Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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kino<br />
<strong>Film</strong>ografie Sébastien lifshitz<br />
il faut que je l’aime (1994)<br />
claire denis, La Vagabonde (1995)<br />
Offene herzen<br />
(Les corps ouverts, 1997)<br />
im reich meines Vaters<br />
(Les terres froides, 1999)<br />
Sommer wie Winter … (Presque<br />
rien, 2000)<br />
Sommer wie Winter …<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR/BE 2000, 95 Minuten,<br />
dt. SF / OmU<br />
Auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Offene Herzen<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR 1997, 48 Minuten, OmU<br />
Demnächst auf DVD<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Wild Side<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR/BE/UK 2004, 91 Minuten, OmU<br />
Auf DVD<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
16<br />
La Traversée (2001)<br />
Wild Side (2004)<br />
Plein Sud (2009)<br />
noch kein <strong>Film</strong>-Thema, aber die Sehnsucht<br />
danach, die Ausformulierung der Zersplitterung,<br />
das Zusammensetzen neuer Familien ist<br />
es. Genauso wie das Coming-Out kein Thema<br />
ist, aber die vorsichtige Zusammensetzung der<br />
Erfahrungswelt von Teenagern, wie sie Lifshitz<br />
in Les Corps Ouverts, Sommer wie Winter<br />
… und Les Terres Froides angeht. Für sich<br />
allein lösen sich die Figuren auf. Zusammen<br />
können sie für kurze Zeit bestehen.<br />
Traurigkeit gibt es in jedem <strong>Film</strong> von<br />
6. Lifshitz. Unendlich schöne Soundtracks,<br />
die Spannungen schaffen und mit ihrer<br />
Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit leben<br />
können (Perry Blake in Sommer wie Winter …,<br />
Antony Hegarty in Wild Side, Marie Modiano<br />
in Plein Sud). Sex. Und zeitlose Landschaften<br />
– der riesige schwarze Berg in der nordfranzösischen<br />
Provinz von Wild Side, die sonnendurchtränkte<br />
Ebenen-Ödnis auf dem Weg in<br />
den Süden (Plein Sud), immer wieder der wilde<br />
Atlantik, dem egal ist, welche Melodramen sich<br />
vor seiner Kulisse abspielen, ob vor ihm oder<br />
in ihm jemand Sex hat. Die Traurigkeit hängt<br />
oft am Jungsein, an der Möglichkeit eines filmwirksamen<br />
Glücks von erster Liebe und erstem<br />
Sex, in das immer wieder das übergriffige<br />
Unglück der Familien eingezogen ist, auch das<br />
eigene, das vergangene und das zukünftige.<br />
Und an den Leerstellen. Des vatersuchenden<br />
Drehbuchautoren z.B., der auf der Reise merkt,<br />
dass er niemals „ich“ sagen konnte, weil er der<br />
Mutter immer den Mann ersetzte, auch auf der<br />
Suche nach ihm. Oder die Leerstelle, die im<br />
„Wild Side“ (oben), „Plein Sud“ (unten)<br />
Lifshitz-Kino durch den Tod des fantastischen Schauspielers Yasmine Belmadi entstanden ist, dem Hauptdarsteller<br />
in Les Corps Ouverts, Les Terres Froides und Wild Side, der wie kein anderer den großmäuligen verletzlichen Jungen<br />
gespielt hat, der nie seine Identität findet. Man kann kaum ansehen, wie er in Wild Side als Djamel dem Kriegsflüchtling<br />
Michail von seinen Mopedunfällen erzählt, ihm seine (echten, seine Yasmine-) Narben zeigt, wenn man weiß, dass<br />
Belmadi vor ungefähr einem Jahr nachts in Paris mit seinem Moped gegen einen Laternenmast gefahren ist und dabei<br />
umkam. Sein Porträt aus drei <strong>Film</strong>en von Lifshitz bleibt fragmentarisch – bezeichnend die Szene, in er als Rémi in Les<br />
Corps Ouverts einem (ihn begehrenden) <strong>Film</strong>regisseur eine völlig falsche Autobiografie ausformuliert, ohne dass der<br />
<strong>Film</strong> über ihn die richtige erzählte.<br />
Lifshitz mag das sozialrealistische Kino nicht, genauso wenig wie Ozon oder Honoré. Aber er spielt auch<br />
7. nicht damit. Er möchte die Figuren, ihre Energien isolieren, Affektkino drehen, in dem Körper und Gefühle<br />
aufeinander reagieren, ohne Zeitbezug, ohne Ortsbezug. Trauer, Wut, Sehnsucht, Begierde werden nicht psychologisch<br />
hergeleitet, sie prallen aufeinander, man sieht dabei zu, man darf assoziieren. Im neuen <strong>Film</strong>, Plein Sud, gibt es<br />
keine mittleren Einstellungen. Nur Landschaften und Gesichter, Stimmungen und Blicke, kein Einbetten von Gefühlen<br />
in den sozialen Kontext. Prompter Vorwurf: Oberflächlichkeit. Tatsächlich treibt Lifshitz seine ästhetischen Überzeugungen<br />
hier auf die Spitze: eine sexuell aufgeladene Situation dreier Teenager, deren Begehren sich auf den älteren<br />
Fremden richten; ein zerschnittenes Porträt dieses Fremden aus drei Zeitschichten (Kind, Teenager, Erwachsener),<br />
das trotzdem nicht erklären kann, was er vorhat; eine Reise, ein Roadmovie zur kranken und instabilen Mutter, als<br />
Bewegung durch zeitlose, vom Geschehen unberührte Landschaften. Einen Mix aus Western und Soap-Opera hat<br />
Lifhitz das selbst genannt, nicht ohne Provokation. Ein Portfolio schöner Teeniekörper mit pubertären Allerweltsproblemen,<br />
die sich (wie Jana Papenbroock hellsichtig bemerkt hat) wie ein Kommentar zum Warenwert von Schönheit im<br />
Supermarkt aufgabeln und irgendwann einfach aus der <strong>Film</strong>-Geschichte fliegen. In einer Figur aber, der des Fremden<br />
Sam, staffelt sich der <strong>Film</strong> in die Tiefe, baut ein Porträt, das wiederum zu vielschichtig ist für eine psychologische Herleitung.<br />
Eigentlich ist das Kino von Lifshitz ein schüchternes Kino. Das sich, das drohende Scheitern, das Verlassen des<br />
Muts vor Augen, immer weiter antreibt, um endlich unverschämt zu werden.<br />
Mit Plein Sud gibt es also bald eine neue Möglichkeit, sich mit dem Kino von Sébastien Lifhitz auseinander-<br />
8. zusetzen. Auch dieser <strong>Film</strong> zerschneidet die üblichen Konstellationen, die filmischen wie die sozialen, setzt<br />
die Fragmente in Bewegung, holt Luft und ordnet sie neu. Wieder wird es am Ende keine Menschen geben, die sich<br />
gefunden haben, kein Liebesglück, kein Happy-End. Dafür aber das langsame Zurruhekommen einer Wasseroberfläche,<br />
nachdem ein schöner Männerkörper dort eingetaucht ist. Darauf ein Glitzern von letzten Abendsonnenstrahlen.<br />
Und ein trauriger Song von Marie Modiano. s<br />
Pro-FuN MEDiA<br />
EDiTioN SALzGEBEr<br />
was uns heimsucht<br />
interview: gerhard Midding<br />
Es ist Sommer in „Plein Sud“, dem neuen<br />
<strong>Film</strong> von Sébastien Lifshitz. Sam, 27 Jahre<br />
alt, sitzt am Steuer seines alten Ford und ist<br />
auf dem Weg nach Süden. Auf dem Rücksitz<br />
ein Geschwister-Paar, Léa und Matthieu, die<br />
Sam als Anhalter mitgenommen hat. Léa liebt<br />
die Männer, Matthieu auch. Auf ihrer langen<br />
Reise werden sie sich kennen lernen, sich<br />
herausfordern, sich verlieben. Aber Sam hat<br />
ein Geheimnis, eine alte Wunde, die wieder<br />
aufgerissen ist – er hat nach langer Zeit eine<br />
Nachricht von seiner Mutter erhalten und<br />
jetzt will er sie wiedersehen.<br />
SISSY sprach mit Sébastien Lifshitz über seinen<br />
neuen <strong>Film</strong>.<br />
sissy: Warum gab es eine Pause von fünf Jahren<br />
zwischen „Wild Side“ und Ihrem neuen <strong>Film</strong>?<br />
Sébastien Lifshitz: Zwischenzeitlich habe ich<br />
am Drehbuch für einen Kriminalfilm gearbeitet.<br />
Ich hatte allerdings überhaupt keine<br />
Erfahrung mit Genrefilmen. Nach zwei Jahren<br />
und 17 verschiedenen Fassungen merkte<br />
ich, dass das nirgendwo hinführt. Ich fühlte<br />
mich verloren. Unterdessen war dem Produzenten<br />
das Geld ausgegangen, er hatte gerade<br />
noch genug übrig, um mich fürs Schreiben zu<br />
bezahlen. Aber ich glaube, diese Arbeit war<br />
nicht ganz vergeblich, denn in Plein Sud gibt<br />
es einige Elemente, die von diesem gescheiterten<br />
Projekt übrig geblieben sind: Er ist<br />
handlungsbetonter als meine früheren <strong>Film</strong>e,<br />
besitzt größere dramatische Spannung.<br />
Dabei haben Sie durchaus Erfahrung mit Kriminalfilmen:<br />
Ich denke an den Fernsehfilm für<br />
Arte, der bei uns „Im Reich meines Vaters“<br />
hieß.<br />
Ach ja? Ein schöner Titel.<br />
Er fasst beinahe Ihre gesamte <strong>Film</strong>ografie<br />
zusammen: Oft geht es um eine Vatersuche.<br />
Stimmt. Es geht immer um die Suche nach<br />
Wurzeln. Die Familie ist eine Obsession für<br />
mich.<br />
Woher rührt das?<br />
Ich glaube, das hat viel mit der Fotografie zu<br />
tun. In der Fotografie herrscht ein anderes<br />
Verhältnis zur Zeit: Sie kann etwas festhalten,<br />
was vergangen und tot ist. Die Vergangenheit<br />
hinterlässt in ihr einen Abdruck.<br />
Meine Mutter hatte die etwas morbide Angewohnheit,<br />
unser ganzes Haus mit Vergrößerungen<br />
ihrer Bilder zu tapezieren. So war<br />
unsere Familiengeschichte überall präsent.<br />
Mich hat diese Obsession früh angesteckt.<br />
Schon mit neun Jahren ließen meine Eltern<br />
mich allein auf den Flohmarkt gehen, wo ich<br />
mit meinem Taschengeld alte Fotos und Zeitschriften<br />
kaufte. Ich lebte eher in der Vergangenheit<br />
als in der Gegenwart. Mit Fünfzehn<br />
hat mich ein <strong>Film</strong> von Truffaut ungeheuer<br />
beeindruckt, Das grüne Zimmer. Da geht es<br />
um jemanden, der das Andenken der Toten<br />
bewahren und sie dadurch weiterleben lassen<br />
will. Deshalb mag ich sicher auch die Installationen<br />
von Christian Boltanski so gern, der<br />
viel über die Shoah arbeitet und Erinnerungen<br />
ganz haptisch darstellt, in dem er Kleindung<br />
und andere Artefakte sammelt.<br />
In „Plein Sud“ geht es wie in vielen Ihrer <strong>Film</strong>e<br />
darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren,<br />
ein Familientrauma aufzuarbeiten. War Ihnen<br />
schon beim Schreiben klar, dass Sie die Erinnerungen<br />
von Sam wie eine parallele Geschichte<br />
erzählen wollen?<br />
Ja, das war schon im Drehbuch angelegt.<br />
Aber die Rückblenden waren anders platziert.<br />
Nun sind sie stärker in die Handlung eingeflochten.<br />
Sams Vater taucht zum Beispiel erst<br />
später auf. Je mehr sich Sam seiner Mutter<br />
nähert, desto stärker ist der Vater präsent.<br />
Ich führe ja eigentlich zwei Geschichten<br />
parallel, eine äußere und die innere<br />
Reise. Zugleich sind das aber auch ästhetisch<br />
gegenläufige Linien. Da gibt es einerseits<br />
Sams Familiengeschichte, die sehr melodramatisch<br />
ist. Und dann die Geschichte der<br />
Anhalter, die er mitnimmt. Die ist beinahe<br />
wie eine amerikanische Sitcom erzählt. Sie<br />
sind eher Figuren als Charaktere, aber laden<br />
den <strong>Film</strong> noch einmal mit einer ganz anderen<br />
Energie auf.<br />
Wie in „Sommer wie Winter …“ ist auch hier<br />
die Mutter depressiv.<br />
Ja, meine <strong>Film</strong>e werden bevölkert von kranken,<br />
zerstörten, verlorenen Familien. Das<br />
Glück passt da nicht hinein.<br />
Das gilt auch für die Familie, die sich spontan<br />
während der Autofahrt bildet.<br />
Mich erstaunt selbst, welch starkes Klima von<br />
Aggressionen und Konflikten da entstand. Es<br />
herrscht ein ständiger Kampf, die Beziehungen<br />
untereinander sind allesamt bedroht,<br />
können in jedem Moment abgebrochen werden.<br />
Wie gesagt, ich kann keine Geschichte<br />
über harmonische Familien erzählen.<br />
kino<br />
Was wird aus den Anhaltern, nachdem Sam<br />
sie zurücklässt?<br />
Keine Ahnung. In einer früheren Drehbuchfassung<br />
blieben sie zusammen und suchten<br />
gemeinsam seine Mutter. Aber wir fanden,<br />
dass es dramaturgisch ein Opfer geben muss,<br />
dass sich ihre Wege trennen müssen.<br />
„Plein Sud“ ist ein ungewöhnliches Roadmovie,<br />
weil die Fahrt wie eine Blase der Emotionen<br />
wirkt. Er spielt zwar in einer vagen Gegenwart,<br />
kommt aber ohne sozialen Kontext aus.<br />
Genau, es sollte ein lyrischer <strong>Film</strong> werden.<br />
Eigentlich geht es um die Frage, ob Sam weiterleben<br />
oder sterben will. Seine Mission,<br />
die er sich selbst gewählt hat, ist morbide,<br />
selbstzerstörerisch. Auch wenn die Jüngeren<br />
das Leben verkörpern, ist das, was ihn heimsucht,<br />
stärker.<br />
Tatsächlich ist es in gewisser Weise ein Geisterfilm.<br />
Dabei spielt Nicole Garcia die Mutter<br />
jedoch nicht als ein Phantom, sondern verleiht<br />
ihr eine sehr konkrete Präsenz.<br />
Das ist ein wichtiges Wort für mich: Phantom.<br />
Meine <strong>Film</strong>e kreisen um das, was uns<br />
heimsucht. Aber Sie haben Recht, die Konkretion<br />
ist ebenso wichtig. Bei Nicole wusste<br />
ich, dass sie der Mutter auch Menschlichkeit<br />
geben würde. Sie hat nur wenige Szenen, in<br />
denen sie Ihre Figur entstehen lassen kann.<br />
Das gilt eigentlich für alle Schauspieler: Sie<br />
müssen physisch sofort präsent sein. Lea<br />
Seydoux ist eine Lolita, Théo Frilet ist ein<br />
romantischer Prinz, Yannick Renier ist etwas<br />
trocken und finster, wie ein Westernheld.<br />
Meine <strong>Film</strong>e sind so lakonisch und elliptisch<br />
erzählt, da müssen wenigstens die Figuren<br />
eine Evidenz besitzen.<br />
Plein Sud<br />
von Sébastien Lifsitz<br />
FR 2009, 87 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht am 19. November<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: Dezember 2010<br />
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