiheiten<br />
bei der „lächelnden Schwester“ heraus, wie z.B. dass sie bereits<br />
Gitarre spielt, als sie ins Kloster eintritt, während das reale Vorbild es<br />
erst im Kloster lernte; im Großen und Ganzen hält er sich aber an die<br />
biographischen Tatsachen und vermeidet Klischees.<br />
Fröhlich, wie der titelgebende Künstlername „Sœur Sourire“ und<br />
jenes Lied, das sie zum Popstar katapultierte, ist er allerdings nicht.<br />
Jeannine Deckers’ Tragik entsteht zwar nicht aus ihrem zunächst<br />
abgewehrten und später gelebten Lesbischsein oder ihrer Liebe zu<br />
einer bestimmten Frau, denn wie im wirklichen Leben ist beides kein<br />
Bollwerk gegen das Scheitern am Leben. Scheitern an einer Zeit, in<br />
der selbst das Gerücht, homosexuell zu sein, verbreitet von einer<br />
damals wie heute notorisch sensationsgeilen Presse, reichte, um den<br />
Job zu verlieren. Die lesbische Exnonne als Opfer? Oder eines jener<br />
eindimensionalen „Aufstieg und Fall“-Künstlerinnen-Biopics, wie sie<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
gerade im neueren französischen Kino (ich denke z.B. an Françoise<br />
Sagan, Edith Piaf u.a.) so häufig sind? So einfach macht es sich der<br />
<strong>Film</strong> nicht. Was hier verhandelt wird, ist vielmehr weibliche Kreativität<br />
und das damit verbundenen Geltungsbedürfnis, das sich an komplexen<br />
Strukturen aufreibt.<br />
Singende und komponierende Ordensschwestern an sich sind<br />
keine Erfindung der Neuzeit, sondern haben eine Jahrhunderte alte<br />
Tradition; hierfür ist die Äbtissin Hildegard von Bingen das bekannteste<br />
Beispiel. Doch dass eine Novizin aus der Masse des Chores heraustritt<br />
und mit ihrer individuellen Stimme in kürzester Zeit eine<br />
riesige Öffentlichkeit erreicht, ist ein Phänomen des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, in dem die Kirche zugleich eine Chance zur Verbreitung<br />
ihrer Botschaft mit zeitgemäßen Mitteln, eine Einnahmequelle<br />
und ein Problem sieht. Das Problem ist die „Sünde des Hochmuts“,<br />
welche zu begehen diejenige in Gefahr ist, mit deren Gabe sich doch<br />
der Orden schmücken will.<br />
Deshalb wird die „singende Nonne“ zunächst anonym vermarktet,<br />
was einerseits den Ordensinteressen entgegenkommt, andererseits<br />
aber die Medien anstachelt, das Geheimnis um ihre Person zu<br />
lüften. Das funktioniert wie der Nonnenhabit selbst, der ja besonders<br />
die erotisch prickelnde Neugier darauf weckt, was sich wohl für ein<br />
Körper darunter verbirgt. Für Jeannine ist das Gewand ein Schutz<br />
vor der eigenen schlaksigen Körperlichkeit, dem eigenen unbeholfenen<br />
Begehren. So ist ihre Enttarnung eine zwiespältige Erfahrung,<br />
die sie gleichwohl genießt wie den Ruhm, von dem sie nicht will, dass<br />
er ihr und ihrem erwachenden Ehrgeiz vorenthalten wird. Sie hat Blut<br />
geleckt und weiß sich zu behaupten. Das plötzliche Interesse ihrer<br />
Mutter, die ihre Tochter eigentlich nicht wiedersehen wollte, sollte<br />
diese ins Kloster gehen, durchschaut sie sofort und weist es zurück.<br />
Jeannine ist kein Opfer.<br />
Es gibt immer wieder Menschen, die an Jeannine glauben; sogar<br />
die Mutter Oberin, die ihr zunächst die Gitarre wegnimmt und sie<br />
ziemlich brutal diszipliniert, berücksichtigt ihre Wünsche dann doch<br />
und will sie halten. Das tut sie zwar nicht ohne finanziellen Eigennutz<br />
und mit dem liberalen Rückenwind des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils, aber ein auf Hierarchien und Gehorsam beruhendes System<br />
verträgt nun mal nicht allzu viel Dissens. Außerdem war Jeannine<br />
– im Gegensatz zu früheren Frauengenerationen – freiwillig und aus<br />
Überzeugung ins Kloster gekommen.<br />
Jeannines Beichtvater, den sie ziemlich rüde aus dem Beichtstuhl<br />
zerrt und unter Vorwürfen gegen die Wand drückt, lässt sich dadurch<br />
nicht einschüchtern und ermutigt sie sogar, wenn auch indirekt, ihren<br />
lesbischen Neigungen zu folgen.<br />
Ihr Manager versucht alles, um Jeannines Karriere zu retten,<br />
aber gegen Feigheit und Opportunismus der Konzertagenturen ist er<br />
genauso machtlos wie gegen Jeannines Enttäuschung und Kränkung.<br />
Der Regisseur Stijn Coninx interpretiert Jeannine als eine Frau<br />
voller Widersprüche. Provokant und ängstlich, stolz und selbstzweiflerisch,<br />
freiheitsliebend und auf der Suche nach einer festen<br />
Struktur, die sie hält und vor sich selbst schützt. Unentschlossen und<br />
voller Sehnsucht nach Verbindlichkeit, ist sie ständig auf der Flucht:<br />
Vor der lieblosen Mutter flieht sie mit der Schwester im Tagtraum<br />
nach Afrika, vor der Verliebtheit ihrer Freundin auf der Kunsthochschule,<br />
die für Selbstverwirklichung steht, hinter die Klostermauer<br />
zur Selbstverneinung, zu der sie aber auch nicht fähig ist. Sie rebelliert,<br />
besteht auf ihre individuelle Kreativität, wird berühmt, verlässt<br />
das Kloster und zieht, noch immer voller Abwehr, mit ihrer Freundin<br />
zusammen. Mit allem ist sie vollständig überfordert. Am meisten<br />
jedoch damit, dass ihre Karriere, die so phänomenal begann, an eben<br />
jenen Instanzen scheitert, die sie anfangs förderten – den Medien<br />
und der Kirche. Ohne ihr Habit ist sie einfach nur eine junge Frau<br />
mit einer guten Stimme. Ihre brave Musik und Kleidung langweilen<br />
die Popfans, ihr Loblied auf die Pille ruft die katholische Kirche<br />
auf den Plan, die es der verlorenen Tochter heimzahlen will. Zudem<br />
hat sie versäumt, sich die riesigen Summen, die sie verdient hat und<br />
die ihr Orden für sich einstrich, quittieren zu lassen. So fordert das<br />
Finanzamt entsprechende Steuern von ihr, die sie nicht zahlen kann<br />
– die einzige Stelle im <strong>Film</strong>, an der Verzweiflung mit harmonischen<br />
Bildern verliebter Zweisamkeit zugekleistert wird. Schließlich nimmt<br />
sie sich mit ihrer Freundin in ihrem Haus das Leben – dezent werden<br />
die Rollläden davor heruntergelassen. Ihre Schwester, die tatsächlich<br />
als Ärztin nach Afrika gegangen ist, erhält ihren stark beschönigenden<br />
Abschiedsbrief. So endet Jeannines Leben, wie sie es gelebt hat:<br />
in dem Widerspruch, als immer noch gläubige Katholikin den Suizid<br />
zu wählen, den die Kirche verdammt.<br />
Warum dieser <strong>Film</strong> mich besonders berührt? Meine katholische<br />
Großmutter Hilde, Jahrgang 1906, zweifelte als Mädchen in Wien<br />
lange, ob sie ins Kloster oder auf die Bühne bzw. vor die Kamera wollte.<br />
Ähnlicher Konflikt, doch andere Lösung: Sie wurde Schauspielerin<br />
und spielt mit besonderer Hingabe Nonnen, deren Alltag sie persönlich<br />
und mit Wohlgefallen bei Klosteraufenthalten recherchierte. An<br />
einen ihrer <strong>Film</strong>titel erinnere ich mich noch, weil er so schön klang:<br />
Ave Maria. An seine Seite ist nun Sœur Sourire getreten. s<br />
Sœur Sourire –<br />
Die singende Nonne<br />
von Stijn Coninx<br />
FR 2009, 124 Minuten, dt. SF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-<strong>Film</strong>nacht am 24. September<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Anschließend in ausgewählten Kinos<br />
6 7<br />
kino<br />
EDiTioN SALzGEBEr (2)