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Homosexual's Film Quarterly - Sissy

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kino<br />

Augenblicksraum<br />

von Jan küneMund<br />

in „orly“, dem neuen <strong>Film</strong> von Angela Schanelec (Kinostart 21. oktober), fängt die Kamera Flirts von<br />

Menschen ein, die in einer öffentlichen Wartesituation gefangen sind. Ein Cruising besonderer Art, das sich<br />

auch auf die filmische Form überträgt.<br />

s Der öffentliche Raum ist grundsätzlich sexualisiert und seine<br />

Bewohner notwendigerweise Voyeure, behauptet der Stadtsoziologe<br />

Henning Bech. Denn dort gewinne das Spiel der Blicke gerade in der<br />

Grenzenlosigkeit des visuellen Angebots und im Bewusstsein, selbst<br />

beobachtet zu werden, einen erotischen Reiz. Sich „einem Raum zu<br />

überlassen, ohne zu wissen, was er mit einem macht“, so beschreibt<br />

Angela Schanelec das, was mit ihren Figuren in Orly passiert. In der<br />

räumlich gefassten Bewegung von Fremden wird dabei ein Rausch<br />

der Potentialität inszeniert, in dem sich Blicke und Geschichten,<br />

aber keine Identitäten ineinander verhaken.<br />

Ein Junge wartet mit seiner Mutter im Flughafencafé. Er geht zur<br />

Theke, bestellt etwas, bezahlt. Der junge Kellner bedient ihn professionell,<br />

sie wechseln kaum einen Blick. Die Kamera registriert das aus<br />

großer Entfernung. Der handlungsfixierte Kinozuschauer ist geneigt,<br />

nur flüchtig zuzuschauen, so alltäglich und belanglos ist die Aktion.<br />

Wenig später, der Junge ist als Handlungsträger des <strong>Film</strong>s etabliert,<br />

kommt der Kellner an seinen Tisch, fragt „darf ich?“ und räumt ab.<br />

Und plötzlich: ein Blick. Ein Ansehen, ein verlegenes Wegsehen, ein<br />

interessiertes Hinterhersehen. Und aus der Distanz, der Kellner ist<br />

längst wieder hinter dem Tresen angelangt, fängt die Kamera zwei<br />

lange Blicke auf. Vom Kellner, dann vom Jungen. Als der Junge mit<br />

seiner Mutter das Café verlässt, sieht er sich nicht noch einmal nach<br />

dem Kellner um. Und viel später läuft eine ganz andere Figur des<br />

<strong>Film</strong>s, die ihrerseits in einem erotischen Blickflirt gefangen ist, an<br />

dem Kellner vorbei, für den das Spiel der Blicke vorbei ist. Erotisch<br />

aufgeladen ist dieses Spiel nicht nur durch die Flirts der Flughafengäste<br />

– es ist auch aufgeladen durch den Blick der Kamera, die sich<br />

von weit weg als Voyeur betätigt, aus der Bewegung vieler Menschen<br />

einzelne herausschält, ihnen ein Begehren gibt und dieses im Verlauf<br />

des <strong>Film</strong>s lebendig hält. Schanelec hat beschrieben, dass die Schauspieler<br />

sich oft gar nicht von der Kamera beobachtet fühlten, weil<br />

diese viel zu weit weg war.<br />

Cruising ist eine subkulturelle Strategie, sich einen Raum anzuverwandeln,<br />

der eigentlich eine andere Funktion erfüllt. Insofern<br />

sind die erotischen Absichten nur für Menschen mit ähnlichen<br />

Absichten lesbar. In diesem Spiel zählen keine Identitäten. Im<br />

Gegenteil: Identitäten sind hinderlich, weil sie sich sichtbar und lesbar<br />

machen wollen. Das Outing, das in diesem <strong>Film</strong> passiert, wird<br />

damit zur Ungeheuerlichkeit, denn da bringt jemand plötzlich, in<br />

einem Raum der flüchtigen Begegnungen, seine gesamte Identität<br />

ins Spiel. Schanelec inszeniert das als verzweifelte Tat: Mutter und<br />

Sohn, die sich niemals ausgesprochene Dinge erzählen, obwohl schon<br />

jede banale Aussage zwischen ihnen missverstanden wird, Konflikte<br />

provoziert, ins Leere läuft. Ihr Gespräch ist wie das zweier Fremder,<br />

die sich die schlimmsten Dinge sagen können, weil sie außerhalb<br />

dieses Raums keine Konsequenzen zu befürchten haben. Noch verzweifelter<br />

wirkt ein Zufallsbekanntschaftspaar, dass sich die ganze<br />

Lebensgeschichte erzählt, Kinderfotos zückt, die wichtigen, identi-<br />

PiFFL MEDiEN (2)<br />

Orly<br />

von Angela Schanelec<br />

DE/FR 2010, 84 Minuten, dt./frz. OF, dt. UT<br />

Piffl Medien,www.piffl-medien.de<br />

Im Kino<br />

Kinostart: 21. Oktober<br />

tätsstiftenden Momente markiert, im Reisesetting vom Zuhausesein<br />

schwärmt und am Ende versucht, sich für das weitere Leben zu verabreden.<br />

Hier bleibt der <strong>Film</strong> statisch, die Szenen sind dialoglastig,<br />

wenn auch gut gespielt.<br />

Der Cruising-Entwurf dazu, der sich notwendigerweise ganz<br />

anders, filmischer, auflöst, dessen Poesie nur im <strong>Film</strong> zustande<br />

kommt, sieht so aus: Ein junges Backpackerpaar wartet, sie schickt<br />

ihn los, um noch etwas einzukaufen. An der Kasse steht er hinter<br />

einer schönen Frau. Als sie sich umsieht, fängt sie seinen Blick auf.<br />

Musik setzt ein (die einzige in diesem <strong>Film</strong>): Cat Power, Remember<br />

Me. Und während diese „We are only here / just for a little while“<br />

singt, fängt ein Spiel an aus Hinterhersehen, Innehalten, Verfolgen,<br />

Überholen, aus Unbeteiligt-Tun und Heimlich-Anstarren, während<br />

die Kamera von weit weg das Schauspiel verfolgt. Als der junge<br />

Mann wieder bei seiner Freundin ist, wird die Musik nicht ausgeblendet,<br />

auch nicht, als die Freundin schon mit ihm spricht. Obwohl<br />

sie nebeneinander sitzen, zieht die Kamera sie scharf, ihn unscharf.<br />

In diesem magischen Moment, der auf seinem Flirt beharrt, ist etwas<br />

zwischen zwei Menschen passiert, das keine Konsequenzen hat, in<br />

diesem <strong>Film</strong> aber alles bedeutet. Ob sie diesen <strong>Film</strong> „gebaut“ habe,<br />

als „Architektin“, wurde Angela Schanelec gefragt. Sie antwortete:<br />

„Nein, ich gucke ja nur.“ Naja. s<br />

28 29<br />

kino<br />

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