Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino kino<br />
Der<br />
Fremdkörper<br />
von Paul schulz<br />
Nach „Parallel Sons“ und „Winter der Entscheidung“ erzählt<br />
John G. Young in „Wasser und Blut“ (Kinostart: 2. September)<br />
eine tragische Südstaatengeschichte. Schön. Traurig.<br />
s Die Messlatte ist fix gelegt, und zwar hoch. William Faulkner,<br />
Flannery O’Connor, James Baldwin. Das ganz große Fish-Out-Of-<br />
Water-Südstaaten-Drama soll Wasser und Blut sein. Der deutsche<br />
Titel des <strong>Film</strong>s spielt fein mit der Dickflüssigkeit und damit verbundenen<br />
Sprichwörtlichkeit beider Substanzen und fasst die (Wahl-)<br />
Familiengeschichte, die der <strong>Film</strong> auch ist, so gut zusammen. Leider<br />
verpasst er dabei die Anspielung des Originaltitels (Rivers wash over<br />
me) auf die Passionsgeschichte. So sind die Zuschauer nicht sofort<br />
darüber im Bilde, was da auf sie zurollt.<br />
Sequan ist schwarz, schwul und das, was man in seiner bisherigen<br />
New Yorker Heimat „artsy“ nennt: eine kleine Tunte mit großen<br />
Träumen, die sie in bunten T-Shirts und engen Hosen mit sich<br />
herumträgt. Nach dem Tod seiner Mutter muss er zu seiner Tante in<br />
den tiefsten Süden der USA in ein verschlafenes Kaff ziehen, in dem<br />
BiLDKrAFT<br />
nur drei Dinge wirklich zählen: der liebe Gott, Ruhe als erste Bürgerpflicht<br />
und Football. Sequan hat für nichts davon eine große Begabung,<br />
glaubt, seine Identität längst gefunden zu haben und will sich<br />
nicht anpassen.<br />
Das wird ihm zum Verhängnis. Wasser und Blut mutet seinem Publikum<br />
viel zu: Schläge, Vergewaltigung, Drogen, familiäre Kälte und<br />
ein großes, grausames Schweigen über alle Probleme der kleinstädtischen<br />
Gemeinschaft. Hält sich also an seine Vorgabe: Die Geschichte<br />
des Fremden, der in eine Gemeinschaft geworfen wird, die weder willens<br />
noch in der Lage ist, ihn aufzunehmen, und in der er an seiner<br />
Entfremdung und Einsamkeit zu Grunde geht, ist Grundlage vieler<br />
großer Romane und einiger <strong>Film</strong>e über den amerikanischen Süden.<br />
Allerdings ist Wasser und Blut explizit, wo Faulkner oder Baldwin ob<br />
ihres Produktionszeitraumes verschämt sein mussten: Sequans Problem<br />
ist seine Sexualität. Oder besser: sein Umgang damit. Denn es<br />
ist nicht so, dass es in seiner neuen Umgebung keine Schwulen gäbe.<br />
Einer davon ist Sequans Cousin, mit dem er ein Zimmer und bald auch<br />
das Bett teilt, allerdings nie freiwillig. „I can’t be a faggot. You are the<br />
faggot. You are my faggot, bitch“, fasst der Peiniger seine Sicht der<br />
Welt zusammen.<br />
Regisseur und Drehbuchautor John G. Young hat schon mit Parallel<br />
Sons und Winter der Entscheidung das amerikanische Independentkino<br />
um zwei spannende Beiträge über Identität bereichert.<br />
Und auch dort trafen schon weiße und schwarze Lebenswelten aufeinander.<br />
Das tun sie auch hier: Sequan trifft Lori, die weiße, reiche, ständig<br />
koksende Highschoolschlampe. Für sie ist es Freundschaft auf den<br />
ersten Blick, der Exil-New Yorker muss erst ein bisschen abwarten<br />
und schauen, bevor er bemerkt, dass hinter Loris katastrophaler Fassade<br />
und großem Mundwerk ein noch größeres Herz und ein scharfer<br />
Verstand stecken. Lori ist die vielleicht dankbarste Rolle im ganzen<br />
<strong>Film</strong>. Oder vielleicht ist Elizabeth Dennis auch nur die talentierteste<br />
Schauspielerin im gesamten, guten Ensemble. Sie ist jedenfalls diejenige,<br />
deren Bild hängenbleibt vor dem geistigen Auge: die fröhlich<br />
versoffene, dickere Schwester von Kirsten Dunst.<br />
Was ein Problem des <strong>Film</strong>s illustriert: Er ist niedlich, aber nicht<br />
100% stimmig besetzt. Man sieht den Hauptdarstellern Derrick L.<br />
Middleton und Aidan Schultz-Meyer sehr, sehr gern dabei zu, wie sie<br />
sich als Sequan und Loris kleiner Bruder Jake zart ineinander verlieben.<br />
Aber die großen emotionalen Bögen des <strong>Film</strong>s sind ab und an<br />
zu groß für die beiden Herren mit den großen Welpenaugen und den<br />
einander fremden Körpern. Da hätte John G. Young gut daran getan,<br />
fünf Jahre älter zu casten.<br />
Aber das ist auch egal. Denn entweder lässt man sich von dem<br />
emotionalen Sturm und Drang, den Wasser und Blut auffährt, mitreißen<br />
und sich von der simplen Digitalkamera-Ästhetik nicht stören.<br />
Oder man lehnt sich entspannt europäisch zurück und fängt an<br />
zu nörgeln. Was schade wäre. Denn Wasser und Blut ist ein wirklich<br />
guter, kleiner <strong>Film</strong>. Vielleicht nicht ganz Faulkner-Roman, aber eine<br />
hübsche, dunkle Kurzgeschichte des Meisters. s<br />
Wasser und Blut<br />
von John G. Young<br />
US 2009, 87 Minuten, OmU<br />
Bildkraft,www.bildkraft.biz<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 2. September<br />
Sorgepflichten<br />
von richard garay<br />
Thomas und Francisco lieben sich. Der eine ist der fünf Jahre älter Bruder des anderen. Das schwule inzest-<br />
Thema macht aus „From Beginning To End“ laut Verleih einen „Skandalfilm“. unser Autor fragt sich, worin<br />
genau der Skandal hier begründet ist. Alle anderen können sich das ab dem 11. November fragen, denn<br />
dann ist der <strong>Film</strong> im Kino zu sehen.<br />
s Ich gebe zu: Ich bin Einzelkind. Ich habe das nie erlebt, was es<br />
heißt, einen Bruder zu haben. Schon gar nicht, einen schwulen Bruder<br />
zu haben. Ich kann mir natürlich vorstellen: die besondere Nähe,<br />
die Ambivalenz zwischen Liebe, Fürsorge, Neid, Konkurrenz in den<br />
Gefühlen zum Anderen. Die Pubertät zu erleben auf engem körperlichen<br />
Raum mit einem anderen Jungen. Erfahrungen machen und<br />
austauschen. Und alles, was ich mir nicht vorstellen konnte, habe ich<br />
in „Just Above My Head“ von James Baldwin gelesen oder im Kurzfilm<br />
Starcrossed von James Burkhammer gesehen.<br />
Und jetzt kommen Thomas und Francisco, begleitet von einem<br />
realen oder aufgebauschten Skandal in Brasilien, von über einer Million<br />
Trailer-Klicks und einem verzögerten Kinostart. Und ich denke<br />
mir: ja, Thomas und Francisco. Warum auch nicht? In der 40. Minute<br />
dieses <strong>Film</strong>s haben die beiden gerade ihre Mutter zu Grabe getragen,<br />
stehen im Wohnzimmer der Designer-Wohnung vor einander und ziehen<br />
sich aus. Und gestehen sich anschließend im Bett, warum sie sich<br />
lieben. Und da geht alles durcheinander: Fürsorge, Bewunderung,<br />
Gewöhnung, Männlichkeitsideen und Unaussprechliches. Und mit<br />
einer gewaltigen Geste braust die Musik auf, wird das Orchester angeworfen,<br />
wie schon so oft und nicht zum letzten Mal in diesem <strong>Film</strong>.<br />
Regisseur Aluizio Abranches will nämlich: die große, gewaltige,<br />
unendliche, nicht zur Ruhe kommende Liebe erzählen, die Verschmelzung,<br />
das Eins-Werden, das Klein- und Bedeutungslos-Werden der<br />
Welt um zwei Menschen herum, from Beginning to End.<br />
Der Eine öffnet als Neugeborener erst die Augen, als der fünf<br />
Jahre Ältere vor ihm steht. Und wird auch sonst niemanden mehr<br />
ansehen. Der Ältere wird dem Vater die Sorgepflicht für den Bruder<br />
abnehmen. Und wird auch sonst niemand anderen sich mehr um ihn<br />
sorgen lassen, noch nicht mal den Bruder für sich selbst.<br />
Aber was ist das für eine Welt, die so bedeutungslos werden kann<br />
für zwei Brüder, die sich lieben? Es gibt zwei Väter, immerhin. Einer<br />
Pro-FuN MEDiA<br />
in Rio, also zuhause, der andere in Buenos Aires. Beide haben wenig zu<br />
melden, nur besorgt zu schauen. Und sich schließlich milde aus dem<br />
Staub zu machen. Es gibt eine Mutter, die ebenfalls besorgt schaut.<br />
Und aus Rücksichtnahme auf diese Mutter passiert der besorgniserregende<br />
Sex erst nach ihrem Tod. Es gibt eine Wohnung, hell, groß,<br />
weiß, teuer eingerichtet, mit Swimmingpool. Diese wird den Brüdern<br />
einfach überlassen, so dass sie zum Liebesspiel die vertraute Designercouch<br />
benutzen können. Es gibt andere – sehr wenige – Menschen<br />
in diesem <strong>Film</strong>: Ein Schwimmlehrer ist darunter, der eigentlich<br />
nicht gebraucht wird, weil der erfahrene Schwimmer Francisco<br />
dem Schwimmtalent Thomas schon alles beigebracht hat. Ein DJ, der<br />
Angst davor hat, seine Nachbarn mit seiner Musik zu belästigen. Ein<br />
Club mit hübschen weißen harmlosen netten jungen Menschen, eine<br />
Jeunesse dorée Rios, ohne Freaks, ohne Arme, ohne Schwarze. Aber<br />
selbst, als Thomas plötzlich für drei Jahre ins olympische Schwimmertrainingscamp<br />
nach Russland muss (wieso das eigentlich?), gibt<br />
es einfach nichts und niemanden, kein Stück Welt, das zwischen die<br />
beiden Brüder passt, die durch den <strong>Film</strong> strahlen, lächeln, tänzeln wie<br />
zwei Menschen, die seit zwanzig Jahren in jedem Moment frisch verliebt<br />
sind.<br />
Das ist alles ungeheuerlich. Nicht, weil es um schwulen „Inzest“<br />
geht (der ja aus bestimmten Gründen in der heterosexuellen Variante<br />
tabuisiert ist). Nicht, weil tatsächlich nackte Haut und wilde<br />
Küsse zu sehen sind, weil die Eltern Verständnis aufbringen und der<br />
<strong>Film</strong> nahe legt, dass das immer so weiter gehen wird wie nach dem<br />
Frischverlieben. Ungeheuerlich ist die filmische Zubereitung des<br />
Ganzen, die soziale und ästhetische Isolation des Geschehens, die<br />
Auflösung der Räume, Städte, der Zeit, der Konflikte – die sorgenfreie<br />
Dolce&Gabbana-Welt, in der sich hier zwei Männer ansehen<br />
und nichts anderes mehr sehen und sich berühren und nichts anderes<br />
mehr berühren. In einer Szene auf der Designercouch liest der Ältere<br />
dem Jüngeren eine obszöne Stelle aus einem Roman vor, es geht um<br />
ein Loblied auf den männlichen Arsch, und das in eindeutiger Absicht.<br />
Und dann sagt er „Bleib so!“ und geht kurz aus dem Bild und man kann<br />
sich nichts anderes vorstellen, als dass er nun das Gleitgel holt. Doch<br />
er holt zwei Gläser Champagner. s<br />
From Beginning To End<br />
von Aluizio Abranches<br />
BR 2009, 94 Minuten, dt. SF / OF<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino<br />
Kinostart: 11. November<br />
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